Читать книгу Zu Hause ist überall - Eleanor Siegl Kofler - Страница 9
In Österreich gibt es genug zu essen
ОглавлениеIch selbst sollte nach Österreich, wo Papi Freunde hatte, Tante Bummel und Onkel Erich, die eigentlich Franzels hießen. Sie warteten auf einem Bauernhof in Saalbach auf mich. Das Problem war, dass ich keine Papiere hatte und deswegen überall geschmuggelt werden musste. Als Erstes war da ein alter Mann auf einem Leiterwagen, der mich weiterbeförderte. Auf dem Rücken trug ich einen Rucksack, im Arm hatte ich eine Puppe. Das weiß ich noch. Aber die genauen Etappen meiner Reise bringe ich durcheinander. Irgendwann war ich in einer prachtvollen Villa in Zell am See, da war ich wohl auch bei Bekannten untergebracht. Eine Nacht verbrachte ich in einem Waisenhaus für Babys. Die Schwestern ließen mich die Babys frisieren. Aber die hatten im Großen und Ganzen Glatzen und viel zu frisieren gab es da nicht. Außerdem hatten sie Schorf auf dem Kopf und man musste vorsichtig mit ihnen sein. Wahrscheinlich hatten mir die Schwestern diese Arbeit nur aufgetragen, weil sie mich beschäftigen wollten.
Das sind so ein paar Etappen meiner Reise. An mehr erinnere ich mich nicht. Ich war ja erst sieben. Irgendwann kam ich dann tatsächlich in Saalbach an. Alle waren in der Stube versammelt. Tante Bummel hieß so, weil sie angeblich so langsam war. Onkel Erich und sie hatten einen Sohn, den sie auch wieder Erich genannt hatten, und eine Tochter, die Sisi hieß. Die beiden waren ein bisschen älter als ich. Und dann war da noch die dreijährige Goldie, die ihren Namen ihrem goldigen Aussehen verdankte.
Am Tag meiner Ankunft, als alle in der Stube waren, beschloss ich meine Show mit dem nackten Popo wieder durchzuziehen. Ich wollte für Heiterkeit sorgen und alle zum Lachen bringen. Aber ich hatte mich getäuscht. Um mich herum blieben alle mucksmäuschenstill. Es war furchtbar peinlich. Das war das letzte Mal, dass ich diese Vorstellung darbot. Ich zog meine Hose wieder hoch und rannte weg.
Saalbach war ein echter Kulturschock für mich. Zum Beispiel hängte jeder seinen Löffel unter den Tisch. Und der wurde nicht etwa abgespült, nein, der wurde nur abgeleckt! Läuse hatte ich auch, ein paar. Aber die hatte ich mir wohl in der Schule eingefangen.
In Saalbach begann auch meine merkwürdige Schulkarriere. In Schönberg war ich in der dritten Klasse gewesen, jetzt kam ich wieder in die dritte Klasse. Insgesamt sollte ich sechs Mal in die dritte Klasse kommen auf dieser langen Reise, die mir noch bevorstand. Die dritte Klasse war wie ein Refrain in meinem Leben. Sie wiederholte sich ständig, egal, wo ich hinkam.
Aber in Saalbach wusste ich noch nichts davon. Jeden Tag bin ich hinunter ins Tal zur Schule, zu Fuß natürlich. Jetzt gab es keine Kutsche mehr. Zu essen gab es nicht gerade viel. Die Franzels waren sicher überfordert mit mir ständig hungrigem Fratz, zusätzlich zu den drei eigenen Kindern. Wenn ich nach der Schule aus dem Tal Brot mitbringen sollte, dann war nur noch ein Viertel davon übrig, wenn ich oben ankam. Zur Strafe gab es dann nichts mehr zu essen. So wurde das ein Teufelskreis: Ich war hungrig und aß etwas, was ich nicht hätte essen dürfen. Und dann bekam ich nichts mehr zu essen. Weswegen ich natürlich gleich wieder hungrig war. Und so ging das immer weiter.
Aber es gab auch überraschend nette Leute in Saalbach. Wie die Metzgerin, die mir immer mal wieder ein Stück Wurst zusteckte. „Hab deinen Papi gekannt“, sagte sie dann. Er war manchmal zum Skilaufen nach Saalbach gefahren, damals, als es noch möglich war. Und einmal, es ist fast unglaublich, aber ich erinnere mich genau, da fiel ein Stück Käse vom Himmel. Wer der edle Spender oder die edle Spenderin war, weiß ich gar nicht mehr so genau. Das war ein Festtag.
Und dann tauchte mein Bruder Theo in Saalbach auf. Er hatte dort Arbeit als Knecht gefunden und versorgte mich eine Zeit lang mit Lebensmitteln. So kam ich mir nicht mehr ganz so allein vor. Aber es war keine gute Zeit in Saalbach. Am blamabelsten war, dass ich zur Bettnässerin geworden war. Stundenlang lag ich abends wach, weil ich Angst davor hatte einzuschlafen. Denn wenn ich aufwachte, dann war es so sicher wie das Amen in der Kirche, dass die Matratze wieder nass war. Und dann musste ich die Matratze an die Sonne schaffen, damit sie wieder trocknen konnte. Das bekam selbstverständlich jeder mit. Es war mir schrecklich peinlich, dass mir das passieren konnte. Aber es kam immer wieder vor.
Einmal kam ein langer Brief von Papi an, in dem er mir von all dem berichtete, was in Schönberg in meiner Abwesenheit passiert war. Dass Onkel Hermann und Tante Trude darauf warteten, aus Jägerndorf fliehen zu können und schon eine Unmenge Gepäck ins Haus meines Vaters geschafft hätten. Er schrieb aber auch, dass Tante Trudes Peter verschwunden war, wahrscheinlich aus einem Panzer herausgerissen von einem Russen. Als sie ihn suchten, fanden sie nur noch Blut. Peter, der Sohn von Tante Trude, den sie mit in die Ehe gebracht hatte, als sie und Hermann Larisch heirateten, war im Krieg als vermisst gemeldet worden. Ja, das schrieb mir mein Vater. Und dass ich die Sonnenbäder in Saalbach genießen solle, als wäre ich einfach nur im Urlaub. Und dass bei uns zu Hause im Garten die Schneeglöckchen wüchsen. Und dass ich gut essen und brav sein solle. Zum Schluss schrieb er noch: „Nun, lieber Schweinespeck, wünsche ich Dir, dass Du gesund bleibst, und ich hoffe, dass der Krieg bald ein Ende hat und wir uns dann wiedersehen werden.“
In Saalbach erreichte mich auch die Nachricht vom Tod meines Vaters. Die Tschechen hatten meinen Papi umgebracht. Ich konnte es nicht fassen. Irgendwie war die Nachricht bis in diesen österreichischen Ort gelangt. Nun war ich ganz allein. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals geweint habe. Vielleicht nicht, die Zeit war nicht danach, viele Tränen zu vergießen. Aber ich weiß noch, dass sein Tod ein Schock für mich war. Bald würde ich acht Jahre alt werden, dachte ich. Und schon hatte ich keinen Vater mehr.
Zu meinem achten Geburtstag am 27. September 1945 backte mir Tante Bummel eine Schokoladentorte. Was war das für eine Freude! Ich war überglücklich. Ich schnappte mir die Torte und verschwand damit irgendwohin. Ich glaub, ich lief auf mein Zimmer. Dort machte ich mich dann über die Torte her. Es war ein Genuss. Und ich verschlang die Torte wie im Rausch. Am Ende hatte ich die gesamte Torte aufgegessen. Ganz allein. Und das war wieder falsch, vollkommen falsch. Natürlich hatte mir Tante Bummel die Torte zu meinem Geburtstag gebacken. Aber sie hätte für uns alle sein sollen, damit wir gemeinsam meinen Geburtstag feiern könnten. Jetzt war nichts mehr davon übrig. Und die Franzels schimpften einmal wieder, weil ich nicht wusste, was teilen bedeutet. Wahrscheinlich wusste ich das auch wirklich nicht. Wo hätte ich das lernen sollen? Aber es war mir ganz und gar egal. Ich verspürte keine Schuldgefühle. Ich war wieder einmal vollkommen daneben. Na und? Die Torte hatte geschmeckt.
Eines Tages kam Onkel Hermann nach Saalbach, Hermann Larisch, der die Schwester meiner Mutter geheiratet hatte. Auch er war jetzt ein Flüchtling. Auch er hatte alles aufgeben, alles zurücklassen müssen. Wenigstens war er noch mit Tante Trude zusammen. Die beiden waren in Oberndorf bei Salzburg bei einem Bauern untergekommen, dem Hoferbauern. Ihre große Tuchfabrik in Jägerndorf war enteignet worden. Es war eine riesige Firma, Onkel Hermann hatte sie seit Jahren ständig weiter ausgebaut. Er hatte immer neue Ideen. Damals schon hatte er mit der Herstellung von Wolle aus Kunstfasern und Mischgarnen begonnen. Bevor Hitler kam, kaufte Onkel Hermann noch eine weitere, bedeutende Tuchfabrik in Jägerndorf auf, in der Streich- und Kammgarnstoffe und Uniformtuch hergestellt wurden. Gerade zur rechten Zeit, denn Uniformen brauchte man in dieser Zeit wirklich viele. Heute sagt man, Onkel Larisch sei damals der größte Tuchwarenhersteller im Sudetenland gewesen und einer der bedeutendsten im ganzen Deutschen Reich. Das wusste ich natürlich nicht. Für mich war er einfach nur Onkel Larisch, der mich in Saalbach besuchen kam und mich zu sich holte. Und der mir aus Jux mit der Fliegenpatsche hinterherlief. Was gab es Massen von Fliegen in Saalbach! Dauernd schwammen sie in der Milch herum. Ich hasste Milch mit toten Fliegen. Onkel Hermann fand, ich solle die Milch trotzdem trinken. Das habe ich natürlich nicht getan. Dann ist er mir hinterher mit der Fliegenpatsche.
Hermann Larisch war wie wir im Frühjahr 1945 aus Jägerndorf geflüchtet. In Oberndorf hielt er sich mit dem Bemalen von Andenken über Wasser. Und Tante Trude ging von Hof zu Hof und verkaufte Schuhbänder. Eine Bäuerin sagte mal zu ihr: „Na, Sie haben wohl schon bessere Zeiten gesehn!“ Allerdings hatten wir das. Das war mir früher in unserem großen Haus in Schönberg nur nie richtig bewusst gewesen. Wir alle hatten bessere Zeiten gesehen.
In der Schule in Oberndorf allerdings gefiel es mir. Sogar jodeln lernte ich dort. Dieser Sommer wurde dann doch wider Erwarten schön. Ich liebte die Berge und rannte den ganzen Tag durch die Gegend. Die Wiesen standen in voller Blüte. Es war warm. Und Onkel Hermann liebte es, Scherze mit mir zu machen. Das Einmaleins brachte mir Onkel Hermann übrigens auch bei. Einen besseren Lehrer hätte man sich nicht wünschen können. Diesen Sommer durchlief ich mit selbst gebastelten Sandalen an den Füßen, eine Sohle mit Schuhbandeln daran, das reichte vollkommen.
Einmal etwas später durfte ich als ganz besonderes Geschenk mit zu Tante Trude nach Kitzbühel. Kitzbühel erwachte gerade vom Krieg und setzte schon wieder auf den Tourismus, obwohl doch kaum Zeit vergangen war, seit der letzte Schuss gefallen war. Dort in Kitzbühel, wo der Frieden schon wieder eingezogen war wie eine Jahreszeit, durfte ich mir etwas wünschen, einen Farbstift, einen Notizblock, etwas in dieser Art. Auch so kleine Dinge waren plötzlich unglaublich wertvoll geworden. Ich war so überwältigt vor Freude, dass ich überhaupt kein Wort mehr herausbrachte und nur mit großen Augen zu Tante Trude aufschaute. Und sie verstand gar nichts. Dass ich nichts sagte, deutete sie geradezu als Beleidigung. Sie war furchtbar gekränkt und zog ihr Angebot im Nu zurück. „Na, wenn du nicht willst, dann eben nicht“, sagte sie. Da stand ich nun da mit meiner Enttäuschung und ohne Block und Stift. Für Erklärungen war es nun zu spät. Eines zumindest wurde mir damals klar: Bescheidene Zurückhaltung ist nichts für mich.
Es waren die letzten Tage und Wochen, in denen ich mich noch wie ausgesetzt fühlte, allein und hilflos. Meine Familie war überall in Europa verstreut. Alles war weg, was mir bis dahin sicher erschienen war, ob ich es nun mochte oder nicht. Doch langsam kam diese alte selbstverständliche Sicherheit des Kindes zurück. Denn ich hatte auch mitbekommen, dass ich nicht vergessen worden war. Immer wieder hatten sie mich besucht, Bruder, Tante, Onkel. Wir schauten aufeinander. Und wenn auch alles kaputtging, was ich bis dahin als mein Zuhause betrachtet, worauf ich mich verlassen hatte, es war doch nicht alles verloren. Wir ließen einander nicht im Stich. Wir blieben eine Familie, wenn auch eine, die gerade furchtbar zerstreut war.
Vielleicht ist das der Punkt, an dem ich von Tante Paula erzählen sollte. Denn sie trug viel dazu bei, dass das so war und blieb. Tante Paula war eine Schwester meines Vaters. Nach dem Krieg lebte sie in Wien, wo sie eine Art Pension für junge Leute betrieb, nach der Devise: Je adeliger, desto besser. Sie war nämlich durch ihre Heirat eine Baronin Fuchs geworden und davon machte sie fleißig Gebrauch. Paula mochte es, ihre Beziehungen spielen zu lassen. Und manchmal tat sie das mit großem Erfolg: Irgendwie brachte sie es tatsächlich zuwege, meinen Bruder Walter, Walchi, aus den Kohlegruben herauszuholen. Keine Ahnung, wie sie das schaffte. Aber es ist klar, dass sie Walchi damit das Leben rettete, denn in den Kohlegruben war es schlimm. Es war ein Arbeitslager, wo die Inhaftierten unentgeltlich bei minimaler Verpflegung arbeiten mussten. Und Walter war noch so jung. Sehr viel später verbrachten Walter und ich recht viel Zeit miteinander. Aber über die Kohlegruben sprach er so gut wie nie.