Читать книгу Die Tragik der Femme Fatale - Elena Kirchner - Страница 6
0. Einleitung
ОглавлениеDie Faszination der Femme Fatale ist zeitlos. Bereits antike wie biblische Erzählungen bergen Geschichten um verführende und tötende Frauenfiguren, deren literarische Rezeptionen längst zum Kanon der Weltliteratur gehören. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei die Stoffgeschichte fataler Frauenfiguren im 19. und 20. Jahrhundert ein, die in diesem Ausmaß in der Ideengeschichte ihresgleichen sucht und die Frau mehr als zu jeder anderen Zeit zum Symbol des Bösen, zur Inkarnation des Teufels, zur immerzu schuldigen Unglücksbringerin und schließlich zum unkontrollierbar lasziven Ungeheuer stilisiert.
Durch den starken Blick von außen gerät die Perspektive der Figur immer mehr in den Hintergrund, zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf die Auswirkungen ihrer Taten. Die vorliegende Studie intendiert deshalb eine Neuausrichtung der Perspektive auf die literarische Femme Fatale, die die den Figuren zugeschriebene Schuldhaftigkeit hinterfragt. Trotz der immensen Fülle an Literatur über die Femme Fatale fällt ein Aspekt auf, dem der literaturwissenschaftliche Diskurs bislang mit enormer Indifferenz begegnet: ihre eigene Tragik. Zwar wird gelegentlich als Randnotiz darauf verwiesen, dass mit der Fatalität, die die Femme Fatale für den männlichen Antagonisten mit sich bringt, zumeist auch ihr eigener Untergang einhergeht, dies ist jedoch selten näher beschrieben worden. Dies zu ändern ist die Intention der vorliegenden Untersuchung. Während der Figurentypus Femme Fatale zunächst den Eindruck weiblicher Stärke und Emanzipation erweckt, kann er diesem Trugbild bei genauerer Analyse keineswegs standhalten. Die bisherige Kategorisierung einer Figur als Femme Fatale basierte ausschließlich auf ihren Auswirkungen auf den männlichen Antagonisten, der in ihrer Anwesenheit oder durch ihr Zutun seinen Untergang findet. Somit impliziert das von der Literaturkritik entworfene Konzept der Femme Fatale eine überwiegend patriarchalische Perspektive, die insbesondere in der Betrachtung der Autoren von Femme Fatale-Geschichten unmittelbar deutlich wird, denn diese sind, sofern uns heutzutage bekannt und von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, männlich. Dass einige dieser Autoren jedoch nicht ausschließlich die männliche Perspektive in den Blick nehmen, sondern auch den Handlungsmotiven der Figur, Gründen, die ihr Handeln entschuldigen, oder gar ihre totale Unschuld am Untergang des männlichen Antagonisten Raum geben, wurde von der Forschung bisweilen gänzlich ignoriert.
Die vorliegende Untersuchung soll dabei keineswegs die literarische Existenz vorsätzlich tötender Femme Fatale-Figuren leugnen, die ihre Schönheit instrumentalisieren, den Eros des Mannes reizen, ohne an diesem Gefallen zu finden, dessen Verderben als höchstes Ziel verfolgen und unbeschadet an ihr Ziel kommen. Selbstverständlich existieren diese Figuren – sie machen jedoch, wie zu zeigen sein wird, einen verschwindend geringen Anteil an den im allgemeinen Sprachgebrauch unter der Kategorie Femme Fatale geführten Frauenfiguren aus.
Eine besonders starke Faszination für die todbringende Frau prägt das Fin de Siècle, den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa. Rauschartig durchzieht sie Kunst, Literatur und Musik und ebenso berauscht scheinen Kunst und Künstler von der sich immerzu wandelnden und gleichzeitig tödlichen Frau. Die Thematisierung dieses Frauentypus darf wiederum als Antwort von Kunst und Literatur auf eine gesellschaftliche Furcht vor dem Neuen verstanden werden, einem kollektiven Endzeitgefühl im Angesicht des endenden Jahrhunderts, das so stark ist, dass es einen Gedanken an den Neuanfang erst gar nicht zuzulassen vermag. Vor diesem Hintergrund fasziniert in einer Welt des Kontrollverlusts, des gesellschaftlichen Verfalls nichts so sehr wie die Zusammenführung oppositioneller Extreme, wie schließlich dem brav und kontrollierbar geglaubten Weiblichen mit körperlicher Gewaltausübung. Darin liegt der Kern der Femme Fatale. Die Hinwendung zur Gewaltverherrlichung zieht sich leitmotivisch nicht nur durch die Literatur des Fin de Siècle, sondern prägt nicht minder stark die Kunst dieser Epoche. Schmerzvolle Sterbeprozesse werden detailliert dargestellt, wodurch der Tod „zum Symbol der erwarteten Zeitenwende“1 stilisiert wird. Spürbarer Verfall, Verrohung von Gesellschaft und Jugend prägen das lange Warten auf die Jahrhundertwende. Zum vorherrschenden Gefühl wird die Angst vor dem umfassenden Kontrollverlust, einem Erlebnis, dem man sich zuvor nahezu ausschließlich in der Frage nach dem Tod konfrontiert sah und das somit unweigerlich an den Tod gebunden schien. Auch diese Verbindung aus Ohnmacht, Tod und schließlich Weiblichkeit führte zur geradezu überwältigenden Faszination am Morbiden. Diese Bewunderung erforderte einen gesellschaftlichen tabula rasa-Prozess2, dessen Auslebung in den geschützten Bereichen von Kunst und Literatur erfolgte, während die eigentliche Intention der KünstlerInnen und AutorInnen politischen Veränderungen galt.
In diesem Umfeld etabliert sich die Femme Fatale als Bewunderungs- und Angstfigur und trotz der groben Idee, die der Begriff beim Rezipienten i.d.R. hervorruft, ist seine semantische Verwendung doch vielseitig und ungeklärt. Er reicht von der These, die Femme Fatale konstituiere sich ausschließlich als männliche Phantasie – und von einer ‚(literarischen) Inkarnation‘ könne deshalb nie die Rede sein –, bis hin zu dem Trend, jede Frau mit selbstbewusster Aura als Femme Fatale zu bezeichnen. So definiert Dominique Maingueneau in seiner philosophischen Abhandlung Féminin fatal: „La femme fatale n'est qu'un produit de l'imaginaire masculin, une fantasmagorie au service des intérêts et des peurs d'un ordre patriarcal périmé“.3 Eine Figuration der Femme Fatale ist somit bei Maingueneau bereits per definitionem ausgeschlossen. Diese Überzeugung ist explizit nicht die Grundlage dieser Studie. Zwar stellt die Femme Fatale ein Konstrukt männlicher Phantasie dar, jedoch hat ihre ‚Figurwerdung‘ in der Literatur mannigfaltig stattgefunden. Maingueneau ist allerdings insofern zuzustimmen, als nicht jeder schönen und sexuell attraktiven Frau automatisch der Status einer Femme Fatale zugeschrieben werden kann, wie es beispielsweise Frauen wie Marilyn Monroe und Marlene Dietrich oft widerfuhr. Die Bewegung, jede sinnliche und sexuell selbstbestimmte Frau mit dem Siegel Femme Fatale zu belegen, zeugt jedoch von der Beliebtheit des Begriffes; der vorliegenden Arbeit liegt dieses Femme Fatale-Konzept allerdings ausdrücklich nicht zugrunde. Denn hierfür war eine Kollision einer ohnehin vagen Furcht des Mannes vor dem unergründlichen Weiblichen mit einer undefinierten Gefahr der selbstbestimmten Frau ausschlaggebend. Hinzu kam der starke Drang, die Frauen auf den Status eines Sexualobjekts zu reduzieren. Der Umgang mit den genannten Frauen bildet eine Parallele zum Femme Fatale-Begriff, der ebenso die patriarchale Perspektive zentriert und jene der weiblichen Figur vollkommen vergessen macht.
Die vorliegende Arbeit reiht sich in einen bereits sehr umfassenden Diskurs über weibliche Fatalität ein. Mario Praz' Werk La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica (1930) ist nahezu hundert Jahre nach seiner Veröffentlichung noch immer eines der wichtigsten und umfangreichsten Übersichtswerke zur literarisch verarbeiteten Interaktion von Weiblichkeit und Tod. Zwar birgt das Werk einige Ungenauigkeiten, insbesondere hinsichtlich der Unübersetzbarkeit des Femme Fatale-Begriffs, den Praz in Anlehnung an John Keats' Gedicht mit dem Begriff La belle dame sans merci synonym verwendet, jedoch stellt es eine erste komparatistische Annäherung an das weite Feld grausamer Weiblichkeit dar und prägt deshalb den Femme Fatale-Diskurs in besonderem Maße. Ein Werk mit ähnlich starker Auswirkung auf den Diskurs legte erst Carola Hilmes 1990 mit ihrer Dissertation Die Femme fatale: ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur vor. Mit sprachlicher Genauigkeit und anhand eines sehr umfassenden literarischen Korpus untersucht Hilmes darin die Femme Fatale des Fin de Siècle.
Drei Jahre später erscheint Mireille Dottin-Orsinis Werk Cette femme qu'il disent fatale und damit der erste Versuch einer Infragestellung der Kategorisierung der Femme Fatale sowie eine Annäherung an die dem Begriff inhärente Misogynie, eine Annahme, die auch der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Dottin-Orsini stellt erstmals die zuvor so unbedacht zugeschriebene Fatalität der Figur infrage. Wie der sie umgebene Diskurs geht auch sie der Frage nach einer der Femme Fatale inhärenten Tragik jedoch nicht weiter nach. An diesen Punkt knüpft die vorliegende Studie an. Sie intendiert, die bereits in Vorgängerwerken festgestellte Fragwürdigkeit des Femme Fatale-Konzeptes als grausame und berechnende Schöne auszuweiten und dem Diskurs ein sprachliches Instrumentarium zu verleihen, dessen Verwendung über die Grenzen dieser Arbeit hinaus möglich sein soll.
Zusätzlich zur Debatte über die Femme Fatale sind auch die jeweiligen Rezeptionen der Figuren Judith und Salomé für diese Studie von entscheidender Bedeutung, denn anhand dieser Figuren wird die Dringlichkeit einer Neuausrichtung der Perspektive auf den Femme Fatale-Begriff verdeutlicht. Vice versa reiht sich somit die vorliegende Arbeit in eben diese Diskurse ein. Beide Figuren entstammen der Bibel und wurden über die Jahrhunderte mannigfaltig verändert und instrumentalisiert. Einen sehr umfassenden Überblick über das Buch Judith und seine literarische Rezeption veröffentlicht Jacques Poirier 2004 mit seinem Werk Judith: Echos d'un mythe biblique dans la littérature franϛaise. Trotz der im Titel implizierten Fokussierung auf die französische Literatur, blendet Poirier in seiner Untersuchung keineswegs die durchaus wichtigen Judithrezeptionen des deutschen Autors Friedrich Hebbel sowie des belgischen Autors Maurice Maeterlinck aus und erschafft deshalb ein sehr nützliches und umfangreiches Übersichtswerk über die Spuren des Judith-Mythos in der europäischen Literatur der Neuzeit. Die tragische Komponente der Judithfigurationen bleibt bei Poirier noch im Hintergrund, weshalb die vorliegende Arbeit auf Poiriers Übersichtswerk zurückgreift, jedoch nicht mit jeder seiner Thesen übereinstimmt.
Repräsentativ für die enorme Anzahl an Werken über die Figur Salomé soll hier das Werk Tänzerin um das Haupt von Sandra Walz aufgeführt werden. Aufgrund seiner (relational zum Diskurs) jungen Entstehung (2008) ist es zunächst ein komparatistisches Werk auf dem neueren Stand der Forschung. Walz bearbeitet darin ein enormes Korpus literarischer Inkarnationen Salomés, was es zu einem sehr umfangreichen, umfassenden und hilfreichen Übersichtswerk zum Mythos Salomé und dessen literarischer Rezeption im Fin de Siècle macht. Walz vermeidet die Gleichsetzung des Begriffes Femme Fatale mit ihm verwandten Bezeichnungen (wie etwa ‚belle dame sans merci‘ oder ‚tödliche Frau‘) und legt dabei Wert auf seine Differenzierung in Bezug auf die Figur Salomé.
Bereits Mireille Dottin-Orsini veranschaulicht ihre Annäherung an die Femme Fatale-Problematik hauptsächlich anhand der Figur Salomé. Sie nennt sie gar „[l]e mythe par excellence de la féminité mauvaise, celui qui met en scène de la faϛon la plus radicale la femme fatale (à l'homme) (...)“.4 Das Fin de Siècle prägt schließlich ein regelrechter Synonymisierungsdrang des Begriffes Femme Fatale mit dem Namen Salomé. Diese Entwicklung lässt bereits die starke Faszination für die junge Tänzerin vermuten, die das Fin de Siècle kennzeichnet. Dass diese Synekdoche jedoch Konfliktpotenzial birgt, zeigt bereits Stéphane Mallarmés intensive Suche nach einem Titel für sein Werk (1864-67). Der Titel Salomé (und damit einhergehend der Name der Protagonistin) erschien dem Autor ungeeignet hinsichtlich des gesellschaftlichen Trends der synonymen Verwendung des Namens mit der lasziven, sexuell selbstbestimmten und geradezu unersättlichen Frau. Der Mythos Salomé erscheint parallel zur Femme Fatale-Faszination ebenso als Modebegriff im Fin de Siècle. Salomé wird somit zum Prototyp der Femme Fatale stilisiert; eine synonyme Verwendung beider Begriffe ist jedoch nicht zuletzt deshalb unpräzise, da allein der Mythos Salomé eine Vielzahl von (teilweise sehr unterschiedlichen) Salomé-Figuren umfasst. Dass nicht alle in das zu einfache Schema der verführenden und vorsätzlich tötenden Frau hineingepresst werden können, soll in der vorliegenden Arbeit deutlich werden.
Um den Begriff der Femme Fatale als sprachliches Instrument nutzbar zu machen, schlägt Carola Hilmes eine dreiteilige Minimaldefinition vor.5 In leichter Abwandlung, jedoch in Anlehnung an Hilmes' Idee, soll der Begriff Femme Fatale in dieser Studie als sich konstituierend über die Momente 1. Weiblichkeit, 2. Schönheit, 3. Fatalität, i.e. ihre negativen Auswirkungen auf den männlichen Antagonisten, genutzt werden. Der so traditionell gebrauchte Begriff der Femme Fatale wird im Folgenden nicht dekonstruiert, sondern verfeinert. Bislang ermöglicht er keinerlei Differenzierung zwischen der vorsätzlich mordenden und berechnenden Frau einerseits und der unter äußerem Zwang handelnden Figur andererseits. Ferner begegnet er der Differenzierung zwischen guten und bösen Absichten (und allen Abstufungen dazwischen) sowie, dies wird im Folgenden zum entscheidenden Untersuchungsgegenstand, der Frage nach einer tragischen Komponente der Femme Fatale selbst, vollkommen indifferent. Nur durch die Bereitschaft des Lesers, bei der Lektüre eines Werkes mit einer Femme Fatale-Figur auch deren Perspektive einzunehmen, kann langfristig eine Sensibilität im Umgang mit den verschiedenen Femme Fatale-Typen entstehen. So wird deutlich, dass die vorsätzlich mordende und dafür ihre Sinnlichkeit gezielt einsetzende Femme Fatale selbst in der Literatur des Fin de Siècle schnell zu eindimensional wurde, um wiederholt zu schockieren. Stattdessen verbirgt sich hinter den meisten literarischen Femme Fatale-Figurationen eine tragische Inkarnation des Typus Femme Fatale.
Den Begriff ‚Tragik‘ nutze ich in meiner Untersuchung in zwei voneinander differenzierbaren Bedeutungen. Er bezeichnet zunächst eine unspezifische Art des Leides, das sich in den meisten Fällen in einer emotionalen Belastung der Figur ausdrückt, häufig jedoch mit erlebter Gewalt einhergeht. Die subjektiv erlebte Tragik der Figur kann dabei sehr facettenreich sein. In der vorliegenden Arbeit reicht sie von einem gekränkten Narzissmus (Wilde) über eine sozial erzwungene Selbstopferung (Giraudoux, Maeterlinck) und die vollkommene Entmündigung bzw. Abhängigkeit (Flaubert) bis hin zum Erleben von Gewalt (Hebbel) und schließlich zum Tod der Femme Fatale-Figur (Heine, Wilde). Der Tragikbegriff birgt jedoch eine weitere Dimension: Aristoteles' Poetik der Tragödie. Das Moment der Ausweglosigkeit des Protagonisten gilt als wichtigstes Merkmal der griechischen Tragödie und hat außerdem eine enorme Präsenz im Femme Fatale-Diskurs. So entsteht die Entscheidung von Femme Fatale-Inkarnationen, die schließlich (vorsätzlich oder versehentlich) zum Untergang des Mannes führt, häufig in einem engen Handlungsrahmen der Protagonistin; nicht selten ist es die bloße Anwesenheit der weiblichen Figur während des Unterganges des Mannes, die ihr den Status der Femme Fatale zuschreibt, obgleich sie keinerlei Eingriff in die Handlung vornimmt. Ihr Entscheidungszwang in der Spannung von zwei wenig attraktiven bis destruktiven Handlungsalternativen bzw. eine Schein-Entscheidbarkeit, die sie zur Positionierung zwingt, obgleich sie keine Wahl hat, ist dabei häufig bereits ein Teil ihrer Tragik. Die Dopplung des Tragikbegriffs birgt den Vorteil, dass die Untersuchung auf literarische Genres auch jenseits des Dramas erweiterbar ist. Für eine weiterführende Analyse wird dies von entscheidender Bedeutung sein.
Zur Veranschaulichung der erarbeiteten Theorie der tragischen Femme Fatale eignet sich besonders gut die Figur der Salomé. Durch die starke kollektive Assoziation ihres Namens mit überbordender Faszination existiert eine überwältigende Anzahl an Salomé-Werken, deren Nähe zur biblischen Ursprungsgeschichte je nach Rezeption variiert. Sie reicht von stringenter Nacherzählung über die vollkommene Verfälschung des Ursprungsmythos bis hin zur simplen Entlehnung des so populären Namens ohne weitere Bezüge zu seiner Geschichte. Da die ausgewählte Primärliteratur stets nur selektiver Art sein kann, werden insbesondere diejenigen Werke des Salomé-Mythos in Betracht gezogen, die diesen im Besonderen prägen und die darüber hinaus Erkenntnisse über eine tragische Seite der weiblichen Figur versprechen. Darunter der biblische Ursprungsmythos, Heinrich Heines Figur der Herodias in seinem erzählenden Gedicht Atta Troll (1841), Flauberts Kurzdrama Hérodias (1877) sowie insbesondere Oscar Wildes Drama Salomé (1891). Diese Werke zeichnet außerdem aus, dass sie sehr deutlich das tragische Erleben der Femme Fatale beschreiben und somit die Differenzierung verschiedener tragischer Femme Fatale-Typen ermöglichen. Hinsichtlich der Wichtigkeit für den Mythos wäre sicherlich noch Mallarmés Werk Hérodiade (1864-67) heranzuziehen, das jedoch der Handlung des Ursprungmythos weitgehend indifferent begegnet, sodass die Protagonistin keine weiteren Erkenntnisse hinsichtlich der tragischen Femme Fatale verspricht. Mit dieser Begründung ist auch die Satire Salomé (1886) von Jules Laforgue für die vorliegende Untersuchung nicht relevant.
Da die Studie jedoch nicht vorrangig die Figur Salomé, sondern das Phänomen der Femme Fatale erörtert und keineswegs die Synonymisierung von Femme Fatale und Salomé zu unterstützen beabsichtigt, wird die Untersuchung durch die ebenfalls biblische Figur der Judith erweitert. Diese Erweiterung birgt zusätzlich den Vorteil, dass der Wandel der Judithfigur in der literarischen Rezeption des Fin de Siècle einen noch gezielteren und umfassenderen Einblick in die tragische Seite der Femme Fatale ermöglicht. Zusammen verschmelzen Judith und Salomé aufgrund ihrer vielen Parallelen zu einer Einheit: beide verführen durch ihre Schönheit, beide bringen den männlichen Antagonisten zunächst um den Verstand, dann – in der Enthauptung – um den Kopf. Beide sind starke Frauen und wurden als Figuren der Sünde in vielerlei Hinsicht instrumentalisiert.
Bereits in der bildenden Kunst stellt die Unterscheidung von Judith und Salomé eine große Herausforderung dar, sodass die Frauenfigur mit dem abgeschlagenen Kopf nicht immer eindeutig einer der beiden Figuren zugeordnet werden kann. So geraten im 19. Jahrhundert die Utensilien, die eine Zuordnung zuvor vereinfachten (Judith mit dem Schwert, Salomé mit dem Silbertablett), in den Hintergrund, wodurch eine genaue Differenzierung zwischen Judith und Salomé zur komplexen Aufgabe avancierte. Allerdings sind die beiden Figuren nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur schwesternhafte Figuren. So erlebt neben Salomé auch Judith im Fin de Siècle eine enorme Aufmerksamkeit, wobei sie sich insbesondere durch den ihr seit der biblischen Ursprungsgeschichte stets inhärenten Heldenstatus von der häufig zur Hure und Sünderin stilisierten Salomé unterscheidet. Zusammen ergeben Judith und Salomé ein literarisches Zweiergespann; trotz ihrer parallelen Leitmotive wurden sie doch bislang nicht zusammen in einem Werk analysiert, das ihre Ähnlichkeit verdeutlichen würde. Deshalb werden die genannten Salomérezeptionen um einige das Fin de Siècle stark prägende Judithrezeptionen erweitert: Diese sind die Werke mit dem Titel Judith von Friedrich Hebbel (1840) und Jean Giraudoux (1931) sowie das Werk Monna Vanna (1902) von Maurice Maeterlinck, das trotz des geänderten Namens strukturell als Judithrezeption analysiert wird.
Dabei ist offensichtlich, dass die gewählten Werke nicht alle exakt in die zeitliche Fokussierung auf das Fin de Siècle passen. Der genaue Anfang des Fin de Siècle ist umstritten, wohingegen relativ großer Konsens über sein jähes Ende mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges herrscht. Trotz des sehr frühen Werkes Judith von Friedrich Hebbel, das 1840 entstand und für den Judith-Mythos grundlegend ist, wird an der Fokussierung auf das Fin de Siècle festgehalten, denn auch Hebbels Werk kann durchaus als (Früh-)Werk der Zeit gelesen werden. Das Fin de Siècle bezeichnet in der Analyse demnach nicht zwangsläufig nur eine zeitlich begrenzte Epoche, sondern eine Stimmung von Verfall und Endzeit, deren Wurzeln in früheren Werken erkennbar sind. Außerdem ergibt der Mythos eine Einheit, die durch den Wegfall eines ihn stark konstituierenden Werkes gebrochen würde, wodurch eine umfangreiche Analyse desselben unmöglich wäre. Insbesondere Hebbels Judithrezeption ist durch die Einführung des Gewalterlebens der Protagonistin ein so tragender Baustein des Judith-Mythos (speziell im Hinblick auf die Interaktion von Sexualität und Macht), dass eine Analyse ohne Bezugnahme auf Hebbel wenig glaubwürdig erscheint; und auch Heinrich Heines hypnotisch-mystische Herodias-Figur ist eine wichtige Grundlage der späteren Entwicklung von Salomé und Herodias, weshalb sie in dieser Untersuchung Beachtung findet. Sie bietet ferner, dies wird zu zeigen sein, wichtige neue Erkenntnisse über die tragische Seite der Femme Fatale.
Die Idee der Tragik der Femme Fatale ist keine komplett neue. Carola Hilmes bemerkt zur Ambivalenz weiblicher Fatalität:
„Die Femme fatale ist nicht nur für die Männer, sondern auch für sich selbst fatal. Immer dann, wenn sie aktiv wird, werden ihr die eigenen Handlungen zum Verhängnis. Hierauf muß deshalb besonders insistiert werden, weil die entsprechende Literatur über die Femme fatale das jeweilige Frauenschicksal stets vernachlässigt und ausschließlich das Klischee von der vermittels ihrer Sinnlichkeit übermächtigen und so dem Mann verderblichen Frau tradiert.“6
Etwas weiter geht Carole Ksiazenicer-Matheron in ihrem im Jahr 2000 erschienenen Werk Le sacrifice de la beauté, das den Dualismus von Schönheit und Opferbereitschaft bereits im Titel trägt. Die Autorin wagt sich damit thematisch auf die Schattenseite der so stark bewunderten und so oft und einfach zum Sündenbock erklärten Femme Fatale. Diese besitze „une ‚fatalité‘ autodestructive, tout autant que destructive“.7 Ksiazenicer-Matheron kreiert einen normativen Konnex von Destruktion und Auto-Destruktion und nähert sich in dieser Annahme mehr als der wissenschaftliche Diskurs zuvor der Idee einer Tragik der Femme Fatale. Das Leid, das die eigene Schönheit herbeiführt, liegt jedoch nicht ausschließlich in den beobachtbaren Auswirkungen, sondern ebenso in einer psychologischen Ambivalenz des schönen Körpers als „atout et obstacle, gage de son triomphe en même temps que de son aliénation à l'autre“.8 Die schöne Frau sieht sich in Ksiazenicer-Matherons Ansatz allein durch ihre Schönheit zur Entfremdung von ihrer Umgebung verdammt und ist darüber hinaus als Frau, die Angst macht, i.d.R. auch jene, die bestraft wird. In dieser Erkenntnis sowie einer darin impliziten Absichtslosigkeit der Femme Fatale erfasst Ksiazenicer-Matheron bereits zwei wichtige Momente der Tragik des Figurentypus. Über ein bloßes Feststellen dieser Tragik geht jedoch keiner der vorgestellten Ansätze hinaus, sodass bislang kein komparatistisches Instrument zu ihrer Bearbeitung existiert.
Um dies zu ändern, hat die vorliegende Arbeit zum Ziel, verschiedene Femme Fatale-Figuren hinsichtlich ihrer Handlungsmotive und Beziehungskonstellationen zu analysieren und die sich darin ausdrückende Tragik aufzudecken. Aufbauend auf der These, dass die Femme Fatale in allen ihren Erscheinungsformen immerzu in einer Synthese aus Macht und Sexualität gefangen ist, stehen im ersten Teil der Arbeit die teilweise sehr stark divergierenden Interaktionsformen von Macht und Sexualität im Zentrum. Zur Erstellung eines Macht-Sexualitäts-Modells, das eine Klassifizierung und damit einhergehend eine bessere Analyse von sexuell geprägten Machtbeziehungen ermöglichen soll, wird als Grundlage die soziologische Machttheorie von Heinrich Popitz (Kapitel I.1) genutzt. Diese zeichnet sich insbesondere durch ihre sehr klare und umfassende Gliederung von Machtsituationen aus und basiert auf der Weber'schen Annahme einer Macht-Omnipräsenz. Popitz gliedert Macht in vier Bereiche: Aktionsmacht, instrumentelle Macht, autoritative Macht und datensetzende Macht, derer die drei erstgenannten für die erstellte Theorie entlehnt werden (Kapitel I.2). Popitz' Perspektive auf die Macht dient als sprachliches Instrumentarium, reicht jedoch nicht weit genug, um sexuell geprägte Machtbeziehungen eingehend zu analysieren. Deshalb werden seine drei Machttypen um wiederum drei fundamentale Interaktionsformen von Macht und Sexualität erweitert: Sexualität als Ausdrucksebene der Macht, Macht als Instrument für Sexualität und Sexualität als Instrument für Macht. Hierbei wird deutlich, dass das Modell die Interaktionsformen von Macht und Sexualität ausschließlich außerhalb des sexuellen Aktes fokussiert. Fragen zu sadomasochistisch-sexuellen Praktiken deckt das Modell nicht ab. Durch die Zusammenführung beider Ebenen, der Machtformen einerseits und der Interaktionsformen andererseits, entsteht ein Analysemodell, mit dessen Hilfe eine eingehende Untersuchung von sexuell geprägten Machtbeziehungen möglich wird, die sich stets an den Absichten des Machtausübenden orientiert. Da literarische Werke i.d.R. deutliche Metamorphosen der Machtbeziehungen aufweisen, können diese mit Hilfe des Modells versprachlicht und somit nutzbar und intertextuell vergleichbar gemacht werden. Darin wird u.a. deutlich, dass Figuren eines konservativen Femme Fatale-Konzeptes (jenem der grausamen und vorsätzlich mordenden Figur) sehr prototypische und wiederkehrende Machtstrukturen aufweisen. Der Untergang ihres männlichen Antagonisten beginnt ferner in den meisten Fällen durch seine eigene Unterschätzung der Protagonistin sowie seine Überzeugung, die eigene Übermacht sei unumstößlich.
Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit stellt das literarische Korpus sowie die theoretische Grundlage der Analyse vor. Dazu werden zunächst das Konzept Femme Fatale und das mit ihr einhergehende enorme gesellschaftliche Interesse an der todbringenden Frau im Fin de Siècle beleuchtet. Auf die Einführung in soziokulturelle Entwicklungen in Westeuropa am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert folgt eine Einführung in die Mythen um Judith und Salomé, worauf sich ein kurzer Überblick über die literarische, musikalische und künstlerische Rezeption der jeweiligen Mythen von ihrer Entstehung bis hin zum Fin de Siècle sowie die zusammenfassende Vorstellung jener Primärwerke anschließt, die im Analyseteil vertieft besprochen werden.
Die Vorstellung der literarischen Rezeptionen der Figuren Judith und Salomé ermöglicht schließlich die Begründung der theoretischen Grundlage dieser Arbeit. Dieser liegt die Erkenntnis zugrunde, dass nur wenige der als literarische Femme Fatale klassifizierten Figuren der siegreichen Femme Fatale, die ohne eigene Tragik aus der Geschichte hervorgeht, entsprechen. Um eine Differenzierung zu ermöglichen, erhält dieser Typus eines konservativen Femme Fatale-Konzeptes die Bezeichnung Femme Fatale victorieuse. Ihm wird eine neue Kategorie, die Femme Fatale tragique, gegenübergestellt. Dabei soll gezeigt werden, dass diese in der literarischen Rezeption sehr viel zahlreichere Beispiele aufweist als ihr siegreicher Schwestertypus. Während die Femme Fatale victorieuse nur über eine sich wiederholende Erzählstruktur verfügt (Instrumentalisierung der Schönheit mit dem Zweck der Gewaltanwendung, Verführung, Gewalt, siegreiche Femme Fatale), wird in der näheren Betrachtung der Femme Fatale tragique ein enormes Spektrum an missbrauchten Figuren deutlich, deren Tragik sehr unterschiedliche Ursachen haben kann. Mit Blick auf die Figuren Judith und Salomé zeigen sich auf der Basis dieser Ursachen vier Grundtypen der tragischen Femme Fatale: Die Liebende (Femme Fatale qui aime), die Geopferte (Femme Fatale sacrifiée), die Traumatisierte (Femme Fatale traumatisée) sowie die Sterbende (Femme Fatale qui meurt). In Analogie mit dem bestehenden Terminus ‚Femme Fatale‘ wird ein Verbleib im französischen Vokabular gewählt, was insbesondere durch die Unmöglichkeit der Übersetzung des Femme Fatale-Begriffs sinnvoll ist. Die neu eingeführten Klassifizierungsbezeichnungen der Femme Fatale sind hingegen durchaus übersetzbar und somit französisch wie deutsch synonym zu verwenden (i.e. Femme Fatale tragique = tragische Femme Fatale). In der Aufwertung dieser Ursachen und Vernachlässigung der Auswirkungen der weiblichen Figur besteht ein wichtiger Bestandteil des intendierten Perspektivwechsels, der die Femme Fatale aus ihrer Rolle als Sündenbock befreien soll.
Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit werden die verschiedenen zuvor erarbeiteten Kategorien der tragischen Femme Fatale anhand detaillierter Analysen der literarischen Rezeptionen von Judith und Salomé zur Anwendung gebracht. Analog zu dem Bestreben, die Sichtweise der Femme Fatale-Figur in den Mittelpunkt zu stellen, erfolgt auch die Gliederung der literarischen Werke anhand der Tragik ihrer Femme Fatale-Figur. Einige der Figuren passen zu verschiedenen Kategorien, wobei jedoch in den meisten Fällen die Höhergewichtung einer der Kategorien augenscheinlich ist. Dabei ist eine literarische Inkarnation der tragischen Femme Fatale stets jener Kategorie zuzuordnen, die ihre Tragik begründet. So ist Oscar Wildes Salomé sowohl eine liebende als auch eine sterbende Femme Fatale, ihre Qual geht jedoch stärker aus der (unerwiderten) Liebe zu Iochanaan hervor, weshalb sie hier als primär liebende Femme Fatale klassifiziert wird.
Die Kategorie der Femme Fatale qui aime stellt sich auch insofern als zentral heraus – und eröffnet deshalb die Primärwerk-Analyse mithilfe des Macht-Sexualitäts-Modells –, als nur wenige Veränderungen die Femme Fatale des Fin de Siècle so stark geprägt haben wie ihre Vermenschlichung und damit einhergehend die Einführung der Liebe. Als zutiefst von existenziellen Machtkämpfen geprägtes Klischee erscheint die Idee der Liebe als ästhetisch in Szene gesetzter Kontrapunkt zum konservativen Konzept der Femme Fatale. Der so verteufelten und auf ihre Fatalität reduzierten Figur die Fähigkeit des Liebens zuzusprechen, ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass bereits im Fin de Siècle Autoren zu einer Gegenbewegung zur weiblichen Diabolisierung ansetzten. Dennoch wandelt sich die Liebe der Protagonistinnen zur Grundlage ihrer Tragik, welche so unterschiedlich zutage tritt wie die Liebe selbst. Drei das Moment der Liebe auf sehr unterschiedliche Arten in die Mythen einführende Werke sollen zu einem Verständnis der Femme Fatale qui aime beitragen: Die Juditherzählungen von Maurice Maeterlinck und Jean Giraudoux sowie die Salomé von Oscar Wilde. In dem Bestreben, die Figur Judith vor dem sie im Fin de Siècle ereilenden Fatalisierungstrend zu bewahren, erschafft Maurice Maeterlinck 1902 in Monna Vanna eine Judithfigur, deren Liebe zu Holofernes (Prinzivalle) durch äußere Machtstrukturen beeinträchtigt wird. Vanna wird in dem Stück zu einer tragischen Heldin und einer gänzlich absichtslos handelnden Femme Fatale qui aime. Ihre Fatalität für (Prinzivalle) besteht einzig in ihrer entmündigten Rolle als begehrtes Objekt in einem Liebeskampf der sie umgebenden männlichen Antagonisten. Gänzlich verschieden ist die Bedeutung der Liebe in Giraudoux' Judith-Erzählung, die insbesondere die Symptomatik des Mordes trotz Liebe bzw. des Mordes wegen der Liebe zentriert. Ein komplexes Psychogramm der Femme Fatale erschafft Oscar Wilde in seinem Drama Salomé (1893). Der existenzielle Kampf zwischen der liebeskranken Protagonistin und dem Propheten, der sich weigert, sie anzusehen, kulminiert im morbiden und erschütternden Kuss des abgeschlagenen Kopfes. Die Liebe von Oscar Wildes Salomé ist wahnhafter, hysterischer Art und ähnelt in der tiefen Verzweiflung der Zurückgewiesenen immer weniger der Liebe als vielmehr einem existenziellen Machtkampf. Diese für beide Seiten fatale Art der Liebe zu ergründen ist Thema des Kapitels II.1.3.
In der Darstellung der Femme Fatale sacrifiée (II.2) dient insbesondere die Judithrezeption von Jean Giraudoux als Darstellungsinstrument. In der anfänglichen Analyse der Judithfigur und ihrer sexuell geprägten Machtbeziehungen wird die Reziprozität der Schönheit deutlich. Giraudoux' Protagonistin wird aufgrund ihrer Schönheit zu einer Heldenmission gezwungen, zu der sie sich selbst nicht auserwählt fühlt. Sie geht schließlich verletzt und von sich selbst entfremdet aus der Mission hervor, in der sie in geistiger Fremdbestimmung jenen tötet, den sie liebt. Judith bleibt einsam zurück und weiß sich in ihre frühere Gesellschaft nicht mehr einzugliedern. Erst ihre Schönheit distanziert sie von den anderen und zwingt sie in die Außenseiterrolle der unfreiwilligen Heldin.
Ähnlich wie ihr steht die Schönheit auch Hebbels Judith als ambivalentes Moment zur Seite: Sie wird zum helfenden, aber schließlich auch zum die Tragik der Figur auslösenden Aspekt, denn nur aufgrund ihrer Schönheit wird Judith zum Opfer von Holofernes' gewalttätigem Übergriff. In beiden Mythen, Judith und Salomé, führt die Schönheit der Protagonistin stets zu einer facettenreichen autoritativen Übermacht der Frau. Diese ist vom männlichen Antagonisten gegeben, der nicht bemerkt, wie stark seine Abhängigkeit wird. Sowohl in der biblischen Ursprungserzählung als auch in den meisten Rezeptionen wird Judith schließlich zur Heldin. Ähnlich wie die Bezeichnung Femme Fatale die Perspektive der Figur selbst negiert, tut dies auch die Zuschreibung eines Heldenstatus, denn nicht immer findet Judith an ihm Gefallen. Jean Giraudoux' Judith wird sozial unter Druck gesetzt, sie willigt schließlich – nicht überzeugt – ein, ihr Volk zu retten. Sie ist deshalb sowohl eine geopferte als auch eine sich selbst opfernde Figur und somit in einem Zwiespalt gefangen, der ihre emotionale Verwirrung begünstigt. In einer ähnlichen Spannung bewegen sich auch einige Saloméfigurationen, deren Freiwilligkeit nicht gänzlich geklärt werden kann, darunter insbesondere die auf ihren schönen Körper reduzierte Saloméfigur von Flaubert. So stehen sowohl die biblische als auch Flauberts Salomé derart im Schatten der übermächtigen Mutter, dass nicht deutlich wird, ob sie freiwillig oder unter mütterlichem Zwang tanzen. Diese Freiwilligkeit jedoch entscheidet über ihren Status als Femme Fatale sacrifiée oder Femme Fatale se sacrifiant.
Sehr deutlich wird die Tragik der Protagonistin in Friedrich Hebbels Rezeption des Judith-Mythos, die im Folgenden zum Prototypen der Femme Fatale traumatisée wird. Auf einer intensiven Suche nach Sinn in ihrer Existenz erscheint Hebbels Protagonistin gänzlich verloren. In der großen Hoffnung auf Erlösung tritt sie ihre Heldenmission an, erlebt jedoch körperliche Gewalt durch Holofernes und kehrt in starker geistiger wie emotionaler Verwirrung zurück in ihr früheres Leben. Hebbels Judithfiguration beginnt als eine in sich verlorene Femme Fatale tragique und endet schließlich als Femme Fatale traumatisée. Diese Metamorphose wird in Kapitel II.3.1 vorgestellt. In ihr wird zudem deutlich, dass die Motive im Moment des Mordes von jenen zu Beginn der Mission gänzlich verschieden sein können; eine Struktur, die über die Grenzen von Hebbels Werk hinausgeht und schließlich in Kapitel II.3.2 die Frage nach den Mordmotiven der Protagonistinnen in Differenzierung zu ihren ursprünglichen Absichten zum Untersuchungsgegenstand macht. Da ein medizinischer Begriff wie ‚traumatisée‘ problematisch sein kann, wird er in diesem Kontext einer reduzierten Definition unterzogen. Er bezeichnet eine starke geistige und emotionale Verwirrung bis hin zum Selbstverlust nach dem Erleben von äußerer Gewalt. In dieser Reduktion ist der Begriff komparatistisch nutzbar und literarisch hilfreich.
In Kapitel II.4. wird schließlich der vierte Typus der tragischen Femme Fatale vorgestellt, die Femme Fatale qui meurt. Dass der Tod nicht immer eine erlösende Funktion hat, wird am Beispiel der Herodias von Heinrich Heine deutlich, die auch über den Tod hinaus zur Teilnahme an der Wilden Jagd verdammt ist. Diese ausbleibende Erlösung gilt jedoch nicht nur ihr selbst, sondern auch dem lyrischen Ich, das Herodias' Ausstrahlung als übermächtig hypnotisch erlebt. Durch Herodias wird auch deutlich, dass die tragische Femme Fatale per definitionem kein emotional oder körperlich erlebtes Leiden tragen muss. Viel eher erscheint die Figur geistig entrückt mit dem einzigen Ziel, freudvoll zu verführen und zu töten. Sie ist dennoch keine Femme Fatale victorieuse, denn sie unterliegt der Macht, die sie zur Wilden Jagd verdammt. Eine Erlösung ist ihr demnach nicht vergönnt. Gleichzeitig wird deutlich, dass das Gruselmoment der Herodias gerade durch sein Fortbestehen auch nach dem Tod noch verstärkt wird. Das ewige verführende Weibliche ist im Atta Troll nicht nur an die nächste Generation, d.h. die Tochter Salomé, weitergegeben, sondern hat individuell über den Tod hinaus Bestand. Bei Heine kommt somit dem Tod eine gänzlich andere Funktion zu als bei Oscar Wilde, dessen Protagonistin ebenfalls stirbt. Bei Wilde dient der Tod allerdings tatsächlich der Beendigung fataler Weiblichkeit. Herodias hat mit ihrem steigenden Alter bereits an Einfluss verloren und Salomé wird für ihr Vorgehen schließlich mit dem Tode bestraft. Oscar Wilde verzichtet auf den Heine'schen Grusel und bringt zum Ende seines Dramas die Welt scheinbar wieder in Ordnung: Das grauenhafte Weibliche ist zum Tode verurteilt, der Mann bleibt – trotz seiner Schwäche – an der Macht. Nur den Täufer hat das Aufsehen den Kopf gekostet. Es wird deshalb in Kapitel II.4.2. zu zeigen sein, wie die unterschiedlichen Todeskonzepte miteinander interagieren und welchen Einfluss der Tod auf den jeweiligen Mythos hat.
1 Walz 2008, 130
2 Brittnacher 2001, 27
3 Maingueneau 1999, 18
4 Dottin-Orsini 1996, 9
5 Hilmes 1990, 10. Hilmes nennt als Merkmale der Minimaldefinition der Femme Fatale Weiblichkeit, Jugend und Fatalität.
6 Hilmes 1990, 225
7 Ksiazenicer-Matheron 2000, 8
8 Ksiazenicer-Matheron 2000, 43