Читать книгу Französisch verlernen - Elisa Diallo - Страница 7

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Im Juni 2017 wurde ich Deutsche. Ich habe mich zu diesem Schritt entschlossen, weil sich die Möglichkeit ergab, und weil es vergleichsweise einfach war. Seit acht Jahren lebte ich in Deutschland, und ich fühlte mich als Europäerin. Ich hätte es Jahre früher tun können, oder woanders, Niederländerin in Holland werden, wo ich zuvor mehr als elf Jahre gelebt hatte. Bis dahin hatte ich nie das Bedürfnis verspürt, und vor allem war ich mir sicher, ich könnte nie eine andere Nationalität annehmen, indem ich die meiner Geburt ablegte. Ich zahle meine Steuern in Deutschland, eigentlich sollte ich auch in diesem Land wählen können, sagte ich mir oft. Wenn man mir jedoch antwortete: »Du brauchst nur die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen«, erwiderte ich: »Unmöglich. Meinen französischen Pass abgeben? Kommt nicht in Frage.« Punkt aus. Warum »kommt nicht in Frage«? Weil ich mich Frankreich verbunden fühlte, meinem Geburtsland, in dem ich aufgewachsen war, das mich geprägt hatte. Die Tatsache, keinen französischen Pass zu besitzen, hätte allerdings nichts an dieser Verbundenheit geändert, ich würde weder meine französischen Erinnerungen verlieren noch die Kultur meiner Herkunft. Alles, was ich gelernt hatte, gehört, rezitiert, gesungen, die Musik, zu der ich getanzt hatte, alles, was mich zum Lachen gebracht oder mich aufgewühlt hatte, all meine Prägungen und die Menschen, mit denen ich sie teilte, und vor allem, ja vor allem die Sprache, meine Sprache, zu der ich vom ersten Moment an ein inniges, symbiotisches Verhältnis hatte, alles, was ich gelesen und geschrieben hatte: all das hatte nichts mit einem Pass zu tun.

Und dennoch war für mich die schlichte Tatsache, dass ich den Pass notfalls nicht mehr mit Drohgebärde schwenken könnte, um jeden Zweifel, jede Infragestellung meines »Französischseins« ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen, undenkbar, ja schwindelerregend. Als würde ich mitten im Kampf die Waffen strecken und mich verunstalten lassen. Was mich abhielt, war weder meine tiefe Verbundenheit mit dem Land noch ein Gefühl von Loyalität oder Patriotismus. Was mich an meinen französischen Papieren festhalten ließ, war letztlich Angst und die Frage der Rechtmäßigkeit – ein Problem, das sicher viele Franzosen mit einem Erbe wie dem meinen teilen, all die mit sogenanntem »Migrationshintergrund«, und besonders jene, die regelmäßig mit der subtilen Hinterfragung ihrer nationalen Zugehörigkeit konfrontiert sind, weil man ihnen ihre Herkunft auf Anhieb ansieht. Sind Franzosen mit afrikanischen Eltern in der Lage, ohne Zögern zu sagen: »Ich bin Franzose«? Ohne den kleinsten Vorbehalt, ohne ein leichtes Erzittern der Seele in dem kurzen Moment, in dem man erwartet, dass Widerspruch kommt oder zumindest Fragen? Manchmal rechne ich damit, erwarte es geradezu, vielleicht täusche ich mich ja.

Ich bin mir dieses Unbehagens relativ spät, erst nach einigen Jahren im Ausland, bewusst geworden, und zwar in dem Moment, als ich anfing, mich von meiner französischen Identität zu lösen, da lebte ich schon mein halbes Leben nicht mehr in Frankreich. Erst als mich die Frage der nationalen Zugehörigkeit nicht mehr so beherrschte, dämmerte mir, wie sehr ich, fast besessen, schon immer an ihr festgehalten hatte.

Dieses Unbehagen verwandelte sich im Zuge des Brexits und des französischen Präsidentschaftswahlkampfes 2017 in Panik, zu einer Zeit, als es nicht mehr völlig abwegig schien, dass die extreme Rechte an die Macht kam. Es handelte sich zunächst um eine unbestimmte Unruhe, der ich mir erst bewusst wurde, als ich begriff, dass ich sie schon lange mit mir herumtrug. Ich konnte es nicht klar benennen, aber was mich im Innersten seit dem aufkommenden Populismus in Frankreich, England sowie überall in Europa beunruhigte, war die Möglichkeit, jemand könnte eines Tages in Betracht ziehen, mich aus Frankreich auszuweisen. Als Kind von Immigranten, wenn auch nur über ein Elternteil, gehörst du nicht mehr zu uns, was natürlich stillschweigend bedeutet, dass du nie dazugehört hast – so klang die Botschaft.

Schon das französische Gesetz zur Verwirkung der Staatsbürgerschaft vom Dezember 2015, mit dem die Möglichkeit zur Ausweisung aus Frankreich auch auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgeweitet wurde, die schon seit ihrer Geburt in Frankreich lebten, hatte mich erschüttert. Zunächst konnte ich es einfach nicht glauben, aber dann kochte die Wut in mir hoch. Zu dieser Zeit fühlte ich mich sehr allein, denn keiner meiner Angehörigen teilte mein Entsetzen. In meinen Augen war das ein unverzeihlicher Verrat der damaligen sozialistischen Regierung unter François Hollande (in dieser Zeit schwor ich mir wütend, nie wieder die Sozialistische Partei zu wählen). All jene, so dachte ich, die wie ich seit jeher ahnten, dass ihre Zugehörigkeit zu Frankreich jederzeit in Frage gestellt werden könnte, mussten diesen symbolischen Schritt (dass er symbolisch zu verstehen war, darin waren sich alle einig) als Bestätigung ihrer Zweifel interpretieren. Es gibt eben die wahren Franzosen, und es gibt die anderen, die auf Bewährung da sind und vom guten Willen des Staates abhängen, der sich wiederum dem »Volk« mit seinen Launen und Befindlichkeiten beugt. Nach dem Erlass dieses Gesetzes schien mir plötzlich alles möglich.

Es lag zweifellos an dieser Mischung aus Angst und Wut, dass in mir der Wunsch reifte, mich einer anderen Zugehörigkeit zu vergewissern – sozusagen einer Back-up-Identität. Beim französischen Generalkonsulat in Frankfurt, wo ich zu jener Zeit meinen französischen Pass verlängert hatte, erfuhr ich rein zufällig, dass ich problemlos zwei europäische Staatsangehörigkeiten besitzen könnte, die deutsche und die französische. Das deutsche Gesetz erlaubte seit 2014 die doppelte Staatsbürgerschaft. Diese gute Nachricht war an mir vorbeigegangen. Ein Geschenk des Himmels. Ich wollte nicht gleich deutsche Staatsbürgerin werden, aber nach und nach kamen mein emotionales und mein rationales Ich zu demselben Schluss. Schließlich machte ich den Schritt, getrieben von der Angst, ganz ohne Zugehörigkeit dazustehen, und von der Gewissheit, damit nichts zu verlieren. Ich überschritt eine Linie, die zu überschreiten mir lange unmöglich erschienen war, um am Ende eine andere Nationalität anzunehmen als die, die man mir vererbt hatte.

Es war eine Ironie der Geschichte, dass mir 2017, gerade einmal siebzig Jahre nach der Nazi-Katastrophe, Deutschland als das einzige Land erschien, zumindest in Europa, in dem ich als schwarze Tochter eines Immigranten ohne Angst leben konnte. Was hätten wohl meine Großeltern dazu gesagt? Sie und auch meine Mutter waren der Meinung, dass sich Deutschland noch immer von seinem Nazi-Fieber und seinem Rassismus erholte, wenn nicht bis in alle Ewigkeit, so doch für die nächsten Generationen. Die neuen Deutschen, so hieß es, seien gewiss korrekte Leute, aber reichte das, um für die Demokratie und eine multikulturelle Gesellschaft eine Lanze zu brechen? Bis dahin sei es noch ein weiter Weg, ein sehr weiter. Frankreich dagegen, das sei das Land der Menschenrechte, eine integrierende Nation, gefeit vor Rassismus, wenigstens seit dem Ende des Kolonialismus. Das Land, in dem (im Gegensatz zu Deutschland!) alle innerhalb seiner Grenzen geborenen Menschen dazugehören, das Land der republikanischen Idee, für die es weder Hautfarbe noch Unterschiede gibt. Ein Land, in dem es jedem Migranten gut ergehen soll, jedenfalls genauso gut wie jedem gebürtigen Franzosen. Ich übertreibe vielleicht, aber nicht sehr.

Selbstkritik ist in Frankreich eine Seltenheit. Hingegen gehörte eine gewisse Bescheidenheit der meisten Deutschen gegenüber eigenen nationalen Mythen zu den ersten Dingen, die mir ihr Land sympathisch machten. Das würde gerade noch fehlen, dass sie auf ihre Vergangenheit auch noch stolz sind, die Deutschen – so denken viele Franzosen. Vielleicht, aber der naive Chauvinismus meiner französischen Mitbürger hat mich immer geärgert, und ich war sofort empfänglich für die deutsche Zurückhaltung in Sachen Patriotismus.

Und dennoch, dieses Deutschland … Ich lebte schon seit drei Jahren in München, als eine alte Freundin an meinem Hochzeitstag in ihrer Brautrede scherzte: »Wenn man mir das damals gesagt hätte …« Sie rief unsere Deutschstunden im Gymnasium in Erinnerung, wie unglaublich absurd es uns Heranwachsenden erschien, die wir cool und eher mittelmäßig in der Schule sein wollten, diese schreckliche Sprache mit ihrer unverschämt schwierigen Grammatik zu lernen.

Sie erinnerte sich auch an meinen deutsch-französischen Schüleraustausch, als ich fünfzehn war, von dem ich nur Schreckliches zu berichten hatte. Zwei Wochen lang – oder doch nur eine? – war ich in Schweinfurt gewesen, einer Provinzstadt zwischen München und Frankfurt. Das war im Juni 1991. Ich erinnere mich so gut an den Zeitpunkt, weil mein Aufenthalt in Deutschland mit einem der spektakulärsten Streiks der Kohl-Ära zusammenfiel. Aber nicht der Streik war der Grund, dass alles so schrecklich war in Deutschland, sondern die Tatsache, dass alles geschlossen war, die Museen, sogar das Schwimmbad, und dass die öffentlichen Verkehrsmittel nicht funktionierten, kam auch nicht gerade gelegen.

Noch Jahre später – und manchmal tue ich es noch heute – fasste ich die Absurdität meines Deutschlandaufenthaltes so zusammen: In dieser westdeutschen Stadt mit 50.000 Einwohnern etwas mehr als eine Fahrstunde von Frankfurt entfernt, blieben die Menschen auf der Straße stehen, um mich anzustarren. Ich kannte nur Paris und habe mich dort immer zu Hause gefühlt, als eine unter anderen. Hier war ich plötzlich so etwas wie ein Schaubudenphänomen, nur weil ich nicht weiß war, und das verunsicherte mich dann doch. Ich hatte nur eine Grenze passiert, aber mir schien, ich sei in einer anderen Epoche gelandet, in einer Zeit, in der in Europa jeder weiß war und die Schwarzen der Kolonien nur auf Abbildungen existierten. Vom ersten Abend an weinte ich jedes Mal, wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, und ich hoffte inständig, dass sie verstand, wie sehr mich diese Erfahrung demütigte, und meinen Aufenthalt abkürzen würde.

Es waren ja nicht nur die Blicke Unbekannter auf der Straße. Da war auch die Mutter meiner Gastfamilie, die bei unserer ersten Begegnung ausrief: »Für eine Schwarze bist du eigentlich ganz hübsch!« Und da war die ungefähr fünfjährige Tochter, die mir ihre schwarze Barbiepuppe mit den Worten hinhielt: »Du bist eine Negerin, du spielst mit der Negerpuppe.« Ich kannte dieses Wort nur vom Hörensagen, wie die Vokabel einer toten Sprache. Noch nie hatte ich es »in echt« aus dem Mund eines direkten Gegenübers gehört. Ich war baff und drauf und dran, die versteckte Kamera zu suchen, die mir diesen absurden Dialog erklärt hätte. Dann war da die Nachbarin, die uns manchmal in die Stadt mitnahm, weil der Linienbus mal wieder nicht fuhr. Sie war abweisend – das passiert –, aber nur mir gegenüber. Sie rauchte im Auto, und weil mir davon schlecht wurde, hatte ich das Fenster heruntergekurbelt; daraufhin hielt sie an, lief ums Auto, öffnete wütend meine Tür und kurbelte wortlos das Fenster wieder hoch. Ich war den Rest des Tages wie gelähmt.

Mir waren die zweideutigen Witze und kleinen Anspielungen auf meine Hautfarbe und mein »Anderssein« seit jeher bekannt, aber nie zuvor war ich so offen rassistischen Anfeindungen ausgesetzt gewesen. In meiner Vorstellung war ganz Deutschland so: rassistisch, provinziell, ganz einfach hinterher. Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Fuß hierhin zu setzen. Bis in die 1990er Jahre war es leicht, Deutschland zu verachten. Für uns junge Pariser war es das uncoolste Reiseziel der Welt. Für mich war es vor allem Feindesland. Meine guineischen Cousinen und Cousins, wie überhaupt alle Afrikaner, scherzten, man könne Deutschland ruhig auf den Frankfurter Flughafen beschränken und den Rest gerne von der Landkarte streichen, dort lebten eh nur Nazis.

Heute reden sie ganz anders.

Zuallererst weil sich Deutschland verändert hat. Die Leute, denen ich 1991 in den Schweinfurter Straßen begegnet bin, sind heute überwiegend alt. Ihnen folgte eine neue Generation, die Deutschland ein komplett anderes Gesicht verliehen hat. Deutschland hat sich innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre mehr verändert als Frankreich. Vielleicht ist dieser Eindruck subjektiv, aber ich glaube, Deutschland ist jünger geworden. Als das Land 2008 wieder in mein Blickfeld rückte, war ich sehr angetan, damals lebte ich noch in den Niederlanden. Berlin war mittlerweile die sexyste Stadt der Welt, dort fühlte ich mich überall wohl, und auch wenn es auf den Straßen weniger Schwarze als in Paris gab, waren sie im deutschen Fernsehen entschieden stärker vertreten als im französischen.

Zu jener Zeit lebte ich seit über zehn Jahren in Amsterdam, wo die Stimmung immer mehr kippte. Mir wurde zunehmend klar, dass ich meinen Sohn dort nicht großziehen konnte. Die Populisten gewannen Sitze im Parlament und hatten nur ein Thema: die nationale Identität und natürlich die Einwanderung. Man muss schon hart im Nehmen sein, wenn man Geert Wilders über Islam, Muslime und Niederländer besonders marokkanischer Herkunft reden hört. Zu jener Zeit um 2008 traute ich oft meinen Ohren nicht. Gleichzeitig wunderte ich mich, dass sich nur wenige zu seinen Standpunkten äußerten und widersprachen. Heute gehören seine Reden von damals zum Mainstream, aber 2008 war Wilders für mich ein Verrückter, und das Schweigen, mit dem die Leute aus meinem Umfeld diesen Wahnsinn quittierten, war für mich nur in Holland vorstellbar. Immer öfter, vielleicht auch aus dem Kontrast heraus, erschien mir Deutschland als eine logische Alternative. Ich konnte die deutsche Presse nicht verfolgen, weil ich kein Deutsch sprach, aber mir erschienen die politischen Diskussionen zivilisierter als in Holland oder Frankreich. Wenn ich meinen deutschen Freunden die niederländische politische Situation beschrieb oder vom Erstarken des Front National in Frankreich berichtete, waren sie erschüttert, als ob sie so etwas in Deutschland für unmöglich hielten. Je öfter ich Deutschen begegnete, und je öfter ich mit ihnen die europäische Politik diskutierte, desto klarer wurde mir die Besonderheit Deutschlands. Die Deutschen waren so sehr von ihrer Nazi-Vergangenheit traumatisiert, dass sie nicht Gefahr liefen, dem je wieder auf den Leim zu gehen.

Im Gegenzug dazu schien sich in den 2000er Jahren überall sonst die Büchse der Pandora zu öffnen, und heute, über zehn Jahre später, scheint alles möglich zu sein. Wenn meine guineischen Cousinen und Cousins Deutschland nicht mehr verteufeln, dann nicht nur, weil sich Deutschland zum Besseren verändert, sondern weil sich der Rest Europas zum Schlechteren gewandelt hat. Ich habe Frankreich und Holland hautnah erlebt, ich habe beschlossen, dort nicht mehr zu leben. Aber die anderen europäischen Länder, die ich aus der Ferne beobachte, finde ich auch nicht besser. Sie scheinen alle von ein und derselben Sache besessen zu sein: der nationalen Identität, der Immigration. Man spricht schon gar nicht mehr von Immigration, sondern vom »Problem Immigration«. Unmöglich, das Wort »Problem« wegzulassen. Man spricht zudem von fast nichts anderem mehr als von Flüchtlingen, Immigranten, Muslimen – all jenen, die Europa nicht haben will. Unwichtig, dass es sich hierbei um eine kleine Minderheit handelt, dass Europa einer der wohlhabendsten Kontinente der Welt ist, dass sich seine Bevölkerung auf etwas mehr als 500 Millionen Einwohner beläuft und es daher absurd erscheint, dass diese Bevölkerung 2015 ernsthaft Angst vor drei Millionen Flüchtlingen hat. Als würde sich eine Gruppe von fünfhundert Personen vor dem Eintreffen drei neuer Menschen fürchten. Das Problem ist nicht die Anzahl der Flüchtlinge. Nur zwei pro Monat wären schon zwei zu viel. Deutschland hat auf dem Höhepunkt der »Flüchtlingskrise« ein positives Zeichen gesetzt. Für ein so reiches Land kam es nicht in Frage, Menschen in Not nicht aufzunehmen. Und wenn es sich um Muslime handelte! Die ganze Welt hat das »Wir schaffen das« der deutschen Kanzlerin vernommen. Angela Merkel hatte diese Worte anlässlich einer Pressekonferenz, auf der sie viel anderes gesagt hat, ganz spontan geäußert, aber diese Aussage war so bedeutsam, dass sie in den südlichen Ländern plötzlich zur populärsten westlichen Politikerin wurde. Um es ganz konkret mit Frankreich zu vergleichen, das sich für ein gastfreundliches Land hält: Mannheim, wo ich lebe, hat 2015 vierzehntausend Flüchtlinge, vor allem Syrer, aufgenommen. Die Stadt hat dreihunderttausend Einwohner. Im selben Jahr hat der französische Präsident François Hollande sich einverstanden erklärt, dreißigtausend Flüchtlinge aufzunehmen. Ich spreche nicht von Bordeaux, das so viele Einwohner wie Mannheim hat. Nein, ich spreche von Frankreich, einem (reichen) Land mit siebzig Millionen Einwohnern.

Etwas verkürzt gesagt hatte ich schon immer die leise Ahnung, dass es ein Feingefühl des »Südens« gibt, dem sich die Nicht-Weißen dieser Welt mehr oder weniger verbunden fühlen, also all jene, die die Europäer zu den Nicht-Weißen zählen. Eine Kategorie, die sich abhängig von Zeit und kollektivem Bewusstsein wandelt. Aufgrund dieses Feingefühls nehmen wir am Schicksal der Flüchtlinge aus den arabischen Ländern teil, und wenn eine europäische Regierung beschließt, ihnen die Tür zu öffnen, fühlen wir uns gleichermaßen alle willkommen. Legt man diese Hypothese zugrunde, ist das Gegenteil dieser großen Solidarität leicht vorstellbar. Ich fühlte mich persönlich verraten, als Emmanuel Macron der mit Flüchtlingen aus dem Mittelmeer überfüllten Aquarius untersagte, in Frankreich anzulegen. Mir, und ich bin sicher, das gilt auch für alle Migranten in Frankreich sowie für die Kinder von Migranten, fehlten die Worte, um meiner Enttäuschung und meiner Wut Ausdruck zu verleihen. Ich fühlte mich persönlich zurückgewiesen. Aber das Schlimmste war, dass, abgesehen von ein paar Kommentaren in der linken Presse, das Leben wie gewohnt weiterging, als wäre nichts geschehen. Unnötig zu erwähnen, dass die Menschen in meinem Umfeld fast ausschließlich weiß sind (oder vielmehr sich als weiß verstehen). Aber auch für mich ging offensichtlich das Leben weiter, als wäre nichts geschehen, dasselbe galt für meine guineischen Cousinen und Cousins oder meine wenigen Freunde afrikanischen Ursprungs. Ich glaube, dass für viele Franzosen mit Migrationshintergrund, selbst für jene, die sehr erfolgreich geworden sind, in dem Moment etwas zerbrach. Ich kann nur für mich sprechen, aber was mich betrifft, hat die Angst die Oberhand über meinen Optimismus und meinen Glauben an die Zukunft gewonnen. Ich glaube nicht mehr an ein Happy End. Als Kind und Jugendliche in den 1980er Jahren sah für mich die Zukunft wie folgt aus: Die guten Kräfte würden den bedeutungslos gewordenen und zur Auslöschung bestimmten bösen Kräften ins Gesicht lachen. Grenzen würden verschwinden, Rassismus wäre eine Sache der Alten, denen man keine Beachtung mehr schenkt. Die Zukunft gehörte den Aktivisten mit dem Sticker »Touche pas à mon pote!« [Mach meinen Kumpel nicht an] oder all den anderen, die insgeheim genauso dachten. Es stimmt, dass ich mich nicht wohl fühlte, wenn man mich fragte, woher ich kam, woher ich denn wirklich stammte. Auch wenn es mir nicht ganz bewusst war, dieses Unwohlsein war der Ausdruck meines Gefühls, nicht wirklich »dazuzugehören«. Nicht wie alle anderen ein Recht auf meine Heimat (dt. im Original) zu haben. Aber ich spürte genauso deutlich, dass mein Fremdheitsgefühl mit der Zeit abnehmen würde. Heute, 2018, habe ich den Eindruck, dass »Touche pas à mon pote!« der Vergangenheit angehört und dass wir nicht wesentlich weitergekommen sind. Ich werde nie dazugehören; wir, die wir nicht weiß sind, werden immer Fremdkörper sein – in guten Zeiten geduldet, aber Sündenböcke, wenn Unzufriedenheit um sich greift. Nie wahrhaftige Bürger mit allen Rechten und Pflichten.

Ich weiß nicht, ob Deutsche zu werden und zugleich Französin zu bleiben, die Lösung ist. Unterm Strich gibt es gute Gründe, sich auch in Deutschland Sorgen um die Zukunft von Migranten und Kindern von Migranten zu machen. Die rechtsextreme AfD ist ins Parlament eingezogen. Angela Merkel wird mehr und mehr für ihr »Wir schaffen das« kritisiert. Nicht umsonst ist sie bei der Asylfrage in einigen Punkten zurückgerudert. Die Gesetze sind in den letzten Monaten strenger geworden. Trotzdem bleibt sie standhaft, und vor allem ist sie sehr wachsam, was die symbolische Bedeutung dieser Gesetze betrifft. Sie wird nicht müde zu betonen, dass nicht die Migration das größte Problem Europas ist und dass die Angst in keinem Verhältnis zur Herausforderung der Flüchtlingsfrage steht. Sie ist die Einzige in Europa, die diesen Standpunkt vertritt. Darüber hinaus sind die Deutschen darin geübt, über sich selbst nachzudenken und politische Symbole mit Vorsicht zu genießen. Auf jeden Fall ist sich Deutschland rassistischer Reflexe bewusst, den nationalen Mythos hat das Land so gut wie abgeschafft. Irgendwie fühle ich mich in Deutschland sicher, denn ich glaube, dass die extreme Rechte nicht wirklich an die Macht kommen wird. Mir scheint, dass die Frage der nationalen Identität in Deutschland viel rationaler behandelt wird als in Frankreich oder den Niederlanden, die meiner Meinung nach beide ein viel zu gutes Bild von sich haben und denen es an Demut mangelt. Wo gibt es in Frankreich außer an den Universitäten eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos der nationalen Identität, der Geschichte des Kolonialismus oder dem gegenwärtigen Kolonialismus? In den Niederlanden ist der Kolonialismus regelrecht tabu. Der Staat weigert sich bis heute, sich bei den Indonesiern für die Gräueltaten zu entschuldigen, die er an ihnen im Unabhängigkeitskrieg zwischen 1945 und 1949 verübt hat. Das ist ein Skandal. Freilich, es stört niemanden, bis auf die Indonesier – aber wen interessiert’s? Ein Drittel der Amsterdamer sind keine gebürtigen Niederländer, sie stammen aus Marokko, der Türkei und vor allem aus den ehemaligen Kolonien Indonesien, Surinam und von den Antillen. Trotzdem feiert man jedes Jahr kurz vor Weihnachten in jeder Stadt, jedem Dorf Sankt Nikolaus mit einem Umzug, bei dem sich die weißen Niederländer als Zwarte Piet (Knecht Ruprecht) verkleiden und sich dafür schwarz anmalen. Es ist angeblich eine Tradition, und wehe ein monströser Barbar (Ausländer natürlich) wagt es, die niederländischen Kinder um dieses Vergnügen bringen zu wollen! Dabei reicht, im Gegensatz zu den meisten Traditionen, an denen man festhält, diese hier nicht einmal zwei Generationen zurück. Und welche Kinder sind überhaupt gemeint? Kinder mit krausem Haar und dunkler Haut, die nicht verstehen, dass man sich über ihre Zwarte-Piet-Verkleidung lustig macht? Denen entgegnet der Rest des Landes, egal welcher sozialen Schicht, fröhlich, sie seien ja nicht gemeint, und geben ihnen so zu verstehen, dass sie nicht zu denen gehören, die diese Pseudo-Tradition so lieben. Diese Kinder zählen nicht, man toleriert sie, aber sie haben keine Stimme. Aber wehe ein Staatsbürger kritisiert diese Tradition, der nicht waschechter Niederländer ist. Er wird es, ich komme noch darauf zurück, mit einer besonders widerwärtigen Form der Gewalt zu tun bekommen, mit der alten Kolonialgewalt jener Gesellschaften, die nie über ihren Platz in der Welt nachgedacht haben und nie ein für alle Mal mit der alten Plage des Rassismus, die an ihnen nagt, aufgeräumt haben. Zugegeben, über die Frage der Identität wird unaufhörlich diskutiert, aber für viele, die sich leidenschaftlich damit befassen, wird diese Diskussion nicht tiefgreifend und konstruktiv genug geführt. Es geht darum, sich vom anderen abzusetzen, indem man laut und deutlich behauptet, man sei ganz anders. Die europäischen Gesellschaften halten sich für fortschrittlich und maßen sich entsprechend das Recht an, mit dem Finger auf die sogenannten traditionellen »Kulturen« zu zeigen, aus denen die Migranten kommen. Wo bei Ausländern angeblich Aberglaube und religiös geprägtes Stammesdenken überwiegen, da halten wir uns für umso laizistischer und rationaler. Besonders was geschlechtliche Gleichberechtigung anbelangt, halten wir uns für fortschrittlicher, wohingegen der typische Migrant frauenfeindlich ist, was man daran erkennt, dass er Frauen nicht die Hand gibt und die verschleierte Frau nicht das Wort ergreift. Kurzum, unsere Diskussion, egal auf welchem Niveau sie staatfindet, dreht sich im Kreis, unsere Überlegungen greifen zu kurz, sind zu simpel, es ist eine Scheindiskussion, die uns daran hindert, uns weiterzuentwickeln.

Ich gebe zu, dass mich Angela Merkel 2015 beeindruckt hat. Davor hat sie mich nicht besonders interessiert. Und bis zu diesem einschneidenden Ereignis wäre ich nie auf die Idee gekommen, Deutschland gastfreundlich zu nennen. Mein Blick auf dieses Land hat sich in der Flüchtlingskrise komplett geändert, auch hinsichtlich meiner Stellung und Zukunft in diesem Land. Ich folgte den Debatten im Fernsehen, in denen Journalisten und Intellektuelle die positiven Seiten der Migration hervorhoben und die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands feierten. Ich wurde Zeuge der Geburt einer euphorischen Diskussion zur Rolle Deutschlands in der Welt: eine starke Wirtschaft, eine der stabilsten Demokratien der Welt, ein gastfreundliches Land, das vielleicht einmal eine führende Rolle einnehmen und darin die USA überholen könnte. Zum ersten Mal, seitdem ich 2009 nach Deutschland gekommen war, fühlte ich mich als Mitglied dieser Gemeinschaft. Angela Merkel versetzte mich mehr ins Träumen als acht Jahre zuvor Barack Obama. Meine Kinder würden hier aufwachsen und sich wie ihre blonden Freunde diesem Land zugehörig fühlen, sie sind hier geboren und sprechen die Sprache. Und die Tatsache, eine Mutter zu haben, die in Frankreich, einen Großvater, der in Guinea geboren wurde, muslimische Cousinen und Cousins zu haben, werden sie als Reichtum verstehen, als etwas Schönes und Interessantes. Sie begreifen überhaupt nicht, dass man sich dafür schämen könnte.

Das ist ein Traum, wir sind weit davon entfernt. Mir gefällt es, Deutschland als Verheißungsland zu sehen, mein Alltag lässt mich jedoch oft daran zweifeln. Aber ich habe mich entschieden, diese Wette einzugehen und daran festzuhalten. Ich gebe zu, dass der allgemeine Rassismus hier besser auszuhalten ist als in Frankreich, weil ich hier weniger darunter leide. Es ist ein bisschen wie mit den Defiziten der eigenen Eltern, die einen peinlich berühren, wohingegen man sie bei anderen Eltern kaum wahrnimmt. Deutschland ist nicht das Elternteil, das mich zurückgewiesen hat, allerhöchstens eine alte Freundin der Familie, die mich aufgenommen hat und bei der ich ein und aus gehen kann, wann ich will. Erst mein freiwilliges Exil und der Abstand haben es mir ermöglicht, über die problematischen und schmerzlichen Familienbande nachzudenken, die mich seit jeher belasten. Paradoxerweise habe ich den Eindruck, mich von ihnen zu befreien, indem ich andere Verbindungen hinzufüge und damit meine Familienbande verkompliziere. Über die Jahre bin ich von der afrikanischen Immigrantentochter in Frankreich über die Ausländerin in den Niederlanden in Deutschland zur Deutschen mit europäischem Hintergrund geworden. Ich bin Französin, Deutsche, Afro-Europäerin, ohne mich wirklich als etwas von allem zu fühlen.

In dem Jahr zwischen dem Antrag auf Einbürgerung und dem Staatsakt zur Aufnahme in die deutsche Gemeinschaft wollte ich Tag für Tag, vom ersten bis zum letzten Tag, all jene diffusen Gedanken aufrollen, die mich seit jeher beherrschen, und ihre Spur bis in die dunkelsten Winkel uralter Ängste und Gefühle verfolgen: all jene diffusen Gedanken zum europäischen Rassismus, seinen Erscheinungsformen und seiner Zukunft, was mich mit Frankreich verbindet, der Begriff der Staatsbürgerschaft und die symbolische Bedeutung von Gemeinschaft, der ewige Wunsch, sich zugehörig zu fühlen, und auch und vor allem mein Erbe und was ich davon weitergeben würde. Dieses Jahr war eine lehrreiche Reise.

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