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Countdown: minus drei Wochen
ОглавлениеIch hasse Hochzeiten.
Wirklich, das ist nicht diese Saure-Trauben-Philosophie von Frauen, die das Gleiche behaupten und sich dann zu gewaltigen Hochzeitsfans entwickeln, sobald es um sie selbst geht. Ich finde Hochzeiten wirklich blöd.
Ganz ernsthaft.
Ich meine, da treffen sich zwei Familien, als ob eine alleine nicht schon furchtbar genug wäre, alle in pastellfarbenen Fummeln und albernen Hüten, um sich anzugucken, wie zwei Leute ein bescheuertes Ritual vollziehen – bloß um sich im Durchschnitt vier Jahre später unter großen Kosten und viel Gezänk wieder zu trennen.
***
Leider war der Lieblingsfilm meiner Schwester Carla Vier Hochzeiten und ein Todesfall, aber die Ironie darin war ihr nie aufgegangen – sie wollte genauso heiraten wie die Leute im Film. Sie würde wie ein Sahnebaiser aussehen und mir kam wohl die Rolle der Fiona zu, der leicht verbitterten Beobachterin am Rande, die vergeblich in den Helden verliebt ist.
Ich sah mich schon, in düsterem Schwarz, einen Drink in der Hand, unauffällig nach jemandem schmachten, der mich nicht wollte. Nein, Carla hatte mir Schwarz schon verboten, und ich schmachtete zwar wirklich vergeblich nach jemandem, der mich nicht wollte, aber der würde nicht auf der Hochzeit sein, weil Carla ihn überhaupt nicht kannte. Sie hatte ja schon gemeint, die Leute lernten ihre künftigen Partner gerne auf Hochzeiten kennen (auch das hatte sie aus dem Film), und ob ich nicht auch endlich mal...?
Cora, unsere Jüngste, war eher der Ansicht, dass Hochzeiten auf normale Menschen abschreckend wirken, aber damit gelang es ihr nur, Carla zu beleidigen – was zurzeit nicht allzu schwer war, da Carla fürchterlich nervös war. Schließlich musste ja „alles“ klappen!
Scheißhochzeit. Noch zwanzig Tage bis zum Wochenende des Schreckens.
Das kam ja noch dazu, dass Carla und ihr Paul nicht wie normale Leute heiraten konnten, schnell aufs Standesamt und am Samstagnachmittag in die Kirche um die Ecke, dann ein nettes Essen und die Sache war ausgestanden – nein: An Himmelfahrt würden wir anreisen, und dann sollte es dreieinhalb Tage Festivitäten geben. Kein Kronprinz betrieb solchen Aufwand!
Das war übrigens Carla zweite Inspirationsquelle – etwa um die gleiche Zeit wie sie würden zwei Prinzen heiraten (welche, hatte ich schon wieder vergessen, ich kannte bloß Prinz Charles, und der war es nicht), und die Berichte in der Regenbogenpresse, wie das Brautkleid aussehen würde, wie sehr die künftigen Prinzessinnen weinen mussten, weil ihre Schwiegermütter gemein zu ihnen waren, was passierte, wenn sie keine Kinder oder Gott behüte nur Töchter kriegten, ob sie nicht überhaupt längst schwanger waren, was sie in ihrer Jugend so getrieben hatten, wo, wie und warum sie ihre Prinzen kennen gelernt hatten und was sonst noch keinen denkenden Menschen interessieren konnte, waren zur Zeit Carlas bevorzugte Lektüre, neben Hochzeitsratgebern natürlich.
Carla war nicht so doof, wie es sich anhört, sie hatte BWL studiert und arbeitete in der Firma unseres Vaters, der eine kleine, aber feine Investmentfirma betrieb, komplett mit eigenem Börsenbrief und einigen sehr ausgewählten Fonds. Bevor sie und Paul beschlossen hatten, zu heiraten, las sie Wirtschaftszeitschriften, anständige Romane, Krimis und alles Mögliche, aber bestimmt nicht Herz der Frau oder ähnlichen Quark.
Jedenfalls sollte die Hochzeit in Grafenreuth stattfinden, einem ziemlich großen – und meiner Ansicht nach auch ziemlich hässlichen – Schloss etwa zwanzig Kilometer südlich von Leisenberg.
Die Eigentümer konnten das Schloss offenbar nur halten, indem sie es für solche Events vermieteten; es bot einen Ballsaal für den Polterabend und den Hochzeitsball, eine Schlosskapelle, einen Ratssaal für die standesamtliche Trauung (der Standesbeamte reiste zu diesem Zweck und für ein Extrasalär mit Laptop und Drucker an) und genügend Zimmer für alle Gäste. Plus eine hochmoderne Küche, in der sich die Cateringfirma austoben konnte, und Parkanlagen, in denen sich die nächsten Kundenpaare näher kommen sollten.
Wieso Grafenreuth so heißt, ist mir ein Rätsel – die Eigentümer sind keine Grafen und waren es nie, und das Schloss ist erst um 1900 herum im damals modisch-geschmacklosen Stil erbaut worden. Ich glaube, man nennt das Neurenaissance. Gerodet wurde dort auch nichts, vorher stand dort ein kleines Landhaus aus dem frühen 19. Jahrhundert. Also ist auch –reuth ein ziemlicher Blödsinn.
Wie diese ganze Hochzeit eben. Konnten Carla und Paul nicht heiraten, ohne uns allen damit auf die Nerven zu gehen? Seit Wochen ärgerte ich mich darüber. Papa ärgerte sich darüber, Cora ärgerte sich darüber – nur Mama hielt zu Carla und war überglücklich, dass wenigstens eine ihrer Töchter mit allen Schikanen heiratete, wenn schon die anderen gar keine Anstalten machten und der einzige Sohn eine südfranzösische Mairie vorgezogen und überhaupt niemanden eingeladen hatte.
Carla und Mama hatten das Wohnzimmer mit Prospekten, Stoffproben, Notizzetteln, Geschenkeblöcken und sonstigem Krempel so gefüllt, dass Papa täglich später aus der Arbeit kam und sich dann sofort in sein Arbeitszimmer flüchtete. Wenn Cora oder ich dort vorbeischauten, steuerten wir auch sofort das Arbeitszimmer an – meistens vergeblich: Carla lag nach Büroschluss auf der Lauer: „Guck mal, das soll die Tischdekoration für den Polterabend werden. Wie findest du´s?“
Wir brummelten dann „Schön“, ohne groß hinzugucken.
„Wirklich? Jetzt schau´s dir doch richtig an. Nicht zu bunt/zu farblos/zu groß/zu klein? Passt das auch zu allem anderen?“
Da wir keine Ahnung hatten, wie alles andere aussah, bestätigten wir alles, was Carla hören wollte, und entflohen. Zurzeit schauten wir fast täglich vorbei, um Papa eine Stütze zu sein, der von Mama und Carla systematisch in den Wahnsinn getrieben wurde. Carla wohnte sogar wieder dort, um der Tradition willen. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, sich operativ wieder zur Jungfrau machen zu lassen, würde sie das wahrscheinlich auch in Erwägung ziehen.
Stefan dagegen hielt sich möglichst fern und sprach von Hochzeitshysterie. Recht hatte er!
Im Moment saß ich an meinem Schreibtisch und versuchte, mich auf die Unterlagen von zwei neu einzustellenden Ingenieuren zu konzentrieren, aber diese Hochzeitshysterie hatte mich schon so weit angesteckt, dass ich mich dabei ertappte, dass ich mal wieder überlegte, was ich an diesem teuflischen langen Wochenende anziehen sollte.
Carla war ja schon eine liebe Schwester, trotz der momentanen Vollmeise, also hatte sie sich gewünscht, dass ich ihre Trauzeugin sein sollte. Das heißt, etwas Offizielles, Schickes fürs Standesamt bzw. den Ratssaal.
Außerdem hatte sie Vier Hochzeiten und ein Todesfall so oft gesehen, dass sie sich nun allen Ernstes Brautjungfern einbildete - als ob das hierzulande üblich wäre! Und natürlich sollte ich eine der Brautjungfern sein, außerdem meine drei besten Freundinnen, Silke, Anette und Nina. Mein zarter Hinweis, dass keine von uns auch nur annähernd jungfräulich war (Nina kann das mit zwei Kindern sogar beweisen), wurde beiseite gewischt: „Ist doch egal! Ich will vier schöne Frauen in identischen Kleidern.“
„Und was sollen die machen? Dumm rumstehen? Deine Schleppe zurechtzupfen?“
„So etwa“, hatte sie, nun doch etwas verlegen, zugegeben.
„Carla, du hast doch nicht ernsthaft eine Schleppe? Spinnst du? Hast du zu viele Adelshochzeiten im Fernsehen geguckt?“
„Die waren doch noch gar nicht“, verteidigte sie sich. „Aber eine Schleppe gibt einfach einen ganz anderen Auftritt. Nun lass mich doch, man heiratet schließlich nur einmal im Leben, da kann man´s doch auch krachen lassen!“
„Das kannst du doch gar nicht wissen“, warf Stefan ein, der sich unvorsichtigerweise in das mit Hochzeitskrempel vollgestopfte Zimmer wagt hatte. „Du heiratest zum ersten Mal, aber ob zum letzten?“
„Idiot“, kommentierte Carla gelassen, „aber du kommst mir gerade recht. Nix, hier geblieben, Kati, halt ihn fest!“
Ich packte Stefan am Kragen. Er sollte ruhig auch irgendwas Peinliches machen! Brautjungfer, also wirklich! Stefan guckte ängstlich, als ich ihn auf einen Sessel drückte, auf dem zufällig keine Stoffproben und keine aufgeschlagenen Zeitschriften lagen.
„Du machst den Platzanweiser. Du und ein Freund von Paul, vom Studium.“
Stefan verdrehte die Augen. „Platzanweiser? Ich wusste gar nicht, dass du im Kino heiraten willst.“ Carla grinste.
„Du stehst an der Kapellentür, ein Sträußchen im Aufschlag, und murmelst immerzu „Familie der Braut links, Familie des Bräutigams rechts“, erklärte ich ihn. „Du musst dir offenbar den Film noch ein paar Mal reinziehen.“
„Verschon mich, ich finde, Hugh Grant ist ein Brechmittel. Also von mir aus. Krieg ich auch eine Taschenlampe wie im Kino?“ Ich versprach es ihm – blumengeschmückt natürlich.
Zurück zu den Akten! Ich schaffte mit knapper Not eine, dann fiel mir ein, dass ich auch noch einen Fummel für den Polterabend brauchte. Und was für zwischendurch. Am besten sollte ich eine Liste anlegen. Ordnung und Methode als Gegenmittel gegen die Hysterie in meiner Umgebung.
Also – Anreise am Donnerstag: Jeans, T-Shirt, Jacke, falls Regen. Normale Schuhe, Loafers oder so. Donnerstagabend: Polterabend: Fummel 1 (hatte ich auch noch nicht, Mist!) und all mein altes Geschirr – ich hatte da eine ganze Menge übrig. Dazu passende Pumps, aber noch kein Hut.
Freitag – Freitag: was war da denn eigentlich geplant? Also sicherheitshalber etwas Lässiges (Casuals 2) und etwas Offizielles (Fummel 2). Und was für abends (Fummel 3).
Samstag – standesamtliche Trauung: offizielles Kostüm, Hut, andere Pumps, anständige Strümpfe. Fummel 4. Danach Hochzeitsfrühstück, den Rest des Tages frei. Casuals 3 also. Das wuchs sich ja langsam zu einem Schrankkoffer aus! Gut, dass ich Platz in meinem Auto und zwei Kleidersäcke hatte. Trotzdem – was für ein Aufwand!
Die kirchliche Trauung war erst am Sonntagmittag. Also für Sonntag dann das Brautjungferngewand (apricot, wie entsetzlich!) mit passenden Pumps und Hut. Schleppte das eigentlich Carla an oder musste ich mich selbst drum kümmern?
Und wieso musste ich mir tatsächlich zwei blöde Hüte zulegen? Und jede Menge Schuhe, die ich nie wieder tragen würde? Für apricotfarbene Seidenpumps konnte ich mir jedenfalls keinen Verwendungszweck vorstellen.
Außerdem mindestens ein Nachthemd, einen Morgenmantel, Kosmetika satt inklusive Schminkkrempel, Parfüm, mindestens zwei anständige Krimis für tote Momente und mein Hochzeitsgeschenk. Carla hatte sich von mir einen richtig luxuriösen Picknickkoffer samt Decke gewünscht. Das „luxuriös“ hatte sie so betont, dass sogar ich verstand, dass ein Sonderangebot aus dem Baumarkt (die gab´s schon ab 19.95 €) nicht gefragt war. Ich hatte aber einen sehr schönen Koffer gefunden, sogar in dem teuren Schuppen, in dem Carla und Paul ihre Hochzeitslisten ausgelegt hatten: Echtes Porzellan, echtes Kristall, echtes Silber (naja, fast) – und eine richtige gummierte Wolldecke in dezentem Schottenmuster. Alles very british. Ob man die Macher von Vier Hochzeiten eigentlich auf Schmerzensgeld verklagen konnte? Das Ding hatte fast zweihundert Euro gekostet!
Dann brauchte ich also insgesamt... mindestens vier, besser fünf gute Outfits und auf jeden Fall drei normale, außerdem –
„Frau Engelmann, denken Sie an das Meeting um drei?“
Scheiße, und ich hatte erst eine Akte durch! „Ja doch, ich komme gleich“, rief ich meiner Sekretärin durch die offene Tür zu und warf einen hastigen Blick auf die Uhr. Zwanzig vor, verdammt.
Schnell sah ich die zweite Akte durch, notierte mir ein paar fragliche Punkte, kramte meine Liste von diversen Problemen heraus, die ich ansprechen wollte, und packte alles zusammen. Der Schreibtisch war immer noch proppenvoll, und das alles nur wegen dieser Hochzeit!
Im Sitzungszimmer war ich immerhin die erste, die Sekretärin des Personalchefs (ich war ja bloß die Stellvertretung) verteilte noch diese affigen kleinen blauen Mineralwasserfläschchen und dazu passende Flaschenöffner. Ich setzte mich auf meinen üblichen Platz, holte meine Unterlagen aus der Mappe und nutzte die geschenkten Minuten, um noch schnell etwas durch die Bewerbungen zu blättern, fand aber nichts, was einer Einstellung im Wege gestanden hätte. Auch gut. Natürlich, wenn sich die beiden als Alkoholiker, Querulanten oder Arbeitsscheue entpuppten, würde Schmitt mir den Kopf abreißen – aber die kamen beide frisch von der FH und hatten glänzende Zeugnisse, Praktikumsbescheinigungen, Diplomarbeiten und sonstige Gutachten. Und deutlich unter dreißig waren sie auch alle beide. Plus Auslandserfahrung (naja, ein Semester, aber was erwartete man eigentlich noch alles von frisch diplomierten Ingenieuren?) – ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich da was übersehen hatte. Und die Unterlagen über das neue Fortbildungsprogramm hatte ich auch fertig.
Schmitt kam herein und brummte mir einen Gruß zu; ihm folgten die Leiter der Fertigungsabteilungen I und II und der Chef der Rechtsabteilung. Wir nickten uns kurz zu, während sie Platz nahmen und schon die ersten blauen Fläschchen knackten.
Die nächsten zwei Stunden vergingen mit dem üblichen Tauziehen um Maßnahmen, die um der Effektivität des Betriebs willen notwendig, juristisch aber nicht haltbar waren, juristisch notwendig, aber für die Produktion katastrophal oder beides zugleich, wenn das überhaupt möglich war. Schmitt schien mir heute etwas zu schwächeln, also zankte ich mich fast alleine herum, vor allem mit Klausdieter Mönsche, dem Chef von Fertigung I, und Nicholas Rosen von der Rechtsabteilung. Wenn er noch einmal sagte: „Ich fürchte, der Gesetzgeber sieht das etwas anders“, dann würde ich ihm seine Arbeitsrechtssammlung an den Kopf werfen!
Oder ihn küssen.
Warum ich mich schon bei unserer ersten Begegnung vor einem halben Jahr Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, wusste ich auch nicht – mit objektiven Kriterien war das nicht zu erklären. Er war weder besonders schön noch besonders nett. Nett schon gar nicht.
Es hatte schon schlecht begonnen, ich hatte ihm lächelnd die Hand gereicht und dann erst gemerkt, dass er mir die Linke entgegenstreckte. Damals hatte ich geglaubt, er sei eben ein entschiedener Linkshänder, und eine entsprechende heitere Bemerkung gemacht. Dass sein rechter Arm praktisch gelähmt war, konnte ich ja schließlich nicht wissen! Leute, die erwarteten, dass man über ihre Behinderungen schon Bescheid wusste, bevor man sie auch nur kennen gelernt hatte, ärgerten mich. Wieso war er so verkniffen und empfindlich? Das Steingesicht, mit dem er meine Entschuldigung – zugegeben, etwas halbherzig war sie schon, weil ich meinen faux pas nicht so tragisch fand – entgegennahm, war wirklich übertrieben.
Jeder meiner späteren Versuche, mit heiteren Bemerkungen ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, misslang, bis ich mir schließlich wie ein albernes Plappermaul vorkam und in seiner Gegenwart hinfort mürrisch und streng sachlich auftrat. Daraufhin zog er auch wieder ein Gesicht, aber ich wollte ihn auch nicht fragen, ob er meine Pausenclown-Vorstellungen etwa vermisste. Nein, nett war er nicht. Er verfügte in reichem Maße über das absolute Gegenteil von Charme, und so schön, dass er sich das leisten konnte, war er weiß Gott nicht. Okay, das harte Gesicht war gut. Und groß war er – aber das war ich selbst. Dünn war er, aber ob das an einem Mann gut aussah, stand schließlich auch noch nicht fest. Grauhaarig, obwohl er noch keine vierzig war, grauäugig – und grauherzig. Das auf jeden Fall. Er konnte nur den linken Arm benutzen und hinkte etwas, aber woher das kam, wusste ich nicht. Alles stand eben auch nicht in den Personalakten, die außerdem eigentlich unter Verschluss waren, soweit es die Führungsebene betraf.
Er hatte vorher in einer Kanzlei und bei einer anderen Firma gearbeitet, bevor er zu TechCo gekommen war. Der Aufsichtsrat hatte ihn wohl wegen seiner juristischen Kenntnisse genommen, nicht wegen irgendwelcher sozialen Kompetenzen, denn die hatte er ja gar nicht. Trotzdem träumte ich von ihm. Davon, dass dieses Gesicht einmal weich würde, vor Amüsement, Rührung oder Begierde, davon, seinen linken Arm um mich zu spüren, davon, dass er mir erzählte, warum er so verbiestert war.
Das einzige, was ich noch nicht gemacht hatte, war, Katharina Rosen überall hinzukritzeln. Cora hatte vor ein paar Jahren – zehn war das sicher auch schon wieder her – mal ihre künftige Unterschrift geübt: Cora Williams, Cora Williams... Carla und ich hatten den Zettel gefunden und gnadenlos gehöhnt, bis sie geheult hatte. Heute musste ich zugeben, dass Robbie Williams auf jeden Fall besser aussah und wahrscheinlich auch netter war als Nicholas Rosen, an dem der Name wohl noch das Beste war. Und diese seltsam kalten grauen Augen.
Heute guckte er mich wieder mal an wie ein merkwürdiges Insekt. Vielleicht konnte er immer noch nicht glauben, dass eine Frau an diesen Sitzungen teilnehmen durfte? Er hatte selbst einen Vize, aber den brachte er zu den nahezu täglichen Meetings nie mit, er machte lieber alles selbst. Schmitt dagegen delegierte mit Lust und Leidenschaft, er plante wohl schon den Ruhestand. Und was er delegierte, landete natürlich bei mir. Hoffentlich bekam ich dafür eines Tages auch die Leitung der Personalabteilung! Und hoffentlich liefen unsere Geschäfte weiterhin so gut – ich kannte genug Horrorgeschichten von Leuten, die wie ich eine Führungsposition gehabt hatten, arbeitslos geworden und nicht mehr vermittelbar waren – überqualifiziert, zu alt (das hieß: dreißig oder drüber)... Bevor mich das Arbeitsamt zwang, für einen Euro pro Stunde den Prinzenpark aufzuräumen, suchte ich mir lieber selbst etwas oder machte eine Ich-AG auf. Geschäftsidee hatte ich allerdings noch keine. Höchstens daytrading, das hatten wir alle bei Papa gelernt. Aber bei der Börsenlage...
„Frau Engelmann?“ Ich schreckte auf.
„Haben Sie geschlafen?“ Rosen, mit leicht süffisanter Miene.
„Nachgedacht!“, antwortete ich bissig und verkniff mir Das kennen Sie nicht, das bedeutet... Es wäre wirklich fehl am Platze gewesen, schade.
„Ist dann der Fall Uhlmann klar?“ Ich nickte. Zwei Abmahnungen, dann war jetzt die Kündigung fällig. Wenn wir die Uhlmann nur endlich loswürden, die tat überhaupt nichts. Aber die Abmahnungen hatte sie für Ferngespräche auf Firmenkosten und das Klauen von Firmenkulis bekommen – die Verschwendung von Arbeitszeit war eben nicht strafbar.
Jetzt tat sich endlich eine Chance auf. „Aber wir müssen das so wasserdicht formulieren, dass sie vor dem Arbeitsgericht keine Chance hat“, verlangte ich, und Rosen zog eine müde Grimasse. „Ich mach das nicht zum ersten Mal, Frau Engelmann. Mitleid haben Sie keins mit der Frau?“
„Nein“, antwortete ich, obwohl ich wusste, dass sie so leicht nichts Neues finden würde. Nicht mit fünfzig. „Sie ist ja nicht eine gute Kraft, die einmal schwach geworden ist, sie sitzt hier nur ratschend ihre Zeit ab und arbeitet so wenig wie möglich. Und ihre Vorstellungen davon, was ihr die Firma schuldet, sind abenteuerlich. Je eher wir sie loswerden, desto besser.“
„Wann haben Sie denn mit ihr geredet?“, fragte Schmitt. „Ich kann mich gerade gar nicht auf den Fall besinnen.“ Ich schob ihm die Unterlagen zu. „Hier, schon vor der ersten Abmahnung. Zusammen mit ihrer unmittelbaren Vorgesetzten, die ihr schon einige Male diese privaten Ferngespräche verwiesen hatte. Frau Uhlmann hat überhaupt nicht verstanden, was wir wollen, schließlich könne man ja nicht erwarten, dass sie ihre Schwester in Australien auf eigene Kosten anruft, oder?“ Ich sah mich erwartungsvoll um. Rosen schüttelte den Kopf, als habe er Wasser im Ohr. Entzückende Ohren – verdammt! Schmitt starrte mich an. „Hat die sie nicht mehr alle?“
„Doch, doch. Sie mag ihre Arbeit nicht, und deshalb schulden wir, die wir sie dazu zwingen, stumpfsinnig die Ablage zu machen, zu tippen und zu kopieren – hält ja schließlich kein Mensch aus, nicht? – ihr sämtliche Vergünstigungen. Warum wir freitags nicht schon mittags aufhören, wollte sie wissen, dann könnte sie nämlich noch einkaufen gehen, bevor der große Ansturm einsetzt. Ja, wir waren auch sprachlos.“
Rosen zog die Akte zu sich. „Was hat die Gute denn für eine Ausbildung?“
Ich zuckte die Achseln. „Realschule, Bürokauffrau, nach einem Jahr abgebrochen, dann Bürogehilfin. Ich hab sie gefragt, warum sie die Ausbildung nicht fertig gemacht hat, oder warum sie nicht wenigstens an den internen Fortbildungen teilnimmt, damit sie sich bei der Eingabe von Daten nicht ganz so beschränkt anstellt – nein, nein, so hab ich das natürlich nicht formuliert!“
„Und ihre Antwort?“
„Während der Ausbildung wollte sie heiraten und dachte, dann braucht sie die Ausbildung nicht mehr; als Bürohilfe hat sie mehr verdient als als Azubi, und sie brauchte das Geld doch für den künftigen Haushalt. Dann aber ist das irgendwie auseinander gegangen. Und Fortbildungen – dieser neumodische Krempel. Sie hat genug zu tun, auch ohne noch was dazu zu lernen, dann müsste sie ja bloß noch mehr schuften. Frau Teck, ihre Vorgesetzte, sagt, sie arbeitet nur nach Vorschrift, seitdem sie sie kennt. Wir müssen die in einer Phase eingestellt haben, als es einen gewaltigen Arbeitskräftemangel gab. Ja, und das zweite Mal hat Frau Teck sie erwischt, wie sie eine ganze Handvoll Firmenkulis eingesteckt hat. Einer, den man aus Versehen einsteckt, da sagt ja keiner was. Hat wohl jeder schon gemacht. Aber fast zwanzig Stück, ganz neue, aus dem Magazinschrank?“
Schmitt und Mönsche wühlten in ihren Taschen herum, förderten tatsächlich je einen der dunkelblau-giftgrünen Kulis zu Tage und musterten sie betreten.
Rosen suchte ebenfalls und fand einen matt gebürsteten Edelkuli aus schwarzem Stahl. Ich grinste und klickte mit meinem silbernen Stift. Die Firmenkulis waren mir wirklich zu hässlich. „Vielleicht sollten wir mal über ein attraktiveres Design nachdenken“, schlug ich vor. „Von wegen Corporate Identity und so.“
Schmitt seufzte. „Dann müssen wir Frau Ehrlicher ja auch noch dazubitten!“
„Ja, und?“ Warum sollte unsere Marketingfrau nicht an einer Sitzung teilnehmen? War das kein ernst zu nehmender Bereich? Oder ging eine Frau schon über seine Kräfte?
Bei TechCo spürte man die gläserne Decke doch ganz schön. Frauen wurden zwar befördert, wenn sie mindestens doppelt so gut waren wie die männliche Konkurrenz, aber wehe, man brachte irgendetwas Weibliches in seinen Job ein, Kommunikationsfähigkeit etwa oder soziale Kompetenzen. Man musste quasi als Neutrum auftreten, und ich hatte mich bis jetzt diesem Diktat durchaus gefügt (von einigen verführerischen Blicken in Richtung Rosen mal abgesehen, auf die er überhaupt nicht reagiert hatte). Eigentlich waren Frauen hier wie auch in anderen Firmen immer noch dazu da, Diktate aufzunehmen, Vorarbeiten zu leisten und Kaffee zu kochen. Ich hätte ja gerne einen knackigen jungen Sekretär gehabt, um das System mal umzukehren, aber dann hätten wahrscheinlich alle darüber spekuliert, was ich mit dem bei geschlossener Bürotür trieb. Außerdem hatten sich nur Frauen beworben.
Dass ich gegenüber Leuten, die ohne Not ihre Arbeit nicht ordentlich machten, ziemlich hart auftrat, hatte meine Stellung sehr gefestigt. Wehe, ich hätte Ausreden für diese Leute gefunden! Das wollte ich auch gar nicht, Leute, die ihre Arbeit nicht taten, konnte ich schon gar nicht leiden. Wenn jemand echte Probleme hatte, Familienkrisen, Mobbing, Krankheiten, dann ließ sich eine einvernehmliche Lösung finden, aber so eine Abzockerin wie Rosemarie Uhlmann hatte ich schon gleich quer gefressen. Der Frau war ihr Verhalten ja nicht einmal peinlich! „Soll ich mir etwa Kulis im Supermarkt kaufen, wenn ich schon hier arbeite?“, hatte sie ehrlich erstaunt gefragt und ich hatte mich schwer beherrschen müssen, ihr nicht einfach eine zu knallen. Egal, die Frau flog bei nächster Gelegenheit, wir mussten nur noch die Kündigungsfrist klären.
Nach längeren Debatten und vielem Blättern in Gesetzestexten und Sammlungen höchstrichterlicher Entscheidungen stellten wir fest, dass eine fristlose Kündigung gerechtfertigt war, und einigten uns auch darauf. Wenn wir der Frau Zeit gaben, klaute sie bloß noch die Kaffeemaschine in ihrer Abteilung, weil sie zu Hause schließlich auch Kaffee trinken musste. Mir kam die schöne Aufgabe zu, ihr das mitzuteilen, und ich hatte den dumpfen Verdacht, dass sie die Bedeutung von zwei Abmahnungen trotz mehrfacher Erklärungen überhaupt nicht verstanden hatte. Sie würde aus allen Wolken fallen! Ich musste sie zu mir bestellen, dann konnte mir Frau Reichle gegebenenfalls beistehen. Man wusste schließlich nie, nachher wurde die Uhlmann noch gewalttätig! Schließlich war die Sitzung beendet – super, erst zwanzig nach vier, dann konnte ich die Uhlmann gleich fertig machen.
Ich eilte in mein Büro, ließ die Reichle die formelle Kündigung schreiben, samt juristisch wasserdichten Begründungen und Hinweisen auf die Abmahnungen in der Akte, und bestellte mir Frau Uhlmann dann zu mir.
Sie kam mit harmlos-überraschter Miene, ging aber eine halbe Stunde später mit einem völlig anderen Gesichtsausdruck. Der wollte ich ja nicht mehr nachts auf der Straße begegnen! „Was für eine Furie“, meinte Frau Reichle und brachte mir meinen geliebten gespritzten Orangensaft. „Die hat doch wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich hab´s der Teck schon gesagt, nicht dass die Uhlmann einfach weiter da herumsitzt und erst zugibt, dass wir sie gefeuert haben, wenn sie was arbeiten soll, worauf sie keine Lust hat.“
„Was hat Frau Teck gesagt?“, fragte ich und wischte mir müde die Stirn. Puh, was für ein Weibsbild! „Na endlich, hat sie gesagt. Jetzt kommen wir hier endlich mal zum Arbeiten.“ Die Reichle grinste mir aufmunternd zu.
„Ich hasse so was. Wie eine Hinrichtung“, murmelte ich. „Aber Frau Uhlmann hat´s wirklich nicht besser verdient.“
„Eben“, stellte die Reichle fest. „Sie haben das ganz richtig gemacht. So, und jetzt trinken Sie mal schön Ihren Saft, bevor er warm wird. Möchten Sie einen Keks dazu?“ Was hatte ich an mir, dass mich alle Sekretärinnen bemuttern wollten? Nein, ich wollte keinen Keks, ich hatte noch einiges zu tun.
Wenigstens hatte die Affäre Uhlmann mich von der blöden Klamottenfrage abgelenkt.
„Wissen Sie jetzt schon, was Sie auf der Hochzeit anziehen wollen?“, fragte Frau Reichle freundlich, bevor sie nach draußen verschwand, und ich stöhnte auf. Da sah ich mir ja lieber dieses komische neue Fortbildungskonzept an!
Gegen halb sieben kam ich nach Hause und schleuderte schon im Flur erschöpft meine Schuhe von mir. Am besten erst einmal duschen und etwas Bequemeres anziehen! Ich verstreute meinen Business-Hosenanzug, die anständige strenge Bluse und alle Dessous auf dem Weg ins Bad und ließ erst einmal heißes Wasser auf mich prasseln. Leider auch auf die Samtschleife, mit der ich meine Haare zurückgebunden hatte. Wütend warf ich sie ins Waschbecken. Samt – der würde nie mehr so werden wie er mal war. Wenigstens war ich jetzt nass, erfrischt und sauber, und wenn Carla mich heute verschonte, stand mir vielleicht sogar ein friedlicher Abend bevor.
Ach nein, ich hörte das Telefon schon. Egal, auf nasse Fußtapper auf meinem kostbaren Parkett legte ich keinen Wert. Carla würde es unverdrossen noch zehnmal probieren, außerdem sprang gerade der Anrufbeantworter an. Ich trocknete mich in aller Ruhe ab und wickelte mich in meinen wunderbaren Morgenmantel – außen Seide, innen Fleece, dunkelgrau und silbern gemustert. Damit würde ich sogar auf Schloss Grafenreuth einen guten Eindruck hinterlassen. Aber nicht mit dem Kaffeefleck vorne! Waschen musste ich das Ding also auch noch. Waschen musste ich überhaupt mal wieder. Und einkaufen. Am Samstag war Feiertag, also spätestens morgen...
Und die ganze Wohnung, so schön sie war, wirkte ein kleines bisschen stumpf. Das lag möglicherweise an der Staubschicht, die sich überall ausgebreitet hatte. Wann hatte ich eigentlich zum letzten Mal anständig geputzt?
Heute stand das jedenfalls nicht auf dem Programm.
Ich fiel aufs Sofa und angelte nach meiner Flyersammlung. Heute mal mexikanisch? Oder indisch? Auf jeden Fall nicht schon wieder Pizza!
Oder sollte ich mich in einen Jogginganzug werfen und hoffen, dass der Supermarkt in der Franziskanerstraße noch aufhatte? In Anbetracht meiner düsteren Gedanken heute bei der Sitzung sollte ich nicht so viel Geld ausgeben, das ich doch besser anlegen konnte als in Takeaway-Essen. Ich hatte aber Hunger. Und den ganzen Tag geschuftet. Und verdammt, so arm war ich auch nicht! Die Wohnung war fast abbezahlt, mein Depot sah ganz erfreulich aus, und zur Not konnten mir auch Papa und Mama aushelfen – obwohl mir das schon sehr peinlich sein würde. Nein, heute gab es Enchiladas und einen großen Salat mit roten Bohnen. Um Himmels Willen, keine Bohnen – was, wenn die mir Blähungen einbrachten und mir vor Rosen ein Missgeschick passierte? Dann hatte ich endgültig keine Chancen mehr bei ihm.
Ich kuschelte mich in die Sofalehne und rief mir ins Gedächtnis zurück, wie hinreißend er heute wieder gewesen war, als er mit vergrämter Miene in den höchstrichterlichen Entscheidungen geblättert hatte. Warum er so entzückend war, wusste ich auch nicht, ich konnte kein einziges objektiv entzückendes Detail an ihm entdecken, aber der Gesamteindruck... Liebe machte eben blind. Und blöd.
Ich raffte mich wenigstens auf und rief den Lieferservice an. Vierzig Minuten – da konnte ich doch wenigstens die herumliegenden Klamotten aufsammeln und eine Ladung T-Shirts in die Maschine stecken.
Meine Wohnung war relativ pflegeleicht, weil ich schon bei der Einrichtung darauf geachtet hatte, mir keine Staubfänger zuzulegen – aber Staub musste man gar nicht fangen, der kam auch so, ganz ungebeten. Woher kam der eigentlich? Ich wischte flüchtig mit einem Microfasertuch herum, das auch nicht so ein Zaubermittel war wie auf der Packung versprochen, lüftete, stellte mir einen Teller und Besteck bereit und blätterte durchs Fernsehprogramm. Serien, lauter Serien, die ich entweder gar nicht kannte oder so lange nicht geguckt hatte, dass ich den Faden verloren hatte. Kein einziger anständiger Film! Doch, da! Fritz Lang, Der Verlorene. Superfilm – Mist, auf MDR, das war bei uns nicht im Kabel.
Dann eben etwas Eigenes! Wozu sammelte ich DVDs? Ich wühlte etwas herum und entschied mich für Vom Winde verweht. Nicht, dass ich Vier Hochzeiten und ein Todesfall nicht auch gehabt hätte – genau! Ich würde ihn mir zum hundertsten Male anschauen und mir einige Peinlichkeiten notieren, mit denen ich Carlas großen Tag dann etwas aufpeppen konnte. Zum Beispiel dem Trauzeugen die Ringe klauen und sie durch solchen Hippiekrempel wie im Film ersetzen...
Sehr gut – aus Scarletts Hochzeiten konnte man sowieso nichts lernen, außer, dass man nicht immerzu die falschen Männer aus den falschen Gründen heiraten sollte. Ich schob die Schublade ein, überlegte kurz, ob ich mich bilden und den Film auf Englisch anschauen sollte, entschied mich dagegen (viel zu anstrengend) und startete. Halt, Notizblock! Ich war noch nicht einmal über die Credits hinaus, als das Telefon läutete. Carla, da war ich mir sicher. Ich griff zum Hörer. „Was ist jetzt wieder schief gegangen?“
„Was, wieso schief gegangen?“, wunderte sich Anette.
„Sorry, ich dachte, es ist Carla. Zum hundertfünfzigsten Mal, ob sie nicht doch lieber Lachskanapées... oder ob ich Freesien gut fände für den Ratssaal...“
„Und nichts geht dir mehr am Arsch vorbei, was? Weißt du, was mich mal interessieren würde? Ich meine, ich finde Carla ja wirklich nett, und bis vor einigen Wochen hab ich sie auch durchaus für intelligent und vernünftig gehalten – aber warum müssen eigentlich deine Freundinnen Brautjungfern spielen? Was ist mit ihren eigenen?“
Ich seufzte theatralisch. „Corinna ist genau da in Bali. Sie hat die Reise gewonnen, und der Termin lässt sich nicht mehr ändern. Und Sandras Mutter liegt im Sterben, ziemlich gruselig, Knochenkrebs, die hat jetzt wirklich keinen Sinn für Hochzeiten. Na, und ich muss sowieso ran, als Trauzeugin, und Nina, weil sie die Kinder haben will, zum Blümchen streuen.“
„Sind die nicht ein bisschen zu alt?“
„Andere Kinder kennt Carla aber nicht. Jetzt hat sie schon zwei von uns, da dachte sie wohl, dich und Silke kann sie auch gleich noch verknacken. Na, und eigentlich machen wir doch sonst auch jeden Blödsinn mit.“
„Aber nicht in apricotfarbenem Chiffon“, maulte Anette. „Ich hab rote Haare, verflixt! Hat ihr das denn keiner gesagt?“
„Doch. Aber alle müssen gleich angezogen sein, wie im Film eben.“
„Dann komme ich aber stilecht in einem verbeulten linksgesteuerten Mini mit nachgeschleifter Parkkralle!“
Ich gackerte. „Ich wollte mir gerade den Film noch mal reinziehen und Peinlichkeiten sammeln. Weißt du, wo man solche Trauringe kriegt?“
„Die geschmackvollen? Am Bahnhof, denke ich, da ist doch dieser krasse Modeschmuckladen, gleich neben dem oberschmuddeligen Tattoostudio – Mensch! Und wenn wir uns alle ein abwaschbares Tattoo zulegen? Die Kleider haben doch diesen gewaltigen Ausschnitt. Irgendwas Kleines, aber Unfeines, direkt über den Titten?“
Ich freute mich. „Sollten wir als Option im Auge behalten. Carla überlegt übrigens, ob wir statt der dämlichen apricotfarbenen Hüte lieber weiße Blütenkränze tragen sollen. Und die Braut dann einen in Apricot zum weißen Kleid.“
„Sie wird wie ein Bellini-Dessert aussehen“, unkte Anette. „Ist Carla eigentlich klar, dass ich ganz, ganz kurze Haare habe und total unromantisch aussehe? Und Nina hat sich eine Dauerwelle machen lassen, in diesem sündteuren Studio, und da ist was schief gelaufen. Hat sie mir gerade vorgeweint. Sie sagt, sie sieht aus wie ein geplatztes Rosshaarkissen. Die Farbe würde ja passen.“
Das war gemein, aber leider wahr – Ninas Haare waren, vielleicht durch ihre Leidenschaft für angeblich auswaschbare Tönungen, mittlerweile von einem eher schmutzigen Gelbbraun. Sie sollte sich vielleicht mal beim Friseur die Haare professionell färben lassen, aber darauf hatte sie so schnell bestimmt keine Lust. Wie konnte man bei so kaputtem Haar auch eine Dauerwelle machen lassen! Und welcher Friseur spielte da mit?
„Dann müssen Silke und ich für euch alle schön sein“, spottete ich.
Anette prustete ins Telefon. „Schön, ja? In apricot? Albern werden wir aussehen, alle vier.“
„Wenn schon“, besänftigte ich sie, „da kennen uns doch eh schon alle. Und wenn´s dich tröstet, Stefan muss Platzanweiser spielen. Meinst du, ich kann Carla weismachen, dass Platzanweiser im Kilt auftreten müssen?“
„Wenn du unbedingt von ihm erschlagen werden willst... natürlich könnten wir dann zählen, wie viele Mädels ihn fragen, ob er was drunter trägt. Das hat was...“
„Martine wird das schon verhindern. Was Stefan macht, bestimmt schließlich sie. Aber von der Hochzeit ist sie ziemlich begeistert.“
„Sie – und wer noch? Warum macht sie eigentlich nicht Trauzeugin?“
„Weil sie im achten Monat ist, wie schaut denn das aus!“
„Und Nina hat zwei Kinder. Du, sag mal, aber das Allergrässlichste spart Carla sich hoffentlich?“
„Was ist das Allergrässlichste? Die Brautentführung?“
„Nein, das Brautstraußschleudern. Ich lass ihn fallen, ich sag´s dir!“
„Ich auch.“ Ich musste lachen. „Erinnerst du dich noch an unsere Versuche, Volleyball zu spielen? Im ersten Semester?“
„Ich dachte, du nimmst ihn an? Nein, du?“
„Genau. Meinst du, man kann ihn zur Braut zurückbaggern?“
Anette freute sich. „Carla trifft der Schlag, wenn sie das Gemüse wieder ins Gesicht kriegt. Obwohl, sehr treffsicher sind wir leider alle nicht, wahrscheinlich erwischen wir die Hochzeitstorte oder so was.“
Sie hörte auf zu lachen. „Ganz was anderes, weshalb ich dich eigentlich angerufen habe... Rate, wer plötzlich bei mir vor der Tür gestanden ist!“
Ich hatte keine Ahnung. „Deine spießige Cousine, dass du endlich heiraten sollst?“
„Ach wo, die hat die Hoffnung wohl endlich aufgegeben. Obwohl sie es ja schon bedenklich findet, dass alle diese Häuser von einer Frau verwaltet werden. Das ist ja so unweiblich!“ Ich kicherte; sie konnte die blöde Christel wunderbar nachmachen. „Wenn die es nicht war, wer dann?“
„Sagt dir der Name Andi noch was?“
„Andi – Andi – sag bloß, doch nicht der Andi?“
„Genau der. Und rate, was er vorzubringen hatte?“
Hm... Andi war vor fast zwei Jahren plötzlich verschwunden. Der klassische Fall von Ich gehe bloß mal kurz Zigaretten holen. Anette hatte nie mehr etwas von ihm gehört und das Ganze recht mühsam überwunden. Und jetzt traute er sich wieder her?
„Er spürte, dass er für dich nicht gut genug war, und wollte edel verzichten“, schlug ich vor. Anette prustete. „Knapp daneben. Er wusste, dass er mir nicht das Leben bieten konnte, das einer Prinzessin wie mir angemessen wäre, also zog er aus, sein Glück zu machen.“
„Und? Hatte er Erfolg? Bringt er Goldesel, Tischlein deck dich und Knüppel aus dem Sack mit? Oder einen gestiefelten Kater?“
„Nein. Aber ganz, ganz tolle Anlagemöglichkeiten. Leider hat er die entsprechenden Unterlagen gerade nicht zur Hand, aber es ist eine fantastische Gelegenheit und ich muss mich ganz schnell entscheiden.“
„Dieser Gauner!“, empörte ich mich. „Und, wie wirst du dich entscheiden?“
„Hab ich schon. Er soll seinen Krempel wieder mitnehmen und mir nicht mehr unter die Augen kommen. Da ist dann die charmante Maske für einen Moment ins Rutschen gekommen. Hui, wie giftig er mich angesehen hat! Kati, ich bin ja nicht blöd, ich weiß, warum er wieder da ist.“
„Warum?“
„Weil ich jetzt Geld habe, darum. Vor zwei Jahren war ich noch eine mickrige BWL-Studentin, zugegebenermaßen mit reichen Eltern, aber selbst hatte ich fast nichts. Und jetzt verwalte ich den gesamten Immobilienbesitz meiner Eltern und sie haben mir schon ein Haus übertragen. Ich glaube, Andi hat ernsthaft geglaubt, ich würde das Haus belasten, um in seine Schwindelunternehmungen investieren. Weißt du noch, wie schwer es war, ihn damals von diesem Schneeballschwindel abzubringen? Er säße ja jetzt noch im Knast, wenn ich das nicht vereitelt hätte!“
„Aber dankbar ist er dir nicht dafür, was?“
„Im Gegenteil. Er tut, als müsste ich in seine Windeier investieren, weil ich ihm damals die Tour vermasselt habe.“
„Dieses Arschloch. Können wir ihm nicht was antun? Am besten so, dass die Polizei ihn gleich aus dem Verkehr zieht?“
„Was denn? Ach komm, ich bin ja schon froh, wenn ich ihn nie mehr sehe. Hat der Hund doch ernsthaft geglaubt, ich hätte auf ihn gewartet. Und ich wäre so blöd, ihm seine Geschichten zu glauben.“
„Meinst du, der bleibt jetzt weg?“
„Hoffentlich. Wir könnten ihm natürlich jemand Reicheren und Naiveren vorstellen – aber das müsste dann schon eine richtig grässliche Schnepfe sein, sonst wäre es ja gemein.“
„Kennst du so jemanden? Ich nicht“, antwortete ich und hörte es klingeln. „Du, Anette – können wir ein anderes Mal weiter fantasieren? Jetzt kommt mein Essen.“
„Faule Nuss, lässt du dir schon wieder was liefern?“
Anette hatte leicht reden, sie konnte sich ihre Arbeit selbst einteilen, solange sie ihre eigenen Bürozeiten einhielt, und die waren nur vormittags. Kein Wunder, dass sie Zeit hatte, einzukaufen, sie verglich ja sogar Sonderangebote! Als ob sie so was nötig gehabt hätte.
Silke war genauso, aber die war ja auch Lehrerin. Mittags fertig und dann hatte sie frei – egal, wie oft sie erzählte, das sei gar nicht wahr. Und Nina arbeitete überhaupt bloß stundenweise in einem Reisebüro, nicht, um groß was zu verdienen – Florian verdiente genug für alle – sondern nur, um nicht „einzurosten“. Ich war die einzige mit einer Fünfzigstundenwoche, dann stand es mir wohl verdammt noch mal zu, mir das Essen liefern zu lassen, egal, ob das ungesund war (Silke) oder langweilig (Nina) oder von Faulheit zeugte (Anette).
Ich bezahlte den Boten und ließ mich mit meiner Ausbeute auf dem Sofa nieder. Mhm, lecker! Ein riesiger Salat (ohne Bohnen), scharfe Sauce, Enchiladas... Eine halbe Stunde später ging es mir schon eindeutig besser, so gut, dass ich die Wäsche aus der Maschine holte und aufhängte, alle Schuhe putzte, die ich in nächster Zeit tragen würde, und zwei Kostüme für die Reinigung heraushängte. Sehr brav, fand ich.
So, und was sollte ich nun für die Hochzeit vorbereiten? Ich war kaum zu der Feststellung gediehen, dass wenigstens der Fummel für die Kirche ja schon feststand – samt Blumenkranz (oder Hut?) und Seidenpumps – als das Telefon schon wieder läutete. Dieses Mal war es tatsächlich Carla – ob ich nicht schnell vorbeikommen könnte? Sie hätte da ein echtes Problem.
„Lass mich raten“, antwortete ich, lehnte mich gemütlich zurück und schnappte mir eine vergessene Tomatenscheibe, „du weißt nicht, ob apricotfarbene oder weiße Servietten beim Essen besser aussehen. Oder deine Brautschuhe haben doch etwas niedrigere Absätze, als du dachtest, und jetzt weißt du nicht, ob du über dein Kleid stolperst und in der Kapelle auf die Fresse fliegst. Oder deine Schwiegermutter will doch lieber, dass du ihren Schleier trägst, aber der hat ein anderes Weiß als dein Kleid und außerdem verträgt er sich nicht mit deinem Blumenkranz. Oder in Bali ist die Revolution ausgebrochen und Corinna hat nun doch Zeit, aber sie will nicht Apricot tragen. Das wollen wir übrigens alle nicht, aber uns hat ja keiner gefragt. Hab ich´s getroffen?“
„Nein“, antwortete Carla ärgerlich, „und tu nicht so, als würde ich mir den Kopf nur über solchen Pipifax zerbrechen! Ich hab ein echtes Problem! Kommst du?“
„Nein, heute nicht. Ich bin fix und alle und schon im Morgenmantel. Jetzt sag schon!“
„Wir wollten doch diesen weißen Rolls mieten, weiß du noch?“
„Ja, weiß ich. Bloß nicht, wozu. Wollt ihr darin auf dem Schlosshof herumkurven? Noch kürzere Wege kann man doch gar nicht haben als in Grafenreuth!“
„Du bist dermaßen prosaisch! Jedenfalls haben die den Rolls an einen vermietet, der ihn zu Schrott gefahren hat.“
„Das geht? Ich dachte, ein Rolls ist unsterblich?“
„Naja, nicht zu Schrott, aber bis man da Ersatzteile kriegt... jedenfalls müssen wir ihn streichen. Was machen wir denn jetzt? Ich meine, jeder andere Wagen ist doch vergleichsweise schäbig!“
„Und dafür hätte ich nach Leiching rausfahren sollen? Soll ich dir einen anderen weißen Rolls klauen oder was? Verzichtet doch ganz auf den Wagen, lauft vom Schloss in die Kapelle. Schön feierlich. Wir können auch am Rand stehen und Fähnchen schwenken. Mit dem Familienwappen drauf. Oder mit C & P drauf.“
„Haha. Klingt ja fast wie eine Billigmarke vom Supermarkt. Aber zu Fuß... das könnte was haben. Und Ninas Kleine vorneweg, Blumen streuend...“
„Logisch. Draußen kann man die später auch besser wieder wegfegen als von dem kratzigen Läufer in der Kapelle.“
„Typisch! Immer praktisch, was?“
„Eine muss ja praktisch denken. Und bitte, jetzt mach nicht alle damit verrückt, dass du nicht weißt, welche Blumen Simone streuen soll. Die wird sich schon genug genieren, sie ist doch schon viel zu alt für so was.“
„Sie ist elf!“
„Eben. Vierjährige mögen so was, Elfjährige finden das alles voll uncool. Kannst du nicht irgendwo einen charmanten vierzehnjährigen Beau auftreiben, damit sie auch ein bisschen Spaß hat?“
„Woher nehmen? Auf Pauls Seite hat überhaupt niemand Kinder, und auf unserer ist Nina auch die einzige. Wenn du eine anständige große Schwester wärst...“ Ich kicherte. „Das heißt, ihr macht euch auf der Hochzeitsreise an die Arbeit, damit es bei Coras Hochzeit genug schmückende Engelchen gibt?“
„Bist du wahnsinnig! Papa will mich zur stellvertretenden Geschäftsführerin machen, das versau ich mir doch nicht auch noch mit Absicht!“
„Weiß Paul das?“
„Klar.“
„Und Pauls Eltern? Die sehen mir ziemlich enkelgeil aus.“
„Nö, die merken das noch früh genug. Vielleicht erzählen wir ihnen, wir könnten nicht.“
„Na, viel Spaß. Wetten, die Alte schleppt dich dann von Arzt zu Arzt und schlägt dir alle möglichen Tricks vor, IVF und so weiter?“
„Okay, wir hüllen uns in geheimnisvolles Schweigen. Jedenfalls bist du aber echt zu nichts zu gebrauchen.“
„Komisch, das denke ich zur Zeit auch öfter – über dich!“, gab ich zurück. „Wo steht der DAX gerade?“
„Dreineunirgendwas. Glaubst du, ich lasse meine Arbeit hängen?“
„Ach, du nervst nur in der Freizeit, ja?“
„Klar, da lohnt es sich doch wenigstens. Stefan ist schon ganz kleinlaut.“ Sie lachte. „Schadet ihm gar nichts, das lenkt ihn etwas von Martines ewigen Zipperlein ab. Man könnte ja glauben, vor ihr ist noch nie eine schwanger gewesen!“ Wir gönnten uns einige Minuten gepflegtes Herziehen über unsere zurzeit etwas primadonnenhafte Schwägerin, mussten dann aber zugeben, dass sie von ihren Zickenanfällen abgesehen eigentlich okay war.
„Also, du kommst nicht?“
„Nein, nicht wegen eines Autoproblems, das wir gerade eben sehr schön telefonisch gelöst haben. Was soll ich sonst? Papa zeigen, dass er auch noch eine normale Tochter hat? Mich von Mama mit der Geschenkeliste verfolgen lassen? Überlegen, ob man Rowan Atkinson für die Trauung gewinnen könnte? Du weißt schon, Heiliger Geiz und so.“
„Um Gottes Willen, bei meiner Hochzeit muss alles perfekt sein! Wenn sich der Priester verspricht, trete ich am nächsten Tag aus der Kirche aus!“
Da hatte ich ihr ja was ins Ohr gesetzt! Ich wimmelte sie ab und erinnerte mich an den Film, bei dem ich vor längerer Zeit so rüde unterbrochen worden war. Immerhin kam ich bis zu Hugh Grants Trauzeugenrede samt allen Peinlichkeiten, bis das Telefon wieder klingelte. Ich tippte auf Nina, die sich über ihre Frisur beklagen wollte, und nahm ab. Nein, Silke.
Silke war immer schon unsere Brave gewesen, sie hatte schon so ausgesehen – mittelgroß, schlank, dunkelbrauner Bob (nie würde sie auf eine auswaschbare Tönung in Pflaume oder so hereinfallen), Brille, gepflegte Kleidung, ordentliche Mitschriften, intelligente Praktika, lukrative Nebenjobs. Und dann hatte sie nach drei Semestern auf Lehramt gewechselt, Mathe und Wirtschaft. Auch nicht übel, aber so brav war sie immer noch.
Sie wohnte in dem Haus, das Anette mittlerweile gehörte, einem top sanierten klassizistischen Hinterhaus in Univiertel; Anette wohnte selbst dort.
Nach den neuesten Gerüchten aber war sie drauf und dran, zu ihrem Freund zu ziehen, der eine schicke Zwei-Etagen-Wohnung in der Altstadt hatte, eine Mischung aus Loft und Maisonette, so wie sie es beschrieben hatte. Silke hatte mit der Hochzeit die geringsten Probleme und merkwürdigerweise auch keine Angst, ihren Freund mitzubringen. Anscheinend fasste dieser Fabian das entweder nicht als zarten Hinweis auf oder es schreckte ihn nicht. Silke, die bis jetzt fast alles auf ihre stille Art erreicht hatte, schaffte es wahrscheinlich auch, den richtigen Mann zum Heiraten zu bringen und dann eine perfekte Ehe mit perfekten Kindern zu führen. Und nebenbei noch weiter zu arbeiten. Na, für Lehrerinnen war das ganz gut zu organisieren.
„Stimmt das, dass wir Blumenkränze tragen müssen?“, fragte sie sofort.
„Aha, Anette hat schon SOS gefunkt“, stellte ich fest. „Ja, wahrscheinlich schon. Aber es kommen ja wohl bloß Leute, die uns trotzdem lieb haben, oder welche, die uns egal sein können.“
„Carla hatte doch sonst mehr Verstand“, variierte sie das altbekannte Thema.
„Wem sagst du das“, seufzte ich dem entsprechend. „Heiraten scheint sich sehr negativ auf die kleinen grauen Zellen auszuwirken.“
„Alles andere anscheinend auch. Ich sitze gerade über einer Klausur, ich sag dir – lange nicht mehr so viel Blödsinn gelesen! Hast du gewusst, dass aus Papiergeld automatisch eine Inflation folgt?“
„Ah ja?“
„Eben. Und wie würdest du null x gleich sieben auflösen?“
„X gleich Null?“, schlug ich etwas unsicher vor, denn Mathe war nun nicht so sehr meine Leidenschaft gewesen. „Brav. In meiner Neunten wird das sauber aufgelöst, x gleich Null durch sieben, also ist x gleich sieben.“
„Oops. Aber ist es nicht schön, immer mit Leuten zu arbeiten, denen man überlegen ist?“
„Nö. Es sind zwar immer wieder andere, aber du bekommst allmählich das Gefühl, dass sie gar nichts dazulernen. Außerdem rächen sie sich. Ich bin zwar besser im Auflösen von Gleichungen, und ich weiß, wie eine Inflation mit der Währungsdeckung zusammenhängt, aber ich wusste heute nicht, wer Left Outside Alone singt. Das ist nach Ansicht einer Neunten endpeinlich.“
„Anastacia, oder?“
„Streberin. Nein, mir macht es schon immer noch Spaß. Solange Leute wie du nicht immer so tun, als hätte ich nur freie Zeit.“
„Hast du doch auch!“
Silke holte am anderen Ende tief Luft, um zu ihrer Standard-Verteidigungsrede anzusetzen, aber ich unterbrach sie schnell: „Schon gut, das war doch bloß ein fauler Witz. Wie geht´s dir mit deinem Fabian?“
„Gut. Wir kommen richtig gut miteinander aus. Ich hab zwar meinen Krempel zum größten Teil noch in meiner Wohnung, aber die meiste Zeit bin ich schon bei ihm. Und er ist wirklich entzückend.“ Sie seufzte ekstatisch.
Ich kicherte. „Die Liebe noch frisch, ja? Aber er ist ein netter Kerl, finde ich. Ich hab ihn ja erst zweimal gesehen, aber ich kann ihn billigen. Gute Wahl.“
„Ja, und für so ein reiches Söhnchen ist er wirklich persönlich bescheiden. Kein Porsche, kein Heli-Skiing, keine wüsten Züge durch die Gemeinde – nur fleißige Arbeit. Das war mir gleich von Anfang an sympathisch. Und dieses Jungenhafte...“
„Wieso reiches Söhnchen?“, fragte ich verblüfft. „Ist er jemand, den man irgendwie kennen müsste? Ich weiß ja nicht einmal seinen Nachnamen!“
„Koch heißt er“, sagte Silke und machte eine Kunstpause. Sollte mir jetzt ein Licht aufgehen oder was? „Koch heißen ja nun viele Leute“, wich ich aus.
„Von der Koch GmbH“, ergänzte sie, etwas ungeduldig.
Das sagte mir allerdings etwas. Die Koch GmbH war unsere Hauptkonkurrenz, was die Produktion von Kleinelektronik, Navigationssystemen und – ganz altmodisch – Autoradios betraf. Seit Neuestem mischte auch noch ein Laden namens DigEL auf diesem Sektor mit, aber eine nennenswerte Konkurrenz waren die noch nicht – erst seit einem Jahr an der Börse, und nach Anfangserfolgen um den Ausgabekurs herumdümpelnd. Koch war da schon interessanter. „Der Koch“, stellte ich also fest. „Arbeitet er in der Firma?“
„Ja, im Marketing. Der Vater ist anscheinend ziemlich altmodisch – der Bub muss von der Pike auf lernen, und für die Tochter haben sie etwas Weiblicheres gesucht. Ich glaube, sie hat eine Boutique oder so. Ich hab sie erst einmal gesehen, und da kam sie mir ein bisschen schnepfig vor. Aber, naja, vielleicht muss man sie besser kennen lernen.“ Schnepfig, das hieß Jetset, arrogantes Getue, perfektes Styling und nichts im Hirn außer Verachtung für Leute, die etwas Sinnvolles arbeiteten. Ich brummte.
„Du bringst Fabian doch auf die Hochzeit mit, oder?“
„Nein. Er ist sowieso eingeladen, ich muss ihn gar nicht mitbringen. Die Kochs sind Freunde von den Zorns.“
„Ihh, dann kommt die schnepfige Schwester auch?“
„Klar. Plus die Eltern, die sind auch gewöhnungsbedürftig. Die Schwester heißt übrigens Vanessa, und sie legt Wert darauf, dass man es englisch ausspricht. Wenn nicht, guckt sie, als sei sie von Analphabeten umgeben. Ve-nessa also.“
„Gar nicht affig, was? Wo ist da der Unterschied zu Mändy mit ä?“
„Dass Mändy mit ä so geschrieben wird, wie man es in der DDR ausgesprochen hat, wo man es ja nur aus dem Westfernsehen kannte und nie gedruckt gesehen hat. Du, da muss ich dir was erzählen. Ich hab doch in meiner Neunten eine Kathleen, nicht?“
„Kann sein“, antwortete ich. Ich konnte mir doch nicht die Namen all ihrer Schüler merken! Wie die Lehrer das schafften, war mir sowieso rätselhaft.
„Ja, und sie besteht darauf, dass das deutsch ausgesprochen wird, also wirklich Kat-lehn. Ich hab zuerst Kath-lien gesagt, da hat sie mich angeschaut, als hätte ich sie nicht mehr alle.“
„Mein Gott, das muss ihr doch schon öfter passiert sein! Ist sie vor dir noch nie jemandem begegnet, der weiß, dass das ein englischer oder schottischer Name oder wasweißich ist?“
„Anscheinend nicht. Und jetzt haben wir ihre kleine Schwester in der Fünften. Schreiben tut sie sich T-r-a-c-y. Wie würdest du das aussprechen?“
„Drahzie“, schlug ich vor und gackerte. „Das arme Kind!“
Silke gackerte auch. „Das sind so die kleinen Freuden im Lehrerzimmer, das tröstet über diese fürchterlichen Abiklausuren hinweg, die uns allen bevorstehen. Kannst du mir mal verraten, warum immer die ein Fach fürs schriftliche Abitur nehmen, die da gar nichts können? Ich hatte so gute Mathematiker im Kurs, und die machen sonst wo Abitur, aber die Pfeifen bei mir. Leute, die schon an der Definitionsmenge scheitern! Und in Wirtschaft genau die, die Angebot und Nachfrage nicht auseinander halten können. Da kann man ja nur schwarzsehen.“
„Ach komm, das gibt´s doch gar nicht!“
„Hast du eine Ahnung“, grummelte Silke. „Alles gibt´s. Wenn ich dich am Siebten anrufe und in den Hörer weine, weißt du, warum.“
„Ich werde dich trösten“, versprach ich lachend. Arme Silke – Korrigieren hätte mich auch nicht gereizt. Ich war eigentlich ziemlich froh, dass ich dem Lockruf der Schule widerstanden hatte. Vielleicht hatte das auch daran gelegen, dass mir nie ein zweites Fach zu Wirtschaft eingefallen wäre. Außerdem verdiente ich bei TechCo bestimmt doppelt so viel wie Silke beim Staat – auch netto. Dafür hatte sie ihren Job sicher, bei mir hing er davon ab, wie gut der Laden lief. Aber noch ein paar Jahre, und das Arbeitsamt konnte mich gern haben. Oder ich zog wirklich eine Ich-AG auf, im Gegensatz zu den meisten anderen wusste ich schließlich, was man bei einer Firmengründung zu beachten hatte.
Jetzt fehlte wirklich nur noch Nina, dann hatten alle angerufen. Na, Cora vielleicht noch, um mir zu erzählen, dass Carla jetzt völlig übergeschnappt war. Cora hätte bestimmt viel Sinn dafür, bei der Hochzeit ein paar Gags zu zünden, überlegte ich. Morgen in der Mittagspause würde ich mal in diesen Modeschmuckladen am Bahnhof gucken. Und abends in Leiching vorbeischauen und Cora meine Ausbeute zeigen. Obwohl – konnte sie auch dichthalten? Eher nicht.
Cora wohnte noch bei unseren Eltern, mit der nicht unvernünftigen Begründung, dass sie sich nach dem Diplom und mit einem ordentlichen Job eine anständige Wohnung leisten könne und keine Lust habe, jetzt in einer schimmeligen WG oder einem Einzimmerloch zu hausen, bloß um Selbständigkeit zu demonstrieren, die sie in Leiching genauso gut haben konnte. Wir hänselten sie ab und zu als Mamakind, aber sie kochte selbst, wusch selbst und machte selbst ihre Steuererklärung. Besser als viele Männer, die sich die saubere Wäsche von ihrer Mutti bringen ließen.
Hatte man alles schon erlebt, ich musste ja bloß an den biederen Bernhard denken oder an den tumben Thomas. Bernhard fand, Waschen sei Frauensache (er war eher konservativ veranlagt, da, wo es ihm zugute kam), Thomas dagegen war schon vom Anblick einer Waschmaschine völlig überfordert („Wo muss ich jetzt draufdrücken? Wieso Waschpulver? Ach, ich kann mir das nie merken, willst du nicht lieber...?“ Nein, ich wollte nicht. Tschüss, Thomas!)
Bernhard hatte von selbst Tschüss gesagt, nach einem längeren Vortrag darüber, welche üblen Folgen es haben würde, wenn ich weiterhin meine Weiblichkeit so verdrängte. Aber das Risiko wollte ich lieber eingehen.
Wie war das eigentlich mit Carlas Paul und Silkes Fabian? Ob die alltagstauglich waren? Nein, ich rief die beiden jetzt nicht an, um danach zu fragen, die rührten sich schnell genug von selbst wieder – wegen Blumenkränzen, zerbeultem Rolls Royce, lästigen Korrekturen, Tante Mathildes entsetzlichem Hochzeitsgeschenk oder was auch immer.
Wie schaute es damit wohl bei Nicholas Rosen aus? Der sah mir irgendwie nicht aus, als hätte er noch eine Mutti im Hintergrund, die mit Töpfen voller Sauerbraten und Paketen mit gebügelten Hemden zu ihm radelte. Er wirkte eher, als hätte er eine gute Putzfrau und ein Abo bei der Reinigung.
Egal, der wollte ja sowieso nichts von mir. Wahrscheinlich war er einfach schon in festen Händen, und ich sollte mir die Sache endlich mal aus dem Kopf schlagen. Leichter gesagt als getan! Ich nahm mir dauernd vor, damit aufzuhören, aber dann sah ich ihn wieder, im Meeting, in seinem Zimmer mit dem Rücken zur Tür telefonieren, über den Parkplatz zu seinem Wagen hinken – und jedes Mal entdeckte ich etwas anderes Entzückendes: die Form seiner Ohren, seine Rückenlinie, die Art, wie er sich kleidete (irgendwie englisch), seine langen, schmalen Hände, den trockenen Ton, in dem er auf juristische Probleme hinwies, die kalte Art, mit der er ungerechtfertigte Beschwerden abwies, die Bewegung, wenn er sich durchs Haar fuhr, die akkurat gebundenen Krawatten, die Tatsache, dass er absolut keine Ringe trug (das fand ich bei Männern bescheuert, vor allem Siegelringe).
Verheiratet war er nicht, das wusste ich aus der Personalakte, weil da die Steuerklasse drin stand. Aber deshalb konnte er schließlich eine Freundin plus Kinder haben! Entweder das oder ich war einfach nicht sein Geschmack. Vielleicht redete ich zu viel, vielleicht trat ich bei den Meetings nicht so auf, wie er es wollte, vielleicht stand er auf kleine dicke dunkle Frauen und nicht auf große dünne mit undefinierbar hellbraunen Haaren. Vielleicht liebte er blaue Augen. Oder ein anschmiegsames Wesen... aber da konnte ich ihm dann auch nicht helfen, anschmiegsam war ich nun mal nicht.
Alles sinnlos.
Vielleicht stand er auch eher auf Männer? Oder hatte sich dem Zölibat verpflichtet? Oder er glaubte, mit seinen Behinderungen fände er sowieso keine? Nein, das war zu sehr Kitschroman, so blöde waren die Leute im wahren Leben nicht. Egal.
Nein, nicht egal. Ich wollte wissen, warum er so schlecht drauf war, woher er den lahmen Arm und das Hinkebein hatte, was er dachte, was er liebte und was er hasste (außer mir natürlich) – und das seit einem halben Jahr. Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, mir irgendein juristisches Problem zuzulegen, privat natürlich, und ihn um Rat zu bitten. Aber wie ich ihn einschätzte, würde er mir den vollen Stundensatz berechnen und nach fünf Minuten merken, dass das Problem gefakt war. Und dann hätte ich endgültig bei ihm verschissen.
Carla und Paul hatten ihren Ehevertrag woanders aufsetzen lassen, bei irgendeinem Bekannten von Paul, aber das hatte mich nicht so interessiert, dass ich nachgefragt hätte. Ansonsten hätte man ihn dadurch vielleicht an die Familie Engelmann binden können... ach, wozu - der wollte ja gar nicht.
Irgendwann käme ich schon darüber hinweg. Das war mir schon früher passiert, als ich mich im zweiten Semester rettungslos in diesen süßen Assistenten in der VWL-Übung verknallt hatte. Total umsonst, der wurde immer von seiner hochschwangeren Freundin abgeholt und freute sich auch noch darüber. Gegen Ende des Semesters dann von Freundin mit umgeschnalltem rotgesichtigem Zwerg. Konnte ich vergessen. Und eines Tages, im Semester darauf, hatte ich ihn in der Bibliothek getroffen, ihn geistesabwesend gegrüßt (ich suchte gerade einen Artikel, denn offenbar jemand für eine Hausarbeit geklaut hatte) und dann erst gemerkt, dass mein Herz kein bisschen schneller geschlagen hatte: Vorbei, ich war geheilt.
Mit Rosen würde es mir genauso gehen, eines Tages würde er ins Besprechungszimmer kommen, ich würde ihm gleichgültig zunicken und dann erst merken, dass er mich so kalt ließ wie ich ihn.
So toll waren Beziehungen schließlich auch nicht. Klar, Carla und Paul glaubten im Moment an die ewige Liebe. Mussten sie ja auch, sonst könnten sie sich den ganzen Almauftrieb gleich sparen. Anette hatte ziemlich daran geknabbert, dass Andi so plötzlich verschwunden war, und wenn ich an den Kerl dachte, den Silke vor Fabian gehabt hatte, diesen – äh – Max, genau. Der hatte immerzu Heiratspläne geschmiedet. Anfangs hatte Silke dabei auch mitgemacht, sie war der Typ, der langfristig geordnete Verhältnisse vorzog.
Der erste Termin musste verschoben werden, weil Max dringend geschäftlich nach Köln musste. Der zweite, weil er einen hässlichen Ausschlag hatte. Der dritte, weil sich seine Mutter plötzlich quer stellte und lieber wollte, dass Max eine Tochter ihrer lieben Jugendfreundin heiratete. Max schwor, er würde sich nur einmal mit dieser Tochter treffen und seiner Mutter dann klar machen, dass er die blöd fand. Gut, Silke wartete und sagte den Termin im Rathaus ab. Max legte einen vierten Termin fest, Silke buchte wieder alles, ich bügelte mein dunkelgraues Seidenkostüm zum vierten Mal auf, und Max´ Mutter musste genau an diesem Tag zur Kur gefahren werden. das ging natürlich vor.
Das fünfte Mal platzte, weil Max am Tag zuvor einen Unfall baute. Nur Blechschaden, aber er stand ja so fürchterlich unter Schock, dass ihm eine Hochzeit nicht zuzumuten war.
Beim sechsten Mal sagte er nicht ab. Das war auch gar nicht nötig, weil Silke überhaupt keinen Termin mehr vereinbart hatte. Zu dem Zeitpunkt, den sie Max genannt hatte, warteten wir gegenüber dem Rathaus – und er kam gar nicht. Er nicht, seine Mutter nicht, sein stieseliger Trauzeuge nicht.
Daraufhin forderte sie ihn abends auf, doch endlich zuzugeben, dass er gar nicht heiraten wollte, und machte Schluss. Max soll ziemlich erleichtert gewirkt haben. Warum schmiedete jemand gegen seinen Willen Hochzeitspläne? Silke hatte doch nicht damit angefangen, sondern er, aber warum bloß?
Auf jeden Fall war Silke hinterher ziemlich entnervt, und ich konnte mir gut vorstellen, dass dieses Mal Fabian die Termine machen musste, weil Silke sich langsam vor den Leuten im Rathaus genierte.
Nina war verheiratet, gut. Aber ob das noch so toll war? So, wie sie manchmal über ihren Florian redete, wenn er wieder mal ungefragt Gäste anschleppte, immerzu Urlaube in Südtirol buchte, obwohl Nina und die Kinder seit Jahren von einem anständigen Sandstrand träumten, nie bemerkte, wenn sie an sich oder im Haus etwas verschönert hatte und mittlerweile nur noch ein Viertel so viel redete wie vor der Hochzeit, ihr außerdem die Kindererziehung ganz alleine überließ... war das noch der große Liebestraum? Oder konnte man das sowieso nicht erwarten, sondern wurschtelte einfach friedlich neben jemandem her, in den man immerhin vor Jahren mal verliebt gewesen war? Vielleicht ging gar nicht mehr.
Cora hatte dauernd einen neuen Freund, und wenn man fragte, was denn aus Sowieso geworden war, prustete sie bloß: „Der? Wer war das noch mal gleich wieder? Der war ja so doof, nee, den hab ich schnell wieder abgehakt. Jetzt hab ich einen kennen gelernt, der ist wirklich süß...“
Ja, für zwei Wochen vielleicht. Immerhin kam Cora so ordentlich herum und musste allmählich ein ganz sicheres Urteil über Männer haben.
Oder auch nicht, wenn sie immer wieder an diese Zweiwochenkerle geriet. Gab es eigentlich immer noch keinen ultimativen Ratgeber für den Umgang mit Männern? So einen wie bei populärer Traumdeutung? Statt Wenn Sie von Läusen träumen, machen Sie bald eine Erbschaft könnte es zum Beispiel heißen Wenn er nie anruft, wenn es später wird, ist er ein rücksichtsloses Schwein. Wenn er wegen jeder fünf Minuten anruft, ist er ein blöder Korinthenkacker. Fazit: Man konnte prophylaktisch jeden Kerl sofort wieder verabschieden.
Unbrauchbare Bande – aber sie würden ja über kurz oder lang sowieso aussterben, hatte ich gelesen. Das Y-Chromosom war nicht mehr als ein defektes X, Männer waren kränker, lebten kürzer und auf Steinzeitniveau und waren im Alltag völlig hilflos. Nicht einmal für Multitasking reichte es bei diesen Simpelhirnen!
Also, warum zerbrachen wir uns dauernd den Kopf über diese Geschöpfe? Schließlich brauchten wir sie ja nicht mehr, wir konnten uns selbst ernähren, selbst das Auto in die Werkstatt bringen, selbst einen Rechner aufbauen und wenn es gar nicht mehr anders ging, auch selbst einen Vibrator kaufen.
Wer hatte bloß die Liebe erfunden? Ohne könnte ich mich in den Meetings richtig konzentrieren und müsste mich in drei Wochen nicht in diese apricotfarbene Scheußlichkeit werfen, Silke hätte mehr Zeit zum Korrigieren, Anette keinen Ärger mit Geistern aus der Vergangenheit und Nina Zeit für ihren Job und ihre lieben Freundinnen. Mama und Papa hätten ihre Ruhe und Carla könnte sich mit voller Energie auf Fondsmanagement konzentrieren. Und Cora wäre vielleicht schon mit dem Studium fertig.
Genau, und Stefan müsste seine kärgliche Freizeit nicht damit vertun, seiner kostbaren Martine Kissen in den Rücken zu stopfen oder Heringe mit Ananas zu besorgen oder mit ihr atmen zu üben.
Keine Liebe und Nachwuchs aus dem Reagenzglas. Brave New World hatte doch auch gewisse Vorzüge! In dieser mürrischen Stimmung verzog ich mich ins Bett. Den Film konnte ich auch morgen noch weiter gucken, außerdem kannte ich ihn sowieso fast auswendig.
Der Modeschmuckladen am Bahnhof war eine Offenbarung. Ich hätte fast meine Mittagspause überzogen, so faszinierend fand ich das Angebot. Nach längerem genussreichem Wühlen fand ich einen schweren Eisenring mit Totenkopf (mit kleinen roten Augen und fiesem Grinsen) für Paul und für Carla ein großes Herz aus orangefarbenem Karfunkelstein mit Glittereinschlüssen, eingefasst mit unglaublich unecht aussehenden Brillanten. Das Ganze so groß, dass es mehr als ein Fingerglied bedeckte. Und beide Teile kosteten nur zehn Euro – zusammen!
Und dann gab es Tattoo-Abziehbilder! Hm... Barcodes auf der Schulter, als wären wir Ware vom Fließband? Oder französische Lilien, als hätte man uns in den Drei Musketieren als Huren oder Diebinnen gebrandmarkt? Oder mehrfarbige Herzen mit Spruchband wie aus dem Poesiealbum? Pro Stück einen Euro... ich nahm die Lilien. Sehr vergnügt kam ich zu TechCo zurück und traf auf dem Gang prompt Rosen, der mich misstrauisch beäugte. Ich unterbrach mein Pfeifen kurz, grinste ihm breit zu und verschwand, sehr zufrieden mit mir. Cooler Auftritt! Nur schade, dass ich mich nicht umdrehen konnte, um die Wirkung zu überprüfen.
Ich pfiff noch vor mich hin, während ich Akten wälzte und mich auf das heutige Meeting vorbereitete.
„Übrigens, die Uhlmann hat vorhin angerufen und herumgepöbelt“, berichtete Frau Reichle und legte mir einen neuen Stapel hin. „Und einen schönen Gruß von Herrn Schmitt, das – und das – und ja, das da auch, das müsste bis zum Meeting fertig sein.“
Ich stöhnte. Das war´s dann mit dem Hochgefühl!
Immerhin schleppte ich den ganzen Haufen brav in die Sitzung. Was an manchen dieser Unterlagen so dringend sein sollte, war mir nicht ganz klar geworden – Fortbildung, eine mögliche Beförderung, die Frage, wie viele Lehrstellen wir zum Herbst anbieten konnten, und diverse Schreiben, die zum Teil auf nicht nachvollziehbaren Wegen bei mir gelandet waren. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass alle sagten: „Was ist denn das für ein Blödsinn? Werfen wir´s doch der Engelmann in die Post!“
Manches verteilte ich im Meeting mit süffisantem Grinsen wieder an die anderen – und mit besonderem Genuss schob ich eine Einladung zu einem Juristenkongress quer über den Tisch zu Rosen: „Das dürfte Sie ja wohl eher betreffen.“ Er zog ein Gesicht. „Am zwanzigsten kann ich nicht.“
Ich zuckte die Achseln. „Sie müssen ja nicht hinfahren, aber in meiner Post hat das auch nichts zu suchen.“
Wir feilschten um die Lehrstellenzahl, hörten den Betriebsrat zum Fall Uhlmann (keine Einwände, woher auch), arbeiteten etlichen Kleinkram ab und waren relativ pünktlich fertig. „Ob wir für die neue Produktpalette noch Mitarbeiter brauchen, klären wir am Montag“, verkündete Schmitt im Aufstehen, was ihm von Mönsche einen verblüfften Blick eintrug. Als ich wieder in meinem Büro war, kam die Reichle angeschossen. „Die Uhlmann war da!“
„Was hier oben?“
„Nein, in ihrem alten Büro. Die Teck war geistesgegenwärtig genug, ihr den Schlüssel abzunehmen, das hatte sie gestern wohl vergessen. Die Uhlmann hat rumgekräht, dass es eine Frechheit ist, sie zu feuern, obwohl sie gar nichts gemacht hat.“
„Gar nichts gemacht trifft wohl eher auf ihre Arbeitsleistung zu“, murmelte ich. „Ist sie dann friedlich gegangen?“
„Ja, nach wüsten Drohungen gegen alle, die, die sie verpetzt haben, die, die sie gefeuert haben, die, die das nicht verhindert haben. Und natürlich alle die, die jetzt blöde grinsen, denen wird es noch besonders leidtun.“ Sie grinste schief.
„Also alle Welt. Na, da hat sie noch was zu tun, wenn sie sich an allen rächen will. Wir sollten vielleicht über ein Hausverbot nachdenken... naja, wenn sie noch mal kommt. Vielleicht hat sie jetzt ja schon genug Dampf abgelassen. Und die Sache mit dem Arbeitsamt hatte ich ihr ja erklärt.“
„Na, ich weiß nicht. Die kommt bestimmt wieder. Das ist so die Sorte, die sich immer unfair behandelt vorkommt. Ich könnte sie mir gut in so einer Talkshow vorstellen.“
Ich lachte. „Ja, ich auch. Bei so einem richtigen Loser-Treff. Aber ich glaube, die haben mittlerweile gar keine echten Gestörten mehr, sondern bloß noch Schauspieler. Manches ist so abgedreht, das kann gar nicht echt sein.“
„Ja, das denke ich auch immer. Aber ich habe festgestellt, dass es im wahren Leben noch viel krassere Typen gibt als im Fernsehen. Zum Beispiel – haben Sie einen Moment Zeit?“
„Klar“, beteuerte ich wider besseres Wissen. „Na, also, da wo ich wohne, da gibt´s im Erdgeschoss ein Paar, die streiten sich dauernd lautstark. Am Anfang haben wir alle geglaubt, wir müssten uns einmischen, die Frau retten, wenn sie so gekreischt hat, aber erstens hat sie immer ihn verprügelt -“
Sie machte eine Pause und wartete auf meine Reaktion. Ich bekundete das erwartete Erstaunen.
„und zweitens hat der Typ immerzu nebenbei anderen Mädels, und denen macht er auch gerne ein Kind, ihr aber nicht, bei ihr passt er auf.“
„Und sie will ein Kind?“
„Ja, klar!“
„Dann würde ich ihn auch verprügeln. Oder mir einen anderen suchen.“
„Genau! Vielleicht sogar einen Schöneren. Der Typ sieht aus, ich sag´s ihnen, das glaubt man nicht. Höchstens einssechzig, zaundürr, Riesenzahnlücken, vorne kahl und hinten lange Strähnen...“
„Wie Otto?“
„Wie wer?“
„Der Komiker“, erklärte ich. „Otto Waalkes.“
„Ach so, ja. Noch krasser. Und immer leicht im Tran. Der Typ war seit Jahren nicht mehr wirklich nüchtern. Sie macht die Hausarbeit, verdient das Geld, und zum Dank vögelt er rum – Entschuldigung.“
Ich grinste. „Macht nichts. Aus seiner Sicht ist das vielleicht ganz vernünftig. Er würde ja den Ast absägen, auf dem er sitzt, wenn er seine Ernährerin schwängert.“
„Hm, klingt logisch.“
Das Telefon schnitt mich von weiteren Informationen über Frau Reichles Nachbarn ab. Die hörten sie ja wirklich an wie die Verrückten in den Talkshows! Warum blieb die Frau bei so einem?
Die Rechtsabteilung wollte einen Vorgang haben, der angeblich bei uns gelandet sein sollte. Ich wühlte herum, fand ihn, verfluchte wieder einmal unseren Boten, der anscheinend gar nicht lesen konnte, und sagte: „Ich bring´s schnell rüber. Mit Grützmeier warten Sie ja ewig.“
Frau Heinl, Rosens Sekretärin, lachte.
Wahrscheinlich benahm ich mich als Vorgesetzte falsch, überlegte ich unterwegs. Ich blödelte mit meiner Sekretärin herum, trug fehl geleitete Post im Notfall selbst weiter und hatte sogar schon selbst Kaffee gekocht. Die Männer achteten bestimmt viel besser auf ihre Position, aber dafür tat Frau Reichle alles für mich, auch wenn sie noch etwas auf den letzten Drücker machen musste (was allerdings selten vorkam, so verplant war ich nun auch wieder nicht). Hatte ich zu wenig Distanz oder die bessere Sozialkompetenz? Interpretationssache. Aber Rosen sollte wirklich mal einen Kurs in Kommunikation machen! Ich stieß die Tür zu seinem Sekretariat auf und wedelte mit der Akte. „Hier, Frau Heinl! Prompter Service!“
Dann erst bemerkte ich Rosen, der, einen aufgeschlagenen Ordner in der Hand, am Fenster stand und mich stirnrunzelnd musterte. Ich hoffte, dass ich nicht rot wurde. „Entschuldigen Sie die Störung“, sagte ich so kalt wie möglich und verzog mich schnell. Draußen rannte ich förmlich, als könnte ich, sobald ich wieder an meinem Schreibtisch saß, so tun, als sei ich nie weggewesen.
Blöder Hund. Was um Himmels Willen hatte er denn gegen mich? Ich hatte ihm nie was getan, ich hatte mich ihm auch nie aufgedrängt. Schlimmstenfalls hatte ich ihm am Anfang ein paar interessierte Blicke zugeworfen und war vielleicht mal rot geworden, aber das war noch kein Grund, so angewidert zu schauen! Und in so einen blöden Stoffel war ich verliebt – ich musste ja wirklich eine Vollmeise haben! Aber damit war jetzt Schluss.
Endgültig und sofort!
Beim nächsten Mal würde ich nur noch durch ihn hindurchsehen und so kalt wie möglich sein. Obwohl – das machte ich schließlich jetzt schon, und es nützte gar nichts. Sollte ich vielleicht meine Beförderung rückgängig machen lassen, bloß damit er mich nie mehr sehen musste? Womöglich mir einen neuen Job suchen? Das kam ja wohl überhaupt nicht in Frage!
Ich versuchte mir einen Mann vorzustellen, der mit der Begründung kündigte, eine Kollegin könne ihn nicht leiden und er wolle ihr seinen Anblick ersparen. Abwegig! Nur eine Frau konnte so blöd sein, über so etwas auch nur nachzudenken. Nein, ich dachte auch gar nicht daran. Ich würde nur die Objektivität in Person sein, quasi ein weiblicher Lieutenant Data. Und wenn die Juristen das nächste Mal eine Akte vermissten, würde ich entweder Dienst nach Vorschrift machen und Grützmeier herbeordern oder Frau Reichle schicken.
Problem gelöst!
Ich vertiefte mich in meine Unterlagen und schaffte es wenigstens, bis zum Abend alles vom Tisch zu haben und ein Konzept zur Personalbewertung zu entwerfen. Es hatte noch ein paar Macken, aber ich musste es ja auch noch nicht so bald vorlegen. Und bei unserer Personalverwaltungssoftware musste man auch dringend etwas ändern. Ich schrieb ein entsprechendes Memo an unsere hauseigene Programmierabteilung, warf alles in den Ausgangskorb, schloss den Schreibtisch ab, löschte das Licht, schickte Frau Reichle heim und griff nach meinem Mantel. Nichts wie weg hier! Wenn ich den Kerl heute noch einmal traf, würde der Abend auch noch ganz grässlich werden.
Ich fuhr nach unten und trat durch den Hinterausgang auf den Personalparkplatz, wo mir seit meiner Beförderung sogar ein fester Platz zustand, mit meiner Nummer markiert. Als ich die Fahrertür öffnete, glaubte ich zu hören, wie jemand meinen Namen rief. O Gott, doch nicht schon wieder die Uhlmann?
Ich sah mich hastig um. Nein, ein Mann. Ein hoch gewachsener Mann. Er kam langsam näher und hinkte. Nichts wie weg! Ich sprang förmlich ins Auto, knallte die Tür zu, schnallte mich mit fliegenden Fingern an und drehte den Zündschlüssel. Heißen Dank dem Schicksal, dass es mir ermöglichte, ein neues und zuverlässiges Auto zu fahren – es sprang sofort an. Ich knüppelte den Rückwärtsgang ein und schoss aus der Parklücke, schlug ein, schaltete und gab Gas. Im Vorbeifahren registrierte ich Rosens erstauntes Gesicht und bewahrte mein Pokerface. Hoffte ich wenigstens. „Auf dem Parkplatz? Oh, das tut mir Leid, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Warum haben Sie denn nicht gerufen?“ Mit unschuldigem Augenaufschlag natürlich. „Lag denn noch etwas an? Vermissen Sie irgendwelche Unterlagen?“
Streng beruflich eben.
Vielleicht änderte er ja sein Verhalten, wenn ich die Eiskönigin gab. Ich hatte ab sofort überhaupt gar kein Interesse mehr an ihm, basta!
Hatte ich das schließlich nötig, wütete ich auf dem Weg nach Leiching vor mich hin, mich nach diesem Kerl zu verzehren? Wer war er denn schon? Ein ältlicher, mürrischer, staubtrockener Jurist, der so etwas Nettes, Lebendiges und Charmantes wie mich sowieso nicht verdiente. Ich konnte allemal etwas Besseres finden, einen Jüngeren, Schöneren, Freundlicheren. Einen knackigen Latin Lover vielleicht, mit feuchten braunen Augen und einer schwarzen Locke in der Stirn. Ja, und mit einer Rose zwischen den Zähnen. Bäh!
Leider wollte ich so etwas gar nicht. Ich stand auf dröge Typen. Irgendwas musste mit meiner frühkindlichen Entwicklung schief gelaufen sein.
Erbostes Hupen riss mich aus meinem Brüten, und ich fuhr hastig an, bevor die Ampel wieder auf Rot schaltete. Wegen dieses Kerls outete ich mich hier noch als Frau am Steuer! Eigentlich mochte ich ihn gar nicht, aber verliebt war ich trotzdem. Ich war wirklich bescheuert, und jetzt hörte ich am besten auf, darüber nachzudenken, denn gleich würde Carla mich mit irgendwelchem Schwachsinn überfallen, und ich brauchte meinen gesamten Scharfsinn, um ihre Aufträge abzuwehren.
Ich kurvte durch die lästigen Tempo-30-Zonen und quetschte mich in der Einfahrt meiner Eltern hinter Coras Mini. Carlas Golf stand eingekeilt zwischen dem Mini und Mamas BMW. Bei uns sah es mal wieder aus wie auf der Gebrauchtwagenschau.
Das Haus war immer noch das schönste, das ich kannte, eine richtige Villa aus der Jahrhundertwende, mit steinernen Balkonen, Säulenvorbau vor dem Eingang, einem süßen und völlig sinnlosen Erker und Stuck über allen Fenstern. Und innen war es riesig. Ideal, um hier einen Krimi zu drehen. Ich suchte noch nach meinem Schlüssel, als die Tür aufgerissen wurde. „Gott sei Dank, wenigstens eine normale Person!“
„Hallo, Papa!“ Ich küsste ihn auf die Wange und schlängelte mich an ihm vorbei. „Was hat Carla denn heute wieder?“
„Du hast die Wahl: Tischordnung, Brautstrauß, Sektempfang nach der Trauung.“
„Auf keinen Fall die Tischordnung“, wehrte ich ab, „so was kann ich nie. Rangordnungen liegen mir nicht, und bei so vielen vons kriege ich echt zu viel.“
„Nicht nur du. Paul hat eine Tante, hat Carla gerade erzählt, die soll eine veritable Gräfin sein.“
„Schön für sie. In meiner Klasse war auch eine veritable Gräfin, die Patzi Wolff. Sah aus wie ein Punk und konnte seitenweise aus dem Kapital zitieren, obwohl da längst die Wende war.“
„Patzi Wolff?“ Ich verdrehte die Augen. „Patricia Gräfin Wolff von Wolffenberg. Im 15. Jahrhundert geadelt oder so.“
Papa lachte. „Sag das bloß nicht Carla, sonst will sie die einladen, um der neuen Verwandtschaft zu imponieren.“
„Mit Patzi kann man keinem imponieren, die ist, soweit ich weiß, immer noch ziemlich schräg drauf. Im Moment, glaube ich, aber eher so makrobiotisch. Wenn sie jemanden in handgesponnenem Leinen dahaben will, der sich beim Fleischgang lautstark ekelt, dann bitte. Ich glaube, Nina hat ihre Adresse. Eine WG an der Uni, wahrscheinlich. In einem garantiert unsanierten Altbau.“
„Na, komm weiter. Carla und deine Mutter sind im Wohnzimmer und brüten über ihren diversen Problemen. Wenn du genug davon hast, komm zu mir ins Arbeitszimmer.“ Ich tätschelte ihm dankbar den Arm und wagte mich in die Höhle der Löwinnen.
Stoffe, Zettel, aufgeschlagene Zeitschriften, Carla mit zerrauften Haaren und Mama, die Brille in die grauroten Locken geschoben. Ich spielte kurz mit dem Gedanken an Flucht, atmete dann aber tief durch und trat ein. In diesem Moment entdeckte ich Cora – und sie mich. „Oh, gut, dann kann ich ja jetzt abhauen“, sagte sie, „ich hab nämlich noch was Wichtigeres zu tun.“
„Was Wichtigeres?“, wollte Carla sich gerade empören, aber Cora drückte sich neben mir durch die Tür und war auch schon verschwunden.
„Kati, hilf mir!“, jammerte Carla. „Die Tischordnung ist eine einzige Katastrophe! Ich habe keine Ahnung, wer wie nahe am Brautpaar sitzen muss! Und ich habe keine Ahnung, was wir direkt nach der Trauung machen sollen, einen Sektempfang oder lieber was anderes? Und schau mal, hier, so könnte der Brautstrauß aussehen. Das ist ein Entwurf von La Fleur, aber findest du nicht, dass das irgendwie öde ausschaut? Ich weiß gar nicht, wieso, aber irgendwas fehlt da, bloß was?“
Ich konzentrierte mich sofort auf das Letzte, um mich um die Tischordnung zu drücken. Das Foto sah gar nicht so schlecht aus, weiße Rosen, irgendwelche blass apricotfarbenen Blumen, die ich nicht kannte, dazwischen, und das übliche Schleierkraut. Aber Carla hatte Recht, da fehlte der Pep. Ich studierte das Foto mit gerunzelter Stirn, bis mir die Idee kam: „Die Farben sind zu blass.“
„Ja, aber was soll ich denn machen? Das ist genau das Apricot von euren Kleidern und von meinem Kranz, ich kann doch jetzt nicht plötzlich auf Knallrot umsteigen, wie schaut denn das aus!“
Carla sah zu mir auf, die nussbraunen Augen in Tränen schwimmend.
„Jetzt krieg dich schon wieder ein“, mahnte ich leicht gereizt und setzte mich, das Foto in der Hand. „Natürlich nicht knallrot! Aber wie wär´s mit – hm – einem kräftigeren Orange? Nicht nur, aber hier und da so was wie diese orangefarbenen Begonien? Ich weiß, das sind eigentlich Topfpflanzen, aber die haben eine irre Farbe. Oder Gerbera, die müsste es auch so geben. Frag bei La Fleur mal nach. Im Strauß zwei oder drei dunklere Blüten, und vielleicht noch eine längere Ranke, die runterhängt, dann ist die Form nicht so spießig...“
„Was für eine Ranke?“, jammerte Carla wieder los und jetzt schaute sogar Mama ärgerlich drein. „Also, wenn Kati dir schon hilft, könntest du aufhören, wie eine Dreijährige herumzunölen. Es haben vor dir auch schon Leute geheiratet!“ Carla war beleidigt, hielt aber endlich den Mund. Ich nutzte die Gelegenheit: „Weihrauch oder Efeu. Nur eine oder zwei Ranken. Das Schleierkraut ist öde. Schon tausendmal gesehen. Los jetzt, ruf schon da an!“
„Du haben doch schon zu!“, jaulte Carla. „Dann schreib´s dir auf und mach´s morgen. Also, Brautstrauß erledigt. Was war das noch?“
„Die Tischordnung!“
„Vergiss die Tischordnung, die muss jemand machen, der was davon versteht. Ich bestimmt nicht. Nein, das andere!“
„Der Sektempfang?“
„Genau. Was hast du dagegen? Pro Nase ein Glas Sekt und irgendein Häppchen, alle können gratulieren, und danach gibt es doch sowieso das Essen, oder?“
„Ja, schon... aber ich weiß nicht. das ist so – so -“
„Vorhersagbar? Na, wenn schon. Die Leute mögen es, wenn die Dinge so passieren, wie sie es erwarten. Und nach der Trauung haben bestimmt alle Durst. Außerdem müsst ihr die Leute doch beschäftigen, während sie Schlange stehen, um euch die Hand zu schütteln. Und während die engste Familie fotografiert wird und so.“
„Fotos!“, kreischte Carla. „Wir haben noch keinen Fotografen!“
„Na, das fällt dir aber früh ein“, kommentierte ich. „Du wirst doch jemanden mit einer Digitalkamera oder einem Camcorder finden. Können wir jetzt mit dem Sektempfang weiter machen?“
Mama notierte sich, dass der Fotograf noch fehlte. „Sekt und so kleine Blätterteigschweinereien. Und wenn jemand keinen Sekt so mag, dann mit Saft. Orangensaft und irgendwas ausgefalleneres, Mango oder so.“
„Blätterteigschweinereien?“, fragte Carla misstrauisch nach.
„Du weißt schon, so kleine Pastetchen, mit Krabben gefüllt oder Ricotta und Spinat. Oder Käse und Schinken. Macht dir jedes Catering. Einen Catering-Service hast du doch schon?“
Sie sah mich beleidigt an. „Wofür hältst du mich?“
Ich feixte. „Für eine, die den Fotografen vergessen hat. Also, Sekt, Saft, Pastetchen. Oder willst du Käsewürfel und Trauben auf bunte Spießchen stecken?“
„Gotteswillen! Voll die Fünfziger!“ Sie hielt inne. „Obwohl – so ein Stück Leerdamer mit einer schwarzen Olive... schon lecker..."
„Ihh! Grüne Oliven, wenn schon!“, protestierte ich, und im Handumdrehen waren wir in den schönsten Streit verwickelt.
„Wie alt seid ihr eigentlich?“, fragte Mama schließlich. „Nicht alt genug zum Heiraten, fürchte ich. Jetzt lasst das alberne Gezanke und macht weiter.“
„Wir könnten uns eine Pizza kommen lassen, mit extra vielen Oliven“, schlug Carla vor. „Mit grünen? Ich bin dabei!“
„Okay, zwei Pizzen. Und dann machen wir weiter.“
„Wenn du mich mit der Pizza ködern willst, die Tischordnung zu machen“, versuchte ich vorzubauen, „dann vergiss das lieber ganz schnell. Für so was ist Mama doch ideal.“
„Ich denke nicht daran“, verkündete Mama.
„Und wenn du nur einen Tisch für euch und die Brauteltern machst und viele kleine Tische für alle anderen? Wo sie sich nach Belieben setzen können? Oder – hey, das ist es! Nummeriere die Plätze und die Tische durch und lass die Leute Lose ziehen, dann lernen sie sich wenigstens kennen!“
Carla sah zweifelnd drein. Kunststück, das war in Vier Hochzeiten nicht vorgekommen. „Gute Idee“, fand Mama, die augenscheinlich bloß froh war, dass ich sie vom Haken genommen hatte.
„Ja, findest du?“ Carla war noch nicht recht überzeugt. Mama nickte und ich nickte mit. Wieder ein Problem negiert!
„So, jetzt bestell mal die Pizza. Extra Käse, Anchovis und viele grüne Oliven“, verlangte ich. „Und dann gucken wir, was es noch so zu tun gibt.“
„Du denkst auch bloß ans Essen“, maulte Carla, „dabei haben wir doch noch so viel zu tun. Heirate du erst mal, das ist Schwerstarbeit!“
„Zwingt dich doch keiner“, schnappte ich. Das war doch die Höhe! Wer hatte denn von ihr verlangt, so ein Fass aufzumachen? „Wenn ich jemals heirate – ich sage ausdrücklich wenn – dann im Vorbeigehen auf dem Standesamt, ohne Gäste, ohne alles. Und am Abend eine Party. Ordentlich Alkohol, dann fällt alles andere gar nicht mehr auf.“
„Typisch Kati“, fand Mama. „Keinen Sinn für schöne Formen.“
Das war mir doch egal! „Hundert Leute“, jammerte Carla wieder los. „Bis die ihre Plätze ausgelost haben, ist doch das Essen kalt!“
Mich traf fast der Schlag. „Hundert Leute? Wenn habt ihr denn um Himmels Willen alles eingeladen? Ich kenne nicht mal halb so viele Leute, und von denen würde ich mindestens drei Viertel nicht auf meiner Hochzeit haben wollen. Findest du nicht, dass ihr ein bisschen übertreibt?“
Carla stöhnte. „Meine Familie – seine Familie. Meine Freunde – seine Freunde. Die Freunde seiner Eltern. Leute, die man einfach einladen muss, weil sie einen auch immer einladen. Alle, bei denen ich Brautjungfer war. Deine Freundinnen, damit ich nicht so hässliche Brautjungfern habe wie die anderen, und Nina, weil ich ihre Kinder brauche. Außerdem heißt Nina von, und ich muss den Zorns zeigen, dass ich auch nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen bin. Apropos – bringst du einen Mann mit?“
„Wieso apropos? Was hat ein Kerl mit der Brennsuppe zu tun? Erwartest du, dass ich einen richtigen Proll anschleppe?“
Carla wedelte mit der Hand. „Schnapp doch nicht immer gleich ein! Mir ist doch bloß grade eingefallen, dass ihr alle ja vielleicht auch noch einen Macker anschleppt.“
„Um Gottes Willen, nein. Bloß Silke bringt Fabian mit, aber das weißt du doch, den habt ihr doch selbst eingeladen. Außerdem hätte ich gedacht, dass du die Gästeliste jetzt allmählich mal fertig haben müsstest, was sollen denn sonst die Leute vom Catering sagen?“
Carla zuckte ganz untypisch die Achseln. „Ach, die haben mal so locker zehn Leute extra einkalkuliert. Bei euch kommt also keiner mehr dazu?“
Irgendwie klang das enttäuscht, fand ich.
„Bei mir ganz bestimmt nicht. Fabian für Silke weißt du schon. Ninas Mann natürlich. Und Anette kommt genauso alleine wie ich – und wehe, du suchst uns irgendwelche Pappnasen als Partner aus.“ Carla grinste kurz und kuschelte sich tiefer in ihren Sessel. „Ich glaube, ich weiß schon einen...“
„Mach nur“, drohte ich, „ich werde ihm dafür ein paar Geschichten über dich erzählen. Geschichten, die dein Paulimausi noch nicht kennt, darauf wette ich.“ Carla runzelte die Stirn. „Zum Beispiel dieses Wettsaufen auf dem Volksfest am Mönchensee, weißt du noch?“
„Was?“ Mama schob sich die Brille wieder auf die Nase. „Das würde mich jetzt aber auch interessieren. Wie alt warst du da, Carla?“
„Fünfzehn“, murrte die. „Kati, wenn du jetzt noch ein Wort sagst, setz ich dich neben Onkel Joseph!“
Ich schwieg sofort. Schade, aber Onkel Joseph – das war eine gewichtige Drohung. Er sabberte, er roch ziemlich streng und er war der Ansicht, dass alle Mädels mit sechzehn heiraten und möglichst schnell sechs Kinder kriegen müssten, um ihnen die Flausen auszutreiben. Die Tischgespräche konnte ich mir schon vorstellen! Außerdem wollte ich das Essen genießen und das konnte ich schlecht, wenn ich nur ganz flach durch den Mund atmen konnte, weil Onkel Joseph mal wieder seit Weihnachten nicht gebadet hatte.
„Warum lädst du den alten Drecksack überhaupt ein?“, fragte ich also nur.
„Mama sagt, ich muss“, gab Carla den schwarzen Peter sofort weiter.
„Kinder!“, mahnte Mama und versuchte vergeblich, nächstenliebend dreinzuschauen. „Er ist ein einsamer alter Mann, seid nicht so hart.“
„Mundgeruch macht eben einsam“, kommentierte ich ungerührt. „Und wenn er nicht so einen Scheiß reden würde, wäre er auch nicht unbeliebt. Carla, hat der überhaupt schon eine Einladung?“
„Nö. Der hat doch sowieso Zeit. Er wird nur zetern, dass ihn jemand abholen muss.“
„Ich nicht!“, verwahrte ich mich sofort. „Ich will das Auto noch länger fahren. Da hilft doch kein New Car-Duftbaum mehr. Carla, du kannst niemanden neben ihn setzen, was soll das werden? Und daran ist er wirklich selbst schuld.“
Carla sah mich an und zerriss langsam den Umschlag mit Onkel Josephs Adresse. Ich zwinkerte ihr zu. „Gut so. Dafür erzähle ich auch nichts weiter. Jedenfalls jetzt nicht. Wenn ich natürlich einen geeigneten Tischherrn kriege...“
„Schon gut, schon gut. Wie wär´s mit Onkel Jürgen? Dann könnt ihr über Computer reden.“
„Genehmigt. Apropos, wieso machst du deine Tischordnung nicht am Rechner? Ich wette, es gibt extra Hochzeitsplanungs-Software zu kaufen! Oder stand das nicht in deinen Ratgebern und Zeitschriften?“
Carla schleuderte ein Sofakissen nach mir und traf das halbleere Sektglas, mit dem sie sich anscheinend über ihren Hochzeitsstress hatte hinwegtrösten wollen. Ich nutzte die allgemeine Aufregung und das Gerenne um einen Lappen, um mich unauffällig zu verkrümeln. - Tischordnung – wirklich nicht! Und die Pizza hatte Carla ja auch nicht bestellt.
Aber nach Hause wollte ich auch nicht, da wartete Hausarbeit auf mich. Ich schaute schnell zu Papa ins Arbeitszimmer und berichtete von den kaum feststellbaren Fortschritten im Wohnzimmer, dann flüchtete ich in die Sicherheit meines Autos und überlegte. Was jetzt?
Zu Anette, beschloss ich. Wenn sie nicht da sein sollte, konnte ich immer noch umplanen, aber bei Anette auf diesem aberwitzig geblümten Sofa herumlümmeln und von Carlas neuesten Wahnideen erzählen, ein freundliches Gläschen in der Hand – das konnte ich mir sehr nett vorstellen.
Anette war zu Hause, und als sie die Tür aufriss und mich sah, ging ein eigenartiges Strahlen über ihr Gesicht. „Kati, schön, dass du endlich da bist!“ Ich musste recht dumm dreingeschaut haben, denn sie flüsterte: „Spiel mit!“ Dann fuhr sie mit normaler Lautstärke fort: „Ich warte schon auf dich. Ach, du kennst ja Andi noch, nicht?“
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und nickte Andi, der meinen Platz auf dem geblümten Scheusal okkupiert hatte, kalt zu. Was wollte der denn schon wieder hier? „Tja, Andi, tut mir Leid, aber wir haben was zu besprechen“, wandte Anette sich an ihn, und er erhob sich zögernd. „Ich darf aber doch bald mal wieder kommen?“
„Wozu sollte das denn gut sein?“, fragte Anette unfreundlich. „Ach, Süße, du weißt doch... ich liebe dich doch immer noch. Warum bist du so hart zu mir?“
„Vielleicht hast du bei ihr einfach verschissen?“, schlug ich freundlich vor und erntete einen giftigen Blick. „Halt du dich da gefälligst raus!“
„Warum?“, fragte Anette. „Sie hat doch völlig Recht! Du hast bei mir verschissen, und so was ist irreversibel. Tut mir Leid, aber deine Rührstories kannst du anderswo verkaufen.“
„Da will man einer Frau was bieten und wird so abgebürstet“, brummte Andi auf dem Weg nach draußen. „Was wollt ihr eigentlich? Sonst gucken doch auch bloß alle immer aufs Geld. Hast du einen anderen? Kann er öfter oder was?“ Wir verdrehten synchron die Augen. „Nur Männer können so blöd fragen!“, fand Anette.
„Was wir wollen, ist zum Beispiel Zuverlässigkeit“, ergänzte ich, „aber dir zu erklären, was man darunter versteht, würde viel zu lange dauern. Tschüss, Andi, ein schönes Leben noch!“
Der Blick, den mir das eintrug, war mörderisch, eindeutig. Aber immerhin machte sich dieser Idiot endlich vom Acker. „Hübsch ist er ja“, seufzte Anette, als sie mit zwei Gläsern zum Sofa zurückkam, auf dem ich schon gemütlich lümmelte, „aber so eine Nervensäge. Dieses schleimige Getue! Mir was bieten wollen, ha! Er ist abgehauen, weil er was Spannenderes gefunden hatte. Jetzt hab ich Geld, und da will er ran, sonst nichts. Und er glaubt, ich weiß das nicht!“
„Etwas dümmlich war er ja immer schon“, stimmte ich zu und nahm ihr ein Glas ab. „Hm, lecker. Campari Orange?“
„Klar, ich weiß doch, was du magst. Hast du ein bisschen Zeit?“
„Ich schon. Wenn ich heimfahre, muss ich bloß waschen und bügeln. Und die Spülmaschine ausräumen und die Staubmäuse aufsaugen. Keine Lust. Aber du? Hast du das eben nicht bloß wegen Andi gesagt?“
„Quatsch. Ich freu mich immer, wenn du kommst.“
„Und ich freu mich immer, wenn ich bei dir bin. Bei dir ist es saugemütlich. Wie machst du das bloß?“ Anette zuckte die Achseln. „Keine Ahnung.“
Sie lümmelte sich quer in einen der Opasessel mit den schweren geschnitzten Füßen und dem knallbunten Bezug und nahm einen ordentlichen Schluck.
Anettes Wohnung war einfach perfekt, aber auch ich wusste nicht, woran das lag. Meine Wohnung gefiel mir eigentlich besser (wenn sie aufgeräumt war), aber hier war es kuscheliger. Vielleicht waren es die bunt zusammengewürfelten Möbel? Oder die hohen Räume? Das Haus stammte aus der Jahrhundertwende und war in den Siebzigern ziemlich brutal modernisiert worden, aber immerhin hatte man die Decken nicht abgehängt. Bei Anette sah es immer aus, als hätte sie eine große, glückliche Familie. Wie eine Ikea-Werbung, nur nicht so billig. Echter irgendwie. Dabei lebte sie leidenschaftlich gerne alleine – seit Andi wenigstens.
„Und? Wie furchtbar wird die Hochzeit?“
„Noch furchtbarer“, seufzte ich. „Aber ich hab schon die Ringe besorgt. Mensch, jetzt hab ich vergessen, sie Cora zu zeigen, aber die hat sich so schnell davongemacht – na, vielleicht besser so.“ Ich kramte in meiner Tasche. „Hier, schau mal!“
Anette lachte schallend. „Scharfe Teile. Vor allem der für die Braut... So was Hässliches hab ich noch nie gesehen, Carla kippt vor dem Altar um. Wer muss die den beiden präsentieren?“ Ich lehnte mich wieder in die Kissen. „Keine Ahnung. Vielleicht der Trauzeuge von Paul. Das ist irgendein väterlicher Freund von ihm, sein ehemaliger Tutor oder so was. Ich kenn den nicht.“
„Was ist Paul eigentlich für einer, beruflich, meine ich?“
Ich dachte nach. So gut kannte ich ihn gar nicht. Carla lieh sich zwar gerne meine Freunde aus, aber eigentlich hatten wir getrennte Bekanntenkreise.
„Jurist? Ja, Jurist, stimmt. Er hat den Ehevertrag bei einem Kollegen machen lassen. Mensch, hoffentlich ist der nicht ziemlich einseitig!“
„Wenn schon. Wie oft heben die Gerichte sittenwidrige Eheverträge auf! Das ist doch eh ein Glücksspiel. Jurist, soso. Ich mag Juristen nicht so sehr.“
„Ich auch nicht“, stimmte ich heuchlerisch zu und dachte an den einen Juristen, an den ich doch eigentlich nicht mehr denken wollte. Leichter gesagt als getan! „Gehört sich für BWLer ja auch so. Wenn man sich vom ersten Semester an mit diesem arroganten Gesocks um den Großen Hörsaal prügeln muss...“
Gut, dass ich nie jemandem von Rosen erzählt hatte – wahrscheinlich, weil es mir selbst vor meinen Freundinnen zu peinlich war, diesen so uncharmanten Kerl anzuschmachten wie eine Zwölfjährige einen Popstar! „Glaubst du, dieser Andi taucht noch mal bei dir auf?“, versuchte ich von der Juristenfrage abzulenken.
Anette zuckte die Achseln. „Kommt drauf an, ob er es mit der Steter-Tropfen-Taktik hält. Das Geld hätte er schon gerne, und dass ich ihm keine seiner blöden Ausreden geglaubt habe, damit findet er sich so schnell nicht ab. Doch, ich glaube, der steht in drei Tagen wieder auf der Matte, mit einer neuen Geschichte und seinem altbewährten Schmalzblick.“
„Hält der dich für doof?“, empörte ich mich.
Anette lachte etwas bitter. „Der hält alle Frauen für doof, hast du das damals nicht gemerkt? Wenn er mit einer neuen Ausrede daher kommt, glaubt er, ich hätte alle alten vergessen und würde die Widersprüche nicht bemerken. Schließlich schulden ihm die Weiber sein Auskommen.“
„Wir sollten ihm was antun“, fand ich. „Der Kerl gehört doch hinter Gitter!“
„So blöd ist er leider auch wieder nicht. Gut, wenn ich ihm Geld gäbe und er würde es undurchsichtig investieren... nein, das ist doch nicht mal Heiratsschwindel. Dämliches Finanzgebaren alleine ist noch nicht strafbar, und bloß, um ihn in den Bau zu kriegen, will ich weder das Haus riskieren noch Gott behüte ihn heiraten.“
„Ja, stell dir vor, wir wollen ihn zum Heiratsschwindel verleiten und er heiratet dich wirklich. Dann musst du dich bloß wieder teuer scheiden lassen.“
„Und Ich hab gedacht, das ist bloß ein Schwindel, ich wollte ihn gar nicht wirklich heiraten ist auch ein ziemlich bescheuerter Scheidungsgrund“, stimmte Anette zu. Wir seufzten einträchtig.
„Der reitet sich schon selber in die Scheiße“, hoffte ich schließlich.
Ich hatte genug anderes zu tun, auch ohne Andi reinzulegen. Gut, wenn sich eine unwiderstehliche Gelegenheit ergeben sollte...
„Genau. Sag mal, wie wär´s, wenn mir morgen alle vier ins Fabrizio gehen? Silke hat vorhin angerufen, sie hat Zeit. Und Nina muss sicher auch mal raus. Einen richtigen Weiberratsch haben wir lange nicht mehr gehabt.“
Die Idee gefiel mir – Pizza, Cocktails und Ablästern über die Brautjungfernkleider, die ganze bescheuerte Hochzeit und doofe Männer. Komisch – es musste doch auch vernünftige geben, aber alle Frauen, die ich kannte, hatten entweder gar keinen oder einen, über den sie jammern mussten. Gut, fast alle. Silke und Carla waren im Moment anscheinend sehr zufrieden.
Ich trug Anette diese Theorie vor. Sie lachte. „Ob Carla zufrieden ist, wissen wir doch gar nicht – glaubst du, sie würde diese Monsterhochzeit canceln, bloß weil Paul doch nicht Mr. Right ist?“
„Nie im Leben. Das Ereignis hat sich völlig verselbständigt. Ums Heiraten geht es nur noch in zweiter Linie, in erster muss dieser Scheißfilm nachgespielt werden.“
„Sollte Paul ausfallen, würde sie auch einen anderen heiraten, wenn er gerade zur Verfügung steht.“
„Oder einen Statisten engagieren.“
In deutlich besserer Stimmung fuhr ich nach Hause, fest entschlossen, die Wohnung zu entstauben und morgen einen schönen langen Spaziergang zu machen, um genügend Fett zu verbrennen, dass ich mir eine Pizza Inferno leisten konnte. Normalerweise interessierte ich mich nicht besonders für mein Gewicht (Ausnahme: erste Anprobe der Vorjahresbikinis im Frühjahr!), aber wenn ich nachher nicht in das apricotfarbene Scheusal passte, würde Carla endgültig durchdrehen.
Also musste ich mir die Pizza erst verdienen. Es hieß zwar, scharf Gewürztes mache weniger dick, weil das Essen so anstrengend war und den Kreislauf hochjagte, aber das konnte genauso eins der zahlreichen Märchen sein, die sich um das unerschöpfliche Thema Abnehmen rankten – nur Kohlenhydrate, nur Fett, Trennkost, nie nach achtzehn Uhr essen, fünfmal am Tag Obst, nur langsames Joggen verbrennt Fett... Damit hielt man die Frauenköpfe beschäftigt, damit sie nicht darüber nachdachten, warum immer sie ihre Karriere durch Kinder ruinierten und warum ein Mann bei gleicher Arbeit immer noch mehr verdiente als eine Frau. Männer machen Karriere – Frauen machen Diät. Uralt, aber leider immer noch wahr. Na, mir würde das nicht passieren! Kein Mann, keine Kinder.
So gesehen, war es eigentlich gar nicht so blöd, dass ich in Rosen verliebt war, denn daraus würde nie etwas werden. Und wenn ich es schaffte, auf ihn fixiert zu bleiben, bis ich fürs Kinderkriegen zu alt war, wäre ich aus dem Schneider. Noch acht Jahre, danach konnte ich immerhin behaupten, ich hätte zu viel Angst vor genetischen Schäden. Wem gegenüber denn behaupten? Niemand nervte mich besonders mit der biologischen Uhr, nicht einmal Mama. Carla würde sie bis dahin außerdem genug ablenken. Und Cora war auch noch da, die mochte kleine Kinder und wollte „später mal“ auch selbst welche. Ich konnte also machen, was ich wollte.
Am Samstagmorgen sah ich mich missvergnügt in meiner Wohnung um – staubig, fleckig und voller Krempel. Gestern Abend hatte ich absolut keine Lust auf Haushalt mehr gehabt und mich mit der Überlegung beruhigt, dass ich als viel beschäftigte Karrierefrau ja wohl etwas Erholung verdient hatte.
Also musste ich jetzt ran. Nur Einkaufen musste – konnte? – ich nicht, denn die Läden hatten zu. Lustlos wischte ich Staub, verräumte den herumstehenden Kram – teils in die Schränke, teils in den Müllsack, bügelte, was gewaschen herumhing, saugte die Wohnung durch und schleifte den Müllsack in den Hof.
Immerhin, jetzt sah es wenigstens akzeptabel bei mir aus. Klare Linien, leere Flächen, große Fenster – äh. Wann hatte ich die denn das letzte Mal geputzt? Im Oktober? Der Blick nach draußen war eindeutig getrübt durch einen Weichzeichner aus Regenspuren und Winterdreck. Nein, heute putzte ich nicht die Fenster, ich brauchte dringend Erholung vor dieser entsetzlichen Hochzeit. Im Juni würde ich die Fenster – vielleicht... und den Balkon. Immerhin schaffte ich es, die verdorrten Geranien vom letzten Jahr wegzuwerfen und den Dreck unauffällig in den Hof zu fegen. Schon besser. Für heute reichte das, ich konnte mich umsehen, ohne dass mir schlecht wurde, das Bett war frisch bezogen, im Bad hingen saubere Handtücher, und ich hatte genug gebügelte Klamotten im Schrank. Und Hunger.
Im Kühlschrank standen ein Schraubglas, in dem drei Gürkchen in einer etwas verdächtig wirkenden Lake herumschwammen, und ein winziges Gläschen mit eingelegten Knoblauchzehen.
Nicht wirklich sättigend. Ich hätte gestern doch einkaufen gehen sollen. Im Küchenschrank vielleicht... Zwei leere Nudelschachteln, ein uralter Kochbeutel Reis, eine abgelaufene Tütensuppe. Blumenkohlcreme... wann hatte ich mir die denn gekauft? Ich mochte Blumenkohl überhaupt nicht! Verfallsdatum Februar 2004. Weg damit.
Zwei Scheiben etwas ledriges Knäckebrot waren noch aufzutreiben. Und Teebeutel, die nach gar nichts mehr rochen, so alt waren sie. Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal so richtig mit Verstand eingekauft?
Musste Monate her sein.
Ich warf neunzig Prozent meiner kärglichen Vorräte in den Müll und aß die restlichen zehn Prozent, also die beiden Knäckebrotschreiben, bei denen von knackig nicht mehr die Rede sein konnte.
Voller Selbstmitleid (da verdiente ich ein Schweinegeld, war brav und fleißig – und musste an einem Feiertag hungern!) verzog ich mich unter die Dusche und verwöhnte mich wenigstens mit dem Kirsch-Shampoo und dem Pfirsich-Duschgel, auch wenn ich danach roch wie eine Dose Macedonia.
Ältliche Jeans und ein ebenso ältliches, aber ursprünglich mal gutes Sweatshirt, Turnschuhe – das Feiertagsoutfit war komplett. Ich würde doch niemanden treffen, der mich beruflich kannte. Und wenn doch: So what? Letztes Jahr hatte ich meinen Chef beim Joggen im Prinzenpark getroffen, und der Jogginganzug war wirklich peinlich gewesen.
Außerdem konnte niemand die Fotos von einem joggenden Bill Clinton toppen, so rot und verschwitzt war niemand sonst. Und ich würde ja gar nicht laufen, sondern gesittet zwei Stunden spazieren gehen, mit ordentlicher Frisur und blassem Gesicht. Die dunkle Sonnenbrille würde ein Übriges tun.
Im Prinzenpark war Hochbetrieb, Jungfamilien ohne Ende, man hätte ohnehin nicht joggen können. Höchstens Hindernislauf, alle fünf Meter musste man über einen Buggy springen. Ich wanderte die Wege entlang, zunächst die sonnigen, und spürte, wie langsam aller Ärger über Hochzeit, Rosen, leeren Kühlschrank und diesen Gauner Andi von mir abfiel und sich friedlich gute Laune in mir breit machte.
Mittlerweile sah ich sogar die vielen Familien mit Gelassenheit, obwohl mich diese Haltung Platz da, wir haben Kinder, also sind wir die besseren Menschen schon aufregte. Immerhin kriegte ich heute kein Eis von einem aufgeregten Wackelzwerg ans Hosenbein. Bis jetzt wenigstens nicht.
Am Teich blühten noch späte Tulpen in allen Farben. Ich setzte mich kurz auf eine Bank gegenüber einer Reihe fast schwarzer, leider schon ziemlich verwelkter Tulpen und betrachtete sie etwas geistesabwesend, dann lehnte ich mich zurück und genoss die Frühlingssonne. Endlich mal kein Regen!
Ich überlegte gerade träge, ob ich mich in aller Öffentlichkeit rekeln und strecken konnte wie eine Katze oder ob das blöd aussah, als eine dunkle Stimme mit etwas ungläubigem Ton fragte: „Frau Engelmann?“
Das klang, als wollte er sagen Was wollen Sie denn hier?
Ich setzte mich auf und riss mir die Brille von der Nase. Die plötzliche Helligkeit ließ mich blinzeln, aber nach einem Moment bestätigte sich der akustische Eindruck auch optisch: Rosen. Was wollte der denn hier?
„Dr. Rosen?“, fragte ich dämlich.
Er nickte. Auch nicht gerade intelligent, schließlich war das ja eher rhetorisch gemeint gewesen. Tja, und jetzt? Schönes Wetter heute?
Verdammt, was sollte ich mit ihm reden? Ein Königreich für etwas Geistreiches! „Endlich regnet es mal nicht“, stellte Rosen in diesem Moment fest. Gott sei Dank, er war genauso blöd wie ich. Aber er war trotzdem hinreißend, in Jeans und einer Bomberjacke, in der ihm scheißwarm sein musste.
„Ja, deshalb ist es heute wohl auch so voll hier“, ging ich eifrig darauf ein.
„Störe ich Sie?“
„Himmel, nein. Ich habe eher die vielen Familien gemeint. Die müssen schließlich auch mal raus.“ Toll, als ob man die sonst hinter Gittern halten müsste! Er guckte schon wieder so pikiert.
„Gehen Sie oft hier spazieren?“, fragte ich also, in der Hoffnung, das wenigstens sei unverfänglich.
„Ja, in meiner Freizeit.“ Himmel, der Mann war dumm. Schlicht und einfach dumm. Ich hatte doch nicht geglaubt, er trabe hier in seiner Arbeitszeit herum, da sah ich ihn schließlich in der Firma!
„Warum erstaunt Sie das?“, fuhr er fort. „Erstaunt? Wieso sollte mich das erstaunen? Ich gehe selbst gerne spazieren.“
Er verzog das Gesicht. „Ist doch gesund. Und nicht so anstrengend wie echter Sport“, fuhr ich fort. „Joggen oder so was ist mir zu lästig.“ Warum erzählte ich ihm das? Jetzt hielt er mich bloß für ein geschwätziges Weibsbild. Er interessierte sich doch sowieso nicht für mich!
„Sehr taktvoll“, antwortete er mit schmalen Augen.
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. „Bitte?“
„Sie wissen genau, was ich meine“, behauptete er und wandte sich grußlos ab. Ich war stark in Versuchung, eine Bierdose aus dem Papierkorb neben der Bank zu fischen und sie ihm von hinten an den Kopf zu werfen, aber ich beherrschte mich.
Was hatte er denn zum Schluss gemeint? Litt der Kerl an Verfolgungswahn? Glaubte er, alle Welt mache geheimnisvolle Anspielungen? Worauf denn, um Himmels Willen? Darauf, dass er ein Bein etwas nachzog? Deshalb konnte er doch spazieren gehen. Joggen vielleicht nicht, aber das war doch auch wirklich blöd! Wenn er dermaßen empfindlich war, konnte er mir gestohlen bleiben!
Ich seufzte. Wie die Sonne auf seinem Haar gespielt hatte – braun und grau, aber gesund und glänzend. Und diese kalten grauen Augen. Einmal wollte ich doch sehen, wie sie warm und weich wurden... Außerdem war er hinreißend groß. Kleine Männer – kleiner als ich – kamen überhaupt nicht in Frage, auch wenn das oberflächlich und dumm war; ich wollte wenigstens physisch zu einem Mann aufsehen können. Aber große Männer mit grauen Augen gab´s ja nun so selten auch wieder nicht, also was hatte Rosen eigentlich so Besonderes? Ich wusste es auch nicht. Vielleicht diese undefinierbare Aura, die ihn umgab. Unnahbarkeit – ja, Einsamkeit.
War es bloß Mitleid, was mich antrieb? Kaum, dann würde ich mich doch nicht dauernd über ihn aufregen, überlegte ich und verdrängte den Gedanken, dass das nun auch nicht gerade logisch war. Vielleicht Jagdfieber – dem Unnahbaren nahe zu kommen? Eine Herausforderung? War es nicht mehr? Würde mein Interesse erlahmen, wenn ich das Wild zur Strecke gebracht hatte? Das schaffte ich doch sowieso nicht!
Ich schloss die Augen und dachte mir Szenen aus, in denen er sich mir zuwenden konnte – eine Konferenz, bei der ich als einzige ihm Recht gab... ich fand den einzigen Arzt, der ihm den Gebrauch seines Arms und seines Beins wiedergab... Blödsinn, ich wollte doch nicht seine Dankbarkeit!
So was tötete bloß jedes Gefühl ab. Und wenn er mich irgendwo in einer aufregenden Situation überraschte? Wo denn? Sollte ich mich auf der Herrentoilette bei TechCo umziehen, damit er mich erwischte? Bei meinem Glück kam dann der dämliche Grützmeier rein und fühlte sich angesprochen! Oder Schmitt dachte, ich hätte sie nicht mehr alle, und feuerte mich. Keine gute Idee.
Wir trafen uns in einer Disco und durch einen blöden Zufall wurden wir gezwungen, miteinander zu tanzen. Und mein Parfum machte ihn total an...
Ja, sicher. Rosen in einer Disco? Tanzen mit dem Bein? Und mein Allerweltsparfum (Zitrone/Mandelblüte) als Aphrodisiakum? Schwacher Versuch.
Über ein Gespräch? Man schloss uns aus Versehen in der Firma ein und wir mussten miteinander reden... und er entdeckte, dass ich eigentlich eine ganz tolle Frau war...
Jaja. Wir hatten beide einen Generalschlüssel. Und wenn nicht, würde Rosen sich vor mir wahrscheinlich auf der Herrentoilette verstecken... Scheiße, das alles. Ich konnte ihn nicht kriegen. Allmählich sollte ich mit meinen guten Vorsätzen Ernst machen und ihn mir aus dem Kopf schlagen...
Andererseits schadete es doch nichts, unglücklich verliebt zu sein – es beschäftigte den Kopf recht angenehm und hatte sonst keine Nebenwirkungen wie eine echte Liebe: kein Kummer, kein Kind, keine Eifersucht...
Man müsste es nur fertig kriegen, sich auf die angenehmen (und auch so angenehm unrealistischen) Tagträume zu beschränken und sich nicht immer so zu ärgern, wenn man wieder mal mit der Wirklichkeit konfrontiert wurde. Und die Wirklichkeit hieß ja leider, dass er mich nicht leiden konnte – da half alle freundliche Konversation nichts.
Dass er mich offensichtlich für eine lästige und taktlose Kuh hielt, war schon bitter genug, aber glaubte er wohl auch, dass ich im Job nichts drauf hatte? Darauf musste ich ihn nächster Zeit mal genauer achten. Vielleicht fand er ja, Weiber hatten in Führungspositionen nichts verloren, und war deswegen so wütend auf mich?
Oder doch bloß, weil er gedacht hatte, ich hätte auf sein Hinken angespielt? Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte als mir dumme Sticheleien auszudenken! Und warum sollte ich das überhaupt tun? Einen Moment lang verlor ich mich wieder in einem Tagtraum – er hatte gedacht, ich hätte was gegen Körperbehinderte, und war nur deshalb so pampig zu mir, obwohl er mich in Wahrheit heiß liebte und begehrte... Schluss jetzt, das wurde ja immer bescheuerter! Ich stand auf und schlenderte langsam weiter, eine vergammelte Kastanie vor mir herkickend, bis ich ihr zuviel Schwung verpasste und sie von der Isabellenbrücke in den Prinzenbach kullerte. Egal.
Und was sollte ich heute noch tun? Und morgen? Heute Abend war ja wenigstens Weibertreff angesagt, aber morgen? Ich hatte eigentlich zu nichts Lust. Lähmte mich die Hochzeit? Oder Rosen? Oder sollte ich einfach mal aufhören, immerzu in mich hineinzuhorchen und meine Befindlichkeiten zu analysieren?
Vielleicht konnte ich den Keller aufräumen... und die gröbste Scheußlichkeit, die ich fand, liebevoll verpacken und Carla als Hochzeitsgeschenk unterschieben. Wer ein solches Brimborium aufführte, musste sich auch verarschen lassen, fand ich. Und Nina, Silke und Anette fanden das bestimmt auch.
Vier ausgesucht furchtbare Geschenke, elegant eingepackt und mit verdächtigen Karten, voller Titel – Doktoren, Professoren, Grafen... herrlich, Carla würde rotieren, weil sie sich für den Mist ja bedanken musste und nicht wusste, wer die edlen Spender waren...
Mir schwebte da schon was vor – ich hatte mal einen Bierwärmer bekommen, geätztes Glas mit Jagdszenen. Und eine Vase, die so mit Porzellanröschen bedeckt war, dass sie von weitem aussah wie eine Skulptur zum Thema „Akne“. Genau, die kannte Carla auch nicht. Wenn sie uns draufkam, fanden wir das Zeug nämlich schnell in Scherben vor unseren Haustüren wieder. Ich kicherte, als ich mir Carla und Paul vorstellte.
Solange ich auf die Karte nicht Graf Rotz von der Backe schrieb, musste es eigentlich funktionieren. Die anderen hatten bestimmt auch noch entsetzliches Zeug im Keller. Und der Rest konnte bei Gelegenheit mal zum Wertstoffhof. In der Tauschbörse freuten sie sich wirklich über alles!
Vielleicht fand ich ja den Namen eines echten Adeligen aus der Gegend. Der würde blöd schauen, wenn Carla ihm eine dieser schauderhaften Dankeskarten schickte, wo bloß noch ein Foto des strahlenden Brautpaars reingeklebt werden musste... Halt, nein, wenn ich keine Adresse dazuschrieb... Blödsinn, echte Leute fand man sofort im Internet. Doch lieber erfundene Namen. Friedrich Wilhelm von Häussern-Schnarrburg und Veldern... toll, wie war ich denn jetzt darauf gekommen? Ich dachte fast bis zum Parkausgang darüber nach, bis ich zu dem Schluss gelangte, dass ich eine FDP-Politikerin und einen Grafen aus einem Marlitt-Roman produktiv verwurstet hatte. Hörte sich aber toll an, fand ich. Schade, dass ich nichts zu schreiben dabei hatte!
Ich memorierte den Namen auf dem Weg nach Hause und hätte dabei fast Florian übersehen, der in der Graf Tassilo-Straße aus seinem Wagen stieg und sich eigentlich nicht besonders zu freuen schien, mich zu sehen. Soo arg sah mein Wochenend-Outfit nun auch wieder nicht aus, fand ich, und Florian machte in ältlichen Jeans, Sneakers und einem Flanellhemd mit weißem T-Shirt darunter auch nur einen höchst durchschnittlichen Eindruck.
„Was machen Nina und die Kids?“, fragte ich, mehr um des Smalltalks willen, denn so viel hatten wir beide uns noch nie zu sagen gehabt.
„Die sind die Oma besuchen gefahren, die hat heute Geburtstag.“
„Ach – und du hast dich gedrückt?“
Ninas Mutter hielt Florian für ein verzogenes Bürschchen, das sich von Nina von hinten und vorne bedienen ließ, und das brachte sie immer noch gerne zum Ausdruck. „Nein, ich – äh – ich hab hier einen Termin...“
„Wahrscheinlich Gewerkschaftssachen“, witzelte ich, „sonst arbeitet heute keiner – ist doch Tag der Arbeit!“
„Äh – ja – nein. Nur eine kurze Besprechung, wegen eines Falls...“
„Muss ja eine aufregende Sache sein, so wie du herumstotterst. Na, dann lass dich mal von deinen hochwichtigen Sachen nicht abhalten“, antwortete ich, winkte ihm im Weitergehen lässig zu und ging meiner Wege.
Ob das irgendein Fall war, der die Öffentlichkeit interessiert hätte? Prominente schmückten sich ja gerne mit einem Anwalt, der ein von im Namen hatte, und wenn es noch so poplig war. Glaubte er, ich würde so etwas sofort an Hot! und den MorgenExpress weiter tratschen? Florian war schon ein Depp. Und Ninas Mutter hatte ganz Recht, er war ein verzogener, verwöhnter Bengel. Immer schon gewesen. Ich bog um die Ecke und schloss meinen Wagen auf. Wer besprach denn einen Fall am ersten Mai? Nicht einmal ich dachte heute an die Arbeit! Und jetzt hatte ich prompt diesen schönen Adelsnamen vergessen, so ein Mist aber auch!
Ärgerlich fuhr ich nach Hause. Wieso traf ich nie nette Leute? Bloß Rosen, der sofort eingeschnappt war, und Florian, den ich noch nie besonders gemocht hatte. Ob Nina ihn auch geheiratet hätte, wenn sie etwas älter gewesen wäre? Als Simone auf die Welt kam, war sie noch nicht zweiundzwanzig gewesen und gerade mal ein halbes Jahr verheiratet. Ich grinste still vor mich hin, als ich an unsere Reaktionen dachte, damals...
Sie hatte so stolz und glücklich erzählt: „Florian und ich wollen heiraten“, und wir hatten alle nur gefragt: „Wieso, bist du schwanger?“
Sicher, man konnte auch heiraten, wenn man nicht schwanger war, aber war tat das schon? In diesem Alter? Im zweiten Semester? Noch bevor die große weite Welt mit Rucksackreisen, Auslandspraktika und vielen, vielen Männern zum Ausprobieren beschnuppert war? Gut, Nina liebte ihn eben, und damals war er auch wirklich wahnsinnig niedlich gewesen, wie ein ganz junger Brad Pitt – nicht, dass wir damals schon etwas von Brad Pitt gehört hatten.
Auch heute sah er noch gut aus, hübsches Gesicht, dekorativ zerzaustes dunkelblondes Haar (ich hätte ihm ja eine Glatze gegönnt), durchtrainierter Body und heute auch wunderbare Anzüge, die er angeblich aus geschäftlichen Gründen brauchte.
Jaja. Er trug Armani und Boss, denn er schleppte ja das Geld ran. Für Nina tat´s wohl auch ein Putzkittel?
Das war ungerecht; von dem Geld, das sie beim Jobben verdiente, kaufte sie auch Klamotten, für sich und die Kinder. Trotzdem. Er ließ sich wirklich bedienen. Ein guter Kamerad war er nicht, und das war doch wohl das Wichtigste! Und dass man über die gleichen Dinge lachen konnte. Ob Nina ihn noch liebte? Oder blieb sie aus Gewohnheit bei ihm und wegen der Kinder?
Das konnte ich sie eigentlich auch schlecht fragen. Nüchtern jedenfalls nicht. Wenn wir einen sitzen hatten, wurden wir alle indiskret, da hatte Nina schon mal beschrieben, wie die Sporttasche ihres durchtrainierten Göttergatten roch, Anette hatte von Andis Bettphantasien erzählt (saublöd, wirklich!) und ich – naja, ich musste nichts herumtratschen, meine gelegentlichen Aussetzer hatten die Mädels sowieso live miterlebt. Nur Silke hörte sich das alles interessiert an und hatte keine Dinge zu erzählen, derer sie sich nüchtern geschämt hätte. Silke, unsere Brave.
Und jetzt hatte sie sich auch noch Fabian geangelt. Zwar kein von wie Florian, aber dafür ein viel netterer Mensch. Die beiden lachten bestimmt über die gleichen Dinge! Und so gut wie Florian sah er allemal aus. Sogar der miese Andi war ein hübsches Kerlchen, nur ich musste mich natürlich wieder mal in einen vergaffen, der auf den ersten Blick nicht viel hermachte. So gar nicht Brad Pitt. Eher schon – hm. William Hurt vielleicht. Nein, so auch wieder nicht.
Ich überlegte, wem Rosen ähnlich sah, und musste mit wütendem Hupen über eine grüne Ampel gescheucht werden. Noch ärgerlicher (wie peinlich, schon wieder Frau am Steuer!) kam ich nach Hause. Ich wollte doch nicht mehr über Rosen nachdenken, es brachte doch sowieso nichts!
Wenigstens hatte ich im Keller meine Ruhe. Wenn Carla anrief, während ich nach Scheußlichkeiten für ihre Hochzeit suchte, kriegte ich es wenigstens nicht gleich mit. Ich fand die pickelige Vase und den Jagdbierwärmer, außerdem einen Stoß metallener Untersetzer mit dem Wappen der Stadt Lüneburg darauf. Wie war ich denn dazu gekommen? Das war ja noch rätselhafter als der Kleiderbügel mit der Werbung eines Herrenausstatters aus Hof, wo, so weit ich wusste noch nie jemand aus meinem Bekanntenkreis gewesen war.
Lüneburg... Der Bürgermeister von Lüneburg konnte die schicken, in Anbetracht seines herzlichen Verhältnisses zur Familie von Zorn und ihrer unbestreitbaren Verdienste um die Stadt... Sehr gut, das würde sie alle zum Grübeln bringen! In dem hässlichen Faltschrank, den der Vorbesitzer zurückgelassen hatte, fand ich mein grauseidenes Kostüm. Hm... für die standesamtliche Trauung? Ich hatte noch genug Zeit, das Ding in die Reinigung zu bringen, aber vorher...
Niemand im Keller, also schlüpfte ich hastig aus den Jeans und in den modrig riechenden Rock. Ach ja, jetzt fiel es mir wieder ein – in dem Ding konnte man sich nicht setzen, der Rock war völlig verschnitten. Fehlkauf. Ab in die Tonne.
Ich füllte eine große Tüte mit Dingen, über sich noch nicht einmal die Tauschbörse mehr gefreut hätte, und versenkte sie dann in der Mülltonne. Oben angekommen, wusch ich meine schwärzlichen Finger und die wundervollen Hochzeitsgeschenke und entwarf gemütlich auf dem Sofa lümmelnd, die passenden Anschreiben. Sogar der Name des Grafen fiel mir wieder ein – oder wenigstens ein sehr ähnlicher.
Hoch zufrieden betrachtete ich mir dann mein Werk und bestäubte die Ausbeute ein wenig mit Parfüm (auch ein Fehlkauf), da das Abwaschen den modrigen Geruch noch nicht ganz beseitigt hatte.
Wenn ich das nachher den anderen erzählte – wir würden eine Menge Spaß haben! Das Telefon klingelte. Misstrauisch meldete ich mich. Das war doch bestimmt wieder Carla mit irgendeiner selbst gebastelten Katastrophe! Ob auf dem Klopapier in Grafenreuth verschlungene Eheringe sein sollten oder so was.
Nein, Cora. „Hol mich hier raus!“, stöhnte sie. „Carla ist jetzt völlig durchgedreht. Plötzlich glaubt sie, dass Pauls Eltern sie gar nicht wirklich mögen. Und dass sie denken könnten, sie macht diese Riesenhochzeit nur, um zu beweisen, dass sie genauso viel Stil hat wie die Zorns.“
„Seit wann haben die Zorns Stil? Oder wir?“, fragte ich verblüfft. In beiden Familien herrschte die Neigung vor, bei jeder Gelegenheit in zerrissenen Jeans herumzulaufen, bei beiden waren die Häuser groß, aber lange nicht mehr gestrichen worden, und die Gärten eher gemütlich als gestylt. Nirgendwo gab es besondere Nobelkarossen oder angesagte Reiseziele – oder was war Stil sonst? Cora schnaufte erbost in den Hörer. „Hab ich ihr ja auch gesagt. Die Zorns sind echt okay und völlig normal. Ich meine, genauso gut könnte sie sich vor Nina und Florian fürchten, oder? Die Kochs sind viel ärger.“
„Woher kennst du die Kochs? Das sind die Leute von Silkes Freund.“
„Ach ja? Die stehen öfter mal in der Zeitung. Diese Vanessa ist anscheinend bei jeder Party und jeder Eröffnung...“
„Und wenn´s ein Briefumschlag ist“, zitierte ich den alten Witz.
„Ja, genau. Dann heißt es Nobelboutiquebesitzerin Vanessa Koch von Reutersbach und ihr eleganter Ehegatte Leander...“
Ich gackerte. „Koch von Reutersbach? Ernsthaft? Und wie heißt der Macker? Leander? Wie kann man Leander heißen? Leander Koch von Reutersbach?“
„Für den Vornamen kann er ja nichts, das waren seine Alten. Und nein, der heißt nicht Koch. Nur Reutersbach. Ein Freiherr.“
Ich sah förmlich vor mir, wie sie beim letzten Wort affektiert die Lippen spitzte.
„Vanessa Freifrau Koch von Reutersbach. Klasse.“
„Nein. Vanessa Koch Freifrau von Reuterbach“, korrigierte Cora mich hochnäsig. „Wie gründlich liest du eigentlich die Klatschspalten? Solche Dinge hat man einfach nicht zu wissen! Wahrscheinlich lernst du gerade den Gotha auswendig, um Carla nicht zu blamieren, was?“
„Gotha? Was ist das?“
Also doch nicht. Wenigstens etwas, ich hatte schon befürchtet, dass sie als nächstes Frau mit Krone oder so lesen würde. „Also gut, Carla spielt die bürgerliche Braut des Prinzen. Was ist denn passiert, dass sie plötzlich so spinnt?“
„Nichts Besonderes. Pauls Mutter war da und sie haben sich über das Menu unterhalten. Und Pauls Mutter hat hinterher nur gesagt, dass das alles ja sehr schön und sehr stilvoll wird.“
„Wie furchtbar!“
„Wart´s doch mal ab. Carla glaubt nämlich, das hätte sie ironisch gemeint, und seitdem zerfleischt sie sich. Jetzt überlegt sie, ob ein ganz kleiner Kreis nicht viel besser wäre. Nur vons, wahrscheinlich. Aber sie hat doch die meisten schon eingeladen, und schon so viel fest gebucht, dass sie ein Schweinegeld für nix zahlen müsste.“
„Alleine die Miete für Grafenreuth“, stimmte ich zu. „Aber wenn nur vons kommen dürfen, könnten wir statt nach Grafenreuth gemütlich in den Biergarten gehen. Und nachmittags Fernsehen schauen...“
„Faule Nudel. Mir scheint, mit über dreißig wird man echt langsam alt“, höhnte Cora. „Komm, das wird doch eine geile Fete. Und wir können bestimmt was anstellen, zwischendurch.“
„Ja“, stimmte ich heuchlerisch zu. „Hast du schon ein paar Ideen?“
Ich hätte ihr schrecklich gerne von der Aknevase und den gruseligen Ringen erzählt, aber Cora konnte eben nicht ganz so gut den Mund halten, wie sie glaubte. Und wenn ihr bloß herausrutschte, dass Carla ein paar lustige Überraschungen zu erwarten hatte, wäre die total auf der Hut und wir konnten gar nichts landen. „Nö. Bei so was bist du immer besser. Warst du das damals nicht mit dem Furzkissen für Tante Emmi?“
„Nein, das war Carla. So was war mir damals schon zu kindisch. Trotzdem, wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich schon sehr gerne um diese Hochzeit drücken. Grippe kann ich wohl nicht kriegen?“
„Du spinnst ja. Ich sehe schon, vor dir ist auch nichts zu erwarten. Also werde ich jetzt Carla klarmachen, dass sie schon deshalb eine Riesenhochzeit machen muss, weil du dich so darauf freust.“
„Du kleine Ratte“, regte ich mich auf, „wieso haben Papa und Mama damals nicht besser aufgepasst!“ Cora kicherte spöttisch und legte auf.
Familie! Manchmal hatte es etwas für sich, ein Einzelkind zu sein. Vor zwanzig Jahren hatte ich mir das auch schon gedacht, als ich immerzu eine neugierige Achtjährige und eine abwechselnd futternde und heulende Vierjährige am Hacken kleben hatte. Irgendwie hatten die beiden kaum Fortschritte gemacht – bloß die Rollen getauscht.
Hastig versicherte ich mir, dass die beiden schon nett waren – bloß eben nicht heute. Ich wollte ja nicht herzlos sein! Und jetzt hatte ich mir etwas Anständiges zu essen verdient - dumm nur, dass sich der Kühlschrank in meiner Abwesenheit auch nicht gefüllt hatte. Wo waren die Flyer? Nein, das war auch Blödsinn, im Fabrizio gab´s wunderbare Pizza und Pasta, da musste ich doch nicht wenige Stunden vorher für teures Geld etwas kommen lassen!
Lieber zog ich noch mal los und holte mir an der Tankstelle eine Tafel Schokolade! Mit ganzen Nüssen natürlich.
Die Tankstelle war nur zwei Ecken weiter, und als ich mich zu Fuß näherte (es war immer etwas blöde, zu Fuß zur Tankstelle zu kommen, entweder dachten die Leute dann, man sei irgendwo wegen Spritmangel liegen geblieben – I´m Walking – oder man komme nur wegen der Süßigkeiten. Stimmte ja leider auch), fuhr gerade ein dunkler Jaguar weg, der mir vage bekannt vorkam, vor allem wegen des Kennzeichens, LR 100. Das war doch Rosen? Ich hatte den Wagen oft genug auf dem Firmenparkplatz gesehen und mir LR im Stillen immer mit Lonesome Rider übersetzt, weil er sich gar so kontaktarm aufführte.
Was tat Rosen hier? Der wohnte doch nicht in Mönchberg? Ich hatte ja mal ein bisschen geschnüffelt und glaubte, mich dunkel an Henting erinnern zu können. Ach, wem wollte ich hier etwas vormachen? Ich erinnerte mich nicht dunkel, ich wusste es ganz genau. Kein Detail, das Rosen betraf, würde ich doch jemals vergessen!
Also, warum hatte er hier getankt? Von dieser Marke gab es in Leisenberg schon noch andere Tankstellen, und so nahe am Prinzenpark waren wir mitten in Mönchberg auch nicht. Wahrscheinlich kannte er hier bloß Leute und hatte einen kleinen Feiertagsbesuch gemacht. Hoffentlich in besserer Laune aus der, die er im Park an den Tag gelegt hatte!
Dieser blöde Stinkstiefel. Na, immerhin hatte er mich wohl nicht mehr gesehen, sonst glaubte er noch, ich wollte ihm nachlaufen. So, wie ich ihn einschätzte, würde er sofort zur Geschäftsleitung rennen und behaupten, ich belästigte ihn. Als ob ich so was wie ein Stalker wäre!
Ich tröstete mich mit einer großen Tafel Vollmilch-Nuss und eine Tüte Gummibärchen über mein frustrierendes Liebesleben hinweg und griff mir gleich auch noch eine Zeitschrift. Fünfzig Trendfrisuren, Die leckersten Erdbeerrezepte, Worauf Männer im Bett wirklich stehen...
Was tat ich hier eigentlich? Das interessierte mich doch gar nicht, dann lieber noch Klatsch und Tratsch über diverse Prinzessinnen, von denen ich noch nie gehört hatte. Hastig legte ich das Käseblatt wieder zurück, schwankte angesichts eines Börsenblattes, das aber schon zwei ziemlich irreführende Aussagen in den Titelthemen aufzuweisen hatte, und beschloss, lieber in meinen Regalen zu Hause nach etwas Lesbarem zu suchen.
Zu Hause kramte ich eine Zeitlang herum, bis ich einen Krimi gefunden hatte, an den ich mich kaum noch erinnern konnte, und ließ mich damit und mit den Gummibärchen aufs Sofa fallen. Ich hatte mich gerade wieder zurechtgefunden, als es an der Tür klingelte. Wer konnte das denn jetzt sein? Carlas Hiobsbotschaften kamen doch immer telefonisch.
Rosen, um sich für seine überzogene Reaktion im Park zu entschuldigen? Wohl kaum, er hatte schließlich keine Ahnung, wo ich wohnte. Er schnüffelte ja nicht aus lauter Liebe! Da half nur eins – durch den Spion gucken. Hübscher Anblick, ein junges, niedliches Kerlchen, nur in ein Badetuch gewickelt und mit einer Zeitung in der Hand. Aha, alles klar. Ich öffnete und grinste wissend, das Kerlchen – höchstens zweiundzwanzig, schätzte ich, und nichts, was man von der Bettkante schubsen würde – errötete und hielt das Handtuch noch krampfhafter fest. „Sagen Sie nichts“, bat ich, „in dem Moment, als sie nach der Zeitung auf dem Abtreter gegriffen haben, ist die Tür hinter Ihnen zugefallen?“ Er nickte beschämt. „Blöde, was? Ich dachte, so was passiert nur in der Werbung.“ Ich kicherte. „Kommen Sie rein – aber Nescafé hab ich keinen, nur echten. Möchten Sie jemanden anrufen?“
„Ja, meine Freundin, die hat auch einen Schlüssel. Wissen Sie, ich wohne noch nicht so lange hier – äh – ich heiße Tom. Tom Jordan.“
„Kati Engelmann.“
„Naja, jedenfalls, ich kenne hier irgendwie noch niemanden, und da hab ich´s einfach gleich nebenan probiert. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei irgendwas?“
„Nein, nein“, versicherte ich, und das war nicht mal gelogen. Der Kleine brachte doch wenigstens etwas Abwechslung in den Samstag. Und außerdem war ich auf die Freundin gespannt.
„Also, möchten Sie jetzt einen Kaffee?“
„Nein, danke“, lehnte er artig ab, „wenn ich nur mal telefonieren dürfte?“
Ich schob ihm das Telefon hin. „Ist Ihnen kalt? Soll ich Ihnen ein Sweatshirt leihen?“ Er grinste schief. „Ich glaube, da passe ich doch nicht rein. Aber mir ist auch gar nicht kalt.“ Er konnte Recht haben – für so einen jungen Kerl hatte er einen beachtlich muskulösen Oberkörper. Vormittags Uni, nachmittags Job, abends Fitness, schätzte ich. Wann hatte er wohl für seine Freundin Zeit?
Ich stellte ihm wenigstens ein Glas Mineralwasser hin, während er intensiv nachdachte und dann mehrere Anläufe brauchte, bis er die Nummer zu seiner Zufriedenheit eingetippt hatte. Schlechtes Zahlengedächtnis oder wenig Interesse an seiner Süßen? Oder Handyspeicher.
Ich wusste Rosens Telefonnummer auswendig, obwohl ich lieber gestorben wäre als wirklich da anzurufen. Gut, mit einem wirklich anständigen Vorwand – Schmitt drückt mir die Nummer (die ich offiziell ja nicht kenne) in die Hand und verlangt, den erkrankten Rosen wegen irgendwas Ultrawichtigem anzurufen... Wie alle meine Tagträume war das so unwahrscheinlich wie nur was.
„Ja, grüß dich“, stotterte mein kleiner Nachbar ins Telefon, „du – äh – ich hab mich ausgesperrt, und jetzt sitze ich bei einer Nachbarin...“
„Ja, wäre schon schön...“
„Och, jung, ja.“
„Was? Wieso nicht früher?“
„Ach so, ja, hab ich vergessen. Und wenn du ein Taxi schickst?“
„Hm... ja, gut, verstehe ich natürlich. Bloß, ich sitze hier, bloß mit einem Handtuch um...“ Jetzt hörte sogar ich es aus dem Hörer quäken, obwohl ich mich betont an anderer Stelle zu schaffen machte. Ohne etwas zu verpassen, natürlich. Die Gute schien ja ziemlich Haare auf den Zähnen zu haben! Aber der Kleine parierte aufs Wort, auch nicht schlecht.
„Gut, in zehn Minuten dann? Danke, das ist total lieb von dir. Ja, ich dich auch.“
„Ja, sicher. Soll ich sie grüßen?“
„Gut, bis gleich.“
Er legte auf und zwinkerte mir zu. „Dass ich nur mit einem Handtuch bekleidet bei einer schönen Frau herumsitze, hat ihr gar nicht gefallen. In zehn Minuten ist sie da, und Sie sind mich los.“
Ich lachte. „Handtuch? Das Ding ist doch riesig. Wetten, Ihre Freundin stellt sich so ein Gästefähnchen vor? Außerdem stören Sie mich gar nicht. Soll ich für Ihre Freundin Kaffee kochen?“
Er schüttelte den Kopf. „Sie lehnt Genussgifte und die Monokulturen in Südamerika ab.“ Ach, so eine. Ehrenwert, aber anstrengend. Ich plante schon mal Jutebeutel und Birkenstocksandalen ein.
Deswegen wollte sie wohl auch kein Taxi schicken – Emissionen vermeiden!
Also warteten wir, und Tom Jordan machte fleißig Konversation. Besser gesagt, nahm er mich ins Kreuzverhör: Wo ich arbeitete? Wie lange ich schon hier wohnte? Wie alt ich sei? Wie viel Miete ich zahlte? Ich antwortete anfangs offen, dann zunehmend ausweichend, und erklärte dann nicht ohne tadelnden Unterton, dass wir uns für manche Fragen einfach noch nicht gut genug kannten.
Er errötete wieder und sah mich schelmisch an. Ja, mit diesem Blick hatte er sich früher bestimmt so manchen Extrariegel Kinderschokolade ergattert! Überhaupt konnte man sich bei diesen Spanielaugen und dem hellbraunen Wuschelkopf so richtig gut vorstellen, wie er mit vier ausgesehen hatte.
Schließlich klingelte es, fordernd und ungeduldig. Ich öffnete sofort, und die Treppe herauf sprang eine junge Frau mit einem lackschwarzen Pferdeschwanz und einem bildschönen Gesicht. Keine Gewitterziege! Äußerlich wenigstens nicht.
Auch keine typische Ökofrau: Jeans, karierte Bluse, Turnschuhe (aus Stoff). Und beneidenswert lange Beine, eine beneidenswert klare Haut und ganz besonders beneidenswert dunkle, mandelförmige Augen. Sie lächelte mich kurz und geschäftsmäßig an. „Sie haben meinen Freund beherbergt? Vielen Dank.“
„Kommen Sie doch herein“, forderte ich sie auf und reichte ihr die Hand. „Kati Engelmann.“
„Nadja Sporer.“ Sie drückte meine Hand kurz, aber hart und schlängelte sich an mir vorbei. „Na, du Schusselkopf?“
Tom strahlte sie etwas ängstlich an. „Ja, ich wollte bloß die Zeitung...“
Sie schüttelte den Kopf. „Du lernst aus Werbespots wohl gar nichts, oder? Und was heißt hier bloß ein Handtuch an? Das Ding ist doch das reinste Zelt!“
„Ich dachte, dann kommst du schneller“, erklärte er treuherzig.
„Ja, aber ich hatte eigentlich einen wichtigen Termin. Und die Wahrheit konnte ich schließlich nicht sagen. Also, los jetzt. Ich muss zurück ins Büro. Auf, auf!“
Tom erhob sich hastig und erwischte seinen Lendenschurz einen Moment zu spät. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein bestes Stück und wandte mich hastig ab, um nicht zu lachen. Der reinste Slapstick, wirklich.
Nadja Sporer verdrehte kurz die Augen zum Himmel. „Komm schon, ich hab nicht ewig Zeit!“
Tom raffte seine Hüllen eng und ängstlich um sich, bedankte sich noch einmal ausführlich bei mir, bis seine Liebste betont auf die Uhr sah. Ich atmete auf, als die beiden draußen waren und ich nebenan den Schlüssel im Schloss hörte. Endlich konnte ich in Ruhe kichern, mir die Beziehung der beiden ausmalen und dazu die Gummibärchen essen!
Ob sie so was wie eine Domina war? Ich versuchte mir den kindlichen Tom gefesselt vorzustellen und dazu sie in schwarzem Leder – wahlweise Lack oder Gummi -, die Peitsche schwingend. Na gut, vielleicht war sie einfach nur erwachsener als er und manchmal leicht genervt. So süß der Kleine war, sehr alltagstauglich wirkte er nicht. Nicht mein Geschmack.
Und ein privater Blick half da gar nichts – wenn einen ein Mann nicht interessierte, brachte einen sein Schwanz auch nicht zum Umdenken. Jetzt hatte ich wieder richtig Lust auf meinen Krimi, aber ein Blick auf die Uhr belehrte mich, dass ich mich langsam fertig machen musste. In meinen Prinzenpark-Samstags-Lumpen konnte ich nicht ins Fabrizio. Hm... schwarze enge Hosen und die enge Pepitabluse mit den feuerroten Knöpfen?
Nicht schlecht, fand ich nach einer raschen Dusche vor dem Spiegel. Ziemlich gut sogar. Vielleicht sollte ich das als Freizeit-Outfit für Grafenreuth vormerken? Immerzu musste ich da ja auch nicht in apricotfarbenem Chiffon herumrennen, Gott sei Dank. Vor allem, weil diese furchtbaren Seidenpumps und der geschmacklose Hut (oder der Blumenkranz – wenn Carla sich dann mal entscheiden konnte - dazu gehörten. Hoffentlich gab es schon vor der Trauung einen fetten Windstoß, dann wären die scheußlichen Dinger wenigstens gleich abgehakt. Rote Stiefel dazu? Nein, zu übertrieben. Schwarze Ballerinas reichten aus. Frischer Pferdeschwanz, heute mit Pepitaspange, ein bisschen Make-up. Nicht, dass die anderen fanden, ich sähe blass aus! Ich beeilte mich sehr, aber ich war trotzdem die letzte, die im Fabrizio einlief. Nina, Silke und Anette hatten sich eine der Nischen mit den roten Kunstledersitzen geschnappt und winkten mit den Speisekarten, als ich sie erspähte.
Ninas Haare waren wirklich furchtbar, wie eine Matratzenfüllung, und da wir uns ja alle gut kannten, sprach ich das auch ungeniert an.
„Hast du den Friseur schon verklagt?“
„Kann ich nicht“, stöhnte sie, „er hat mich ja vorher gewarnt. Aber ich hatte dieses Schnittlauchzeugs so was von satt. Es sollte bloß eine leichte Welle werden. Was mach ich denn jetzt?“
„Alles runter, radikal“, schlug Anette vor und strich sich selbstgefällig über ihre raspelkurzen, feuerroten Haare.
„Dann seh ich ja aus wie du!“, pöbelte Nina. „Nö, danke.“
Anette lachte. „Nicht ohne die rote Farbe, und wenn du die drauftust, fallen dir auch die Stoppeln noch aus.“
„Stoppeln wären aber nicht blöde“, sinnierte ich und blätterte achtlos in der Karte herum, „zu diesen Chiffonlappen würden sie herrlich passen. Wie die Faust aufs Auge. Carla wird so jaulen!“
„Schneidest du dir etwa auch die Haare ab?“, fragte Nina missvergnügt.
„Ich, wieso? Meine sind doch gesund?“ Wie Anette eben strich ich wohlgefällig über meine Haare. Die Farbe war zwar nicht weltbewegend, irgendwas zwischen blond und braun, aber sie waren glänzend und leicht gewellt – und nicht einmal gespaltene Spitzen hatte ich! „Streberin“, murmelte Nina und betrachtete sich Silke, deren dunkler Pagenkopf wie immer perfekt geometrisch geschnitten war und nach jeder Bewegung wieder in Form fiel wie in der Shampoowerbung. „Wie machst du das? Deine Haare sehen einfach toll aus“, stellte Nina fest, und der Neid war nicht zu überhören.
„Guter Haarschnitt, gutes Shampoo und sonst gar nichts“, antwortete Silke und lächelte ein kleines bisschen boshaft. Nina seufzte, aber bevor sie ganz in Selbstmitleid versinken konnte, kam ein Kellner und wir bestellten hastig Getränke und vertieften uns hungrig in die Speisekarten.
Extra scharfe Pizza Inferno? Oder doch lieber ganz kleinkindmäßig Calamari fritti mit Pommes und Mayo? Nein, das schlug wirklich zu heftig zu Buche. Lieber Pizza Inferno. Oder einfach einen Salat... Ohne Öl. Nein, so asketisch musste ich auch wieder nicht sein! Pizza Inferno und einen kleinen gemischten Salat als Alibi. Wenn ich den zuerst aß...
Anette entschied sich für eine Pizza mit extra viel Anchovis und schwarzen Oliven, Nina für einen Riesenteller Spaghetti Aglio e Olio („Mir doch wurscht, ob sich Florian aufregt!“) und Silke merkwürdigerweise für Tiramisù.
„Was ist denn mit dir los?“, wollte Anette sofort wissen. „Isst du die Pizza hinterher oder was?“ Silke zuckte die Achseln. „Mir ist heute eben nach was Süßem. Was dagegen?“
„Nö, mach nur. Figurtechnisch kannst du es dir schließlich leisten.“
Es folgte eine lebhafte Debatte, ob eine fettige Pizza kalorienärmer sein konnte als Tiramisù, und unsere Berechnungen und Theorien, von wenig Sachkenntnis getrübt, wurden immer wilder. Schließlich gaben wir auf und trösteten uns mit der Erkenntnis, dass alles, was schmeckte, eben dick machte. Salat dazu zu essen, war reine Augenwischerei. „Andererseits gibt es ja auch Kalorien, die nicht zählen“, wusste Nina.
„Ach ja?“
„Na, zum Beispiel wenn das Essen sonst schlecht würde. Oder wenn es von einem fremden Teller geklaut ist. Oder wenn man sonst den, der´s gekocht hat, beleidigen würde. Oder...“
An dieser Stelle beendete ein gezielt geworfenes Stück Brot ihren Vortrag. Wir kamen aber nicht weit vom Thema ab, denn wir wussten, woher sie ihre abenteuerlichen Theorien hatte, und der Vergleich, welche Folgen von „Die Nanny“ die lustigsten waren, beschäftigte uns aufs angenehmste, bis wenigstens die Getränke serviert wurden. Silke hatte sich auch noch Mineralwasser bestellt, ein stilles obendrein. Jetzt bekamen wir aber doch schmale Augen, und Anette sprach es aus: „Sag mal, bist du schwanger oder was?“
Silke lächelte. Fehlte bloß noch eine Hand auf dem Bauch, wie bei Promis und Prinzessinnen. „Ich weiß es noch nicht. Vielleicht...“
„Ach herrje“, seufzte Anette, „du Arme. Wolltest du nicht gerade an deiner Schule was werden?“
„Fachbetreuerin für Mathe, ja. Aber wenn ich die Wahl habe, anderer Leute vergeigte Schulaufgaben nachzukorrigieren oder ein Baby...“
„Ich nehme die Schulaufgaben“, beharrte Anette, und im Stillen gab ich ihr Recht. „Aber kann man als Fachberater oder wie das heißt nicht auch ein bisschen mitbestimmen? Wohin das Fach steuert? Wo man Schwerpunkte setzt und so?“, fragte ich.
„Ja, na und? Ich möchte lieber ein Baby“, erklärte Silke und lächelte wieder so versonnen. „Ihr könntet mir ruhig mal gratulieren, anstatt alle so zu tun, als hätte ich mir gerade total das Leben versaut.“
„Na, herzlichen Glückwunsch“, erklärte Nina, „aber weißt du, ganz ehrlich – du hast dir gerade das Leben versaut.“ Sie wartete, bis wir sie alle entrüstet ansahen – ihre Kinder waren doch wirklich nett! – und sprach dann weiter: „Ein versautes Leben hat aber durchaus seine Reize, wenn die Finanzierung gesichert ist. Was sagt denn dein Fabian dazu?“
„Der weiß es noch nicht“, gestand Silke und malte mit dem Zeigefinger Muster auf ihr beschlagenes Glas. „ich will es ihm erst sagen, wenn ich ganz sicher bin. Na, und im Moment bin ich noch kaum überfällig. Das gesunde Essen ist mehr so eine Vorsichtsmaßnahme.“
„Blinder Alarm also!“, entrüstete sich Anette. „Und dafür versetzt du uns so in Panik?“
„Was heißt denn Panik?“ Silke schien sich langsam doch zu ärgern. „Ich freue mich, dass ich vielleicht ein Kind kriege, und ihr? Ihr macht es mir madig!“
„Ach wo“, versuchte ich zu beschwichtigen, „wieso denn madig? Aber da wird sich einiges für dich ändern.“
„Sag bloß“, höhnte Silke, „da wäre ich ja nie drauf gekommen!“
Ich winkte ab. „Ich meine bloß, du wirst nur noch davon reden, wie der Windelinhalt deines Zwergleins aussieht und dass es schon fast lächeln kann. Und immer zu Hause – wirst du dich nicht langweilen?“
„Ihr habt bloß Vorurteile! Ich rede doch nicht über Babykacke!“
„Nina hat´s gemacht“, warf Anette ein. „Erinnerst du dich nicht mehr? Wir wollten auf den VWL-Schein lernen und sie dauernd: Guck mal, wie süß sie jetzt lächelt! Und heute Morgen hat sie ein ganz lautes Bäuerchen gemacht. Und gestern hat sie Spinat gekriegt, und heute war ihre Windel gaanz grün... Schon vergessen?“ Nina zog den Kopf ein und kicherte. „Mein Gott, ich war erst einundzwanzig. Ich musste mir doch auch selbst beweisen, dass das mit dem Baby eine gute Idee war. Silke ist zweiunddreißig, sie ist doch viel selbstsicherer als ich damals.“
„Nicht mehr lange, wenn ihr weiter auf mir herumhackt“, seufzte Silke. „Hoffentlich freut sich Fabian.“
„Wird er schon“, behauptete ich. „Der ist doch auch im richtigen Alter, um Vater zu werden.“
„Sind Männer das jemals?“, unkte Nina. „Florian hat damals schon sehr dumm geschaut, als ich ihm den Test hingehalten habe.“
„Im zweiten Semester? Das finde ich jetzt nicht so verblüffend“, warf Silke ein. „Wieso habt ihr damals eigentlich sofort geheiratet?“
„Meine Eltern“, antwortete Nina und verdrehte die Augen, „ihr kennt sie doch. Ihr armes bürgerliches Töchterlein von einem gewissenlosen Lumpen aus höheren Kreisen verführt und sitzengelassen. Quasi ein modernes Gretchen. Sie haben so gezetert, dass schließlich auch die alten Gehrens dafür waren, dass wir so schnell wie möglich heiraten. So ist Simone dann doch wenigstens noch ein Sechsmonatsbaby geworden. Wisst ihr doch alles noch, ihr habt doch gleich gewusst, dass ich schwanger war!“
„Stimmt. Es geht doch nichts über Ich pass schon auf, vertrau mir.“ Anette gackerte. „Als ob die das könnten!“
Ich kicherte mit. Auf so was hatte ich mich auch noch nie verlassen.
„Seid nicht so gehässig“, fand Silke, „es gibt doch auch nette Männer.“
„Ja, dein Fabian“, gab ich zu. „Und meinetwegen auch Florian. Aber sonst?“
„Was ist mit Carlas Zukünftigem?“
„Naja – ganz okay“, antwortete ich, „mein Geschmack ist er nicht, aber Carla ist zufrieden. Ich finde ihn ein bisschen langweilig.“
„Für euch zwei muss man wohl einen extra backen“, spottete Nina und lehnte sich zurück, weil das Essen kam.
„Gute Idee“, fand ich, „was müssten da wohl für Zutaten rein?“
Nina streute reichlich Parmesan auf ihre Nudeln. „Schön groß auf jeden Fall, ich weiß doch, wie pingelig du in diesem Punkt bist. Na, und einigermaßen schön. Schwer zu erobern, du alte Jägerin. Eine Prise Abenteuerlust, aber zugleich ein Karrieremensch. Jemand, der alleine gut zurechtkommt, aber dich trotzdem anbetet.“
Die anderen wollten sich totlachen. „Na, dann wirst du ja schnell einen finden“, feixte Silke und bohrte die Gabel in ihr Tiramisù, „das sind ja ziemlich moderate Bedingungen.“
„Ich suche doch gar nicht“, murrte ich, „ich bin sehr zufrieden als Single. Carlas Heiraterei wirkt eher abschreckend auf mich.“
„Du musst ja nicht gleich heiraten“, wiegelte Nina ab, „aber ab und zu braucht man ja schon mal was. Zum Wärmen, sozusagen. Für kalte Füße und ein kaltes Herz.“
„Ach Gottchen“, reagierte ich auf diesen Kitsch. „Außerdem habe ich heute erst was wirklich Niedliches getroffen, und es hat mich total kalt gelassen.“
„Von niedlich hab ich auch nichts gesagt“, protestierte Nina.
„Erzähl!“, verlangte Anette, und erzählte von Tom Jordan und seiner herrischen Freundin. Allgemeines Vergnügen, nur von Schmatzlauten unterbrochen – wir benahmen uns mal wieder nicht so, wie wir es gelernt hatten.
Satt und zufrieden lehnten wir hinterher in den Kunstlederpolstern.
„Boah, war das lecker“, stöhnte ich. Wie immer war die Pizza eine Idee zu groß gewesen. „Sollen wir noch ein Dessert nehmen?“, überlegte Nina und angelte sich eine Karte vom Nachbartisch.
„Hör bloß auf, ich kann nicht mehr!“, wehrte Anette ab.
„Doch, ja – ich glaube, ein Tartufo geht noch“, fand Silke.
„Isst du schon für zwei?“, fragte ich.
„Nach dieser Riesenpizza kannst du ganz ruhig sein“, schoss Silke zurück.
Das hatte was für sich. Ich nahm mir vor, Silke nicht weiter zu ärgern, aber manchmal was es einfach unwiderstehlich. Außerdem ärgerten wir uns immerzu gegenseitig, und gerade das hatte den Reiz unserer Freundschaft seit jeher ausgemacht - dass wir nämlich alle eine böse Zunge hatten und nicht sehr empfindlich waren. Aber jetzt, mit den Hormonen... Silke orderte unbehelligt ihr Tartufo und wechselte radikal das Thema. Ich erkannte wieder einmal, dass sie, so harmlos und ordentlich sie auch aussah, doch absolut nicht hilflos wer. Aber wer sich täglich mit tobenden Schülern herumschlug, konnte ja wohl auch kein Häschen sein!
„Was findet denn jetzt auf dieser Monsterhochzeit genau statt?“ Ich seufzte gepeinigt. Das hieß den Krieg ins Feindeslager tragen! Allmählich genierte ich mich heftig für meine durchgeknallte Schwester mit ihrem Heiratsvogel.
„Ich hab ja noch Hoffnung, dass das Ganze irgendwie platzt“, verriet ich, „Cora behauptet, Carla werde von Zweifeln geplagt.“
„Vergiss es“, beschied mich Anette, die Carla auch recht gut kannte, „Carla zieht durch, was sie einmal geplant hat. Kurz vor dem großen Tag holt sie tief Luft, Augen zu und durch.“ Stimmte leider.
„Also, wenn die Sache nun leider wirklich stattfindet, dann ist am Donnerstag die Anreise. Himmelfahrt und so, wahrscheinlich regnet es in Strömen, oder besoffene Vatertagsausflügler nerven uns. Abends gibt´s den Polterabend. Am Freitag gibt es Gerüchten zufolge einen Junggesellenabschied nach angelsächsischem Muster, nach Geschlechtern getrennt -“
„Mit Strippern?“, fragte Nina interessiert. „Glaube ich kaum. Carla will bestimmt nicht, dass Paul gleichzieht und sich einen Schnuckelhasen kommen lässt, der aus der Torte springt und mit den Titten wackelt.“
„Schade“, kommentierte Anette. „Am Samstag schlafen wir unseren Rausch aus, peppen uns mit Alka Seltzer und viel Make up auf und wohnen um vierzehn Uhr der standesamtlichen Trauung im Ratssaal bei, danach soll es so was wie ein leichtes Nachmittagsbuffet geben -“
„Wo kommt das denn im Film vor?“
„Weiß ich auch nicht. Aber das hat sie sich eben so in den Kopf gesetzt. Lachshäppchen und so. Vielleicht auch ein richtiges Essen, ich bin bestimmt nicht auf dem neuesten Stand. Abends ganz normal Party, und am Sonntag um elf die kirchliche Trauung in der Schlosskapelle. Danach Empfang, Mittagessen und abends Buffet und dann der Ball. Und dann endlich ab in die Flitterwochen.“
„Ziemlich in die Breite gezogen, was?“, fand Silke. „Das hätte man doch locker auf eineinhalb Tage verkürzen können?“
„Klar“, gab ich zu, „aber Carla hat das blöde Schloss von Anfang an für vier Tage gebucht, und dann ist ihr erst eingefallen, dass sie die vier Tage auch endlos mit Events füllen muss. Und jetzt steht sie da. Es ist aber ganz nett da, man kann zwischendurch spazieren gehen oder ausreiten, Golf spielen oder schwimmen.“
„Golf! Reiten!“, höhnte Nina, „wie elitär! Und schwimmen kann man wohl im gräflichen See?“ Wir schauderten gemeinsam, und ich versprach, es gebe dort irgendwo ein Schwimmbad. „Hat Carla jedenfalls gesagt.“
„Glaube ich“, fügte ich nach einem Moment des Nachdenkens hinzu.
„Und wenn nicht?“
Ich verdrehte die Augen. „Dann schwimmt ihr eben nicht. Jetzt tut bloß nicht so, als müsstest ihr täglich trainieren. Ich weiß doch, dass ihr genauso faul seid wie ich.“
„Ist ja gar nicht wahr!“, begehrte Nina auf. „Gestern war ich erst laufen!“
„Ach ja? Wo? Wie weit?“
„Von uns aus zum Waldspielplatz und zurück“, antwortete Nina stolz.
Silke kniff die Augen zusammen. „Das sind hin und zurück – hm – ja, doch mindestens ein Dreiviertelkilometer. Sehr eindrucksvoll. Und warum?“
„Weil ich meinen Krimi auf der Bank am Waldspielplatz liegen gelassen hatte, und ich hatte Schiss, dass ihn mir einer klaut“, gestand Nina.
Typisch. Wir wurden wirklich nur schnell, wenn dabei etwas Greifbares herausschaute. „Ist doch egal. Fettverbrennung ist Fettverbrennung.“
„Nicht auf einer so kurzen Strecke. Eine Stunde muss man schon unterwegs sein“, dozierte Anette. „Eine halbe“, widersprach ich sofort. „Und ich war heute schon zwei Stunden spazieren, im Prinzenpark!“
„Fett verbrennen oder Männer gucken?“, fragte Anette sofort.
Ich versuchte, tugendsam zu gucken, spürte aber, wie ich rot wurde, weil mir Rosen eingefallen war. „Fett verbrennen natürlich! Obwohl da gar nicht viel zu verbrennen ist. Hast du mal die Männer im Prinzenpark gesehen? Entweder haben sie das Laufen total nötig, oder sie kommen mit Trachtenhut und Dackel an der Leine, oder sie haben Frau und Kinderchen dabei. Da gibt´s nichts Brauchbares.“
„Warum wirst du dann rot?“
„Vor Ärger“, behauptete ich sofort. „Weil es eben bloß doofe Kerle gibt.“
„Nicht schon wieder!“, stöhnte Silke. „Ihr findet schon auch noch den Richtigen, und dann redet ihr auch anders.“ Typisch glückliche Frau! Wahrscheinlich würde sie uns als nächstes verkuppeln wollen. „Lass gut sein“, sagte ich also, „Anette und ich eignen uns nicht für so was. Für uns sind eben alle Männer doof. Ich weiß wirklich nicht, ob ich so was überhaupt will.“
„Ach, komm“, widersprach Nina, „ab und zu braucht man doch mal einen Kerl. Fürs Bett – und überhaupt. Alleine in den Urlaub ist doch auch blöd. Und bei jedem Event alleine auftauchen... Und wenn man heimkommt, und da ist niemand, dem man erzählen kann, wie furchtbar wieder alles war...“
„Dafür ist auch niemand da, der sagt Wieso kommst du so spät? Ich hab Hunger! Und wieso hast du meine Sachen nicht aus der Reinigung geholt?“
Nina errötete. „Na und? Er verdient ja auch fast alles Geld alleine, also kann er auch erwarten, dass ich solche Sachen mache, oder?“
„Dich hab ich doch gar nicht gemeint“, verteidigte sich Anette, „ich hab an den blöden Andi, früher, gedacht. Der hat nichts beigetragen, aber dauernd Ansprüche gestellt. Und jetzt kommt er wieder an, mit zuckersüßen Sprüchen, dabei will er mich bloß ausnehmen.“
„Und dabei ist er fett an die Falsche geraten“, ergänzte ich, stolz auf Anettes Klugheit. „Du redest wie meine Neuntklässler“, fand Silke und löffelte genüsslich ihr Tartufo. „Hm, lecker. Ob ich nachher noch einen Obstsalat essen soll? Wegen der Vitamine?“
„Seit wann hat Dosenobst Vitamine?“, wunderte ich mich.
„Auch wieder wahr. Ich muss ja auch nicht schon vor dem dritten Monat aufgehen wie ein Hefekloß.“
„Jetzt wart´s doch erstmal ab, vielleicht bist du gar nicht schwanger“, mahnte Nina. „Ich hab mich da auch schon mal getäuscht, vorletztes Jahr.“
„Oops“, machte Anette, „noch ein Zwerg hätte dir wohl gerade noch gefehlt, was?“
„Stimmt. Ich war eigentlich ganz froh, dass es bloß blinder Alarm war, jetzt, wo die beiden schon aus dem Gröbsten raus sind. Aber wenn ich wirklich schwanger gewesen wäre – naja, irgendwie hat mir der Gedanke auch wieder gefallen.“
„Hormongesteuert“, kommentierte Anette.
„Ja, und? Ohne solche Hormone wäre die Menschheit schon längst ausgestorben!“
„Und alleine in den Urlaub ist immer noch besser, als irgendwohin zu fahren, wo man selbst gar nicht hinwollte, oder sich dauernd zu zanken“, knüpfte ich an das eigentliche Thema an, was mir erstaunte Blicke eintrug. „Also, lieber mit Florian in diese Scheißberge als alleine am Strand rumliegen. Ich kann in der Sonne nicht so lange lesen, und was soll man da sonst machen?“
„Na, schwimmen. Ball spielen. An der Wasserlinie entlang zum nächsten Ort wandern. Gut für zarte, schlanke Füße“, schlug Silke vor.
„Alleine?“
„Wieso nicht? Außerdem hast du doch Kinder, oder? Spielen die nicht Ball?“
„Nicht mit ihrer Alten. Voll uncool. Och Männo, Mama! Nö, da fahre ich lieber mit Florian und kraxle auf den Hohen Schlagmichtot und koche mit den verbeulten Töpfen in irgendeinem schundigen Ferienbungalow. Lustig ist es eigentlich schon immer, und so viel zanken wir uns auch nicht.“
Das Letzte wurde mit einem scharfen Blick zu mir gesagt. „Ja, schon gut. Ich hab euch doch gar nicht gemeint mit dem Zanken. Aber wisst ihr noch, als ich mit diesem Toni auf Ibiza war?“
„Damals im Studium?“
„Ja, genau. Der schnuckelige Toni... es war wirklich furchtbar. Ich hab mich noch nie so viel mit jemandem gestritten, und über solchen Scheiß obendrein."
„Nämlich?“
„Ach, wer zuerst ins Bad geht. Ob der Platz am Strand ideal ist oder eine Zumutung. Ich meine, da war alles voller Steine und Müll, und er fand´s toll, weil gleich oben an der Straße so ein Getränkewagen war, wo es kaltes Bier gab. Und die Mädels, die in die Cafés wollten, kamen alle bei uns vorbei und ihm sind schier die Augen rausgekullert. Solche Möpse!“
Ich deutete das bildhaft an. „Wer die Kneipe abends ausgesucht hat und wer deshalb schuld ist, dass die Jazz spielen und nichts zum Tanzen. Wer eigentlich sowieso nie tanzen will und ein Spielverderber ist. Ob man nörgelig ist, wenn man findet, dass es tagsüber ganz schön heiß ist. Ob nur Idioten mit einer Luftmatratze rausschwimmen oder ob das voll cool ist. Ob es taktlos ist, Kerle mit richtigem Waschbrettbauch anzugucken. Taktloser als Miezengucken. Ob nur Langweiler mal in Ruhe was im Halbschatten lesen wollen. Ob Sangria aus dem Eimer prollig ist oder ein Riesenspaß. Ob Mallorca nicht überhaupt besser gewesen wäre. Ob-“
Nina und Anette wedelten abwehrend. „Danke, danke. Wir haben´s begriffen.“ Silke kicherte in sich hinein.
„Ja, heute ist das lustig“, kommentierte ich grämlich, „aber damals war ich total stinkig. Ich weiß, richtig fraulich wäre, zu denken Hauptsache, ich bin mit meinem Liebsten zusammen, aber ich habe eher gedacht Verdammt, das ist auch mein Urlaub, für den ich gejobbt und Arbeiten im Voraus geschrieben habe, und dann bestimmt diese Pappnase alles alleine und es ist nur doof. Am Ende hab ich ihm alles übel genommen, sein Biertrinken, seine dämlichen geblümten Badeshorts, seine Bartstoppeln im Waschbecken, dass er so peinliche Illustrierte wie Super! gelesen hat, dass er jeden Abend Calamares mit Fritten wollte statt etwas Typischerem, dass er nie etwas besichtigen wollte – alles eben. Da fahre ich doch lieber alleine und kann alles so machen wie ich will.“
„Das ist so ähnlich wie mit dem Zusammenleben“, steuerte Anette bei, „wenn einer erstmal anfängt zu nerven, nimmt man es ihm schon krumm, dass sein grünes Duschgel die Farbgebung im Bad stört. Von herumliegenden Klamotten und Zeitungsseiten und überquellenden Aschenbechern ganz zu schweigen. Nein, Kati hat Recht, wenn einem das nicht liegt, lässt man es besser. Für so einen armen Kerl ist es ja auch keine Freude, wenn man dauernd an ihm herummeckert, bloß weil er da ist und nervt, ohne etwas dafür zu können.“
„Fabian nervt nicht“, wandte Silke ein.
„Florian schon, aber ich bin´s gewöhnt“, sagte Nina. „Und so viel ist er auch wieder nicht zu Hause.“ Mir fiel ein, dass ich ihn heute gesehen hatte, aber plötzlich warnte mich eine innere Stimme, das anzusprechen. Was hatte Florian wohl wirklich in der Graf-Rasso-Straße zu suchen gehabt?
„Hat er so viel Arbeit?“, fragte ich also nur und kam mir ziemlich verlogen vor.
„Ja, das auch. Und ab und zu geht er wohl auch ein bisschen fremd“, antwortete Nina, zuckte lässig mit den Schultern und trank einen großen Schluck Bardolino. War das eigentlich schon ihr drittes Glas?
„Ehrlich?“ Anette war entsetzt. „Und das lässt du dir gefallen? Bist du sicher?“
Nina zuckte wieder die Achseln, aber dieses Mal wirkte es eher resigniert. „Was soll ich machen? Trennen will ich mich nicht von ihm, wir sind als Familie ein ganz gutes Team. Und wenn er ab und zu mal ein bisschen herumvögelt – was soll´s?“
„Und wenn er sich dabei was wegholt? Und dich dann ansteckt?“ Ich konnte Nina wirklich nicht verstehen, ich hätte den Kerl sofort rausgeschmissen. Oder ihm zumindest eine Szene gemacht, dass er hinterher in eine Streichholzschachtel gepasst hätte!
„Er benutzt immer Kondome, bei mir auch“, antwortete Nina. „Er will auf keinen Fall ein drittes Kind. Na, und wenn ich die Wahl habe, will ich auch nicht. Außerdem kann ich ihm schlecht Vorwürfe machen, ich hab ihn auch schon mal betrogen.“ Das schlug natürlich wie eine Bombe ein. Da taten sich ja Abgründe in dieser so zahmen Ehe auf! „Mit wem?“, wollte Silke wissen.
„Kennt ihr nicht. Ist auch schon ein bisschen her. Kommt, reden wir von was anderem, so spannend finde ich meine Ehe als Thema auch wieder nicht.“
„Weiß Florian davon?“, wollte Silke aber doch noch wissen.
„Spinnst du?“, fragte Nina zurück.
Ich starrte vor mich hin. Was hatten wir jetzt in der Summe? Eine Ehe, die anscheinend vom gegenseitigen Lügen am Leben erhalten wurde, zwei schon zu spleenige Singles aus Leidenschaft (wirklich?) und die brave, blauäugige Silke, die noch den Traum vom ewigen Glück träumte.
Gab´s das überhaupt? War nicht jede Beziehung nach einer gewissen Zeit bloß noch Routine und wurde von praktischen Erwägungen am Leben erhalten: gemeinsame Kinder, gemeinsames Haus, gemeinsame Schulden?
War ich in Wahrheit die Romantikerin, wenn ich mir mehr erhoffte? Die große Leidenschaft ohne den nervenden Alltag? Vielleicht war ich mit meiner Fixierung auf Rosen besser dran als Nina mit ihrer realen, aber offenbar doch schon ziemlich kaputten Beziehung. Zur Unterstützung konnte ich mir ja noch ein paar Liebesromane kaufen! Die Sorte, die es auch am U-Bahn-Kiosk gab.
„Du bist so still, Kati“, bemerkte Silke. „Hast du was?“
„Nein“, log ich, „ich hab nur gerade an was gedacht. – Egal. Drückt mir lieber die Daumen, dass Carla endlich mit diesem hysterischen Getue aufhört. Man könnte wirklich meinen, vor ihr hat noch niemand geheiratet.“
Damit hatte ich sie abgelenkt. Nur Silke sah mich forschend von der Seite an, sagte aber nichts.