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Zwei Wochen später war der Kaufvertrag aufgesetzt, von meiner Anwältin kritisch geprüft und vor einem Notar, der wie üblich furchtbar nuschelte, unterzeichnet. Ich hatte vierhundertfünfzig auf das angegebene Konto überwiesen, dreißig hielt ich zurück, bis das Haus endgültig geprüft war, was ich hoffentlich binnen einer Woche erledigt haben würde. Tatsächlich hatte es sich steuerlich als günstiger erwiesen, einen bescheidenen Kredit aufzunehmen, solange ich ihn schnell zurückzahlte. Meine Bank war mir sehr geneigt, weil mein Konto und mein Depot ja noch einen sehr guten Eindruck machten und unser Firmenkonto auch dort lief, also war der Kredit eine reine Formsache. Nur dass ich keinen Bausparvertrag abschließen wollte, rief eine leichte Verstimmung hervor.

Die Zeiten, als wir uns einträchtig im Büro langweilten, waren damit vorbei. Nicht nur übertrug ich Lenz und Bauer die Sanierung meiner Villa, nein, wir hatten auch den Auftrag bekommen, den Pavillon zu renovieren. Kurz überlegten wir, ob wir den Kostenvoranschlag zu niedrig angesetzt hatten, aber eigentlich hatten wir auf alle unsere Schätzungen und die Auskünfte unserer Handwerker noch zwanzig Prozent aufgeschlagen, um später das Limit nicht zu überschreiten. Und uns selbst hatten wir natürlich auch ein großzügiges Honorar bewilligt. Unsere Berechnungen, Skizzen und Modelle hatten aber offenbar einen ausgezeichneten Eindruck erweckt, und Jochen Robl, den ich mit den Pavillonplänen aufzusuchen hatte, war hellauf begeistert, als er sah, dass wir den ursprünglich vorhandenen zweiten Flügel wieder rekonstruieren würden. Er genehmigte alles mit Freuden und stellte den Eigentümern auch einen großzügigen Zuschuss in Aussicht.

Mittlerweile war an der Stelle, wo der neue alte Seitenflügel hinkommen sollte, eine Baugrube ausgehoben worden und die Fundamente wurden gerade gegossen. Das hieß, dass nur einmal täglich einer von uns vorbeischauen musste, um sicher zu gehen, dass alles genau den Plänen entsprach.

Dieser eine von uns war im Moment Simon, denn ich stöberte den halben Tag in der Villa herum. Weitere Mängel waren nicht zu erkennen, tatsächlich waren drei Seiten trocken und die Dachbalken noch in gutem Zustand. Nach einigen Tagen intensiver Schnüffelei überwies ich den Rest des Kaufpreises und ließ den Grundbucheintrag ändern. Damit gehörte die Bruchbude endgültig mir. Ich fotografierte sie von allen Seiten, damit wir später eine Vorher-Nachher-Dokumentation zusammenstellen konnten, und arbeitete im Büro einen exakten Zeitplan aus.

Die Installationen mussten zuallererst erneuert werden – Strom und Wasser, außerdem einen Teil der Leitungen zur Zentralheizung. Nur der Kessel war in Ordnung. Immerhin hatten wir die Originalpläne des Hauses erhalten. Hambacher, der Installateur, bei dem ich in den Semesterferien mal gejobbt hatte, sah sich die Bescherung an und ging mit drei Leuten an die Arbeit. Als ich mich gerade zufrieden zurücklehnen wollte, weil alles so gut lief, kam Simon in mein Büro. „Rate, was!“

„Keine Ahnung – haben wir einen neuen Auftrag?“

„Du sagst es. Naja, vielleicht. Ich habe doch die Unternehmenshaftpflicht abgeschlossen, nicht? Und einen schmalzigen Brief an die Immobilienabteilung dieser Versicherung geschrieben, auf alle Zuschüsse hingewiesen und so.“

„Sag bloß, sie haben reagiert!“

„Sie wollen einen Kostenvoranschlag für die Fassadengestaltung und den Jugendstil-Hauseingang. Hier, schau es dir mal an, das sind die Pläne des Eingangsbereichs. Und sie schicken uns alte Fotos, wie das Ganze vor der misslungenen Renovierung aussah. Lass dir was einfallen!“

Ich grunzte. Immerhin, unser dritter Auftrag, wenn man nicht zu genau nachrechnete. Ich zeichnete eine Zeitlang an dem Hauseingang herum, dann zog ich die Fotos, die ich von der Fassade schon im Album hatte, durch den Kopierer, bis sie in DIN A 2 auf dem Tisch lagen, und begann damit, die Kopien in verschiedenen Zusammenstellungen zu kolorieren. Pastelltöne auf weiß sähen auch hübsch aus, mit silbernen Details abgesetzt. Aber zu der grässlichen McDonald´s-Leuchtreklame passte das gar nicht. Richtig bunt wäre da schon besser, authentischer auch... Später mal die Software ausprobieren… Ich malte vergnügt vor mich hin und entwarf schließlich noch eine Jugendstil-Schwingtür für den Hausflur. So etwas müsste man dann wohl einzeln anfertigen lassen... „Simon? Ich gehe in der Peutingergasse Fotos machen, auch wie der Hausflur jetzt aussieht. Und dann muss ich in die Galileistraße... Kommst du hier alleine zurecht?“

„Klar doch!“

Na, hoffentlich nicht zu gut mit Frau Knaur, die ihm immer noch zarte Blicke zuwarf und irgendwie täglich attraktiver wurde. Die braunen Haare bekamen von Tag zu Tag einen stärkeren goldenen Schimmer, sie selbst war schon hübsch braun gebrannt und vergaß mittlerweile, ihre Bluse bis obenhin zuzuknöpfen. Simon schien das überhaupt nicht zu bemerken, aber vielleicht tat er nur so, wenn ich in Sichtweite war. Eigentlich konnte es mir auch egal sein. Um die Knaur wäre es nur schade, sie hatte sich gut eingearbeitet. Aber solange sie nicht unter Liebeskummer litt und bei der Arbeit patzte…

Das Treppenhaus in der Peutingergasse war abgesperrt, ich musste erst den Hausmeister suchen, damit er mich fotografieren ließ. Er beäugte mich dabei sehr misstrauisch, als hätte ich vor, seinen Putzeimer zu stehlen, wenn er nur einen Moment wegsah. „Wozu soll das gleich wieder gut sein?“

„Der Eigentümer will den Hauseingang wieder so gestalten lassen, wie er ursprünglich aussah“, erklärte ich zum dritten Mal.

„So ein Schmarrn“, murrte er, „wo es doch grad renoviert worden ist.“

„Das ist doch mehr als fünfzehn Jahre her, und authentisch ist es auch nicht.“

„Authentisch?“

„Es sieht nicht mehr so aus, wie es vom Stil her aussehen sollte. Das ist doch Jugendstil! Die Fassade ist auch falsch gestrichen, viel zu fad.“

„Soll die etwa auch geändert werden?“

„Ja, wenn wir den Auftrag kriegen. Keine Sorge, das Hausinnere ist ansonsten nicht betroffen.“

„Sie machen das alles ohne Auftrag?“ Mehr hatte er anscheinend nicht mitgekriegt.

„Ich brauche die Fotos für die Entwürfe, die müssen wir schon vorher machen. Wenn sie dem Kunden gefallen, kriegen wir den Auftrag.“

„Und wenn nicht?“

„Haben wir Pech gehabt.“

„Scheiß-Job. Warum suchen Sie sich nicht etwas anderes?“

„Mir macht das Spaß.“ Ich grinste ihn an und fotografierte ihn, wie er da mit skeptischem Gesicht stand, auf den Wischmopp gestützt. „Bis jetzt haben wir auch jeden Auftrag bekommen. Und Sie kriegen das Bild, wenn es fertig ist, ja? Ich bringe es in den nächsten Tagen vorbei.“

Er musste lachen. Es konnte nie schaden, mit dem Hausmeister gut zu stehen, ein mürrischer Hausmeister konnte die Arbeiten recht nachhaltig stören. Ich winkte ihm zu und verschwand in die Galileistraße.

Die Hambacher-Crew war schon fleißig zugange, wie man an den zum Teil aufgestemmten Wänden sah. Ich lobte sie, wie man einen guten Hund lobt, und verschwand in den Keller. Bis jetzt hatten die Handwerker nur um den Heizungsraum und den Sicherungskasten herum gewerkelt und draußen nach der Wasserzufuhr gegraben. Da war aber neben dem Vorratskeller noch ein großer Raum, mit einer Eisentür verriegelt. Eigenartig. Ich drehte die Riegel, die sich mit dem zischenden Geräusch einer Luftdruckbremse lösten. Ach, klar – ein Luftschutzkeller, nachträglich eingebaut!

Drinnen fand sich auch die passende Eisenverkleidung für das hoch liegende kleine Fenster; aber die Einrichtung war nicht direkt so, wie man das von historischen Fotos kannte: Nur ein alter Schrank stand da. Die Türen öffneten sich quietschend und mir kam ein Schwall muffiger Luft entgegen. Im Schrank lagen ein Paar verstaubter Lederhandschuhe und ein Persianermuff, in den eindeutig die Motten gekommen waren. Äh!

Davon abgesehen war der Schrank leer. Hässlich war er nicht, er stammte wohl aus der Entstehungszeit des Hauses, um 1885 herum, schätzte ich. Der weiße Anstrich war natürlich scheußlich, aber man konnte ihn ja abbeizen; als Garderobenschrank wäre er sicher brauchbar. Oder im Erdgeschoß, für zusammengerollte Pläne... Auf den Sperrmüll sollte er jedenfalls nicht!

Ich zerrte ein bisschen an ihm herum, um zu sehen, ob ich ihn von der Wand rücken konnte, aber er war zu schwer. Wahrscheinlich musste man ihn abbauen, solche Schränke waren oft einfach zu zerlegen. Darauf hatte ich heute keine Lust mehr. Und die Leitungen verliefen nicht an dieser Wand, das hatte ich den Plänen schon entnommen. Außerdem konnte man es auch sehen, denn hier unten war fast nichts unter Putz verlegt.

Ich klopfte mir die staubigen Hände an den Jeans ab und stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinauf. Was stand hier noch an Möbeln herum? Die beiden Sessel waren eigentlich schön, wenn man sie neu beziehen ließ – und wenn das Innenleben noch okay war. Ich klopfte kräftig auf die Sitzfläche. Eine Staubwolke stieg auf, die mich husten ließ. Nun, die sollte sich einmal ein Polsterer anschauen, aber noch nicht jetzt. Das geschnitzte Buffet an der Wand war abgrundtief hässlich, aber andererseits auch wieder ganz witzig. Ich setzte mich auf den Boden und überlegte. Parkett, weiße Wände, zarter Stuck an der Decke, moderne Schreibtische, Rechner, Kabelsalat – und dazu dieses Monster an der Wand, vielleicht für Bürobedarf? Es war sogar breit genug für einen Tischkopierer...

War das Ungetüm wenigstens leer oder hatten die verschlampten Wiedemanns noch ein paar zerbrochene Teetassen darin liegen gelassen? Ich öffnete die Schubladen. Leer, bis auf verblichenes und eingerissenes Schrankpapier. Die Fächer an der Seite waren ebenfalls leer. Wie kam eigentlich der Staub ins Innere? Im mittleren Teil lagen einige braune Mappen. Ich nahm sie vorsichtig heraus und setzte mich in einen der wuchtigen Sessel. Die neuerliche Staubwolke ignorierte ich, so gut es ging. Das waren ja Fotoalben! Wunderschön... Verblasste, sepiafarbene Aufnahmen, in weißem Sütterlin auf schwarzem Fotokarton sorgfältig beschriftet. Ich konnte die Schrift nicht besonders gut lesen, aber Mama konnte mir dabei sicher helfen, die hatte das noch in der Schule gelernt.

Im Hintergrund vieler Aufnahmen war das Haus zu sehen, düster wie eine Villa aus einem Edgar-Wallace-Film, aber das mochte an den leicht unterbelichteten Schwarzweiß-Aufnahmen liegen. Jahreszahlen aus den späten Dreißigern und frühen Vierzigern, ein etwa sechzigjähriger Mann im dunklen Anzug. Dann ein jüngerer Mann, in Uniform. Auf dem Foto wirkte die Uniform verdächtig dunkel. Die war doch nicht etwa schwarz? Der Kerl war doch nicht etwa in der SS? Wie peinlich für die Familie Wiedemann – wenn das überhaupt ein Wiedemann war!

Unter den Fotos einer etwas deprimiert wirkenden jungen Frau in den frühen Zwanzigern – obwohl, die Mode von damals machte ganz schön alt – stand etwas, was ich sogar in Sütterlin lesen konnte: Ich.

War das dann wohl Elise Wiedemann, die vor eineinhalb Jahren gestorben war? Und warum guckte sie so betrübt?

In einem anderen Album, etwas edler in dunkles Leder gebunden, fanden sich noch ältere Fotos einer anderen Familie, zunächst steife Gestalten in der Mode vor der Jahrhundertwende, dann offenbar ein Weltkrieg –I – Teilnehmer mit Pickelhaube und ernster Miene, der kurz nach Kriegsende geheiratet hatte (die Braut schaute, als bereue sie es schon), Familienfotos mit einer Tochter und zwei Söhnen, alle ungemein niedlich mit dunklen Löckchen und hellen Kulleraugen. Ein etwas späteres Bild der Tochter – reizend, wirklich – trug die Unterschrift Elsa. Daneben stand etwas, das ich schließlich als Meine beste Freundin entzifferte, sicher war ich mir allerdings nicht.

Merkwürdigerweise stand im Hintergrund auch wieder mein Haus, sogar schon bei den allerältesten Fotos. Es hatte den Anschein, als hätte diese Familie vor den Wiedemanns hier gewohnt. Ein Familienname war aber nicht zu finden.

Ich rappelte mich aus dem verdreckten Sessel hoch und klemmte die Alben unter den Arm. Mama sollte mir da weiterhelfen! Simon, den ich schnell anrief, beruhigte mich – im Büro sei weiter nichts los gewesen, morgen sei auch noch ein Tag, ich sollte mich ruhig nach Hause verziehen. Also legte ich die Alben vorsichtig auf den Rücksitz und fuhr nach Hause.

Mama war allerdings nicht da. Ich rief in alle Richtungen, aber sie war mit irgendjemandem unterwegs, ihrem Freund, ihren Freundinnen, Conny, ihren Enkelinnen, wer wusste das schon. Ich trug die kostbaren Alben in mein Kellerzimmer und kochte mir erst einmal einen Kaffee. Hatte ich eigentlich heute zu Mittag gegessen? Schlotterten die Jeans, weil ich nichts aß, oder weil sie kriminell ausgeleiert waren? Egal, ich würde sie später mal in die Waschmaschine werfen, dann sah man ja weiter. Mama hatte einen Kuchen gebacken und mir dringend aufgetragen, davon auch zu essen. Nun gut, ein Stück, zum Kaffee. Mit Teller und Becher setzte ich mich erst einmal ins Wohnzimmer und überlegte, wie diese Fotos einzuschätzen waren, aber meine Umgebung lenkte mich ab. Seit Papas Tod und schon lange vorher war hier nichts mehr gemacht worden, die Wände hatten einen kräftigen Nikotinschimmer. Die Vitrine im Stil der Fünfziger, voll von niemals benutztem „guten“ Geschirr, die Anrichte im gleichen Geschmack, der kleine Bücherschrank mit gekürzten Reader´s Digest-Ausgaben (das war Papa gewesen, der es liebte, etwas billiger zu bekommen, auch wenn es dann nichts taugte), die schweren geblümten Sessel und Sofas, die dichten Vorhänge, die das Zimmer auch bei hellstem Sonnenschein in trübes Dämmerlicht tauchten – entsetzlich. Ich musste Mama wirklich einmal eine Totalrenovierung vorschlagen! Auch das Parkett sollte man dringend abschleifen und neu versiegeln. Andererseits – lohnte sich das noch? Das Haus war grundsätzlich schlecht in Schuss und nicht so alt, dass sich die Erhaltung unbedingt rentieren würde…

Während ich auf Mama wartete, aß ich auf, dann duschte ich – nötig war´s mal wieder, man schwitzte vielleicht in dieser Branche – und warf eine Ladung Jeans, Sweatshirts, T-Shirts, Socken und Unterwäsche in die Maschine. Ich schaffte es sogar, noch eine zweite, ähnliche Ladung zu waschen und alles in meinem Kabuff aufzuhängen, bevor Mama nach Hause kam und mich im Bademantel vor dem Fernseher vorfand.

„Na, gut, dass ich alleine bin“, meinte sie vergnügt und setzte sich.

„Keine Angst, wenn du deinen Bernhard mitgebracht hättest, hätte ich mich schon taktvoll verzogen. Ich will ja schließlich nicht stören!“

„Babsi, du störst doch nicht!“

Ich sah sie zweifelnd an. „Na, bis jetzt hast du hier vergnügt alleine gelebt, die klassische lustige Witwe. Und jetzt hast du deine Bauarbeiter-Tochter auf dem Hals, die kannst einem schon Leid tun.“

„Tochter ist gut“, kommentierte sie. „Du bist mehr eine scheue Untermieterin. Du isst hier nichts, du bist fast nie da, du hast Angst zu stören, du siehst heute zum ersten Mal hier fern – was ist das eigentlich für ein Schwachsinn? – kaum, dass du mal die Waschmaschine benutzt.“

„Das da? Irgendeine Krankenhausserie, ich habe nicht aufgepasst. Und gewaschen habe ich heute, ganz fleißig. Hast du ein bisschen Zeit für mich?“

„Kind, was für eine Frage!“

Ich war anscheinend wirklich eine unnatürliche Tochter, aber ich wohnte ja auch zum ersten Mal seit dreizehn Jahren wieder hier, da verlernte man das Familiäre irgendwann.

„Kannst du Sütterlin lesen?“

„Ich denke doch. Ich musste es in der Volksschule lernen. Eigentlich unvorstellbar, elf Jahre nach Kriegsende wurden wir noch mit diesem Schwachsinn geelendet – und dann fand das auch noch nachmittags statt. Einmal bin ich einfach nicht hingegangen, aber das hat deine Großmutter mir schnell wieder ausgetrieben. Hatte einen harten Schlag, die Frau...“ Sie versank in Erinnerungen.

„Pass auf, ich hole schnell etwas, das ich dir zeigen muss!“

Ich legte ihr die Alben vor und zückte Block und Bleistift. Die meisten Unterschriften lauteten leider nur Papa, Mama oder Hartmut. Einmal allerdings stand unter einem ziemlich peinlichen Bild dieses Hartmut – die SS-Runen am Kragenspiegel waren unübersehbar – Der Stolz der Familie. Hatte Elise das ironisch oder ernst gemeint?

Ich schrieb fieberhaft mit und legte die Zettelchen zwischen die entsprechenden Seiten.

„Faszinierend“, meinte Mama schließlich, „woher hast du diese Alben?“

„Die lagen in einem schauerlichen Buffet in der Villa.“

„Aber dann gehören sie dir doch gar nicht?“

„Doch. Ich hab das Haus samt Inhalt gekauft. Das steht extra im Kaufvertrag. Ich wollte sichergehen, dass sie nicht später Forderungen stellen, wenn ich die Möbel aufpoliert oder Fotos für Werbezwecke verwendet habe.“

Mama nickte nachdenklich. „Aber dafür kannst du doch die Fotos kaum verwenden?“

„Ich weiß noch nicht. Auf jeden Fall wüsste ich gerne mehr über die beiden Familien, und wie sie zusammenhängen – abgesehen davon, dass Elsa und Elise offenbar miteinander befreundet waren. Bis jetzt weiß ich nur, dass dieser Hartmut in der SS war. Peinlich, was?“

„Eigentlich schon. Aber wer weiß, es gibt ja so seltsame Gestalten, denen so etwas mittlerweile überhaupt nicht mehr peinlich ist.“

„Braune Säue... Und dann wüsste ich auch gerne, warum diese Elise dann ganz alleine in dem großen Haus gelebt hat. Sie muss ziemlich einsam gewesen sein.“

Mama sah mich verblüfft an. „Das sagst ausgerechnet du? Du wirst doch auch alleine dort leben, wenn das Haus mal fertig ist. Oder hast du doch endlich Heiratspläne?“

Ich lachte abwehrend. „Guter Gott, nein! Mit wem denn?“

„Nun, was ist denn mit deinem Geschäftspartner?“ Hätte ich noch Kaffee in meinem Becher gehabt, hätte ich ihn jetzt wahrscheinlich über die kostbaren Fotos geprustet.

„Simon? Mama, der ist doch schon verheiratet! Und auch gar nicht mein Typ.“

Mama tätschelte mir die Schulter. „Du findest schon noch einen. Dann kannst du mit Mann und Kindern in deiner schönen Villa leben, so wie Conny.“

„Grässliche Vorstellung. Und dann putze ich den Rest meines Lebens in diesem Haus herum? Mama, ich glaube nicht, dass Conny so wahnsinnig glücklich ist. Sie gibt es nur nicht zu.“

„Niemand ist immer wahnsinnig glücklich, Babsi. Das reden einem diese Kitschfilme im Fernsehen nur immer ein. Es reicht doch, wenn man zufrieden ist?“

„Vielleicht hast du Recht, Mama. Aber schau mal, ich bin doch auch zufrieden. Warum sollte ich daran was ändern? Mit einem Mann wäre ich doch höchstwahrscheinlich nur weniger zufrieden.“

„Bist du nicht einsam?“

„Eigentlich nicht“, überlegte ich, „wann denn auch? Ich bin doch heilfroh, wenn ich nach einem langen Tag ins Bett fallen kann, ohne noch Socken aufzusammeln und für einen Kerl zu kochen.“

„Woher beziehst du eigentlich deine Vorstellungen von der Ehe? Es könnte doch sein, dass er nach einem langen Arbeitstag für dich gekocht hat und im Bett noch für ein bisschen Spiel und Spaß sorgt?“

Seit wann war Mama denn so kess? „Du redest aber nicht von Papa, oder?“

Sie schnaubte. „Natürlich nicht. Das war wirklich so wie dein Eheschreckbild. Aber Bernhard ist ganz anders, und ich habe gelernt, nicht von einem Mann auf alle zu schließen. Das solltest du vielleicht auch mal versuchen.“

Das klang einigermaßen plausibel. „Gut, Mama, wenn ich einen interessanten Mann treffen sollte, versuche ich, offen für neue Erfahrungen zu sein. Bist du damit zufrieden?“

„Braves Mädchen. Schließlich ist ein toller Job auch nicht das ganze Leben, nicht? Weißt du, was du auch mal tun solltest?“

„Sag nicht, modischer anziehen und zum Friseur gehen!“

„Keine Sorge, ich weiß, wo meine Überredungskünste versagen. Nein, ich dachte, du könntest mal ein paar alte Freundschaften auffrischen. Du brauchst auch Leute, mit denen du abends weggehen kannst.“

Allmählich musste ich diesen Bernhard mal näher kennen lernen – er hatte Mama ja richtig verwandelt: Früher hatte sie immer an meinem Privatleben herumgemeckert und gefunden, ich ginge zu viel weg, ich sollte mir endlich einen soliden Mann zum Heiraten suchen... Und nun benahm sie sich wie eine weise Freundin! „Mama, du bist richtig gut drauf, finde ich. Dein Bernhard hat einen prima Einfluss auf dich, ich muss ihn loben. Die Idee mit den Kontakten ist nicht schlecht. Außerdem kennen die vielleicht auch gute Handwerker oder haben Projekte für uns...“

„Babsi, geh ins Bett. Du denkst ja schon im Kreis – hast du gar nichts anderes im Kopf als euer Büro?“

„Solange wir nicht den fetten Umsatz machen, bestimmt nicht. Aber ich glaube, oben liegt irgendwo noch die Abizeitung herum, ich werde sie mir als Einschlaflektüre holen.“

Ich wühlte in meinem Teeniezimmer herum. Kopfschüttelnd sah ich mir das vollgestopfte Regal an. Was hatte ich da nur alles aufgehoben? Ich fand einige alte Bravos – ob die antiquarischen Wert hatten? -, ein Tagebuch aus dem Jahr 1984 (erste Liebe, Gott, war ich dämlich gewesen!), jede Menge Pferdebücher und einen Zettel, auf dem in Buchstaben aus lauter Blümchen stand Conny ist eine selten blöde Kuh. Ich grinste. Daran hatte sich nun wenig geändert! Wahrscheinlich hatten wir beide davon geträumt, ein Einzelkind zu sein.

Unter einem Stapel Modezeitschriften (hatte ich so etwas jemals gelesen? Ich konnte mich überhaupt nicht erinnern!) fand ich schließlich, was ich gesucht hatte: die Abizeitung. Santa Maria! ABI 88, war das lange her!

Ich nahm sie mit in meinen Keller und zündete mir eine Zigarette an. Eigentlich brauchte ich ja nur die Adressenliste, die Gabi Zünth angeblich auf dem neuesten Stand halten sollte. Nach fast dreizehn Jahren konnte man das wahrscheinlich vergessen.

Ich wollte nur ganz kurz durch die Charakteristiken blättern, aber natürlich las ich mich sofort fest und nickte schließlich darüber ein. Ich schaffte es gerade noch, mich auszuziehen, mir die Zähne zu putzen und die Abizeitung aus dem Bett zu werfen. Was wohl aus denen geworden war? Meine beste Freundin Saskia war nach Hamburg gezogen und lebte immer noch dort, soweit ich wusste. Gott, war ich müde....

Ich nahm die Abizeitung und die Fotoalben am nächsten Morgen gleich mit ins Büro, um sie dort in meinen Schreibtisch einzuschließen. Vorher zeigte ich sie noch Simon, der sie zwar interessant fand, aber nicht recht verstand, was uns das bei der Sanierung nützen sollte, da kaum Details des Hauses zu sehen waren.

„Aber Simon – so sieht man doch, dass das Haus eine Geschichte hat! Was es alles schon gesehen haben muss! Und was diese beiden Familien miteinander zu tun hatten, möchte ich schon brennend gerne wissen. Das kriege ich auch noch raus!“

„Na gut, wenn es dir Spaß macht – aber zuerst musst du mal beim Pavillon vorbeischauen! Ich habe von einem Wettbewerb gehört, der hinter dem Rathausplatz eine Baulücke schließen soll, daran sollten wir uns unbedingt beteiligen.“

Ich hatte meine Villa sofort wieder vergessen. „Wo genau?“

„Kennst du Herrenmoden Harprecht? Daneben steht doch so ein Behelfsbau aus der Schwarzmarktzeit.“

„Der mit der Billigbuchhandlung drin? Die, die nur Remittenden und Restposten führt?“

„Ja, genau. Der Behelfsbau muss weg, und die Nachbarhäuser sind stilistisch schwer einzuordnen. Ich schaue heute mal ins Stadtarchiv, die haben doch eine gewaltige Fotosammlung, vielleicht finde ich den Originalbau.“

„Gute Idee, aber hast du in meinem Regal schon geschaut?“

„Glaubst du, du hast etwas?“

„Schauen wir mal!“

Ich hatte eine hübsche Sammlung dieser vom Städtischen Archiv herausgegebenen Bildbände mit alten Fotos, und wir blätterten eine vergnügte halbe Stunde lang herum. Schließlich schrie Simon auf.

„Hier! Ich glaube, das ist es, oder?“

„Zeig! Ja, das Nachbarhaus scheint zu stimmen. Sag mal... wenn du doch eh in die Stadt gehst...“

Simon seufzte. „Was soll ich besorgen?“

„Lass das Seufzen, ich hab dich noch nie gebeten, etwas für mich einzukaufen!“

„Stimmt, ich bin das eben von Tanja gewöhnt.“

„Deine Frau?“ Bis jetzt hatte er mir nicht einmal ihren Namen verraten.

Er brummte. „Was soll ich also besorgen?“

„Eine gute Digitalkamera, dann könnten wir die Fotos gleich auf die Rechner spielen und weiterbearbeiten. Und vielleicht kannst du gleich einen Packen Fotopapier für den Drucker mitbringen und Software zur Bildbearbeitung. Kriegst du das hin?“

„Die Kamera auf jeden Fall. Bei der Software – sollten wir da nicht erst einmal jemanden fragen, der sich damit auskennt?“

„Du klingst wie die Werbung für die Gelben Seiten. Du weißt doch, was wir von dem Programm erwarten! Und es muss mit ArchDesign kompatibel sein, das reicht doch erst einmal. Eine Netzwerkversion, denk dran!“

„Ja, und ich vergesse auch nicht, mir detaillierte Quittungen für Doris geben zu lassen. Doof bin ich auch nicht, Babsi!“

„Hat das etwa jemand behauptet?“

Er warf mir einen gereizten Blick zu und brach auf. Heute war er aber schlecht drauf, fand ich. Kunststück, das Wochenende nahte, er wollte sicher allmählich heim zu seiner Tanja.

„Frau Knaur? Halten Sie bitte die Stellung, ich muss auch weg. Gegen Mittag komme ich zurück. Notieren Sie bitte alle Anrufe, ja?“ So, jetzt hatte ich sie sicher auch gekränkt, indem ich ihr solche Selbstverständlichkeiten auftrug. Heute war anscheinend nicht mein Tag! Ich verzog mich an den Fuggerplatz.

Die Fundamente waren mittlerweile fertig, eine gewundene Betontreppe führte aus dem Nichts nach unten. Sehr gut, das war für den künftigen Laden ein günstiger Lagerraum. Ich besprach mich mit den Maurern, um ihnen die Abmessungen der Eckpfeiler noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Auch sie wirkten leicht genervt. Behandelte ich heute denn jedermann wie ein kleines Kind? Von einem Fettnapf in den nächsten?

„Wir kennen die Pläne, Frau Lenz. Aber zuerst sollten wir doch mal die Decke gießen lassen, nicht?“

„Ja“, seufzte ich. „Tut mir Leid, wenn ich so übereifrig wirke, aber das ist unser erstes Projekt, und ich möchte doch, dass alles perfekt wird.“

„Schon gut. Bis jetzt klappt doch alles ausgezeichnet. Passen Sie auf, morgen Nachmittag könnte die Decke fertig sein, dann dürfen Sie uns mit Ziegelsteinen eine Ecke als Muster legen, wenn Sie das beruhigt.“

Ich musste lachen, obwohl ich den leisen Verdacht hatte, dass mich der Polier nicht ernst nahm.

„Gut, morgen schaue ich wieder vorbei.“

Im Vorbeigehen holte ich Fotos ab und brachte wieder zwei Filme weg, dann trabte ich zum Rathausplatz und suchte die bewusste Baulücke. Tatsächlich, wir hatten das Original in dem Bildband gefunden! Ich fotografierte die Lücke und alle Details der beiden Nachbarhäuser, eines war hellblau, eines rosa, beide mit weiß-grauem Stuck verziert und zarten silbernen Details. Wie wäre es nun mit creme oder hellgelb? Oder grau? Der Stil war schwer einzuordnen, Klassizismus oder spätes Biedermeier? Offenbar waren die beiden vorhandenen Häuser etwa um 1860 herum entstanden. Hofeinfahrt, seitlicher Hauseingang, Hintergebäude. Hintergebäude? Ich trabte durch die hellblaue Hofeinfahrt und fotografierte auch den Hauseingang und die Rückfronten, außerdem die Nebengebäude. Dabei musste ich an die wunderschönen Passagen in Salzburg denken, zwischen Getreidegasse und Universitätsplatz. So etwas zwischen zwei alten Häusern zu konstruieren! Ich notierte es gleich, damit wir die Idee verwenden konnten, falls sie zufällig einmal passen sollte. Noch einige Aufnahmen des ganzen Ensembles, um damit spielen zu können. Wir brauchten die exakten Geschosshöhen der Nachbarhäuser - und die Pläne wären nützlich. Hausnummern… um die Eigentümer herauszukriegen. Ich wanderte herum, fotografierte, machte mir Notizen und plante im Geiste.

Am McDonald´s - Projekt war nichts zu tun, bevor wir nicht die alten Fotos bekommen hatten. Also konnte ich ins Waldburgviertel fahren und mich mit meinem Lieblingsprojekt befassen.

Die Arbeiter gruben fleißig im Garten herum, um die Wasserleitungen und den Stromanschluss freizulegen. Ich half ihnen, das schmiedeeiserne Gartentor auszuhängen und hinter dem Haus zu lagern, damit es nicht beschädigt wurde. Die Einfahrt sicherten wir stattdessen mit den Baustellenzäunen, die schon herumlagen, und einem fetten Vorhängeschloss.

Ich besprach den Einbau zusätzlicher Steckdosen in allen Etagen mit dem Elektriker und erklärte der Heizungs- und Wasserfirma, was ich haben wollte. Übrigens waren die Rohre tatsächlich aus Blei und mussten sofort raus.

Schwieriger war es, dem Heizungsbauer klar zu machen, dass wir zwar die Heizkörper ersetzen mussten, ich aber auf dem altmodischen Modell bestand. „Frau Lenz, es gibt doch jetzt so elegante, flache Geräte, die sehen viel moderner aus. Und sie sind sogar preiswerter als diese alten Dinger!“

„Mag ja alles sein, Herr Rummel, aber die passen hier nicht hinein. Ich brauche später auch die altmodischen eckigen Waschbecken, damit alles zum Haus passt. Also, die ganz normalen breit gerippten Heizkörper. Anständige Thermostate dürfen Sie aber schon einbauen. Ich werde mir in den Bädern auch gescheite Mischbatterien gönnen, nicht etwa die alten getrennten Hähne.“

„Also dann könnten Sie aber doch auch gleich moderne Heizkörper - “

„Nein, Herr Rummel, bitte nicht. Sie haben doch das alte Modell auch noch?“

„Logisch! Wir haben alles! Und was wir nicht haben, können wir blitzschnell besorgen.“

Darauf war er stolz. Sehr nützlich, an diesem Stolz konnte man ihn notfalls packen! Er ging mit seinen Leuten wieder an die Arbeit, und ich stieg in den Keller hinunter. Dort wickelte ich sicherheitshalber Klebeband um den alten Schrank, bevor ich daran ging, ihn auseinander zu nehmen. Dann stellte ich mich in Positur und hob vorsichtig den obersten Aufsatz ab. Es tat einen lauten Knall, das Klebeband riss sofort und die linke Tür krachte mir auf den Kopf. Ich taumelte, den schweren Aufsatz in der Hand, und sank gegen die gegenüberliegende Wand. Puh, was für ein teuflisches Ding!

Mühsam richtete ich mich wieder auf und lehnte den Aufsatz an die Wand. Glücklicherweise war das Türscharnier nicht herausgebrochen, die Tür stand, wenn auch schief, immer noch auf dem Eisendorn im Bodenteil. Ich nahm sie vorsichtig heraus und lehnte sie neben den Aufsatz. Nun die zweite Tür...

In der Ecke sammelte sich ein Stapel Regalbretter, darauf lag die Kleiderstange.

Nun, da Licht in die muffigen Tiefen fiel – und wie dreckig alle Teile waren! – sah man, dass die Rückwand ein Loch hatte, regelmäßig rechteckig war sie ausgeschnitten und das ausgeschnittene Teil klebte in der Lücke, als hätte da jemand eine Geheimtür gebastelt. Ich grinste über mich selbst – wohl zu viele Kitschromane gelesen? Es fehlte ja nur noch, dass ich in diesem Haus nach einem Priesterversteck suchte! Wären wir in England, täte ich das vielleicht sogar. Das musste ich mir näher ansehen, sobald der Schrank fertig zerlegt war.

Ich nahm die Seitenteile und die Mitteltrennwand heraus; allmählich waren die Wände voll mit schmutzigweiß gestrichenen Holzteilen, vielleicht sollte ich den Kram nach oben schaffen, in den Salon. An der Unterseite der Mitteltrennwand konnte man sehen, dass das Holz ursprünglich dunkel gewesen war, etwa so wie das monströse Buffet. Ich zog die Schubladen aus dem Boden – leer – und zerrte das Bodenteil von der Wand weg, nachdem ich die beiden Rückwände herausgezogen hatte. Ob ich diesen Schrank wohl jemals wieder zusammensetzen könnte? Andererseits gab es hier ja wohl genügend Hilfskräfte. Sehr schlau, wirklich - nun wusste ich nicht mehr, auf welcher Höhe das Geheimfach in der Rückwand gewesen war! Ich suchte den Rückwandteil heraus und hielt ihn in ungefähr der richtigen Höhe an die Mauer. Nichts zu sehen...

Nun, wahrscheinlich hatte der Schrank ursprünglich ganz woanders gestanden, bevor er zum Kellerschrank degradiert worden war. Und dort war dann wohl auch irgendein Versteck in der Wand. Oder eine Geheimtür... Ich fing ja schon wieder zu spinnen an!

Sicherheitshalber tastete ich aber die Wand hinter dem Schrank sorgfältig ab. Ein Ziegel war locker. Hoffentlich nicht mehrere, sonst müsste man hier womöglich noch neu mauern! Das war zwar keine tragende Wand, die war gegenüber, aber trotzdem wäre es ärgerlich. Wir hatten doch alles geprüft und auch den Maurermeister herangezogen!

Der Stein war sehr locker, rundherum fehlte auch der Zement. Ich zog an ihm, aber die Lücken waren für meine Finger zu schmal. Gut, dann eben anders! Ich rannte hinauf und lieh mir einen Spachtel, dann rannte ich zurück und schob den Spachtel vorsichtig unter den Ziegel. Nun konnte ich ihn tatsächlich herausziehen. Eigenartig, der Ziegel war nur halb so tief wie normal. Und dahinter war eine zweite Wand, anscheinend hatte man die Wände verstärkt, um bei einem Volltreffer besser vor einem Einsturz geschützt zu sein. Die reinste Mausefalle, dieser Keller, es gab ja auch keinen zweiten Ausgang, nur durch das Haus! Das Fenster war für normal dicke Menschen viel zu klein, und außerdem war es vergittert. Nun, damals vielleicht noch nicht, und auf Lebensmittelkarten konnte man sich wohl auch keinen besonderen Ranzen anfressen. Trotzdem – ich hätte hier nicht bei Alarm sitzen mögen. Arme Elise! Hatte sie daher den Schlag, den ihre Neffen ihr unterstellt hatten?

Zurück zum Ziegelstein! Ich wog ihn in der Hand. Warum war er so flach? Vielleicht sollte dahinter ein Hohlraum bleiben – aber dahinter war doch gar nichts? Ich fasste vorsichtig hinein, immer in der Angst, eine Ratte würde mich beißen, und tastete herum. Nichts... nur Staub. Halt, was war das? Ich tastete weiter und erwischte etwas Papierähnliches, dann offenbar einen Nagel. Ruckartig zog ich die Hand heraus: Es blutete. Hatte ich eigentlich eine gültige Tetanusimpfung? Ich konnte mich an das letzte Mal gar nicht mehr erinnern, kein gutes Zeichen.

Auf ein Neues! Dieses Mal erwischte ich das Papier und zog es vorsichtig heraus. Es war ein ganzer Packen, mit einem blassen Stoffbändchen – ehemals rosa? Nicht mehr zu erkennen – verschnürt. Sehr interessant! Aber darunter war noch etwas. Ich tastete behutsam herum, nicht dass ich wieder an den Nagel geriet, und fühlte Pappe, jedenfalls etwas Festeres als Papier. Mühsam praktizierte ich es nach draußen. Eine Art Buch... Ich steckte alles in eine Plastiktüte und dann in meine Tasche und verließ den Keller wieder.

Hambacher und alle anderen versicherten mir, heute müssten sie nicht mehr in den Luftschutzkeller, also konnte ich die Unordnung so liegen lassen und verschwinden. Zwei Ecken weiter hatte ich einen Allgemeinarzt gesehen, der sogar noch Sprechstunde hatte.

Er reinigte die Wunde, die ziemlich lächerlich aussah, pflichtete mir aber bei, dass man mit Tetanus nicht vorsichtig genug sein konnte, und verpasste mir eine Spritze. Ich versprach, bei Gelegenheit meinen Impfpass vorbeizubringen.

„Wo haben Sie sich das denn geholt? Sie sehen aus, als seien Sie durch eine Höhle gekrochen.“

„So ähnlich“, gab ich zu, „wir renovieren gerade ein Haus in der Galileistraße, und der Keller ist dermaßen siffig, na, kein Wunder.“

Der Arzt, ein älterer Herr, setzte sich gemütlich zurecht. Offenbar war ich die letzte Patientin vor der Mittagspause gewesen. „Die Wiedemanns renovieren? Sie meinen doch das Schlösschen?“

„Schlösschen? Sehr passend! Aber die Wiedemanns haben verkauft.“

„Das war zu erwarten. Hartmuts Kinder konnten die alte Elise ja noch nie leiden. Vielleicht war´s das schlechte Gewissen, wer weiß...“ Ich sah ihn freundlich interessiert an, hütete mich aber, seine Erinnerungen zu unterbrechen. Dann fiele ihm ja doch nur seine Schweigepflicht ein!

„Hartmut war ein blöder Hund. Meine Eltern kannten die Familie ein bisschen. Er war wirklich ein Hundertzehnprozentiger, und wie er die Elise gequält hat, wegen ihres Joachim und auch wegen der armen Elsa Wolf...“

Elsa Wolf! Aha, wenigstens ein Name.

„Was aus den Wolfs wohl geworden ist, nach sechsunddreißig? Ich glaube, sie gingen nach Österreich...“

Er tauchte aus seinen Erinnerungen wieder auf. „Aber das kann Sie ja alles gar nicht interessieren. Ich schreibe Ihnen hier ein Flüssigdesinfektionsmittel auf, das kann Ihnen bei solchen Bagatellverletzungen gute Dienste leisten. Lassen Sie sich nächste Woche noch einmal anschauen, ja? In der Rubensstraße ist eine Apotheke.“

Ich bedankte mich, leicht verärgert, dass seine Erinnerungen so früh abgebrochen waren, besorgte mir das Wundspray und fuhr – mit Hamburgern für alle – ins Büro zurück. Frau Knaur freute sich über ihren Hamburger, Simon war gar nicht da. Ich legte ihm das lauwarme Ding auf den Schreibtisch und kehrte ins Sekretariat zurück.

„War was los, Frau Knaur?“

„Ein Bote hat Fotos von der Peutingergasse gebracht. Hier, ich habe auch schon einen Ordner angelegt!“

„Danke. Sie sind wirklich ein Schatz, Frau Knaur. Ach, sagen wir uns doch du, ja? Ich heiße Barbara.“

„Doris. Danke, gern. Brauchst du mich in der nächsten Stunde?“

„Nein, stell mir nur das Telefon durch, ja? Schöne Mittagspause!“

Ich hatte eine reiche Ausbeute – die Fotos des Jugendstileingangs, meine eigenen Fotos und meine Funde aus dem Keller. Ich bezähmte mich mühsam und betrachtete zunächst die Peutingergasse. Ah ja – toll waren sie nicht, aber man konnte erkennen, wie der Hausflur einmal ausgesehen hatte. Ich vergrößerte die Fotos auf DIN A 3, noch grobkörniger wäre kontraproduktiv gewesen, und malte die Ornamente bunt an, um ihre Strukturen zu erkennen.

Es würde schwierig, diese Ornamente wieder anzubringen und sie farblich abzusetzen. Man müsste sozusagen Gipsabdrücke machen und die übermalen, damit sie nicht mehr so neu wirkten. Welche Farben? Und einen passenden Kronleuchter, mit dem aber der Hausmeister zurechtkommen musste. Die Treppe konnte so bleiben, dort hatte man den eleganten Schwung des Geländers glücklicherweise nicht beseitigt. Bodenbelag? Am besten ein Mosaik, wenigstens am Rand, kleine florale Elemente... Ich nahm mir einen Bogen Karopapier und begann zu basteln. Weiß und grün, in der Mitte Marmor. Die Wände ebenfalls weiß, mit verschiedenen Grüntönen und etwas Silber abgesetzt. Die Lampe konnte auch eine Art Laterne sein, weißlackiertes Eisen...

Ich merkte, dass sich meine Gedanken im Kreis zu drehen begannen, und legte dieses Projekt beiseite. Sollte ich weiter tugendhaft sein oder meinen Fund inspizieren? Scheiß auf die Tugend! Ich holte mir die Dose mit den teuren Computerputztüchern - die trockneten ohnehin immer so schnell aus, dass ich sie ruhig verschwenden konnte, fand ich. Zuerst säuberte ich das Buch, das sich als ledergebundenes Tagebuch entpuppte, dann knüpfte ich das Bändchen auf und nahm das Bündel auseinander. Briefe, lauter Briefe – und alle in schönstem Sütterlin!

Ich holte mir einen Ordner und einen Stapel Klarsichthüllen und begann damit, die Briefe vorsichtig zu ordnen und einzeln in die Hüllen zu stecken, auch die Umschläge extra.

Die Briefe waren datiert, vom August 1936 bis zum Oktober 1938, auf den Umschlägen standen aber, obwohl es immer die gleiche Handschrift war, lauter verschiedene Absender, zunächst von hier, dann aus Salzburg, schließlich aus Prag. Danach nichts mehr.

Das Tagebuch wies eine andere Handschrift auf, aber natürlich auch Sütterlin. Es begann 1932 mit den Worten Heute bin ich dreizehn geworden. Den Rest konnte ich schon wieder nicht mehr lesen, Mist! War das Elises Tagebuch? Dann war sie 1919 geboren und immerhin achtzig Jahre alt geworden. Oder stammte das Tagebuch von Elsa? Und warum diese Reisen? Das war doch alles noch vor dem Zweiten Weltkrieg? Ich sollte mir jemanden suchen, der im Gegensatz zu mir nicht in Geschichte Schiffe versenken gespielt hatte, am besten einen Historiker, und ihn um den geschichtlichen Hintergrund bitten. Zwar hatte ich das dumpfe Gefühl, dass ich eine ganz einfache Erklärung für all das kannte, aber ich kam nicht drauf.

Und Mama musste mir Sütterlin beibringen, ich konnte sie ja nicht die ganzen Briefe und das Tagebuch entziffern lassen! Doris war längst wieder zurück, als ich das Material in den abschließbaren Teil meines Schreibtisches sperrte und mich wieder unseren Projekten zuwandte. Außerdem musste ich noch die Fotos sichten, die ich heute abgeholt hatte. Gegen drei tauchte Simon wieder auf, mit einer Digitalkamera, die er schon eifrig benutzt hatte. Wir verbrachten einige hektische Stunden damit, die Fotobearbeitungssoftware zu installieren und seine Fotos auf den Rechner zu überspielen und auszudrucken. Schließlich sahen wir uns stolz an, als die ersten Bilder, im Formal DIN A 4, aus dem Drucker glitten.

„Wir sind ja gar nicht so blöde, oder? Wie haben wir das hingekriegt?“

„Toll“, fand Simon und zog das erste Bild heran. Als wir alles ausgebreitet hatten, verließ uns aber die Lust darauf, heute Abend noch einen ersten Entwurf zu machen. Es war sieben Uhr durch, das reichte ja wohl. Simon wirkte etwas gequält, wahrscheinlich war er müde und vermisste seine Tanja.

„Nur noch einen Tag durchhalten, Simon, morgen ist doch schon Freitag! Übrigens, wenn du freitags früher Schluss machen willst, damit du eine frühere Maschine kriegst, musst du es nur sagen!“

„Was?“ Er sah mich mit einem irritierten Blick an. Dann entspannten sich seine Züge wieder.

„Ja, danke. Vielleicht komme ich darauf zurück. Bis morgen.“

Er war weg, bevor ich ihn fragen konnte, ob wir etwas essen gehen wollten. Denn nicht, liebe Tante! Warum war er zurzeit so stoffelig? Bereute er, dass er Berlin verlassen hatte? Belastete ihn diese Wochenendehe?

Ich fuhr heim, aß eine Handvoll Kartoffelchips, trotz Mamas Protest („Kind, soll ich dir nicht schnell etwas Richtiges machen, du wirst immer dünner“) und zerrte sie dann an den Esstisch.

„Mama, ich brauche schon wieder deine Hilfe. Du musst mir zeigen, wie man Sütterlin liest und schreibt.“

„Ich kann es dir doch auch vorlesen!“

„Dazu ist es zu viel.“

„Ha – du hast noch etwas gefunden! Was ist es?“ Also daher stammte meine Begeisterung für Geheimfächer: einfach genetisch bedingt!

„Kannst du schweigen?“

„Klar!“ Mama sah mich großäugig an, wie ein Kind.

„Wirklich! Ich will nicht, dass das bekannt wird, bevor ich nicht alles weiß.“

„Du klingst wie das letzte Mordopfer in jedem zweiten Krimi, du weißt schon, der, der schlauer ist als die Polizei und sein Wissen zu lange für sich behält, so dass der Mörder ihn mundtot machen muss.“

„Und du liest zu viele Krimis. Es geht doch gar nicht um ein Verbrechen.“

„Wer weiß? Wenn ein Nazi mit drinsteckt?“

„Ach, du weißt schon, was ich meine. Auf jeden Fall hab ich ein Tagebuch und einen Stapel alte Briefe gefunden und die möchte ich jetzt lesen. Und da, wo ich sie gefunden habe, stand auch ein rostiger Nagel heraus.“

Ich zeigte meine Hand vor. Das Ablenkungsmanöver funktionierte, Mama kreischte entsetzt auf. „Babsi, das muss ordentlich gesäubert werden. Und wie lange gilt deine Tetanus-Impfung eigentlich noch? Gleich morgen früh gehst du zum Arzt!“

„Da war ich heute schon, ich bin frisch geimpft und desinfiziert“, beruhigte ich sie. Unangenehmer Nebeneffekt: Der Fund fiel ihr wieder ein. „Lass, Mama, wenn ich etwas Interessantes herausfinde, erzähle ich es dir, ja? Jetzt zeig mir erst einmal, wie die einzelnen Buchstaben aussehen!“

„Wenn du mir die Briefe zeigst?“

„Die hab ich im Büro. Komm, jetzt zier dich nicht so!“

Mama gab sich geschlagen und malte mir alle Buchstaben auf. Dann musste ich lesen, was sie schrieb, und schließlich nach ihrem Diktat einiges selbst schreiben. Es sah etwas krakelig aus, war aber erkennbar.

„Das ist alles? Und dafür habt ihr in der Grundschule ein ganzes Schuljahr gebraucht?“

„Volksschule hieß das damals noch, Volksschule! Und du bist ganz schön frech. So, und jetzt gehst du ins Bad und stellst dich auf die Waage, los!“

Ich zog ein Gesicht, aber Sträuben nützte nichts. Wenigstens ging sie nicht mit, um neben mir auf die Anzeige zu starren. Neunundvierzig Kilo. Huch, das war wirklich nicht viel, immerhin war ich fast einen Meter siebzig groß, genauer gesagt 1.68. Ich zählte im Geist fünf Kilo dazu, ignorierte die Tatsache, dass ich einige Klamotten anhatte und es Abend war, und behauptete frech, vierundfünfzig Kilo zu wiegen. Mama flippte trotzdem aus.

„Kind, du wirst bald magersüchtig! Das ist doch viel zu wenig! Ab jetzt wird morgens ordentlich gefrühstückt!“

„Gut, ich kaufe mir auf dem Weg ins Büro statt einem zwei Plunderteilchen, ja?“

„Wie kann man so dünn sein, wenn man sich nur von solchem Mist ernährt? Du solltest mehr Obst und Gemüse - “

„Mama, willst du mir eine Diät empfehlen? Von Obst und Gemüse lege ich bestimmt nicht zu.“ Ich grinste vergnügt vor mich hin, mich störte mein geringes Gewicht bestimmt nicht.

„Aber woher kann das nur kommen?“

„Vielleicht habe ich einen Bandwurm“, schlug ich vor, aber das hätte ich besser gelassen, denn Mama war drauf und dran, mich gleich morgen früh zum Arzt zu jagen, um diesen Bandwurm entfernen zu lassen.

„Ach, Mama, das war ein Witz! Vielen Dank für den Unterricht, und jetzt gehe ich unter die Dusche und dann ins Bett, noch ein bisschen in der Abizeitung lesen.“

„Na gut, Babsi – aber du musst wirklich mehr essen!“

Ich winkte ihr zu, ohne das noch einer Antwort zu würdigen, und verschwand im Keller. Herrlich, so eine ausgiebige heiße Dusche! Leider gab es in diesem popligen Gästebad keinen anständigen Spiegel, so dass ich meine Figur nur portionsweise begutachten konnte. Ging doch, fand ich. Viel Busen hatte ich noch nie gehabt, und was nicht da war, konnte auch nicht hängen – alte Binsenweisheit, die Schwerkraft hing schließlich von der angezogenen Masse ab. Gut, wenn ich den Bauch auch nur ein bisschen einzog, konnte ich meine Rippen zählen, und auf dem Rücken (ich nahm einen Handspiegel zu Hilfe) sah man jeden Wirbel und die hervorstehenden Schulterblätter. Hervorstehende Hüftknochen waren etwas Gutes, hervorstehende Rückenwirbel nicht. Ich ballte die Faust und winkelte den Arm an. Muskeln hatte ich, kein Wunder, wenn man dauernd etwas herumschleppen musste! Insgesamt stellte ich fest, ich musste wirklich ein paar Kilo zunehmen, auch damit meine frisch gewaschenen Jeans wieder passten – es hatte nicht nur an ihrem ausgeleierten Zustand gelegen. Ich nahm mir vor, morgen früh ganz leise noch mal auf die Waage zu schleichen.

Jetzt cremte ich mich erst einmal sorgfältig ein, zog ein Sleepshirt über und verzog mich ins Bett. An wen konnte ich mich überhaupt noch erinnern von unserem Jahrgang?

Anette – die wollte doch Gynäkologin werden? Sie war immer furchtbar ernsthaft und streberhaft gewesen; sie spielte nicht Schiffe versenken in den Geschichtsstunden. Dieser öde Grundkurs! Da kam mir eine gute Idee – ich kreuzte alle an, die Geschichte Leistungskurs genommen hatten. Mit Mathe und Wirtschaft war ich damals ziemlich aus dem Rahmen gefallen, dazu noch Französisch und Kunst.

An Nora konnte ich mich noch vage erinnern. Die hatte ziemlich gesponnen. Hatte sie nicht irgendwo auf dem platten Land gewohnt, mit haufenweise Pferden und damit immer angegeben? Und wenn ich mich recht erinnerte, war sie in Geschichte die totale Null gewesen, sie hatte das doch nur wegen des feschen Mathias gewählt.

Mathias – in den waren fast alle Mädchen verschossen gewesen. Ich schlug seine Charakteristik auf und betrachtete das Foto. Naja, der Traum einer Achtzehnjährigen! Heute würde er mich kalt lassen, wenn er immer noch so aussah. Vielleicht war er natürlich auch stilvoll gereift?

Ich stieg wieder aus dem Bett und warf meinen Rechner an. Gut, dass ich mir gleich die neue Telefonbuch-CD geholt hatte; installieren musste ich sie freilich noch.

Also: Gabi Zünth wohnte immer noch unter der gleichen Adresse. Eigentlich bedauernswert. Dabei fiel mir ein, dass ich auch genau da wohnte, wo ich zur Zeit des Abiturs gewohnt hatte. Peinlich?

Nora wohnte in der Altstadt, offensichtlich alleine, kein Mitbewohner, keine Namensänderung. Der schöne Mathias hatte damals wohl nicht angebissen?

Der wiederum wohnte in der Nähe des Autobahnkreuzes West. Recht miese Gegend - war das ein ideologisches Statement oder hatte er es zu nichts gebracht?

Alexander war auch im Geschichts-LK gewesen, der Trauerkloß. Der hatte sich offensichtlich für eine Wiedergeburt von Lord Byron gehalten – schön und melancholisch. Uninteressant. So, wie er aussah, war er heute Schauspieler in einer Seifenoper und wusste keine einzige Jahreszahl mehr. Besser war ich ja eigentlich auch nicht, musste ich zugeben. Allerdings wohnte er nicht weit von meiner Villa entfernt.

Sabine fand ich nicht im Telefonbuch. Aber sie hatte doch Rüschenberger geheißen? Die Eltern waren hier auch nicht mehr gemeldet. Sie war doch immer mit Peter Hofmann zusammen gewesen… Ich probierte es mit Hofmann-Rüschenberger: tatsächlich! Wie konnte man sich nur einen derartigen Doppelnamen zulegen? Der passte doch in kein Formular, und wenn man an der Kasse eine ec-Quittung unterschrieb, hielt man den ganzen Betrieb auf.

Karen, das Kleinkind. Stimmte ja, die hatten wir immer verarscht, weil sie nie schwänzen konnte. Sie war die ganze Kollegstufe hindurch noch nicht volljährig gewesen. Eigentlich arm dran, wenn man es so recht überlegte. Ich klickte in die CD. Tizianstraße, auch nicht weit weg, und offenbar auch noch solo. Hatte sie nicht immer einen braven Zopf getragen, oder einen Knoten? Na, dann war es ja kein Wunder!

Was machte ich hier eigentlich? Ich verachtete meine KlassenkameradInnen, weil sie nicht verheiratet waren? Als ob ich einen Kerl vorzuweisen hätte! Und überhaupt – wer sagte schließlich, dass Verheiratetsein etwas Gutes war? Ich musste offenbar dringend ins Bett.

Den Freitag handelten wir etwas kürzer ab. Ich nervte im Vorübergehen die Arbeiter am Pavillon, die noch mit dem Gießen der Kellerdecke beschäftigt waren, und holte den nächsten Schwung Fotos ab, Simon besorgte uns die Unterlagen für den Wettbewerb, was die Book-Box-Baulücke betraf, wir bastelten ein bisschen an den Treppenhausentwürfen herum, wobei Simon ein viel schönerer Entwurf für das Fußbodenmosaik gelang, und ich erzählte von meinen Funden.

„Ist ganz interessant. Aber denk dran, wir haben noch mehr Projekte, verzettele nicht zuviel Zeit damit, die Vergangenheit des Hauses zu erforschen. Ja, wenn du etwas über die Originaleinrichtung herausfinden könntest, das wäre nützlich!“

„Hab ich bis jetzt meine Arbeit vernachlässigt?“, giftete ich quer über den Flur. „Ich mache das auf jeden Fall in meiner Freizeit, und da kann ich ja wohl machen, was ich will, oder?“

Er zuckte die Schultern. „Wenn´s dir Spaß macht. Hast du am Wochenende nichts Besseres vor?“

„Doch, klar, ich treffe mich mit jeder Menge alter Freunde!“

„Schön für dich. Viel Spaß dabei.“

Verstand er keine Ironie? Ich schnaubte. „Sag mal, macht es dir nichts, wenn ich jetzt schon gehe? Ich hab für die Zweiuhrmaschine gebucht.“

„Nein, hau schon ab. Grüß Berlin von mir! Und amüsier dich gut!“

Er warf mir einen misstrauischen Blick zu und griff nach seiner Reisetasche. „Hoffentlich bist du am Montag wieder besser drauf!“

„Was soll das heißen?“ Er stand schon in der Tür. „Na, zwei Tage Familie helfen dir vielleicht, deine Batterien aufzuladen. Gute Erholung!“ Seine Finger schlossen sich so fest um den Griff seiner Tasche, dass die Knöchel weiß hervortraten. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

„Danke. Bis Montag.“

Nein, offenbar doch nicht. Ach, warum sollte ich mir über Simon den Kopf zerbrechen! Der lag in einigen Stunden schon mit seiner Tanja im Bett. Was hatte ich eigentlich in den letzten Tagen? Hohn und Spott für die Singles aus meinem Abiturjahrgang, Neid auf Simon, der wenigstens am Wochenende verheiratet war – hatten Mamas Tiraden mich vergiftet? Ich wollte doch gar keinen Mann. Höchstens mal was Nettes fürs Bett, ein Pausenhäppchen. Für mehr blieb doch gar keine Zeit! Vielleicht waren das verspätete Frühlingsgefühle – aber jetzt? In zwei Wochen war Pfingsten!

Auf jeden Fall sollte ich morgen mal Gabi Zünth anrufen.

Ich schickte Doris nach Hause – Am Freitagnachmittag passierte ja doch nicht mehr viel, und zur Not wurde ich mit irgendwelchen Problemen auch alleine fertig.

Dann schloss ich meine Schublade auf und legte die Dokumente vor mich hin. Ich beschloss, solange sonst nichts los war, das Tagebuch und die Briefe zu transkribieren, sofern es mir gelang.

Tagebuch 21.7.1932

Heute bin ich dreizehn geworden, aber ich fühle mich gar nicht so. Der Tag war aber sehr schön. In der Schule durfte ich mir ein Lied wünschen, aber Fräulein Schmetterer zog ein Gesicht, als ich „Ausgerechnet Bananen“ bestellte. Das ist vielleicht schon etwas zu alt?

Mittags bekam ich meine Geschenke, von Papa ein goldenes Kettchen mit einem Glücksklee daran, von Mama ein Paar sehr schicke Schuhe, von Hartmut ein ziemlich blödes Buch über die ollen Germanen. Wen interessiert das, die sind doch schon lange ausgestorben!

Zum Kaffee kamen meine besten Freundinnen und wir waren sehr vergnügt. Elsa schenkte mir heimlich einen Roman von Vicky Baum (Mama darf das auf keinen Fall entdecken, bevor ich es ausgelesen habe!), Susanna ein kleines Fläschchen Parfüm und Lenore ein Armband, das sie selbst gebastelt hatte. Ich freute mich sehr. Dreizehn... Jetzt bin ich die Älteste, als nächste hat Lenore Geburtstag, dann Elsa, und erst nach den Sommerferien ist Susanna dran. Wie wir uns wohl in einem Jahr fühlen werden? Oder in zehn Jahren? Ich werde auf jeden Fall jung heiraten und viele Kinder kriegen. Elsa will ja lieber Mathematik studieren. Wie kann man nur! Und dabei ist sie viel hübscher als ich! Ich fände es toll, wenn sie Hartmut heiraten könnte, aber er mag sie nicht und ist immer ziemlich unhöflich zu ihr. Er will mir aber nicht sagen, warum. Vielleicht zieht er Blondinen vor? Aber er selbst hat doch auch dunkle Haare? Ach, Hartmut ist einfach ein Blödmann!

Ich grinste, als ich den letzten Satz tippte und alles speicherte. Geschwister waren also auch anno 1932 schon eine rechte Plage gewesen. Hartmut schien mir aber abgesehen von seinem offenkundigen Gehabe als großer Bruder auch sonst ein unangenehmer Typ gewesen zu sein. Germanen! Das passte ja zu seiner späteren Entwicklung zum SS-Offizier. Traurig, dass sich Elises Pläne nicht erfüllt hatten, aber vielleicht hatte sie es sich ja später anders überlegt.

Was hatte ich mir mit dreizehn vom Leben erwartet? Wollte ich damals immer noch einen Ponyhof gründen? Wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich diese Phase – hervorgerufen durch intensive Lektüre von Lise-Gast-Romanen – gerade überwunden. Mir schwebte so etwa der Beruf des Camel-Manns vor, wie er zu dieser Zeit in der Kino-Werbung auftrat. Ich hatte mich nur hinter meinem Popcorn gefragt, warum er nach so anstrengendem Weg nicht gleich eine Stange holte statt immer nur ein einzelnes Päckchen. Genau, Abenteuerreisen standen damals ganz oben auf meinem Lebensplan. Und was war daraus geworden? Ab und zu eine Woche Adria und eine Studienfahrt nach London. Vielleicht war es Elise ähnlich ergangen, aber irgendwie glaubte ich das nicht. Vielleicht erhellten spätere Einträge das Rätsel? Ich schlug das Buch hinten auf. Toll, sie hatte das Tagebuch – in zunehmend winzigerer Schrift – bis 1948 geführt.

Tagebuch 5.8.1932

„Menschen im Hotel“ ist ein faszinierendes Buch, und ich habe es geschafft, es auszulesen, ohne dass Mama es gemerkt hat. Ich bin Elsa wirklich sehr dankbar dafür. Manches habe ich nicht ganz verstanden, aber von der Liebe verstehen wir ja noch nichts. Auch wie das mit dem Kinderkriegen so läuft, weiß ich nicht. Elsa hat es auch nicht verstanden, als ihre Mutter ihr ein bisschen was erklärt hat. Lenore behauptet, sie wüsste alles, aber sie will es uns nicht erzählen. Wahrscheinlich gibt sie nur an. Na, wenn wir alt genug sind, kriegen wir das schon raus.

Gut, dass gerade Ferien sind! Nächste Woche fahren wir nach Bad Reichenhall, zur Sommerfrische. Elsa und ich haben uns versprochen, uns täglich eine Karte zu schicken. Sie ist seit einer Woche an der Riviera und ich habe schon vier Karten bekommen, vor allem mit Palmen drauf. Vielleicht trifft sie dort einen russischen Großfürsten? Die soll es dort stapelweise geben, aber ich weiß nicht, warum. Sollten die nicht in Russland sein?

Ach, ich glaube manchmal, ich bin dumm. Dann nehme ich mir vor, die Zeitung zu lesen, aber ich muss immer so viel fragen, dass Papa sagt, ich bin noch zu jung dafür, und Hartmut meint, Frauen sollten sich mit so etwas gar nicht befassen, zum Kinderkriegen bräuchten wir das nicht. „Das Weltgeschehen“ (so hochgestochen quatscht er daher!) machten ja ohnehin die Männer. Blöder Heini!

Ja, wirklich! Hartmut war mir von Herzen unsympathisch. Ich freute mich mit Elise, dass sie das verbotene Buch hatte lesen können, und überlegte, dass die Wolfs wohl erheblich wohlhabender waren als die Wiedemanns, wenn die Wahl des Urlaubsziels dafür ein Indiz war. Hatte der Arzt nicht gesagt, dass die Wolfs 1936 nach Österreich gezogen waren? Hatten sie damals das Haus an die Wiedemanns verkauft? Warum?

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Angenommen, Wolfs waren Juden – dann wäre alles erklärt. Warum sie das Haus verkaufen müssten, warum sie das Land später verlassen mussten, warum die Briefe dann aus Österreich und der Tschechoslowakei kamen und auch warum Hartmut Elsa Wolf nicht leiden konnte.

Was war aus der Familie Wolf später wohl geworden? Hatten sie es geschafft, in ein sicheres Land zu fliehen? Ich glaubte es eher nicht, Elsa war wahrscheinlich in einem Lager gelandet – sonst wäre sie doch zurückgekommen und hätte vielleicht auch ihr Elternhaus zurückgefordert.

Plötzlich war das Ganze nicht mehr spannend, sondern tragisch. So viel wusste sogar ich noch von der Geschichte, um mir ein grässliches, aber leider ziemlich wahrscheinliches Ende für sie und ihre Familie vorstellen zu können – eine Gaskammer in Auschwitz, Majdanek oder wie die Vernichtungslager alle hießen. Eigentlich konnte ich nur noch hoffen, dass als Hauch einer ausgleichenden Gerechtigkeit Hartmut wenigstens im Krieg auf eine scharfe Mine getreten war oder einen ordentlich schmerzhaften Bauchschuss erhalten hatte. Ich hasste ihn, obwohl ich ihn nur aus diesen Dokumenten kannte. Waren die Verkäufer des Hauses wohl alle vor Kriegsende geboren? Der Jüngste auf jeden Fall nicht, der war noch keine Fünfzig. Dann hatte Hartmut den Krieg also überlebt...

Für heute reichte es mir, das war wirklich zu deprimierend. Ich kopierte meine Texte auf eine Diskette und nahm alles mit nach Hause. Mama trieb sich betont zufällig im Flur herum, als ich nach Hause kam.

„Du siehst so betrübt aus? Ist irgendetwas schief gegangen?“

„Nein, unsere Baustellen laufen prima. Aber diese Dokumente machen mich trübsinnig. Ich glaube, die Wolfs sind im KZ geendet.“

„Oh! Holocaust?“

Ich nickte. „Ich habe erst zwei Tagebucheinträge durch, aber es scheint darauf hinauszulaufen. Ich mache nachher vielleicht noch ein bisschen weiter.“

„Iss erstmal was!“

Ach ja, bevor diese Debatte wieder von vorne anfing. Außerdem hatte ich mich heute Morgen ganz leise noch einmal richtig gewogen und kaum noch 48 Kilo gehabt. Das ging wirklich nicht! Ich verputzte also zwei dicke Käsebrote und trank ein Glas Wein dazu, danach verzog ich mich in den Keller und arbeitete noch ein bisschen weiter.

Vier weitere Tagebucheinträge schaffte ich noch, aber sie boten mir wenig neue Informationen. Sie lagen alle noch vor der Machtergreifung und erzählten von der Schule, von Freundinnen, vom doofen Bruder. Ich übertrug sie brav und tippte sie ab, dann nahm ich mir einen Zettel und notierte mir, was ich über die Familien schon wusste.

Wiedemann: Vater und Mutter blieben noch im Dunkel, aber es gab zwei Kinder, Elise (1919 geboren) und Hartmut, die braune Sau, offenbar etwas älter. Hartmut hatte wiederum – nach dem Krieg - drei Kinder, Horst, mit dem ich verhandelt hatte, und noch eine Tochter und einen Sohn. Wo könnte man mehr Details erfahren? Zunächst blieb mir wohl nur mein eigenes Material.

Wolf: Vater und Mutter, Namen und Daten unbekannt, drei Kinder, nämlich zwei Söhne und Elsa, die ebenfalls 1919 geboren war und höchstwahrscheinlich vor 1945 starb. Den Fotos aus dem ältesten Album zufolge waren die Brüder jünger als Elsa... Für heute reichte es, das ganze Wochenende lag ja noch vor mir!

Am Samstag kaufte ich zuerst einmal ein, ich konnte ja schließlich nicht immer auf Mamas Kosten essen. Ich gönnte mir sogar einige Tafeln Schokolade und zeigte sie Mama stolz vor, die zwischen Freude (endlich nahm das dünne Kind zu) und Ärger (Schokolade war ja so ungesund) schwankte. Kichernd verschwand ich mit der Schokolade in meinem Keller und arbeitete weiter. Dort verging mir die gute Laune aber bald wieder.

Tagebuch 1.4.1933

Vor zwei Monaten ist Hitler Reichskanzler geworden, was immer das auch heißen soll. Sogar ich, dumm wie ich bin, habe das mitgekriegt. Bei Wolfs ist die Stimmung nur noch schlecht, Hartmut und Papa strahlen aber den ganzen Tag. Mama sagt nur „Politik ist ein schmutziges Geschäft“. Warum Herr Wolf so betrübt dreinsah, verstand ich nicht, Elsa wollte es mir auch nicht erklären. Vielleicht hatte sie das auch nicht kapiert? Das Haus, in dem Wolfs wohnen, ist wunderschön, wie ein kleines Schloss. Elsas Großeltern haben es gebaut, hat sie mir erzählt, und mir Fotos von ihren Großeltern gezeigt, in einem schönen Album aus echtem Leder. Viel schöner als unsere Pappdinger!

Hartmut grinst wie ein Honigkuchenpferd und sagt dauernd: „Jetzt hörst du hoffentlich endlich auf, dich mit dieser grässlichen Elsa zu treffen. Freunde dich doch mit Margit aus deiner Klasse an, die hat die Zeichen der Zeit verstanden.“

„Margit ist eine blöde Pute“, antwortete ich, „eine Streberin und Langweilerin. Wenn eine schon freiwillig Blockflöte spielt! Und nachmittags hängt sie immer mit diesen Gänsen herum.“

„Mit diesen Gänsen wirst du in Zukunft auch herumhängen, ab jetzt gehst du regelmäßig zu den Jungmädeln, ist das klar?“

„Nie! Wer sagt das überhaupt?“

„Ich sage das!“

„Du, und wer noch?“, fragte ich, denn Hartmut hat mir schließlich gar nichts zu sagen!

Daraufhin hat er mir doch glatt eine geknallt, und als ich heulend zu Mama lief und mich beschwerte, seufzte sie nur und sagte, Hartmut hätte mich nicht schlagen sollen, aber ich muss wirklich zu den Jungmädeln, das ist jetzt irgendwie Vorschrift. Ich sagte, ich gehe dort nur hin, wenn Elsa mitgeht, aber Mama guckte traurig und meinte, Elsa würden sie dort nicht aufnehmen. So ein Mist! Und ich hasse Hartmut mehr als je zuvor.

Ja, genau das war zu erwarten gewesen. Allmählich musste Elise doch auffallen, dass Elsa Jüdin war? Zumindest erhärteten alle meine Informationen diese Hypothese. Ich speicherte diesen Eintrag ab und wählte erst einmal die Nummer von Gabi Zünth. Sie war sogar zu Hause und freute sich, von mir zu hören, sobald ihr wieder einfiel, wer ich war. „Wie wär´s, wenn wir uns mal treffen, zum Ratschen?“, schlug ich vor.

„Ja, gerne! Heute gleich?“

Warum nicht? Ich konnte schließlich nicht das ganze Wochenende an den Dokumenten sitzen, da wurde ich ja trübsinnig! Und so viel konnte ich zu Hause an den anderen Projekten auch nicht arbeiten.

„Gut, sagen wir um halb sieben – und wo? Ich bin noch nicht so lange wieder hier, ich kenne nicht viele Kneipen.“

Am anderen Ende wurde offenbar heftig nachgedacht. „Wie wär´s mit dem Florian? Oder ist dir das zu teuer?“

„Nein, das ist okay, das kenne ich. Da ist das Essen ziemlich gut, finde ich. Gut, um halb sieben – ich freu mich!“

Sehr gut, dann hatte ich wenigstens heute Abend doch mal etwas vor! Mit frischen Kräften bastelte ich weitere Entwürfe für den Mosaikboden in der Peutingergasse, plante, wie weit wir in der nächsten Woche – Mist, Donnerstag war Feiertag, und Freitag waren dann sicher alle krank, Vatertag oder verlängertes Wochenende – kommen sollten, zeichnete einiges für die Book-Box-Entwürfe und dachte über ein Modell nach. Sollten wir das selbst basteln oder einem Modellservice übergeben? Die schossen jetzt ja wie die Pilze aus dem Boden und würden uns viel Zeit sparen. Ich notierte mir, dass ich Simon danach fragen musste.

Mittags kochte ich heute, damit Mama auch mal frei hatte. Das Fischgratin schmeckte ihr offenbar, jedenfalls nahm sie sich zweimal.

„Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst“, frotzelte sie, als sie die Form auskratzte.

„Ich kann schon, aber ich tu´s selten. Auch in Berlin war ich meist erst gegen sieben daheim, da hatte ich für große Aktionen keine Energie mehr. Aber es wird dich freuen, dass ich heute Abend mit einer ehemaligen Mitschülerin verabredet bin, zum Tratschen.“

„Sehr nett. Wer ist es denn?“

„Gabi Zünth. Kennst du, glaube ich, nicht. Ich hab sie zuerst angerufen, weil sie die Adressen des ganzen Jahrgangs verwaltet, also denke ich, sie weiß am meisten über die anderen. Kann aber auch sein, dass sie alle Kontakte verloren hat. Das sehe ich ja dann. Aber früher hatte ich mit ihr wenig zu tun.“

„Nein, nur mit Saskia und Fritzi, nicht?“

„Ja, aber Saskia lebt in Hamburg und von Fritzi habe ich zum letzten Mal kurz vor dem Diplom gehört. Vielleicht weiß Gabi, wo sie hingeraten ist. Ich hab noch Lust auf eine Mousse au Chocolat, du auch?“

„Danke, mein Rock kneift schon. Ist das ein Fressanfall?“

„Vielleicht. Hör mal, das wolltest du doch? Schwierigste Aufgabe der Welt – es der eigenen Mutter Recht zu machen...“

„Tu dir nur Leid, du Arme. Ich besuche nachher Conny, kommst du mit?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich möchte noch weiter übertragen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich diese Materialien bald brauchen werde.“

Den ganzen Nachmittag über las und tippte ich und kam bis zum Frühjahr 1936. Deprimierend! Vater Wolf war offenbar Anwalt und musste seine Kanzlei aufgeben, Elsa wurde von der Schule verwiesen, Elise, die dagegen protestierte, bekam richtigen Ärger – vor allem zu Hause - , die Wolfs mussten ihr Personal entlassen (im Zuge der Nürnberger Gesetze) und unterlagen allen Schikanen, an die ich mich noch aus dem Geschichtsunterricht erinnerte. Die beiden Söhne gingen auf eine völlig überfüllte jüdische Schule, Elsa blieb zu Hause. Zunehmend kam es zu Debatten, ob man das Land verlassen sollte oder ob es so schließlich nicht weitergehen konnte. Elise besuchte die Wolfs immer noch fast täglich, erzählte zu Hause aber einen Haufen Lügen, wo sie angeblich gewesen sei.

Man merkte an der Sprache und an dem zunehmend informierteren und bissigeren Unterton, dass Elise langsam erwachsen wurde. Als ich meine Unterlagen zuklappte, war sie immerhin fast siebzehn.

Ich wusste jetzt, dass die Wiedemanns in der Bonifatiusstraße wohnten – ein ganz hübscher Weg jeden Tag zu Elsa. Wenn ich mich recht erinnerte, verlief sie vom Univiertel nach Osten bis auf die Kirchfeldener Landstraße und war größtenteils mit lockeren Wohnblöcken aus den fünfziger Jahren bebaut. Hieß das, dass ihr Wohnhaus einen Volltreffer abbekommen hatte? Die Hausnummer stand nicht im Tagebuch – warum auch, wer notierte denn so etwas?

Ich packte alles weg und zog mich um. Gabi wollte ich nicht in Baustellen- oder Wochenendkluft entgegentreten, also entschied ich mich für saubere sandfarbene Jeans, ein passendes T-Shirt und einen schwarzen Blazer. Ich bürstete mir sogar gründlich die Haare und arrangierte sie mit einem schwarzen Samtband zu einem lockeren Knoten, der sich im Lauf des Abends wahrscheinlich ohnehin auflösen wurde. Make up? Ein bisschen vielleicht, Puder und dunkelgrauer Kajal. Damit sahen meine Augen noch babyblauer aus als ohnehin. Lippenstift lieber nicht, ich hatte eh schon einen riesigen Mund, fand ich. Nur Gloss drauf, das reichte. Ganz ordentlich, fand ich, als ich mich im Spiegel betrachtete, etwas mickrig vielleicht. Mit höheren Absätzen sähe ich sicher eindrucksvoller aus, aber nicht, wenn ich damit stolperte und auf die Schnauze fiel. Also schwarze Ballerinas, die einzigen Schuhe, an denen absolut kein Zement klebte.

Vor dem Florian gab es natürlich keinen Parkplatz, also kam ich fünf Minuten zu spät. Um diese Zeit war das Lokal aber noch ziemlich leer, dann konnte es ja nicht allzu schwierig sein, Gabi zu finden. Ich erinnerte mich an ein rundes Gesicht und braune Locken. Ich sah mich ratlos um – niemand sah so aus, wie ich Gabi in Erinnerung hatte.

„Huhu! Hier!“

Erleichtert wandte ich mich um und eilte zu dem Tisch in der Ecke. Das war Gabi? Die hatte sich vielleicht verändert! Ich rutschte auf die Bank ihr gegenüber. „Grüß dich, Gabi.“

„Du hast dich überhaupt nicht verändert, Babsi. Das kann man von mir nicht sagen, was?“

„Naja... wenn ich ehrlich bin, nicht ganz.“

Gabi war ziemlich dick geworden und sah nicht so aus, als trüge sie die Fülle mit Stolz. Sie hatte tiefe Schatten um die Augen, glanzloses Haar, eine stumpfe Haut – da half auch das Make-up nichts – und als sie nach ihrer Zigarettenschachtel griff, sah ich, dass ihre Fingernägel total abgekaut waren. Lauter Stresszeichen.

„Dir geht es nicht gut, oder?“

Sie verzog das Gesicht. „Kann man so sagen. Aber erzähl erst mal von dir. Wo wohnst du denn jetzt?“

„Bei Mama im Keller.“

„Ernsthaft? Was ist schief gelaufen?“

Ich lachte. „Nichts. Aber ich bin gerade erst aus Berlin zurückgekommen und unsere Firma läuft auch erst an, also taugt mir das als Übergangslösung. Und solange es Mama nicht stört...“

„Kommst du gut mit deiner Mutter aus?“

„Geht schon. Sie hat jetzt einen Freund, und seitdem ist sie viel vernünftiger geworden, richtig wie eine Art Freundin. Manchmal stresst sie rum, ich sollte mehr essen -“

Verlegen brach ich ab, aber Gabi lachte nur. „Ja, das sagt niemand zu mir! Ich wohne ja auch bei meinen Eltern, aber ich finde es unerträglich. Nur habe ich keine große Wahl.“

„Warum? Was ist denn passiert?“

„Falsche Heirat, Kinder, Schulden, Pleite.“

„Sehr knapp. Gib mal Fleisch an die Knochen!“ Ich zündete mir eine Zigarette an und bestellte mir ein Bier und die Karte. „Naja, ich war eigentlich ganz erfolgreich, Assistentin der Geschäftsleitung bei Commers&Co -“

„Das große Maklerbüro? Du warst mit Immobilien zugange?“

„Ja. Dann kam der Märchenprinz.“

„Und der war ein Flop?“

„Zunächst nicht. Wir haben ziemlich schnell geheiratet, ich war gerade in der Phase, wo man sich Kinder zu wünschen beginnt, du weißt ja, man hört die berühmte biologische Uhr ticken.“

„Auf dem Ohr bin ich völlig taub“, bekannte ich. „Erzähl weiter.“

„Gut, wir heirateten also, Gütergemeinschaft – mach das ja nie! – ich wurde praktisch sofort schwanger und hörte mit dem Job auf. Ich konnte auch nicht mehr zurück, weil ich sofort nach der Entbindung wieder schwanger wurde. Binnen zweieinhalb Jahren hatte ich drei Kinder. Eigentlich war alles ganz perfekt, Eigentumswohnung, drei süße Fratzen, ein lieber Mann, der etwas vom Geld verstand und -“, sie senkte die Stimme, „ – toll im Bett war. Was wollte ich mehr?“

„Klingt wirklich toll. Aber was ging dann schief?“

Gabi machte eine hilflose Geste. „Das weiß ich eigentlich auch nicht genau. Plötzlich hatte Jan kein Interesse mehr an mir oder an den Kindern. Gut, sie waren anstrengend, das Baby schrie Tag und Nacht, ich sah fürchterlich aus und fühlte mich auch so. Eines Tages kam ich heim und fand nur noch einen Zettel und leere Schränke vor. Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen.“

„Keine Scheidung?“

„Wie denn? Er ist ja nicht greifbar!“

„Und wovon lebst du jetzt?“

„Von meinen Eltern. Das Wohnung wurde von der Bank zwangsversteigert, ich konnte ja Zinsen und Tilgung nicht bezahlen. Jetzt habe ich immer noch fast fünfzigtausend Mark Schulden. Und alles Bargeld und was auf den Konten war, hat Jan natürlich mitgenommen. Ich kann nicht arbeiten, weil ich den ganzen Tag die Kinder ruhig halten muss, damit sie meine Eltern nicht nerven, außerdem würde mir ein Gehalt ohnehin sofort gepfändet. Stell dir das nur vor, ich wohne mit drei Kleinkindern in meinem alten Kinderzimmer und höre täglich, wie dankbar ich dafür sein muss. Ich bin bloß froh, dass mein Vater heute Abend nicht da ist und meine Mutter sich gnädig bereit gefunden hat, auf die drei Teufelchen aufzupassen.“

„Wie alt sind die Kinder jetzt?“

„Charlotte ist vier, Anna ist drei, Paul zwei. Bis ich die mal alleine lassen kann, dauert es noch Jahre!“

„Hast du keinen Anwalt - noch besser, eine Anwältin?“

„Wovon denn? Und wozu?“

„Um herauszufinden, ob nicht doch eine Scheidung möglich wäre. Oder willst du Jan zurück?“

„Natürlich! Um ihm etwas Schweres überzubraten! Nein, ich wäre froh über eine Scheidung, dann könnte das Jugendamt die Zahlungen eintreiben und vielleicht könnte ich dann sogar wieder eine eigene Wohnung haben...“

„Warst du eigentlich schon bei einer Schuldnerberatung?“

„Wozu soll das gut sein? Die fünfzigtausend kann man doch nicht wegdiskutieren, und wer weiß, was Jan noch an Schulden anhäuft – dafür muss ich doch auch geradestehen!“

„Das möchte ich bezweifeln. Die Schuldnerberatungen handeln oft mit den Gläubigern einen vernünftigen Modus aus, etwa langsamere Abzahlung oder so. Dann würde sich vielleicht auch eine Arbeit wieder lohnen. Und als Alleinerziehende müsstest du für die Kleineren doch einen Hortplatz kriegen können. Würden Commers&Co dich wieder nehmen?“

„Ich weiß es nicht. Als Sachbearbeiterin vielleicht, den Superjob kriege ich so schnell nicht wieder. Aber du hast Recht, wenn ich nicht bald etwas ändere, verkomme ich noch völlig. Ich bin schon süchtig nach Zigaretten und billiger Schokolade.“

„Ich fürchte, das sieht man“, sagte ich ehrlich, aber taktlos.

„Ja, ich weiß. Du dagegen siehst toll aus.“

„Danke. Mir geht´s auch gut. Und dich kriegen wir auch wieder hin, wetten? Sag mal, du hattest doch früher so viele Freundinnen – hat dir keine mal einen Tipp gegeben oder Hilfe angeboten?“

„Ach, das sagst du so leicht. Jan mochte sie alle nicht, und so schliefen die Kontakte langsam ein. Gerade, dass ich noch die Adressänderungen bekomme, um die Datei auf dem Laufenden zu halten – handschriftlich, ich kann mir nicht einmal einen Computer leisten!“

Bevor Gabi wieder in Jammern verfallen konnte, kam das Essen. Ich aß einen Riesenteller Geschnetzeltes in Currysauce und Reis, Gabi nur ein Spiegelei. Ich hätte ihr gerne gesagt, sie sollte sich auf meine Einladung hin etwas Anständiges bestellen, aber kalorienmäßig wäre das wohl gar nicht so sinnvoll gewesen.

„Also, deine Situation ist beschissen, kann man sagen“, stellte ich fest und kaute genussvoll. Gabi stocherte in ihrem Spiegelei herum und veranstaltete eine ziemliche Ferkelei auf ihrem Teller. War das ein Zeichen verdrängter Aggressionen? „Du bist sehr deutlich, Babsi. Warst du eigentlich immer schon so?“

„Ich glaube schon. Ich suhle mich auch gerne in Fettnäpfen. Vor ein paar Tagen habe ich binnen einer Stunde meinen Partner, unsere Sekretärin und alle Handwerker vergrämt. Aber wir sollten überlegen, wo du hinwillst und wie du da hinkommst. Ich mag es nicht, wenn Leute nicht so leben, wie sie möchten.“

„Wer mag das schon?“

„Die Frage ist nur, ob man etwas unternimmt. Vom Jammern und Schokoladeessen wird die Sache doch nicht besser. Und deine Eltern beeindruckst du damit auch nicht.“ Gabi sah drein, als bereue sie dieses ungemütliche Treffen. Na, ich hatte mir Gekicher und Klatsch und Tratsch über die anderen aus der Schule vorgestellt, das war ja wohl auch nichts geworden.

„Wie möchte ich leben?“ Mein Aktionismus schien Gabi nun doch anzustecken.

„Mit den Kindern in einer vernünftigen Wohnung, ein Job, zuerst halbtags, später mehr. Meinen Eltern nicht mehr dankbar sein zu müssen. Die Schulden loswerden. Das genügt schon mal.“

„Dann gehst du nächste Woche gleich mal zu einer Schuldnerberatung. Die stehen doch im Telefonbuch. Und ich schreib dir hier mal die Adresse unserer Anwältin auf. Sie hat zwar bis jetzt nur Handels- und Immobilienrechtliches für uns erledigt, aber sie weiß bestimmt jemanden für dich.“

Sie sah mich unglücklich an. „Das kann ich mir doch gar nicht leisten!“

„Sei nicht albern. Ich leihe dir das Geld. Du kannst es mir wiedergeben, wenn alles geregelt ist. Ich möchte bei dieser Anwältin auch gerne als gute Mandantin gelten, sie kommt mir nämlich sehr fähig vor. Also, pack´s an.“

„Gut, am Montag ruf ich sie an und gehe zur Schuldnerberatung. Was noch?“

„Ich finde, das genügt erst mal. Ich bin sicher, wenn der Stress etwas nachlässt, brauchst du auch nicht mehr so viel Schokolade, dann regelt sich das andere von selbst.“

„Bei dir hört sich das alles so einfach an.“

Ja, das fand ich auch. Ich hatte keine Ahnung, ob man Gabi so leicht helfen konnte. Aber versuchen sollte sie es doch wenigstens! So ähnlich sagte ich ihr das auch, dann wollte sie ohnehin das Thema wechseln.

„Du redest von Partner, Sekretärin, Handwerkern... was machst du jetzt eigentlich?“

„Altbausanierung. Bis zum Frühjahr war ich in einem Architekturbüro in Berlin, dann hatte ich den spacigen Stil satt und bin mit einem Kollegen hierher gezogen. Jetzt sind wir selbständig. Viel läuft noch nicht, aber es lässt sich ganz nett an.“

„Wo seid ihr denn aktiv?“

„Das alte Haltestellenhäuschen am Fuggerplatz – kennst du das? Und die Villa in der Galileistraße. Ein, zwei Dinge haben wir noch in petto, aber da sind wir noch in der Kostenvoranschlagsphase oder bereiten uns auf den Wettbewerb vor.“

„Klingt toll. Und privat?“

„Privat?“, fragte ich harmlos zurück. „Na, dieser Partner – wie heißt er übrigens?“

„Simon. Der hat eine Frau in Berlin, mit der liegt er jetzt hoffentlich im Bett.“

„Hoffentlich?“

„Vielleicht ist er dann am Montag besser drauf, gestern Mittag war er ziemlich unausstehlich, ich denke, ihm fehlt seine Frau.“

Gabi nickte. „Und sonst?“

„Du meinst, ob ich einen Lover habe? Nein, dafür ist im Moment wirklich keine Zeit. Neben unseren Projekten werte ich gerade einige Dokumente aus, die ich in der Villa gefunden habe. Da bräuchte ich mal einen einigermaßen fähigen Historiker, für die Details...“

„Spannend?“

„Traurig. Nazizeit und so.“

„Und die Besitzer haben dir den Kram einfach so überlassen? Die hätten doch gleich einen Historiker engagieren können?“

„Die Villa gehört mir, ich bin sozusagen unsere Kundin. Und den Inhalt habe ich ausdrücklich mitgekauft, ein paar Möbel und in einem Versteck die Dokumente. Mühsam zu lesen, wegen der alten Schrift, aber interessant ist es schon.“

„Historiker... Wer hat denn Geschichte studiert? Du hast nicht zufällig die Abizeitung mitgebracht?“

„Doch“, gab ich zu und legte sie auf den Tisch. Sie blätterte ein bisschen.

„Weißt du, von vielen habe ich auch nie wieder gehört. Ich glaube, Karen hat Geschichte studiert, weißt du noch, das Jahrgangsbaby?“

„Ja, an die hab ich vor ein paar Tagen auch gedacht. Zu wem hast du sonst noch Kontakt?“

„Von Mathias hab ich mal was gehört... Der hat sich irgendwie mit alten Autos selbständig gemacht und damit eine Bauchlandung hingelegt. Jetzt steht er kaum besser da als ich.“ Sie grinste schief.

„Nicht mehr lange, keine Sorge. Hast du von Nora mal wieder was gehört?“

„Ich glaube, die arbeitet bei irgendso einer Frauenzeitschrift. Sonst weiß ich auch nichts. Simone hat geheiratet und einen Haufen Kinder, sie wohnt irgendwo auf dem Land, ich hab zu Hause die Adresse. Lisa ist geschieden und arbeitet bei unserem Kinderarzt als Sprechstundenhilfe, Thomas studiert immer noch, glaube ich. Wir sollten mal ein Abitreffen organisieren, das Zehnjährige hat damals nicht so gut geklappt.“

„Aber ein Dreizehnjähriges? Bringt das nicht Unglück?“

„Ach wo. Kann man als Akademikerin noch so abergläubisch sein?“

„Gerade dann! Hast du nie vor Referaten auf schwarze Katze von links geachtet?“

Zum ersten Mal lachte sie, aber dann sah sie auf die Uhr. „Himmel, schon zehn? Ich muss heim, Mutti will sicher ins Bett. Und die Kleinen stehen doch dauernd auf, wenn man nicht dabei bleibt. Danke, du hast mich wirklich aufgerichtet!“ Ich schrieb ihr meine Telefonnummern auf. „Denk dran, ich will am Montag einen Erfolgsbericht hören!“

„Und wenn ich keinen Erfolg habe?“

„Wenn du dich informiert hast, ist das schon ein Erfolg. Positiv denken!“

Ich sah ihr nach. Da musste sie schon länger keine Schokolade mehr essen, damit dieser Hintern wieder Normalformat bekam. Gut, wenn jemand gerne üppig war – aber das schien mir bei ihr nicht der Fall zu sein. Vielleicht würde mir ja ein Job für sie einfallen? Aber mit drei kleinen Kindern? Gedankenverloren fuhr ich nach Hause.

Am Sonntag bastelte ich weiter an meinen Entwürfen herum, damit ich Simon morgen etwas zeigen konnte, und hinterher schaffte ich noch weitere Tagebucheinträge. Im August 1936 wurde es interessant.

Tagebuch 12.8.1936

Elsa und ihre Familie ziehen weg. Sie haben beschlossen, nach Salzburg zu übersiedeln, wo sie Verwandte haben, bei denen sie wohnen können. Sie dürfen fast nichts mitnehmen, hat Elsa mir erzählt, und auf das bisschen, das sie transferieren dürfen, müssen sie noch eine riesig hohe Steuer zahlen. Als ich Papa erzählte, dass sie auswandern wollen, horchte er auf, obwohl er sich sonst nicht für Wolfs interessiert und eigentlich will, dass ich Elsa nicht mehr sehe. Dabei ist und bleibt sie meine beste Freundin und ich vermisse sie in der Schule und in der Tanzstunde. Wie wird das erst, wenn sie gar nicht mehr da ist?

Mittlerweile weiß ich auch, warum Papa so aufhorchte. Er hat Herrn Wolf angeboten, ihm das Schlösschen abzukaufen. Gestern war ich wieder bei Elsa. Zuhause hab ich gesagt, ich müsste zu Margit, Rassenkunde lernen. Komischerweise haben sie mir den Quatsch geglaubt. Elsa lag auf ihrem Bett und heulte.

„Weißt du, was dein Vater Papa für das Haus zahlen will? Zwanzigtausend Reichsmark! Es ist fast zehnmal so viel wert!“

„Warum so wenig? Könnt ihr euch nicht einen anderen Käufer suchen?“

„Elise, du bist naiv! Dein Vater ist in der Partei. Sie wollen, dass er das Haus kauft. Und er weiß auch, dass wir das Angebot annehmen müssen, egal wie niedrig es ist. Er macht da ein gutes Geschäft.“

„Ich finde das so mies von Papa. Er nutzt eure Zwanglage aus!“ Jetzt musste ich auch weinen.

Elsa zuckte die Achseln. „Machen das nicht alle? Zweitausend Mark dürfen wir mitnehmen, glaube ich. Den Rest kassiert die Steuer.“

„Wie wollt ihr eure ganzen Sachen bei euren Verwandten unterbringen?“

„Unsere ganzen Sachen? Pro Person einen Koffer nehmen wir mit – das andere bleibt alles hier! Hier, das wird dann wohl dein Zimmer, nicht?“

Ich schämte mich furchtbar.

„Komm, ich zeig dir was!“

Elsa führte mich in einen Kellerraum und rückte dort eine alte Kommode von der Wand. Dahinter war ein loser Ziegelstein in der Wand, den sie an einem Faden herauszog.

„Das war immer mein Geheimversteck. Wenn du mal so was brauchst... Ich lege mein Familienalbum hinein, mitnehmen kann ich es ja doch nicht. Bewahrst du es für mich auf? Wenn wir zurückkommen, hole ich es mir wieder.“

Ich fiel ihr schluchzend um den Hals und wir standen eine Zeitlang weinend in diesem Kellerraum.

Dann machte sie sich vorsichtig los und begleitete mich zur Haustür.

„Leb wohl, Elise. Du warst meine beste - meine einzige Freundin“, sagte sie leise und schloss hinter mir die Tür.

Nächste Woche ziehen wir in die Villa, hat Papa heute verkündet. Bis dahin sind Wolfs wohl abgereist. Hartmut läuft breit grinsend herum, der Blödmann. Gut, dass er bald zum Arbeitsdienst muss, dann ist er wenigstens aus dem Weg. Hoffentlich fällt ihm dort was auf den Kopf.

Leider war das nicht passiert, überlegte ich. Also hatte der alte Wiedemann sich bei der „Arisierung“ der Villa schamlos bereichert. Zwanzigtausend Reichsmark, das wären heute vielleicht - vierhunderttausend? Gut, ich hatte auch kaum mehr gezahlt, aber damals war das Haus voll möbliert, top in Schuss und es lagen keine Denkmalschutzauflagen darauf. Das hätte heute einen Wert von... zwei Millionen mindestens. Da konnte man sich vorstellen, wie der alte Wiedemann den alten Wolf über den Tisch gezogen hatte, diese Parteiratte.

Wenn sie selber so billig an das Haus gekommen waren, verstand man auch, warum sie sich so schnell mit meinem bescheidenen Angebot abgefunden hatten. Aber mehr hätten sie auch nicht herausholen können...

Ab jetzt sollte ich die Briefe, die ja offensichtlich von Elsa stammten, passend zum Datum mit übertragen, beschloss ich. Aber den Sonntag wollte ich anders feiern. Ich fuhr den Rechner wieder herunter und ging spazieren, betrachtete nur Häuser und Gärten und versuchte, weder an die hässliche Vergangenheit noch an Gabis Notlage zu denken. Nur laufen und gucken...

Ich wanderte fast drei Stunden herum, von Henting bis an den Rand des Univiertels und durch das Waldburgviertel wieder zurück. Dann gönnte ich mir in Mamas Badewanne ein köstliches Schaumbad – natürlich mit ihrem Schaum – und kuschelte mich im Bademantel vor den Fernseher. Mama guckte mich sorgenvoll an, fragte aber nichts, sondern schob mir nur eine Knabbermischung vor die Nase. Sie wurde anscheinend weich! Ich futterte grinsend und gönnte mir die sonntägliche Rosamunde Pilcher – der übliche Kitsch vor schöner Landschaft, herrlich einfach. Man musste überhaupt nicht denken, das tat mir mal ganz gut.

Als ich am Montagmorgen ins Büro kam, wirkte Doris zwar sehr vergnügt und gut erholt, aber Simon saß mit grämlicher Miene in seinem Büro. „Was ist denn mit dir los? War es nicht schön zu Hause?“

„Zu Hause? Ach, du meinst in Berlin?“

„Ja – hast du dich hier so schnell akklimatisiert? Ist Berlin schon nicht mehr dein Zuhause?“

Darauf ging er nicht ein. „War ziemlich anstrengend. Ich erhole mich wohl besser hier. Hast du was gearbeitet?“

„Ein bisschen. Und eine alte Schulfreundin getroffen und das Material aus dem Keller weiter ausgewertet. Die Wiedemanns haben die Villa damals als Arisierung übernommen, spottbillig. Peinlich, was?“

„Jetzt weht dir der Wind der Geschichte ein bisschen scharf ins Gesicht, was?“

„Stimmt“, gab ich zu, „aber ich möchte einfach wissen, was aus all diesen Leuten geworden ist. Bis 1936 bin ich schon gekommen. Guck mal, so könnte der Boden in der Peutingergasse auch aussehen!“

Wir verglichen unsere Entwürfe und bastelten dann am Rechner eine Vorlage. Noch einige kurze Terminabsprachen, dann zog Simon los, um beim Pavillon nach dem Rechten zu sehen; ich schloss den Fassadenentwurf für die Peutingergasse ab und erstellte einen ersten Kostenvoranschlag.

Die Unterlagen für den Wettbewerb wurden im Lauf des Vormittags gebracht und ich studierte die Prämissen, die der Eigentümer und der Denkmalschutz zusammengestellt hatten. Wie üblich in solchen Fällen, widersprachen sie sich gegenseitig. Nun, der Eigentümer ging nicht vor, man konnte ihn mit dem Hinweis auf die Vorschriften immer zum Schweigen bringen. Natürlich hätte er gerne eine Etage mehr untergebracht – aber wie sähen denn dann die Fensterlinien aus! Freundlicherweise gaben die Unterlagen die exakten Abmessungen der Nachbarhäuser an, so konnte es nicht allzu schwer sein, die Lücke so zu füllen, dass alle drei zusammen wie ein Ensemble wirkten.

Ich setzte mich an den Rechner und begann in ArchDesign zu skizzieren und zu konstruieren. Vielleicht sollte man den Fassadenschmuck teils von links, teils von rechts übernehmen, das schuf eine optische Verbindung. Leichte Rustica im Erdgeschoss, die Geschosshöhen markiert, kein Mittelrisalit, das Haus würde dadurch nur noch schmaler wirken. Lieber die Horizontalen betonen!

Als Simon zurückkam, hatte ich schon ein erträgliches Konzept gebastelt und Doris allerlei auf den Schreibtisch gepackt. „Dann schaue ich mal zur Villa, ja?“, verkündete ich, sobald ich den von Simon mitgebrachten Hamburger verdrückt hatte, und griff nach meiner Jacke.

„Ist gut. Ich schaue mir deine Entwürfe an und denke über den Innenraum nach. Wann bist du zurück?“

Ich sah auf die Uhr. „Halb zwei... um fünf, denke ich. In Ordnung?“

Er brummte abwesend und rief schon meine Skizzen auf.

Heizungs- und Wasserrohre und Stromleitungen und die Stromleitungen machten gute Fortschritte, alle hielten sich an meine akribischen Anweisungen und hatten sich anscheinend auch an meine diktatorische Art gewöhnt. Da kam auch der Wagen der Telekom angefahren – wenn schon alle Wände offen waren, konnte man auch gleich anständige Anschlüsse für Telefone und Computer legen lassen.

Und Kabelanschlüsse in jeder Etage! Das Kabel führte ohnehin bis an die Grundstücksgrenze, aber die alte Elise hatte offenbar kein Interesse daran gehabt. Ich zeigte ihnen, wo ich die Dosen haben wollte, und ließ sie dann werkeln.

Währenddessen stieg ich im Haus herum und inspizierte die Fenster. Leider mussten sie alle raus, das Holz war schon ziemlich verrottet. Für das Dach brauchte ich eine Leiter, noch war keine da. Ja, wenn erst ein Gerüst aufgebaut wäre!

Also ging ich wieder nach draußen und versuchte, möglichst viel vom Dach zu sehen. Direkt vor dem Haus war das natürlich Blödsinn. Ich ging rückwärts, den Blick fest auf das Dach gerichtet. Bei jedem Schritt sah ich mehr fehlende Dachziegel. Noch ein Schritt, noch einer: Der Schornstein machte auch keinen Vertrauen erweckenden Eindruck mehr. Noch einer und noch – ich prallte gegen jemanden und drehte mich hastig um.

„Oh, Verzeihung. Ich sollte schauen, wo ich hinlaufe, ich wollte nur sehen, wie kaputt das Dach ist.“

„Macht doch nichts. Wissen Sie, wer hier zuständig ist?“

Er sah gut aus, dunkle Haare, helle Augen, gebräuntes Gesicht, elegante Kleidung, Aktenkoffer. Ich riss mich ungern von der Bestandsaufnahme los. „Das bin ich. Barbara Lenz.“ Ich streckte die Hand aus.

„Guten Tag. Mein Name ist Max Wolf.“

Ein Haus mit Vergangenheit

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