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PROSZENIUM

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Wir befinden uns vor dem Eingang eines großen Auktionsgebäudes mit außerordentlich unechten Säulen aus einer Stuckmasse, die den Eindruck carrarischen Marmors macht.

Der ideale Leser und der vollkommene Kritiker treten auf. Der ideale Leser ist ein rüstiger Mann von unbestimmbarem Alter, der eine Brille, aber als Ausgleich zu seinem allzu geistigen Wesen einen Spazierstock mit eiserner Zwinge und genagelte Schuhe trägt. Der vollkommene Kritiker zeichnet sich nicht, wie man etwa erwarten möchte, durch besondere Kennzeichen aus, sondern gleicht mit hochgebürstetem Bärtchen und strengem, aber jovialem Ausdruck einem Generalstäbler in Zivil. Er ist mit einem Fernrohr bewaffnet, das er gleichzeitig in die Zukunft richten und mit dessen anderem Ende er den Mikrokosmos zu seinen Füßen restlos durchdringen kann.

 

 Der Leser ‹ aufgeregt gestikulierend›

 

 Ich kann verlangen – ich kann verlangen, daß mir beim Einkauf eines so dicken und komplizierten Buches – –

 

 Der Kritiker ‹beruhigend›

 

 Selbstverständlich können Sie, lieber Leser, eine Art Führer verlangen; einen Waschzettel, ein Personenverzeichnis, eine Inhaltsangabe, die Sie berechtigt, den Eintrittspreis, wenn das Ganze Ihnen nicht zusagt, von dem Autor zurückzuerhalten.

 

 Der Leser ‹abwinkend›

 

 Von dem Autor! Ich bitte Sie – von dem Autor. Von dem Autor kann man gar nichts verlangen. Ich bin selber ein Autor. Ich meine: ich war es. Jeder Deutsche, der lesen kann, hat schon geschrieben. Irgend etwas. Er hat es drucken lassen. Natürlich auf eigene Kosten. Was bedeutet es übrigens, wenn Sie . . . von einem ,Eintrittspreis‘ sprechen? Meinen Sie damit etwa – –

 

 Der Kritiker

 

 Genau das meine ich. Kommen Sie mit mir! Begeben wir uns jetzt unverzüglich in das Gebäude hinein!

 

 Der Leser

 

 Unmöglich! Ganz ausgeschlossen, mein Lieber! Man würde uns mit den Menschen verwechseln, die nun durch die Pforte strömen. Schließlich sind wir doch beide real und gehören nicht in das Inhaltsverzeichnis der handelnden Personen.

 

 Der Kritiker

 

 Hm. Aber trotzdem, mein lieber Leser, wird uns nichts anderes übrigbleiben. Ich sehe das voraus. Es ist natürlich ein Risiko –.

 

 Der Leser

 

 Ein Risiko?

 

 Der Kritiker

 

 Ganz wie Sie eben sagten. Wir könnten mit den Figuren verwechselt, wir könnten sogar – verwandelt werden. Kein angenehmes Gefühl.

 

 Der Leser ‹ entschlossen stehenbleibend›

 

 Ich gehe nicht weiter. Nicht einen Schritt. Die Sache fängt bereits jetzt schon an, mir ungemütlich zu werden. Können Sie nicht begreifen, mein Herr, daß ich schließlich und endlich, bevor ich riskiere, mich ganz einfach verwandeln zu lassen, wissen möchte, in welche Gestalt, und wem es da eigentlich einfällt, mich wie Kalif Storch zu verwandeln, wenn ich dreimal ,mutabor‘ sage?

 

 Der Kritiker ‹ an seinem Fernrohr drehend›

 

 Einen Augenblick, bitte . . . Ich sehe nach. Meine Linse ist unübertrefflich und läßt mich niemals im Stich . . . Merkwürdig . . .

 

 Der Leser

 

 Nun – was sehen Sie? Sprechen Sie ungeniert.

 

 Der Kritiker

 

 Ich glaube, das Okular ist beschlagen. Die Bilder sind getrübt.

 

 Der Leser

 

 Natürlich. So geht es immer, wenn man sich, statt auf die Inspiration, auf die Technik verläßt, mein Herr. Hören Sie auf. Ich bin Manns genug, der Gefahr ins Auge zu sehen. Übrigens wäre es unfair, einen Kollegen, [ich meine den Autor] pleite gehen zu lassen, weil man nicht mitmachen will.

 

 Der Kritiker

 

 Halt, halt doch! Nun sehe ich etwas schärfer. Obwohl –.

 

 Der Leser

 

 Obwohl –?

 

 Der Kritiker

 

 Obwohl ich mir nicht recht vorstellen kann – –

 

 Der Leser ‹gespannt›

 

 Was sehen Sie? Einen Frosch? Einen Drachen? Ein imaginäres Wesen? Eine olympische Gottheit auf hoch erhabenem Thron?

 

 Der Kritiker

 

 Nichts von all dem. ‹ Er läßt das Fernrohr sinken.› Es ist mir peinlich zu sagen: ich sehe Sie vollkommen nackt.

 

 Der Leser ‹an seinen Vollbart fahrend›

 

 Oh! Aber schließlich, was ist dabei? Ich habe nichts zu verbergen, ich kann mich sehen lassen. Nacktkultur, richtig verstanden – –

 

 Der Kritiker

 

 Ich fürchte, wir werden am Ende des Buches diesen Ausdruck nicht nur richtig verstehen, ich meine: rundherum richtig verstehen, sondern ihn auch praktizieren bis auf das Feigenblatt.

 

 Der Leser

 

 Kein Wunder, wenn das Ganze schon jetzt mit einer Auktion beginnt. Ein vielversprechender Anfang, wie? Um so mehr, als das Haus hier »Mundus« heißt, sein Besitzer »Hermes«, der Auktionar »Chronos« – –

 

 Der Kritiker

 

 Hermes, der Totenführer. Sehr viel Mythologie auf einmal. Sie werden Ihre gesamte Bildung, ich meine die humanistische, zusammennehmen müssen, um alles zu verstehen.

 

 Der Leser

 

 Ich habe ein griechisches Wörterbuch bei mir, ein lateinisches Diktionär, einen kurzen Abriß der Weltgeschichte, der Kirchengeschichte, die Propädeutik der abendländischen Philosophie – –

 

 Der Kritiker

 

 Um Gottes willen, halten Sie ein und werfen Sie auf der Stelle Ihre Schulbücher auf den Mist! Oder besser noch: geben Sie sämtliche Schmöker mit in die Versteigerung.

 

 Der Leser

 

 Sind Sie verrückt? Was verlangen Sie? Die heiligsten Güter der Menschheit in die Versteigerung geben?

 

 Der Kritiker

 

 Um einen Obolus kommt man bei Hermes bekanntlich nicht herum. Sehen Sie nur, wie er dort in dem offenen Vestibül steht und jedem seiner Besucher vollkommen schamlos die Sparkasse hinhält – das tönerne Glücksschwein, in welches eben dieser gut aussehende Herr seinen Dukaten wirft.

 

 Der Leser

 

 Wie heißt er?

 

 Der Kritiker

 

 Belfontaine.

 

 Der Leser

 

 Belfontaine? So. Ich muß sagen, er ist mir nicht sehr sympathisch. Es liegt etwas Zwitterndes über ihm. Etwas Unvollendetes, aber beileibe nicht eine Spur von Romantik oder Gemütlichkeit. Wenn er der Held dieses Buches ist – – Warum lachen Sie jetzt? Was soll das bedeuten?

 

 Der Kritiker

 

 Ich lache, weil es in diesem Sinn überhaupt keinen Helden gibt. Ich meine: in diesem Buch. Der Held muß dableiben wie ein Denkmal, das aufgerichtet wird. Man verbirgt ihn bis zu der Denkmalsenthüllung unterm Tuch der Psychologie.

 

 Der Leser

 

 Ich verstehe. Hier sieht sein Fuß und dort sieht ein Stück von seinem Zylinder heraus. Ein solches Verfahren weckt Neugier und Spannung. Zuletzt kommt die Denkmalsenthüllung. Man betrachtet den Helden von vorn und von hinten und geht rund um denselben herum. Allerdings ist selbst bei Meisterwerken die Rückseite gegen die Vorderansicht häufig vernachlässigt, wie? Man bringt daher rings um den Sockel des Denkmals ein Band von Plaketten an. Eigentlich eine Verlegenheitslösung. Man müßte – –

 

 Der Kritiker

 

 Rasch, sehen Sie durch mein Fernrohr! Nun? Was bemerken Sie? Was fällt Ihnen auf?

 

 Der Leser

 

 Pfui. Das ist futuristische Technik. Man sieht durch diesen Herrn Belfontaine, als wäre er aus Glas. Landschaften. Zeitgeschichte in Kurven. Das Schicksalspanorama des Städtchens, in dem wir uns befinden . . . Aha, ich glaube, Herr Belfontaine wird nicht wichtig genug genommen.

 

 Der Kritiker

 

 Im Gegenteil. Folgen wir ihm auf den Fuß. Wir kommen sonst zu spät. Gleich wird die Auktion beginnen.

 

 Der Leser

 

 Wollen Sie etwa ein Stück aus der Konkursmasse steigern?

 

 Der Kritiker

 

 Ça dépend. Man muß vorsichtig sein. Es handelt sich, wie ich höre, um allerlei Gegenstände von zweifelhaftem Wert. Aber sehen Sie nur: Herr Hermes ist fort, ohne uns einen Beitrag für das Glücksschwein abzuverlangen. Wir werden also freundlicherweise noch nicht als Gespenster betrachtet.

 

 Der Leser

 

 Ich, für meinen Teil, fühle mich ganz real und gedenke es auch zu bleiben. Unangenehm, wie die Menge sich drängt. Man sollte ein Personenverzeichnis zur besseren Übersicht haben.

 

 Der Kritiker

 

 Das würde Ihnen bestimmt nichts nützen. Sie werden schon sehen, warum.

 

 Der Leser

 

 Wollen wir ablegen?

 

 Der Kritiker

 

 Wie Sie meinen. Ich selber behalte auf jeden Fall den Überzieher an. Man muß immer Distanz bewahren.

 

 Der Leser

 

 Stöcke und Schirme sind abzugeben.

 

 Der Kritiker

 

 Das Fernrohr auf gar keinen Fall! Schließlich ist es ein Stück meiner selbst.

 

 Der Leser

 

 Wo ist Herr Belfontaine hingeraten?

 

 Der Kritiker

 

 Dort steht er vor einem großen Spiegel und betrachtet sich wohlgefällig.

 

 Der Leser

 

 Ein wertvolles Stück mit barockem Rahmen und venezianischem Glas. Der Mann muß ein Kenner sein.

 

 Herr Chronos ‹mit altmodischem Kraßfuß die beiden Herren begrüßend›

 

 Vergeblich! Der Spiegel ist nicht zu versteigern, sondern bildet ein Stück Inventar. Beachten Sie nur, wie kunstvoll geschliffen und facettiert er ist!

 

 Der Leser ‹höflich›

 

 Ein Vexierspiegel, wie ich sehe. Er täuscht eine Tiefendimension vor, die das Zimmer hier gar nicht hat. Verlängerung, welche schnurstracks in die Vergangenheit führt.

 

 Herr Chronos

 

 Er täuscht sie nicht vor, sondern tut sie auf. Beachten Sie, wie die Personen der Handlung in ihn eintreten und uns den Rücken kehren, sobald sie den Rahmen durchschritten haben. Beachten Sie auch die Inschrift des Schildchens auf der geschwungenen Fassung dieses außergewöhnlichen Glases!

 

 Der Leser ‹ den Kopf in den Nacken legend›

 

 ,Die göttliche Weisheit des Ursprungs‘, wenn ich richtig gelesen habe. Man sollte darüber nachdenken können. Aber inzwischen verlieren wir die Hauptperson aus den Augen.

 

 Herr Chronos

 

 Es gibt keine Hauptperson.

 

 Der Kritiker

 

 Wie ich schon sagte. Los, los! Beeilen wir uns und schließen wir uns an. Welches Gedränge! Wer stößt mich da? Wer ist mir zum Anstoß geworden?

 

 Ein hübsches, junges Mädchen ‹vor sich hinträllernd›

 

 Gehn’S weiter, gehn’S weiter – Sie sind ja nur Gefreiter!

 

 Der Kritiker ‹ außer sich›

 

 Der Gefreite ist doch noch gar nicht da. Der Gefreite tritt doch erst sehr viel später – bestenfalls in dem Epilog – auf, wenn ich recht unterrichtet bin! Wer sind Sie überhaupt, Fräulein? Sie kommen mir merkwürdig vor.

 

 Das hübsche, junge Mädchen ‹ schnippisch›

 

 Ein Anachronismus. Die außereh’liche Tochter von diesem alten Herrn.

 

 Der Kritiker

 

 Ich dachte es mir. Empörend, wie das durcheinandergeht!

 

 Der Leser

 

 Doch sie hat hübsche Waden. Ich folge ihr auf dem Fuß. Begleiten Sie mich?

 

 Der Kritiker

 

 Was würde aus Ihnen, wenn ich nicht mitkommen wollte!

 

 Herr Chronos

 

 Nun haben wir den Spiegel durchschritten und befinden uns in dem großen Auktionsraum dieses altehrwürdigen Hauses. Ich darf Sie noch einmal daran erinnern, daß es den Namen »Mundus« in aller Bescheidenheit trägt.

 

 Der Kritiker ‹ streng›

 

 Und das Tertium comparationis, bitte?!

 

 Herr Chronos

 

 Seine seltsame Architektur.

 

 Der Leser

 

 Ein Rundbau mit eingeschwungenen Grotten, die sich ihrerseits wieder nach rückwärts öffnen und in das Unendliche führen. Wunderbar –!

 

 Der Kritiker ‹ trocken›

 

 Bleiben Sie nüchtern. Das Ganze ist Spiegelfechterei. Betrachten Sie lieber die Gegenstände aus der Versteigerungsmasse. Dieser Schreibtisch hier muß jedem gefallen. Louis Seize. Mit hübschen Intarsien und Büchern aus der Zeit.

 

 Der Leser

 

 Eine Erstausgabe, sehen Sie nur, der Enzyklopädisten. Ein Manuskript des »Contrat social« von unbezahlbarem Wert! Wollen Sie steigern?

 

 Der Kritiker ‹ winkt ab›

 

 Ich fürchte, das würde zu teuer kommen.

 

 Der Leser ‹aufgeregt hin- und herblätternd›

 

 Wer weiß? Vielleicht ist er billiger, als wir vermutet haben.

 

 Der Kritiker ‹ ihm über die Schulter sehend›

 

 Auf jeden Fall wäre bei dieser Erwerbung das 18. Jahrhundert in Reinkultur mitenthalten . . .

 

 Herr Chronos

 

 Doch muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die eigentliche Versteigerung in der dritten Phase beginnt.

 

 Der Kritiker

 

 Was heißt: »Phase«? Handelt es sich um Zeiten oder um Räume, mein Herr? Mir scheint die Architektur dieses »Mundus« einem wahrhaften Labyrinth zu gleichen, in welchem man sich verläuft.

 

 Herr Chronos

 

 Beruhigen Sie sich. Schon wirft Ariadne Ihnen den Faden zu!

 

 Der Leser ‹ kläglich›

 

 Wo sind Sie? Ich bin in die Irre gegangen. Ich bin wie das Zitat eines Buches verblättert worden. Suchen Sie mich! Es muß doch ein Sachregister vorhanden, ich muß doch zu finden sein!

 

 Der Kritiker

 

 Einen Augenblick. Ich nehme das Fernrohr –.

 

 Der Leser ‹ von weitem›

 

 Nicht nötig. Ich habe den Faden gefunden. Er läuft aus dem Innern der mystischen Grotte, die in das Unendliche führt.

 

 Herr Chronos

 

 Ich rate Ihnen, das Fernrohr auf dem Schreibtisch zurückzulassen und diesem Faden zu folgen.

 

 Der Kritiker

 

 Welchem Faden? Wie heißt er? Drücken Sie sich ganz unmißverständlich aus!

 

 Herr Chronos

 

 Die göttliche Gnade.

 

 Der Kritiker

 

 Meinen Sie nicht, daß Sie damit zuviel verlangen?

 

 Der Leser

 

 Besinnen Sie sich nicht länger und folgen Sie mir nach!

 

 Der Kritiker

 

 Wo sind Sie?

 

 Der Leser

 

 Ich habe die erste Grotte durchschritten und sehe, daß sich die zweite öffnet, wo die erste zu endigen scheint. Beeilen Sie sich! Es tropft von den Wänden, auch der Boden der Grotte muß von der Quelle, die hier entsprungen ist, vollkommen feucht sein: die Statue in ihrem Innern fängt zu phosphoreszieren an.

 

 Der Kritiker ‹enttäuscht›

 

 Eine Lourdes-Madonna. Das Ausstattungsstück sämtlicher Pfarrgärten, Schwesternhäuser und Jungfrauenvereine. Was finden Sie daran? Übrigens bin ich schon ganz durchnäßt, ich dampfe von Feuchtigkeit wie eine Wolke und werde die Kleider wechseln müssen . . . Leben Sie wohl! Er löst sich auf und verschwindet.

 

 Der Leser

 

 Leben Sie wohl! Es ist wirklich sehr feucht hier. Auch Herrn Belfontaine, den ich mit Hilfe des Fadens wiedergefunden habe, läuft das Wasser vom Scheitel herab.

 

 Herr Chronos ‹hinzutretend›

 

 Das wird eine andere Ursache haben. Herr Belfontaine erinnert sich eben, daß er heute vor sieben Jahren die Taufe empfangen hat.

 

 Der Leser

 

 Eine sehr intensive Erinnerung, die das Wasser aus seinen Poren treibt! Finden Sie nicht, daß ein solcher Stil schon an Naturalismus grenzt?

 

 Herr Chronos

 

 Ich glaube, Sie müssen sich, lieber Leser, schon bequemen, ihn – supranaturalistisch – –

 

 Der Leser ‹erschrocken›

 

 Um Gotteswillen, auch das noch! Ich werde doch lieber gleichfalls gehen . . .

 

 Er wendet sich wieder zurück und will die Grotte verlassen, doch findet er – von dem Licht geblendet, das die Statue ausstrahlt und in den Raum wirft, woher der Leser gekommen ist – die Eingangspforte nicht.

 

 Herr Chronos

 

 Es gibt kein Zurück mehr. Gehen Sie weiter! Sie stören den Verkehr.

 

 Der Leser

 

 Wo ist Herr Belfontaine nur geblieben? Nun ist er wieder fort. Immer neue Gesichter . . . Ob ich den älteren Herrn dort mit der stolzen jungen Dame am Arm anzusprechen versuche? Sie sieht eigenartig, aber sehr schön aus und scheint ein Kostüm ihrer Mutter zu tragen: eine Art Cul de Paris. Verzeihen Sie – könnten Sie mir nicht sagen, wo ich Herrn Belfontaine finde?

 

 Herr de Chamant, den der Leser in Verkennung der Sachlage angesprochen hat, dreht sich indigniert nach ihm um; seine Tochter Hortense sieht ihn hochmütig an und hebt ihre süßen Schultern.

 

 Die Tochter des Chronos ‹sich rasch dazwischendrängend›

 

 Das war ein Fauxpas, lieber Leser. Die Herrschaften sprechen kein Deutsch. Überdies kommt Herr Belfontaine erst viel später –.

 

 Der Leser ‹verwirrt›

 

 Verzeihung! Wer hat nun eigentlich wieder einen Anachronismus begangen? Der Autor oder ich?

 

 Die Tochter des Chronos

 

 Keiner von beiden. Herr Belfontaine steht jetzt auf der Rückseite der Erzählung und wird von ihr verdeckt. Wenn er auftaucht, ist er 11 Jahre älter, als er eingangs gewesen ist.

 

 Der Leser

 

 Und wo bin ich jetzt?

 

 Herr Chronos ‹seine Tochter beiseite schiebend›

 

 Fort, fort, sonst fresse ich dich, du kleines Ungeheuer! Das ist meine Eigenart. Zu dem Leser gewandt Sie sind jetzt in Senlis, werter Freund, einem kleinen, aber historischen Städtchen mit herrlicher Kathedrale. Eine Turmbesteigung gefällig? Der Ausblick lohnte sich schon.

 

 Der Leser ‹ängstlich›

 

 Sehr freundlich. Aber ich fürchte – –

 

 Er will sagen: ,schwindlig zu werden‘; Herr Chronos blickt ihn durchdringend mit furchtbarem Ausdruck an und schwillt wie ein eisenklirrender Drache, der Blut getrunken hat.

 

 Herr Chronos

 

 Wissen Sie immer noch nicht, wo Sie sind?

 

 Man hört Geschützdonner nah und fern

 

 Sie sind gegen Ende des ersten Weltkriegs in eine Idylle geraten.

 

 Der Leser ‹fassungslos›

 

 In eine Idylle?

 

 Herr Chronos

 

 Ganz richtig. In eine Idylle des Satans; eine Enklave der Hölle, welche sich in ihr spiegelt und ihren Höllencharakter auf neue Weise bezeugt.

 

 Der Leser

 

 Der Faden! Der Faden der Ariadne! Wo läuft er? Wo fasse ich ihn?

 

 Herr Chronos

 

 Er läuft aus der Mitte dieser Enklave in die zweite Grotte hinein! Diesmal ist es ein Ort der Buße: eine Klosterzelle des Karmel, in der Sie sich wiederfinden.

 

 Der Leser

 

 Und das Haus mit der Aufschrift »Mundus«?

 

 Herr Chronos

 

 Das Gleiche. Erkennen Sie es nicht mehr? Dort kommt auch Herr Belfontaine wieder zurück. Wie ich schon sagte: 11 Jahre älter. Sieben davon in Senlis.

 

 Der Leser

 

 Er ist verändert.

 

 Herr Chronos

 

 Finden Sie wirklich? Das wird bald noch deutlicher werden. Wenn erst die dritte Phase beginnt, gleicht er sich selber nicht mehr.

 

 Der Leser

 

 Wenn es gestattet ist, möchte ich sehen, auf welcher Seite wir sind.

 

 Herr Chronos

 

 Wozu? Die Seitenzählung beginnt und endigt auch wieder mit 1.

 

 Der Leser

 

 Das heißt: Sie führt weiter, indem sie zurück –

 

 Herr Chronos

 

 Und zurück, weil sie weiterführt.

 

 Indem er spricht, verwandelt sich Chronos in den Mönch von Heisterbach.

 

 Der Mönch von Heisterbach

 

 Haben Sie Ihren Faden noch? Man sieht nicht mehr die Hand vor den Augen. Es fängt an, dunkel zu werden.

 

 Der Leser

 

 Werden wir noch nach Hause kommen aus diesem Labyrinth? Und setzt sich wieder die zweite Grotte in der dritten fort wie bisher?

 

 Der Mönch von Heisterbach

 

 Die dritte Grotte war immer da und hat die erste und zweite von Anfang an überwölbt.

 

 Der Leser

 

 Dann wäre also die dritte Grotte der »Mundus« an und für sich? Verstört in die Runde blickendDie Beleuchtung ist wirklich sehr ungenügend. In diesem flackernden, kleinen Lichtschein gleicht nun der ganze große Auktionsraum einer einzigen Rumpelkammer. Dieser schäbige Schreibtisch – zerbrochene Stühle – die Lederbände am Boden zertreten, zerrissen und angekohlt. Hier muß ein Feuer gewütet haben, es kann nicht anders sein. Wer wird wohl noch etwas ersteigern wollen, außer Hermes, dem Totenführer? Und wer hat den Obolus, um zu bezahlen, wenn der beinerne Hammer fällt?

 

 Der Mönch von Heisterbach

 

 ‹sieht ihn schweigend an und zieht die Kapuze über . . .›

Das unauslöschliche Siegel

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