Читать книгу Aufstehen und heilen - Elke Rüegger-Haller - Страница 7

Einleitung

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Missbrauchserfahrungen und Exerzitien – das ist ein Thema, das sich nicht umfassend auf 64 Seiten abhandeln lässt! Aber es lässt sich Wichtiges dazu sagen, und das möchte ich versuchen. Aus mehreren Gründen habe ich dieses heiße Eisen angepackt. Noch immer wird es ja, nicht nur in kirchlichen Kreisen, weitgehend verschwiegen.

Zum einen bin ich selbst eine Überlebende. Ich möchte bewusst nicht von »Opfer« sprechen, sondern von »Überlebende«. Die Rede vom Opfer macht passiv, bringt Bedauern zum Ausdruck, auch ein wenig: »Da kann man eben nichts machen, damit muss man leben lernen.« »Opfer« betont auch das Wehrlossein. Ganz anders das Wort »Überlebende«: Es betont nicht nur die Dramatik der Verletzung, sondern auch die Kraft und den Mut der Frauen, mit diesem Trauma zu leben, sowie die aktive Auseinandersetzung damit, um sich aus der Opferrolle herauszuarbeiten.1 Fast drei Jahre lang wurde ich als junge Frau von einem Pfarrer sexuell missbraucht. Der Kirche und ihren Würdenträgern habe ich nicht den Rücken gekehrt – im Gegenteil: Heute bin ich selbst Pfarrerin.

Zum anderen habe ich für diese Missbrauchserfahrungen viel Heilendes erlebt auf dem Weg der Exerzitien des Ignatius von Loyola. Heute lebe ich in einer lebendigen und beglückenden Partnerbeziehung. Es gibt also Heilung – auch für dieses Trauma! Und eine lebensfördernde Spiritualität wie die ignatianische kann dazu wesentliche Hilfe leisten.

Jeder Mensch geht einen eigenen Heilungsweg, so dass sich der eine Weg nicht einfach auf andere übertragen lässt. Aber es gibt Gemeinsamkeiten; auf diese hinzuweisen ist hilfreich und wichtig. Oft sieht alles hoffnungslos auf diesem Heilungsweg aus, auch für den Partner oder die Partnerin, die das alles ja miterleben. Vielleicht denkt ein Partner manchmal:

»Manchmal hätte ich

wirklich gerne

eine Frau, bei der alles stimmt.

Ich möchte nach Hause kommen,

und sie ist da,

sieht frisch und ausgeglichen aus,

es duftet nach Kuchen …

Stattdessen kommt sie mir entgegen,

total schlampig,

und muss mir unbedingt

von einer neuen Erinnerung erzählen.

Sie ist keine von diesen fröhlichen, adretten Frauen

aus dem Fernsehen.«2

Missbrauchsüberlebende brauchen neben dem Begleitetwerden auch Menschen, die einfach zuhören, am besten solche, die selbst erlebt haben, was es heißt, Überlebende zu sein. Selbsthilfegruppen oder auch Bücher mit Erfahrungsberichten können beim Dranbleiben helfen und ermutigen, weiterzugehen: »Stecke genauso viel Energie und Entschlossenheit in deine Heilung wie in dein Überleben in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren.« So schreibt Dorianne, eine 35-jährige Überlebende.

»Lauf nicht davor weg. Vergrab es nicht. Versuch nicht, eine neue Realität zu schaffen, indem du dich in irgendetwas hineinsteigerst oder dich durch deine Gefühle hindurchfrisst. Schneid dir nicht die Pulsadern auf. Pack das einfach an, denn es kommt sowieso immer wieder, wenn du weiterlebst. Es tut weh, aber du musst weitermachen. Das gehört einfach zu deinem Leben.« So Soledad, eine 28-jährige Überlebende.3

Zwischenzeitlich begleite ich selbst Menschen auf dem Exerzitienweg – auch Überlebende. Oft bin ich schockiert, wie viele Frauen sexuellen Missbrauch erlebt haben. Immer wieder höre ich: »Ich gehöre auch dazu« – oder: »Das habe ich auch erlebt.« Was noch dazukommt: Nicht jede Frau weiß von ihrem Missbrauch, manche entdeckt ihn erst, wenn sie anderen zuhört oder ein Buch liest oder einen Text meditiert. Missbrauchserfahrungen sind oft ganz tief in uns verschlossen! Versteckt und verdeckt, und wenn sie dann angestoßen werden, kommen sie oft eruptiv. Was wir erlebt haben, ist tief in unserem Körper gespeichert – auch wenn wir das nicht (mehr) wissen (wollen).

Ich bin Pfarrerin und vertrete entschieden eine Erfahrungstheologie. Was ich theologisch denke und weitergebe, muss sich in der Wirklichkeit überprüfen lassen. So prägen die Erfahrungen meine Theologie – Theologie und Leben stehen in einem ständigen Austausch und beeinflussen sich gegenseitig. Auch Ignatius war ein Erfahrungstheologe, daher fasziniert er mich immer wieder. Mit seinen Exerzitien half er biblische Texte erfahrbar zu machen und unser Leben ins Gespräch mit biblischen Geschichten zu bringen. Biblische Texte erleben kann jeder und jede, nicht nur die, die Theologie studiert haben. Er schreibt selbst: »Denn wenn der Betrachtende die wahre Grundlage der Geschichte so kennenlernt, dass er selbständig sie überdenken und auf ihren Grund dringen kann, und wenn er dabei irgendetwas findet, was die Geschichte ein wenig mehr erhellt und kosten lässt – mag dies nun durch eigenes Eindringen sein oder sofern die Einsicht durch göttliche Kraft erleuchtet wird –, so gewährt dies mehr Geschmack und geistliche Frucht, als wenn der, der die Übungen gibt, den Sinn der Geschichte viel erklärt und ausgeweitet hätte; denn nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Genüge, sondern das Fühlen und Kosten der Dinge von innen« (EB 2).4 Einige Beispiele für das Erleben biblischer Geschichten werde ich später breiter entfalten.

Ich zitiere mein Erleben, um das Geschehen Missbrauch zu verdeutlichen. Mit »Missbrauch« meine ich vor allem »sexuellen Missbrauch«. Vieles hier Beschriebene gilt auch für andere Formen des Missbrauchs, verstanden als Ver-Gewaltigung menschlicher Würde. Betroffen von Missbrauch sind mehrheitlich Frauen, doch selbstverständlich werden auch Männer missbraucht.

Wo ich mein Erleben erzähle, geht es mir nicht um Orte und Namen, also um genaue Rekonstruktion des Erlebten. Deshalb sind diese Angaben weitgehend verfremdet. Es geht mir auch nicht darum, Menschen an den Pranger zu stellen, die an meiner Geschichte mitgewirkt haben – auch nicht meine Eltern, die viel für ihre Kinder taten, allerdings auch nur das weitergeben konnten, was sie selbst hatten und erfahren hatten. Seit ich selbst Mutter bin und täglich versuche, meine drei Kinder ins Leben zu begleiten, ahne ich mit jedem Jahr mehr davon, dass unser Begrenztsein bei unseren Kindern auch Schaden anrichten kann, selbst wenn wir alles noch so gut meinen. Wir alle haben auf unseren Lebensweg Bausteine mitbekommen von denen, die uns geprägt und erzogen haben – viele gute, aber auch solche, die nicht hilfreich waren und die uns verletzten. Mit all dem leben zu lernen und Leben zu entdecken ist unsere Lebensaufgabe. Verändern oder heilen lässt sich aber nur, was auch angenommen wurde. Wenn ich deshalb im Folgenden Schwieriges beschreibe, dann in diesem Horizont.

Neben dieser Bestandsaufnahme möchte ich vor allem aufzeigen, wie mir Exerzitien geholfen haben und noch immer helfen, als Missbrauchsüberlebende immer mehr das Leben in seiner Fülle und Schönheit zu entdecken. Wesentlich gehört für mich zu dieser Fülle die Körperlichkeit und Sexualität – für viele Missbrauchsüberlebende ein wunder Punkt.

So möchte ich Betroffenen Mut machen, ihren Weg zu gehen oder auf ihm weiterzugehen.

Begleitenden möchte ich Mut machen, sorgfältig hinzuhören und sich immer wieder selbst zurückzunehmen, um das Ziel der geistlichen Begleitung nie aus dem Auge zu verlieren: das Geschöpf mit dem Schöpfer ins Gespräch zu bringen. Einfacher wäre es oft, neue Abhängigkeiten zu schaffen – und manche Überlebende suchen solche Wege. Aber als Begleitende müssen wir uns da liebevoll verweigern. Mündigkeit ist das Ziel, nicht neue Abhängigkeit!

Noch etwas: Ignatianische Spiritualität und Begleitung lässt sich nicht einfach aus einem Buch lernen und dann übernehmen. Sie muss eingeübt werden. Ignatianische Spiritualität ist ein Übungsweg, den wir selbst gehen sollten, ehe wir andere begleiten. Und sie ist ein Weg, auf dem zu bleiben sich lohnt, denn sie ermöglicht, hilfreiche Lebensvollzüge einzuüben. Beispielsweise sind »Indifferenz« oder »liebende Aufmerksamkeit« wichtige Haltungen, vor allem für Missbrauchsüberlebende selbst, nicht nur für die, die sie begleiten. Zur Begleitung sagt Ignatius: »Es gibt keinen größeren Fehler in den geistlichen Dingen, als die andern nach sich selbst leiten zu wollen.«5 Das Ziel der Exerzitien formuliert er so: »Geistliche Übungen, um über sich selbst zu siegen und sein Leben zu ordnen, ohne sich durch irgendeine Anhänglichkeit bestimmen zu lassen, die ungeordnet ist« (EB 21).

Auf meinem Weg haben mich viele Menschen begleitet. Danke vor allen andern P. Werner Grätzer SJ, der mit seinem glaubwürdigen Engagement mich über weite Teile der Ausbildung begleitete und ermutigte. Danke auch Margrit Schiess, die mir den Weg zum Meditieren zeigte. Danke allen, die mit mir unterwegs waren und sind, die gelitten und meditiert, mit mir diskutiert und mich ermutigt haben in den verschiedensten Gruppen! Danke all den Menschen, die sich meiner Begleitung anvertraut haben und mir halfen, Neues zu lernen und zu staunen. Danke P. Christian Rutishauser SJ, der mir den Blick für ignatianische Spiritualität und ihre Aktualität weitete, so dass ich immer noch neu am Staunen bin! Romi Tamborini hat als Fachfrau (Psychologin und Therapeutin) und als Freundin mich immer wieder ermutigt, meinen Weg zu gehen – auch als Missbrauchsüberlebende; den Gesprächen mit ihr verdanke ich viel. Danke auch an Claus Herger, der mich als Supervisor und Psychotherapeut seit vielen Jahren begleitet und immer wieder herausfordert. Ein herzlicher Dank den Herausgebern der »Ignatianischen Impulse«, dass sie dieses Thema in ihre Reihe aufgenommen und das Buch betreut haben. Ein besonderer Dank gilt Max, mit dem ich seit mehr als vier Jahren Neues erleben und staunen darf. Ja – Leben ist etwas Schönes. »Gott in allem zu suchen und zu finden« (Ignatius), das fasziniert und bahnt neue Wege!

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