Читать книгу Kullmann stolpert über eine Leiche - Elke Schwab - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеFeierabend! Trixi wusste gerade nicht, ob sie sich freuen sollte. Zumindest die Straßen waren nicht mehr glatt. Saukalt war es aber immer noch. Trixi beschloss, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie stellte sich auf dem Heimweg vor, wie sie sich einen lauschigen Abend vor dem geschmückten Tannenbaum machte. Über seine zweifelhafte Herkunft wollte sie einfach nicht nachdenken. Einfach nur ungestört die weihnachtliche Atmosphäre genießen. Die Vorstellung klang verlockend.
Sie betrat das Haus, schaltete sie die Beleuchtung ein und ließ sich aufs Sofa plumpsen. Das klappte ja schon prima. Der Baum war eine Wucht. Niemals wäre ihr selbst ein derartiges Kunstwerk gelungen. Sie versank in ihren Betrachtungen dieser glitzernden Lichter.
Es klopfte an der Tür.
Erstaunt darüber, warum ihr Besucher nicht klingelte, erhob sie sich und ging das kurze Stück durch den Flur auf die Tür zu. Kurz davor blieb sie stehen. Es wäre sicher nicht klug zu öffnen. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, schob sich am Tannenbaum vorbei ans Erkerfenster, das genau auf die Haustür zeigte.
Kein Mensch war zu sehen. Aber etwas lag auf dem Boden. In der Dunkelheit konnte Trixi nicht erkennen, was es war.
Scheiße! Da war sie wieder – ihre Angst. Sie hatte doch abschalten wollen, Abstand gewinnen und sich durch nichts mehr erschüttern lassen. Doch mit diesem kleinen Paket vor ihrer Tür waren alle ihre Vorsätze zunichte gemacht. Allein die Vorstellung, jetzt nach draußen zu gehen und das Paket anzunehmen ließ sie zittern.
Morgen früh, wenn sie das Haus verließ, konnte sie sich darum kümmern.
Aber den Entschluss umzusetzen kostete sie mehr Nerven, als sie geahnt hatte. Unentwegt ging sie von Zimmer zu Zimmer, fühlte sich in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr wohl. Wie lange sollte das so weitergehen? Jeglicher Anfall von Normalität wurde durch eine neue Attacke zerstört. Oder war Normalität für sie nur eine Ausflucht, nicht wieder zur Polizei gehen zu müssen. Die Abfuhr dieses Bullen in dem Büro – und der Korb von Polizeihauptmeister Hollmann – hatten sie an sich selbst zweifeln lassen. Doch das war falsch. Sie spürte, dass sie nicht weiter tatenlos abwarten konnte, sie musste etwas tun. Ihr Blick fiel auf den Computer. Dabei kamen ihr wieder die Worte des Polizeihauptmeisters in den Sinn: »So wie Sie die Sachlage schildern, besteht die Möglichkeit, dass er auch diese Technologie nutzt, um mit Ihnen in Kontakt zu treten. Oftmals geschieht das durch beleidigende E-Mails.«
Also schaute sie nach. Immer noch nichts.
Es war wie verhext. Entweder besaß Roland Berkes gar keinen Computer oder aber er wusste genau, dass eine E-Mail ihn verraten könnte. Hollmann hatte auch gesagt: »Solange er nichts hinterlässt, womit sich seine Aktivitäten nachweisen lassen, können wir nichts tun … Es wird uns nicht gelingen, die Staatsanwaltschaft von strafbaren Handlungen zu überzeugen, wenn wir keine Fakten liefern.« Roland wollte keine Fakten liefern – er verfolgte sein Ziel mit aller Vorsicht und machte Trixi damit wehrlos.
Das brachte sie auf eine neue Idee. Bevor sie den Rechner wieder ausschaltete, startete sie eine Recherche bei Google über Stalking. Es gab erstaunlich viele Treffer. Sie las fasziniert einiges über dieses unerwünschte Nachstellen und die psychischen und physischen Auswirkungen. Darin fand sie auch bestätigt, was Hollmann ihr gesagt hatte. In Deutschland war es schwierig, mit dem Problem Stalking bei Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht Gehör zu finden, weil es erst allmählich ins Bewusstsein drang.
Eine Weile starrte sie auf die vielen Informationen auf ihrem Bildschirm, bis die Buchstaben vor ihren Augen flimmerten. Besser wäre ein Buch. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Kurzerhand klickte sie den Internetkatalog der Stadtbibliothek an, der ihr unvermittelt anzeigte, dass einige Titel verfügbar waren. Aufgeregt suchte sie die Spalte mit den Öffnungszeiten. Erleichtert las sie, dass die Bibliothek von Dienstag bis Samstag durchgehend geöffnet hatte. Also würde sie gleich morgen in der Mittagspause dorthin gehen, sich Fachlektüre über das Phänomen Stalker heraussuchen und im Lese-Café, das eigens dafür eingerichtet worden war, darin schmökern.
Dieser Entschluss gab ihr das beruhigende Gefühl, nicht tatenlos zuzusehen. So gelang es ihr, mit der Tatsache, dass jemand etwas vor ihre Haustür gelegt hatte, besser fertig zu werden.
*
Am nächsten Morgen stolperte sie über einen Käfig. Ihr Herzschlag setzte aus, ihr wurde ganz schlecht. Vor ihr stand ein Katzenkäfig, in dem ein kleines Kätzchen lag – erfroren!
Nach mehrmaligem Würgen machte sie sich auf den Weg zur Arbeit. Den Katzenkäfig stellte sie zur Seite, weil sie das arme Geschöpf jetzt nicht anfassen konnte. Sie schob ihr Fahrrad an den Autowracks vorbei, als sie eine Stimme hörte: »Mörderin! Mörderin! Du bist schuld an ihrem Tod.«
Diese körperlose Stimme, die vom Autofriedhof herüberklang, ging ihr durch Mark und Bein. Diese hässlichen Worte klangen in ihren Ohren, bis sie am Friseursalon ankam. Sie war zu spät dran. Käthe bedachte sie mit einem besorgten Blick und fragte: »Ist wieder etwas passiert?«
Trixi schämte sich maßlos, dass sie das arme Kätzchen hatte erfrieren lassen. Deshalb wollte sie den Vorfall lieber für sich behalten.
»Du hast doch was.«
»Ich werde von dir immer nur belehrt, wie ich es besser machen könnte. Darauf kann ich verzichten.«
»Entschuldige, dass ich es gut mit dir meine.«
»Mit diesem Kerl ist einfach nicht zu reden, er ist ein Psychopath. Er tut Dinge, die mir Angst machen.«
»Ich glaube nicht, dass er gefährlich ist. Du hast zu viel Fantasie. Zurzeit schadet sie dir. Denn so viel, wie du in der kurzen Zeit erlebt haben willst, schafft einer allein gar nicht anzustellen.«
»Egal«, murrte Trixi. »Ich möchte heute kurz weggehen. In der Mittagspause. Ist das okay für dich?«
Käthe nickte, fragte aber nicht nach dem Grund.
Trixi bemühte sich, auf die Gespräche der Kundinnen einzugehen, um sich abzulenken. Es war ein Samstag, also viel zu tun. Zum Glück ließ der Betrieb in der Mittagszeit etwas nach. So konnte Trixi ruhigen Gewissens gehen. Sie eilte zur Bushaltestelle. Als sie in den Bus einstieg, glaubte sie, einen weißen Lieferwagen der Firma Internationaler Paketdienst zu sehen. Lauerte ihr Roland Berkes auf?
An der Bushaltestelle vor der Stadtbibliothek stieg sie aus. Sie schaute sich um. Von Roland keine Spur. Sie hatte sich wohl getäuscht. Sie näherte sich dem Gebäude aus grauem Stahl, Beton und Glas mit raschen Schritten, trat ein und passierte den schmalen Durchgang, der ins Reich der Bücher führte. Auf einem Zettel hatte sie sich den Standort der verfügbaren Titel zum Thema Stalking notiert. Sie fand das Regal auch sofort, nahm sich 3 Bücher heraus und ließ sich im Lese-Café im Erdgeschoss an einem freien Tisch nieder.
Sie schaute aus dem Fenster. Die Aussicht reichte bis zum großen Gustav-Regler-Platz, über dem das Bürgeramt wie eine gläserne Brücke schwebte. Seinen Ursprung hatte das futuristische Gebäude auf der kurzen Seite der Bibliothek und mündete in das neugotische Bauwerk des Rathauses von Saarbrücken.
Sie blätterte im ersten Buch und begann fasziniert zu lesen: »Am 1.1.2002 ist das so genannte Gewaltschutzgesetz in Kraft getreten. Danach erlässt das zuständige Gericht gem. § 1 Abs. 2 GewSchG auf Antrag des Opfers eine Eilschutzanordnung, wenn das Opfer glaubhaft macht, dass eine Person einer anderen mit einer Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit widerrechtlich gedroht hat oder eine Person widerrechtlich oder vorsätzlich in die Wohnung einer anderen Person oder deren befriedetes Besitztum eindringt oder eine andere Person dadurch unzumutbar belästigt, dass sie ihr gegen den ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder sie unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln verfolgt.
Das Opfer sollte eine möglichst detaillierte Aufstellung der Belästigungen mit Orts- und Zeitangaben fertigen und die Angaben an Eides statt versichern. Es muss also nicht erst etwas passieren, bevor die Gerichte tätig werden. Es reicht schon die ernsthafte Drohung.«
Das war ja interessant. Wie oft hatte Trixi die Polizei schon informiert? Außer ausführlichen Erklärungen hatte Hollmann nichts getan und einfach behauptet, in ihrem Falle gäbe es nichts zu tun. Hier stand, dass eine ernsthafte Drohung ausreiche. Aber nein, ihr musste wohl doch erst etwas passieren. Gebannt las sie die Ausführungen. Doch leider schlug die Aufregung schnell in Ärger um, als sie auf das Kapitel stieß, dass prominenten Opfern, wie Oskar Lafontaine oder Monika Seles besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde. In diesen beiden Fällen wurden Stalking-Forschungsgruppen hinzugerufen, um die Motivation der Täter besser nachvollziehen zu können.
Trixi sah aus dem Fenster und traute ihren Augen nicht: Dort stand Roland Berkes. Ihre Blicke trafen sich. Wartete er etwa auf sie?
Hastig konzentrierte sie sich auf ihr Buch, aber das wollte ihr nicht mehr gelingen. Wieder schaute sie hinaus.
Er war weg.
Sie stand auf und stellte sich direkt ans Fenster, um den großen Platz besser überblicken zu können. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nicht mehr entdecken.
War er wirklich verschwunden oder versteckte er sich vor ihr?
Sie kehrte an ihren Platz zurück.
Ein Zettel lag auf dem aufgeschlagenen Buch.
»Glaub bloß nicht, dass du ein Opfer bist. Du bist an allem selbst schuld.«
Erschrocken wich sie zurück. Also war Roland Berkes noch hier. Hastig eilte sie zum Ausgang, aber vergebens. Sie konnte ihn nirgends sehen. Es begann zu regnen und sie hatte keine Lust, ohne Schirm hinauszulaufen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Also kehrte sie zurück. Enttäuscht beschloss Trixi wenigstens den Zettel als Beweismittel zu nutzen.
Das Buch lag noch an derselben Stelle. Aber der Zettel war weg.
»Haben Sie Probleme?«, fragte ein Mann.
»Ja«, antwortete Trixi hastig. »Jemand hat mir eine Drohung ins Buch gelegt.«
»Sind Sie sicher? Geben Sie mir den Zettel und wir werden uns darum kümmern.«
»Der Zettel ist weg«, gestand Trixi zerknirscht.
Der Mitarbeiter der Stadtbibliothek schaute die junge Frau mit einem seltsamen Blick an. Dass er ihr nicht glaubte, erkannte sie sofort. Also konnte sie sich auch den Gang zur Polizei sparen.
Sie ließ sich eines der Bücher einpacken, passierte die Abhol- und Rückgabekontrolle und verließ das Bibliotheksgebäude.
Die Temperaturen waren angestiegen, der Regen wurde stärker. Mit dem Schirm kämpfte sich Trixi nach einem anstrengenden Arbeitstag mühsam nach Hause. Schon von weitem konnte sie die Umrisse ihres Hauses sehen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da war sie froh, Eigentümerin eines solchen Domizils zu sein. Heute hatte sie nur noch Angst davor.
Vom Abstellplatz der Autowracks hörte sie das Plätschern des Regens auf die verrosteten Bleche. Alles schien in Ordnung zu sein. Vor der Haustür warf sie einen Blick zur Seite, wo sie den Katzenkäfig abgestellt hatte. Er war weg.
Sollte sie erleichtert sein? Nun brauchte sie den Tierkadaver nicht zu entsorgen.
Mit gemischten Gefühlen betrat sie das Haus. Der Duft der Tanne stieg ihr sofort in die Nase und ließ sie den Frust vergessen. Im Wohnzimmer richtete sie sich gemütlich ein, schaltete die Weihnachtsbeleuchtung ein und genoss die Stille. Nach einer Weile schlief sie auf dem Sofa ein.
Ein heftiges Pochen an der Haustür weckte sie auf.
Erschrocken eilte sie zum Fenster. Wieder stand ein Kasten vor der Tür. Sie war entsetzt. Wenn das wieder ein junges Kätzchen war, das in dieser Kälte auf keinen Fall im Freien bleiben durfte, musste sie es ins Haus holen. Hastig rannte sie durch den Flur auf die Haustür zu, öffnete sie mit Schwung, trat eilig hinaus. Sie sah, wie ihr etwas entgegenkam, konnte aber nicht mehr reagieren. Ein heftiger Schmerz traf sie unvermittelt am Kopf, dann wurde alles schwarz um sie herum.
Als sie wieder zu sich kam, zitterte sie vor Kälte. Sie setzte sich auf und versuchte sich zu orientieren. Sie war vor ihrer Haustür und hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Ihr Blick fiel auf einen dunklen Fleck. Von Ekel geschüttelt sprang sie auf, aber ihr wurde schwindelig, sodass sie sich wieder setzen musste. Nun sah sie die große Blutlache. Daneben stand der Katzenkäfig mit dem toten Kätzchen. Ein Zettel hing daran.
Zitternd näherte sie sich dem Papier und las: »Schau dir die Sauerei gut an! Das nächste Mal liegst du in deinem eigenen Blut.«
Mit einem Aufschrei prallte Trixi zurück, knallte die Tür zu und raste ins Badezimmer. Dort riss sie sich sämtliche Kleider vom Leib, stopfte sie in die Waschmaschine, duschte und versuchte sich zu beruhigen. Sie beschloss, nochmals zur Polizei zu gehen. Die neuen Ereignisse und die Spuren vor ihrer Haustür mussten doch überzeugen.
Als sie das Haus verließ, war alles verschwunden. Die tote Katze, das Blut, der Zettel – alles. War das ein Grund erleichtert zu sein? Es hatte den Vorteil, dass sie die Sauerei nicht selbst beseitigen musste. Andererseits konnte sie der Polizei nun nicht zeigen, was ihr widerfahren war.
Aber ihr Entschluss stand fest.
Sie lief über die Brücke auf den Grumbachtalweg zu, der in die Kaiserstraße mündete. Von dort war es nicht mehr weit bis zur Polizei.
»Sie schon wieder«, begrüßte Hollmann die verstörte Frau. »Sie sehen mitgenommen aus.«
Stirnrunzelnd hörte er sich ihre Geschichte an, bevor er sagte: »Es ist Samstagabend, eine Zeit, in der überall in der Stadt etwas los ist.«
»Was hat das mit mir zu tun?«
»Wenn ich einem blinden Alarm folge und woanders etwas passiert, hat das schon mit Ihnen zu tun. Ich hoffe, Sie fantasieren nicht.«
»Sie erinnern sich bestimmt noch an den Artikel über die Frau, die von ihrem Verfolger getötet wurde.«
»Ich leide noch nicht an Alzheimer. Ich erinnere mich aber auch daran, dass es Zeugen gab, die den aufdringlichen Besucher bestätigen konnten. In Ihrem Fall sehe ich das nicht und habe auch nichts in der Hand, was ihre Aussage bekräftigt. Haben Sie die tote Katze noch? Ist der Blutfleck vor Ihrer Haustür noch zu sehen?«
»Ich kann nur sagen, dass die Spuren beseitigt worden sind, während ich unter der Dusche war«, gestand Trixi und plötzlich wurde ihr klar, was hier geschah.
»Haben Sie den Zettel noch?«
Niedergeschlagen schüttelte sie den Kopf.
»Verstehen Sie jetzt, warum ich nichts unternehmen kann?« Hollmann schaute Trixi eindringlich an. »Habe ich Ihnen nicht ausführlich erklärt, wie schwierig es ist, die Staatsanwaltschaft von einem Stalking-Fall zu überzeugen?«
Unter seinem Blick fühlte Trixi sich wie ertappt, weil ihr genau in dem Augenblick der geschmückte Tannenbaum einfiel. Womöglich wäre das ein Beweis gewesen. Aber durch ihre Inkonsequenz hatte sie die Chance verspielt, diesen noch vorzubringen, obwohl Hollmann auf etwas Entscheidendes wartete. Jetzt würde sie sich damit nur noch lächerlich machen, weil sie zugeben müsste, dass sie diese Aktivität ihres hartnäckigen Verfolgers einfach akzeptiert hatte.
»Soll ich mich in Ihr Haus setzen und warten, bis der imaginäre Bösewicht sich etwas Neues einfallen lässt?« Mit diesen Worten unterbrach der Polizeibeamte Trixis Gedanken. Da saß sie vor dem Mann, der sie vor ihrem Verfolger beschützen könnte, wenn es ihr nur gelingen würde, ihn zu überzeugen.
Sie spürte, dass sie dieser Situation nicht gewachsen war. Ihre Fehler erkannte sie erst, wenn es zu spät war. Aber das nützte nichts. Mit dem Nikolaus hatte es angefangen. Ihn einfach zu dulden war ihr erster entscheidender Fehler, denn diese Puppe wäre auch ein unwiederbringlicher Beweis gewesen. Dann der Tannenbaum. Auch da hatte sie sich einfach von Gefühlen hinreißen lassen, hatte sich prinzipienlos verhalten, was ihrer Situation nur schaden konnte. Die Quittung dafür kassierte sie jetzt.
Die schmerzliche Einsicht zermürbte sie. Wie gerne hätte sie Hollmann gebeten ihr künftig beizustehen. Aber das konnte sie vergessen – so wie er sie anschaute. Stumm erwiderte sie seinen Blick, in der Hoffnung, dass er es sein würde, der das Schweigen brach.
Aber den Gefallen tat er ihr nicht.
»Ich habe Angst, wieder allein durch die Dunkelheit in mein Haus zurückzugehen«, gab sie zerknirscht zu.
»Kann es sein, dass Sie sich in psychischem Stress befinden?«
Trixi schaute den Beamten erschrocken an. Sein kantiges Gesicht drückte Misstrauen aus; seine grünen Augen wirkten wachsam. Diese Frage fehlte noch.
»Ich glaube, dass der Stress, in dem ich mich befinde, für die Situation ganz normal ist«, murrte sie. Dabei bemühte sie sich, mit fester Stimme zu sprechen. Er durfte auf keinen Fall merken, wie sehr er sie damit getroffen hatte.
Hollmann runzelte die Stirn, rieb sich über die Schläfen, bevor er fragte: »Können Sie nicht bei einer Freundin schlafen? Oder eine Freundin bei Ihnen?«
Eine Weile überlegte Trixi, bis ihr Käthe einfiel.
»Rufen Sie sie am besten gleich von hier aus an. Ich fahre Sie dann«, schlug Hollmann vor und reichte Trixi den Telefonhörer.
Nach einem kurzen Gespräch einigten sich die beiden Frauen, dass Käthe bei Trixi schlafen würde. Hollmann hielt sein Versprechen und übernahm den Fahrdienst.
*
Die Anwesenheit der Freundin ließ Trixi ihre Sorgen tatsächlich vergessen. Sie führte Käthe durch sämtliche Zimmer des Erdgeschosses, sperrte sogar die Tür zum Treppenhaus auf, um ihr die obere Etage zu zeigen. Zum Abschluss präsentierte sie ihrer Freundin voller Stolz ihr kleines Pflanzenparadies. Mit staunenden Blicken schlenderte Käthe zwischen dem großen Tisch, den Stühlen, den Sideboards und den Holzschemeln hindurch. Vor den ausgefallenen Sorten blieb sie stehen und ließ sich von Trixi die Namen und besonderen Eigenschaften erklären. Als Käthe eine der exotischen Pflanzen anfassen wollte, hielt Trixi ihre Hand fest.
»Vorsicht! Die ist giftig! Oder du musst dir hinterher gründlich die Hände waschen.«
»Oh! Du hegst hier nicht nur Pflanzen, sondern ein gut getarntes Waffenarsenal.« Käthe lachte.
»Nur die eine ist giftig, da kann man noch nicht von einem Arsenal sprechen.«
Anschließend machten sie es sich im Wohnzimmer gemütlich. Trixi schaltete die Beleuchtung des Weihnachtsbaums ein. Vor Begeisterung stieß Käthe einen Freudenschrei aus. Sie tranken Wein und plauderten bis tief in die Nacht hinein.
Trixi erwachte am nächsten Morgen als erste. Ihr Blick fiel auf das Gesicht ihrer schlafenden Freundin. Der Anblick stimmte sie so froh wie schon lange nicht mehr. Obwohl sie noch müde war, machte sie sich auf den Weg durch die Kälte zu dem Bäckerauto, das am Sonntagmorgen durch den Grumbachtalweg fuhr. Dort kaufte sie Brötchen. Es tat ihr gut, jemanden zu haben, für den sie sorgen konnte.
Am Auto stand bereits ein älterer Herr, den sie fast jedes Mal an dieser Stelle traf. Er trug einen dicken Mantel, Hut und Schal. Trotzdem war seine Nase rot von der Kälte. Als er Trixi erblickte, meinte er mit sorgenvoller Stimme: »Sie sehen angeschlagen aus. Sind Sie krank?«
Trixi schüttelte den Kopf, was sie besser nicht getan hätte. Vor Schmerz zuckte sie zusammen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Es geht schon«, wehrte Trixi schnell ab. »Ich bin gestern auf den Hinterkopf gefallen. Das tut noch ein bisschen weh.«
»Gehen Sie lieber zum Arzt und lassen Sie sich untersuchen. Sollte es eine Gehirnerschütterung sein, ist nicht damit zu spaßen.«
Trixi war gerührt von der Fürsorge. Aus seinen Augen sprach Mitgefühl. Ihr wurde warm ums Herz. Er hielt Brötchen und Kuchen in den Händen. Zufällig wusste sie, dass er erst vor einem Jahr geheiratet hatte – sehr spät für einen so netten Mann. Aber diese Ehe schien ihm gut zu bekommen, denn seitdem war er rundlicher geworden, wodurch er noch mehr Gemütlichkeit ausstrahlte, um die Trixi ihn beneidete.
»Ich werde Ihren Rat befolgen.«
»Ich weiß, dass Sie allein leben, seit Ihre Eltern tot sind. Wenn Sie Hilfe brauchen, klingeln Sie einfach bei uns. Meine Frau und ich helfen gern. Wir wohnen in der Kaiserstraße – links um die Ecke, das erste Haus.«
»Vielen Dank. Zurzeit wohnt eine Freundin bei mir. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag!« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und eilte nach Hause. Es war schön, einfühlsame Mitmenschen in der Nachbarschaft zu wissen. Die letzten Tage hatten Trixi entmutigt, weil es ihr nicht gelungen war, die Polizei von ihrem Verfolger zu überzeugen. Diese Begegnung hob ihre Laune beträchtlich.
Käthe stand am Wohnzimmerfenster, als Trixi das Haus betrat. Sie schaute auf den Autofriedhof und meinte verdrossen: »Die Aussicht ist nicht berauschend. Wie hältst du das aus?«
»Früher stand dort das Haus meiner Freundin Chantal. Wenn ich hinausschaue, sehe ich nicht die hässlichen Autowracks, sondern erinnere mich daran, wie schön es war, als sie noch hier war.«
»Warum steht das Haus nicht mehr?«
»Es musste abgerissen werden, weil es mit Asbest verseucht war. Meine Freundin ist mit ihrer Familie weggezogen.«
Trixis Stimme klang traurig.
Eine Weile schaute sie zusammen mit Käthe auf die verrosteten Autowracks, bis sie hinzufügte: »Chantal war einfach super. Zusammen waren wir unschlagbar. Wir heckten immer Streiche aus, nahmen nichts und niemanden ernst, machten aus allem ein Spiel. Die Lehrer hatten ihre helle Freude an uns. Aber den meisten Spaß hatten wir, wenn wir die kleinen Quälgeister ärgern konnten.«
»Welche Quälgeister?«, horchte Käthe auf.
»Friedhelm Lord, der Sohn unseres Gärtners und Frank Lüderitz, der Sohn der Haushälterin von Chantals Familie.«
»Nobel geht die Welt zugrunde. So etwas konnten sich meine Eltern noch nie leisten.«
»Ich glaube, meine Mutter brauchte einen Gärtner, an dem sie ihre Überlegenheit in Sachen Pflanzenkunde demonstrieren konnte. Der arme Mann hatte bei ihr nicht viel zu melden«, meinte Trixi dazu schulterzuckend.
»Und sein Sohn?«
»Der auch nicht – ebenso der Sohn der Haushälterin. Die beiden hatten Chantal und ich im Griff.«
»Erzähl schon«, drängte Käthe.
»Die Quälgeister wollten uns demonstrieren, dass sie die Krone der Schöpfung sind. Immer versuchten sie uns reinzulegen, aber ihre Tricks waren damals schon uralt. Chantal und ich waren für die Knirpse viel zu raffiniert.«
»Was habt ihr denn mit den beiden angestellt?«
»Zuerst einmal gaben wir ihnen Spitznamen. Den Sohn unseres Gärtners nannten wir Lord Helmchen. Chantal taufte ihr Opfer auf den Namen Bugs Bunny.«
»Warum diese Namen?«
»Zum Familiennamen Lord kam hinzu, dass Friedhelms Haare eng am Kopf lagen. Das sah aus wie ein Helm. Der Name hat sich uns regelrecht aufgedrängt«, erklärte Trixi schmunzelnd. »Frank, der Sohn der Haushälterin, hatte vorstehende Zähne, die über die Unterlippe reichten, sodass wir nicht umhinkonnten, ihm den Namen Bugs Bunny zu geben. Zusammen haben Chantal und ich die Buben damit immer geärgert, haben sie gejagt und verprügelt. Das fiel uns leicht, weil beide kleiner waren als wir.«
»Ihr wart aber ganz schön biestig.« Käthe schüttelte den Kopf.
»Sie waren so leicht zum Weinen zu bringen. Wir brauchten sie nur bei ihren Kosenamen zu nennen, schon flennten sie los. Das konnten wir uns nicht entgehen lassen.«
»Was ist aus den beiden geworden?«
»Keine Ahnung. Als Chantals Familie das Haus verlassen musste, nahmen sie Bugs Bunny und seine Mutter mit. Unser Gärtner wurde fast gleichzeitig entlassen, weil wir einen guten Preis für unseren Garten bekamen. Die Familie ist ebenfalls fortgezogen. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen.«
»Wie lange ist das her?«
»Bestimmt schon fünfzehn Jahre.«
Sie holten den Weihnachtsschmuck von der oberen Etage und dekorierten das Erdgeschoss. Käthe übernahm das Wohnzimmerfenster, wollte dort elektrische Sterne befestigen, als ihr Blick auf ein Buch fiel. Der Titel lenkte sie von ihrem Vorhaben ab. Er lautete einfach nur Stalking und bezeichnete diesen Fachbegriff als gleichbedeutend für obsessive Verfolgung oder obsessive Belästigung. Methoden wie Briefe, Telefonate, E-Mails, Auflauern und Verfolgen, Drohungen und Liebesbekundungen wurden aufgezählt. 18% aller Frauen und 5% aller Männer in Deutschland werden nach diesem Bericht mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Stalkern. Das heißt, sie werden längerfristig von einer Person – meist im Liebeswahn – verfolgt, belästigt und teilweise auch bedroht.
»Was willst du damit?«, fragte sie erstaunt. »Hältst du Roland Berkes für einen Stalker?«
Trixi nahm ihr das Buch wortlos ab und legte es in den Schrank.
»Ich habe den ganzen Tag über kein Geräusch gehört, weder am Fenster noch an der Tür. Das Telefon steht still, es gibt keine unerwünschten Geschenke oder Kästen vor deiner Haustür. Heißt das, dass auch ein Stalker mal Urlaub macht?« Käthe ließ sich nicht so einfach abschütteln.
»Glaubst du, ich habe das noch nicht bemerkt. Ich hoffe die ganze Zeit, dass er endlich irgendetwas tut. Denn nur dann könnte ich dich davon überzeugen, welchem Terror ich ausgesetzt bin. Aber wie es aussieht, weiß er das auch. Ich vermute, dass er abwartet, bis ich wieder allein bin. Dabei hatte ich gehofft, ich könnte dich endlich davon überzeugen, mit mir gemeinsam den Kampf gegen ihn aufzunehmen.«
»Tut mir leid«, bedauerte Käthe. »Aber manchmal glaube ich wirklich, mit dir geht die Fantasie durch. Kein Mensch kann sich über einen anderen so genau informieren, dass er über jedes Detail in dessen Leben Bescheid weiß.«
*
Am Montagmorgen wachte Trixi wieder zuerst auf. Sie bereitete das Frühstück. Dabei fiel ihr Blick aus dem Fenster. Was sie dort sah, überraschte sie so sehr, dass sie mit einem lauten Jubelruf ihre Freundin weckte: »Käthe, es schneit!«
Sofort war die Freundin wach und sprang aus dem Bett.
In ihren Schlafanzügen, nur mit Pantoffeln an den Füßen rannten sie hinaus und jubelten »Schnee! Schnee!« Dabei streckten sie ihre Zungen heraus und versuchten einzelne Schneeflocken einzufangen.
»Schmeckt nach nichts«, stellte Käthe fest.
»Ich finde, es schmeckt köstlich.«
Die Schneeflocken fielen ganz dicht; die Luft war erfüllt von kaltem Weiß.
»Was tun wir, wenn wir eingeschneit werden?«, fragte Käthe, immer noch wie ein verrücktes Kind herumspringend.
»Meine Güte, wir werden uns gegenseitig aufessen müssen.«
»Der Kampf ums nackte Überleben«, fantasierte Käthe weiter.
»Von der Welt abgeschnitten!«
»Völlig auf uns allein gestellt!«
»Kein Strom!«
»Kein Radio!«
»Kein Fernsehen!«
»Wir werden wieder die alten Kartenspiele heraussuchen müssen, um uns die Zeit zu vertreiben«, hielt Trixi begeistert die Hände hoch.
»Wir werden unseren Vorrat an Kerzen aufbrauchen«, spann Käthe den Faden weiter.
»Kartenspiele im Kerzenschein. Das klingt traumhaft schön.«
»Weiße Weihnacht im Saarland«, rief Käthe. »Ich glaube, das habe ich noch nie erlebt.«
»Du musst eben Weihnachten bei mir verbringen.«
»Geht nicht«, hielt Käthe dagegen. »Ich muss zu meiner Familie, sonst werde ich enterbt.«
»Wenn du eingeschneit bist, kommst du gar nicht hin.«
»Stimmt. Leider bekomme ich kalte Füße.«
»Wenn der Schnee die Scheiben zudeckt, müssen wir ins Obergeschoss ausweichen, um das Treiben weiter zu beobachten.«
»Aber was tun wir, wenn er bis dorthin reicht?«
»Dann klettern wir aufs Dach.«, schlug Trixi weise vor.
Schnatternd vor Kälte aber glücklich gingen beide wieder ins Haus zurück. In der Küche wärmten sie sich bei einem heißen Kaffee auf.
Auch der Montag verlief ohne Zwischenfälle.
Am Nachmittag fielen nur noch vereinzelte Flocken. Trixi stand am Fenster und meinte: »Keine Schneekatastrophe in Sicht.«
»Also müssen wir nicht ins Obergeschoss flüchten?« Käthe stellte sich neben ihre Freundin und schaute auf den verschneiten Autofriedhof.
»Nein. Und wie es jetzt aussieht, wirst du Weihnachten bei deiner Familie verbringen können.«
»Wenn du willst, kann ich bis dahin bei dir bleiben.«
Gedanke war verlockend. Aber war das Angebot auch ernst gemeint?
»Nur, wenn du das wirklich willst«, antwortete sie und blickte ihre Freundin fragend an.
»Sicher! Bis Weihnachten sind es immerhin noch zwei Wochen. Bis dahin könnte ich bei dir einziehen. Hier zu wohnen ist nicht schlecht, weil es nicht weit bis zur Arbeit ist.«
Die Vorstellung, noch zwei Wochen Käthes Gesellschaft zu haben, gefiel Trixi. Wenn sie richtig vermutete, würde sie in dieser Zeit nicht nur die Zweisamkeit mit ihrer Freundin genießen, sondern auch Ruhe vor ihrem Verfolger haben. Diese Aussichten stimmten sie zuversichtlich.
Am Dienstagmorgen machten sie sich zusammen auf den Weg zur Arbeit. Sie hatten ihren letzten freien Montag in diesem Jahr verbracht. Von nun an mussten sie bis zum Jahresende sechs Tage in der Woche arbeiten, weil ein großer Kundenandrang erwartet wurde. Aber das konnte Trixi nicht erschüttern. Sie war einfach nur glücklich.
*
Weihnachten stand vor der Tür.
Einen Tag vor Heiligabend packte Käthe ihren Koffer.
»Du weißt, dass ich nicht länger bleiben kann.« Käthe schaute ihre Freundin mit traurigem Gesicht an. »Meine Eltern sind schon alt. Ich weiß nicht, wie oft ich Weihnachten noch mit ihnen verbringen kann.«
»Das verstehe ich. Wie schnell man seine Eltern verlieren kann, habe ich erfahren müssen«, stimmte Trixi zu. Ihre Mutter war überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Ihr Vater war seiner Frau kurze Zeit später gefolgt – er starb vor Gram und Trauer, war niemals über den Tod seiner Frau hinweggekommen.
»Es war eine schöne Zeit mit dir zusammen. Vielleicht kommst du mich ja mal wieder besuchen.«
»Bestimmt!«
Mit ihrem Koffer verließ Käthe das Haus. Auf dem Gehweg lag eine dünne Schneeschicht. Darunter befand sich Eis, sodass es spiegelglatt war.
»Melde dich bitte bei mir, wenn du angekommen bist«, rief Trixi ihrer Freundin hinterher. »Bei den Straßenverhältnissen mache ich mir Sorgen um dich.«
»Ich schicke dir eine SMS«, kam es zurück. Käthe musste sich darauf konzentrieren, ihren Koffer über das Eis zum Wagen zu schaffen, ohne zu stürzen. zum Abschied winkte sie ihr einmal zu und fuhr davon.
Zurück blieb ein einsames Haus.
Niemals hätte Trixi es für möglich gehalten, dass ihr Käthe einmal so wichtig werden könnte. Allein stand sie in dem erleuchteten Wohnzimmer und spürte eine lähmende Traurigkeit aufkommen. Rasch besann sie sich, begann aufzuräumen und zu putzen. Arbeit lenkte sie ab.
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihre Tätigkeit.
Wollte Käthe ihr nicht eine SMS schicken?
Sie hob ab und erlebte eine unangenehme Überraschung. Es war Roland Berkes.
»Ich möchte dich an einem der Weihnachtsfeiertage zum Essen einladen.«
Trixi war fassungslos. Woher wusste er, dass sie wieder allein war? Als sie nicht reagierte, sprach er seine Einladung noch mal aus. Trixi glaubte zu träumen. Kaum hatte Käthe das Haus verlassen, ging alles von vorn los. Wie oft hatte sie versucht, ihm klarzumachen, dass sie nicht mit ihm ausgehen wollte? Wie viele Beleidigungen hatte sie ihm an den Kopf geworfen? Wie oft hatte sie ihm ihren Standpunkt klargemacht? Das alles hatte nichts genützt.
»Was ist mit dir, Trixi?«, fragte er. »Warum sagst du nichts?«
»Weil ich dir nichts zu sagen habe.«
»Aber ich lade dich doch nur zum Essen ein.« Rolands Tonfall und seine Stimme klangen so niedergeschmettert, dass Trixi plötzlich Zweifel bekam, ob er wirklich hinter diesen grausamen Taten steckte.
Was war nur los mit ihrnm? Beeinflusste das bevorstehende Fest der Sentimentalitäten ihre Entschlossenheit?
»Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?«, gab sie zurück. »Du richtest mir Weihnachtsschmuck ein, ohne mich vorher zu fragen, du …« weiter kam sie nicht mehr, da warf Roland ein: »Ich wollte dir nur eine Freude machen.«
»Eine Freude, indem du mir einen geschmückten …«
»Was ist daran so verwerflich, einen Menschen, den man von Herzen gern hat, einzuladen? Ich weiß, dass du allein bist über die Feiertage. Ich habe nur eine kranke Mutter als Gesellschaft. Da könnten wir uns die Zeit gemeinsam schöner machen.«
Sie konnte seine Nachstellungen nicht mehr ertragen. Einerseits hielt er ihr vor, dass er bestens über ihr Leben Bescheid wusste, andererseits mimte er den Verliebten. Also beschloss sie, ihn anzulügen, damit er endlich Ruhe gab: »Nein. Pflege du deine Mutter – ich habe einen Gast.«
Aber anstatt Roland Berkes zu überraschen, überraschte er sie: »Du hast keinen Gast. Wen denn? Es gibt niemanden in deinem Leben.«
Erschrocken legte Trixi auf. Weggewischt waren die Zweifel, ob er wirklich hinter den grausamen Ereignissen steckte, die in und um ihr Haus herum geschahen. Nun hatte sie Gewissheit.
Wieder klingelte das Telefon. In der Annahme, dass es dieses Mal nur Käthe sein konnte, hob sie ab. Stattdessen hörte sie schon wieder die verhasste Stimme: »Nimmst du meine Einladung zum Essen an?«
»Du bist krank im Kopf! Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?«
»Du hast geschwindelt. Das ist keine Antwort, sondern nur ein Ausweichmanöver.«
Da hatte Trixi wieder die Bestätigung dafür, dass sein Verhalten abnormal war. Aber sie war allein, Käthe war nicht da, um es bezeugen zu können. Roland wusste genau, was er tat.
»Dann sage ich es deutlicher: Nein und nochmals nein.«
Mit enttäuschter Stimme wünschte Roland ihr ein frohes Weihnachtsfest und legte auf.
Fast im gleichen Augenblick meldete sich ihr Handy. Sie SMS von Käthe. Wäre sie nur eine Minute früher eingetroffen, hätte sich Trixi diese unerwünschten Telefonate sparen können.
Nun erst konnte Tixi abschalten. Sie zündete die Kerzen ihres Adventskranzes an, ließ leise Weihnachtsmusik laufen und streckte sich auf dem Sofa aus.
Die Stille, die in dem leeren Haus herrschte, seit Käthe fort war, empfand sie mit einem Mal als ungewohnt. Um ihre Einsamkeit besser ertragen zu können, flüchtete sie in die Erinnerungen der letzten Wochen.
Plötzlich hörte sie ein scharrendes Geräusch. Ihr blieb das Herz stehen. War jemand im Haus? Eine Weile lauschte sie, hörte aber nichts mehr. Vielleicht hatte sie sich auch nur getäuscht. Sie wollte sich gerade wieder entspannen, als es von oben krachte. Nun war sie sich ganz sicher, dass ein Einbrecher im Haus war.
Ihr Handy lag direkt neben ihr. Sofort griff sie danach und rief bei der Polizei an. Polizeihauptmeister Hollmann hob ab. Als sie seine Stimme hörte, war sie erleichtert.
»Bitte kommen Sie schnell, es ist jemand im Haus!«
»Wir sind in wenigen Minuten da.«
Es dauerte wirklich nicht lange, da hielt ein Polizeiauto vor der hölzernen Brücke. Zwei Polizeibeamte stiegen aus und kamen auf das Haus zu.
Hollmann war nicht dabei.
›So ein Mist‹, dachte Trixi. ›Wich er ihr aus? Warum kam er nicht selbst?‹
Enttäuscht führte sie die beiden Beamten die Treppe hinauf in den ersten Stock.
Prüfend gingen sie durch jedes Zimmer.
Einer der Beamten blieb stehen und grinste. Trixi folgte seinem Blick. Sie traute ihren Augen nicht. Vor ihnen stand die Schaufensterpuppe ihrer Mutter – in veränderter Form. Auf die Vorderseite des Holzkopfes war ein Gesicht aufgemalt worden, ein Frauengesicht mit knallrotem Kussmund, langen Wimpern über großen Augen mit Schlafzimmerblick. Auf den Brüsten, die nur aus zwei Rundungen bestanden, waren Brustwarzen aufgemalt und zwischen den Beinen ein schwarzes Gekräusel, was wohl die Schamhaare darstellen sollte.
»Die Puppe ist angemalt worden. Es war also wirklich jemand hier.«
»Oh ja! Und zwar einer von der ganz heimtückischen Sorte«, erkannte einer der Polizeibeamten schmunzelnd. »Wir werden eine Fahndung nach einem Erotikkünstler herausgeben.«
Während er seine Kamera hervorzog und Fotos von der bemalten Puppe schoss, bemühte er sich ernst zu bleiben. Doch als der andere laut loslachte, konnte er sich nicht mehr beherrschen.
»Wir haben es hier mit einem gefährlichen Gegner zu tun.«
»Oh ja! Die Kunstmafia. Sie zwingt Puppen ihre Reize zu zeigen.«
Immer neue Scherze fielen den beiden ein.
»Heißt das, dass Sie nichts tun werden?« Trixis Stimme klang verzweifelt.
»Natürlich nehmen wir Ihre Anzeige auf. Ich habe die Fotos nicht für mein Sammelalbum gemacht, sondern für die Beweisaufnahme.«
Dann verabschiedeten sie sich, nicht ohne ihr seltsame Blicke zuzuwerfen.
Das hatte sie nun davon. Sie wurde ausgelacht.
Je länger sie über alles nachdachte, umso mehr begann Trixi, an sich selbst zu zweifeln. Was geschah mit ihr? In der Zeit, als Käthe bei ihr gewohnt hatte, war nichts passiert, nicht das leiseste Geräusch, nicht die geringste Andeutung, dass dieser Kerl ein makabres Spiel mit ihr trieb. Er beobachtete jeden ihrer Schritte, ein Gedanke, der sie frösteln ließ. Nur so erfuhr er, wann sie allein war und wann er zuschlagen konnte. Damit gelang es ihm, sie wie eine Idiotin dastehen zu lassen. Nun hatten die Polizisten der Polizeidienststelle Saarbrücken-Land auch noch einen Grund, sie auszulachen. Der Plan ihres Verfolgers war genial – sein Erfolg eindeutig.
Entmutigt betrat sie ihr Schlafzimmer. Sie eilte zum Fenster, um den Rollladen herunterzulassen. Im gleichen Augenblick leuchtete ein kleines Licht auf, als zünde sich dort jemand eine Zigarette an. Durch das kurze Aufleuchten sah sie die Silhouette eines Menschen, der am Berghang saß – auf der Höhe des Schlafzimmerfensters. Sie konnte kein Gesicht erkennen, nur, dass die Gestalt sich nicht bewegte.
Mit einem Ruck ließ sie den Fensterschutz herunter und rannte hinaus in den Flur. Dort griff sie nach ihrer Daunenjacke und verließ im Laufschritt das Haus. Zu ihrem großen Glück fiel ihr wieder der nette, alte Herr ein, der ihr seine Hilfe angeboten hatte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Sie brauchte seine Hilfe.
Sie wollte über den Parkplatz mit den verrosteten Autos laufen, aber der Boden war spiegelglatt. Ein gebrochenes Bein käme in ihrer Situation äußerst ungelegen. Also verlangsamte sie ihr Tempo. Laut krachte es zwischen den Autos. Trixis Herz schlug ihr bis zum Hals. Verfolgte er sie? War er sogar auf gleicher Höhe mit ihr? Dann hatte sie keine Chance mehr. Er würde sie mit Leichtigkeit einholen. Ihre Angst trieb sie vorwärts.
Plötzlich war da ein schleifendes Geräusch. Dann folgte ein Kichern, das ihr die Haare zu Berge stehen ließ.
»Du bist so dumm wie das Kätzchen, das sterben musste« hörte sie ein Flüstern. »Für euch niedere Kreaturen gibt es den Friedhof der Kuscheltiere. Der ist hier!«
Trixi legte einen Zahn zu. Trotzdem verfolgte sie das Flüstern auf Schritt und Tritt.
»Aber bevor du dort landest, hätte ich gern meinen Spaß mit dir. Nur leider wird es dir keinen Spaß machen.«
Endlich hatte sie die Brücke überquert, bog in den Grumbachtalweg ein und rannte weiter bis zur Kaiserstraße. Das Haus des alten Mannes lag gleich auf der linken Seite, wie er es ihr beschrieben hatte. Es war hell erleuchtet.
Ein Krankenwagen stand davor. Erschrocken wich Trixi zurück. Sie kam wohl im falschen Augenblick. Von ihrem Versteck aus versuchte sie zu erkennen, wer abgeholt wurde. Es würde ihr von Herzen leidtun, wenn ihr väterlicher Freund Weihnachten im Krankenhaus erleben müsste. Aber nein. Eine junge Frau wurde ins Haus hineingetragen. Was ging dort vor, fragte sich Trixi. Hatte das Ehepaar Kinder aus früheren Ehen?
Sie sollte es wohl nie erfahren, weil sie ihr Vorhaben nicht mehr in die Tat umsetzte. Der nette Herr hatte andere Sorgen, als sich mit einer hysterischen Friseuse die Feiertage zu verderben, die Dinge hört und sieht, die sonst niemand wahrnimmt. Die Kälte kroch ihr durch die Kleider. Was blieb ihr anderes übrig, als wieder nach Hause zu gehen.
Sie schaute sich ängstlich um, als sie auf die alte Brücke zulief. Eine Weile verharrte sie in einer dunklen Ecke und versuchte, etwas zu erkennen. Die Schneereste auf dem Boden ermöglichten ihr eine gute Sicht. Nach einiger Wartezeit war sie sich sicher, dass ihr niemand auflauerte. So schnell sie konnte, eilte sie am Autofriedhof vorbei.
Obwohl sie die Haustür fest hinter sich verschloss, fühlte sie sich nicht sicher. Die Worte, die er ihr zugerufen hatte, klangen noch in ihren Ohren. Was hatte er damit gemeint: »Nur leider bist du zu blind, um es zu sehen!« Von Angst getrieben eilte sie durch jedes Zimmer ihres Hauses. Sie fand nichts, was seine Worte bestätigte. Sie wollte schon aufgeben, als ihr der Computer einfiel. Natürlich. Wies der Polizist nicht darauf hin, dass sich Stalker gerne solcher Hilfsmittel wie beleidigender E-Mails bedienten? Sie startete den Computer und prüfte den Posteingang. Aber da war nichts. Hatte sie sich alles nur eingebildet? War sie dabei verrückt zu werden?
Entmutigt ließ sie sich aufs Sofa sinken und hing ihren Gedanken nach. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie geglaubt, die Ruhe, die dann einkehren würde, täte ihr gut. Aber so war es nicht.
Sie fühlte sich einsam und ihrem aufdringlichen Verehrer schutzlos ausgeliefert, der nur ein Ziel hatte, ihr das Leben zur Hölle zu machen.