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Ein Anruf

„Sprechen wir mit Stephanie?“ Ich hörte zwei Stimmen, die gleichzeitig ins Telefon sprachen. Sie hatten es wohl auf laut gestellt.

„Hier sind Karsten und Beate“, hörte ich beide im Chor sagen, als ich aus meinem Bürofenster schaute. Es war noch früh und ich freute mich über die Morgensonne, rätselte, was mir wohl der erste Sommertag bringen würde.

„Sprechen wir mit Stephanie?“ Beide wiederholten gleichzeitig ihre Frage. Ich hatte ihnen nicht geantwortet, denn es lag so viel Energie und Neugierde in ihrer Frage, dass ich mich erst mal auf meinen Sessel im Arbeitszimmer setzte. Beide klangen fröhlich und sehr locker, als ob sie gleich anfangen würden, über ihr Leben zu erzählen.

„Ja“, antworte ich ihn, denn es war mein Job, Leuten zuzuhören, wenn sie über sich reden wollten.

„Sie bieten ja Therapie an, oder?“ Die werden ja schnell konkret, dachte ich, und gleichzeitig bemerkte ich ihre Unsicherheit. Ich konnte mich an keinen Karsten und keine Beate erinnern. Es waren wohl neue Klienten. Ungeduldig. Denn ich hörte, wie sie sich während der kurzen Gesprächspause leise am Telefon unterhielten. Sie waren wohl unsicher, ob sie alles richtiggemacht hatten. Ich verstand nichts, aber sie schienen, etwas untereinander zu klären. Beide waren mir fremd bis dahin total fremd, ich hatte von ihnen vorher noch nie etwas gehört. Und wollte sie erst mal kennenlernen, so stellte ich mich vor.

„Ja, mein Name ist Stephanie und ich bin Sexual-Paartherapeutin.“

„Das wissen wir, deshalb rufen wir an.“ Sie schienen, die Frage, die ich ihnen gerade beantwortet hatte, vergessen zu haben.

Meistens bekomme ich erst Anrufe von einzelnen Partnern und dann ist es immer eine der ersten Fragen, die ich mit dem Anrufer im Telefonat klären muss, wie der andere in die Gesprächssituation zu kriegen ist. Häufig ist gerade diese Frage die schwerste Frage, da sie schon so viel über das Paar verrät und über ihre Sexualität.

Aus meiner langjährigen Erfahrung weiß ich, dass es ein typisches Verhaltensmuster ist, dass viele keinen Mut haben, darüber zu sprechen. Sie sagen mir, dass der Partner die Wünsche des anderen bisher ignoriert hat, und sie meinen, dass er sie auch weiterhin ignorieren wird. Der Ausgangspunkt ist, dass der Anrufer über Sex beziehungsweise über das gemeinsame Sexleben mit seinem Partner sprechen will. Wenn dieser Punkt geklärt ist, dann geht es weiter, aber die Türen sind dann erst einmal geöffnet.

Eigentlich ist es ganz egal, mit wem ich den Erstkontakt habe, das hat mir meine bisherige Erfahrung gezeigt. Es macht keinen Unterschied, ob ich zuerst mit einer Frau oder einem Mann spreche. Der Anrufer hat Enttäuschungen erlebt, weil die Erwartungen sich unterscheiden, und oft ist er hoffnungslos, wobei der andere Partner immer skeptisch ist. Das ist der Grund, warum ich dann eingeschaltet werde. Diese Erfahrung habe ich über die Jahre gemacht. Aus diesem Grund versuche ich, die Situation des Anrufers genau zu verstehen.

Wenn es einen Unterschied zwischen Männer und Frauen gibt, dann unterscheiden sie sich darin, wie sie sich mit dem Wunsch des Partners nach einem Gespräch über Sex auseinandersetzen.

Obwohl für den Partner immer die eine Grundsatzfrage im Raum schwebt, wenn wir uns zum ersten Mal treffen: Warum muss diese Sexual-Paartherapeutin dabei sein? Diese Frage ist unausgesprochen, sobald sie angesprochen wird, beginnt meine Arbeit. Beiden als Paar und als Einzelnen bei ihrer Sexualität zu helfen.

Wenn ich zuerst mit dem Mann gesprochen habe, sind die ersten Reaktionen der Frau auf diese unausgesprochene Frage: Will er mit mir ins Bett? Bin ich nicht mehr gut genug? Hatte er mit einer anderen etwas? Es ist normal, das muss ich mir immer wieder sagen. Sie hat das so gelernt, diese Frage wurde ihr so anerzogen. Der Vorteil ist, ich kenne ihre Gefühle, denn ich würde genauso reagieren.

Wenn ich zuerst mit der Frau gesprochen habe, sind viele Männer erst mal still. Ich muss dann das Gespräch mit dem Mann suchen. Die meisten Männer schweigen. Lange hat es gedauert, bis ich verstanden habe, was in ihren Köpfen vorgeht: Mit wem hat sie darüber schon gesprochen? Erst mit ihren Freundinnen und jetzt mit dieser fremden Therapeutin? Wer weiß noch davon? Männer haben eher Angst vor dem Bekanntwerden des Themas als vor dem Problem selber.

Beide Arten von Reaktionen sind Abweisungen. Beide darf jeweils der andere Partner nicht persönlich nehmen. Ich sage dann immer, dass keine der noch so unterschiedlichen Reaktionen besser oder schlechter sei. Und häufig sage ich es auch mir, damit ich es nicht vergesse, denn zu schnell helfen zu wollen, ist ein Fehler von mir, womit man am Anfang alles kaputtmachen kann. Das weiß ich ganz gut, weil es gedauert hat, bis ich das gelernt habe. Denn das Spannende an meiner Arbeit beginnt erst dann, wenn ich beide kennengelernt habe.

Aus diesem Grund versuche ich von Anfang an, beiden klarzumachen, dass diese Befürchtungen und Skepsis dazugehören. Keiner weicht gerne vom Gewohnten ab. Doch irgendwann reicht das Gewohnte nicht mehr aus. Und es ist ein gutes Zeichen, wenn Paare über Veränderungen reden. Die Schwierigkeit ist nur, dass beide nicht immer gleichzeitig den Wunsch verspüren, darüber zu reden. Für einen ist es gerade schön, so wie es ist, und der andere sehnt sich nach Abwechslung. Das ist bei allen so, egal bei welchem Thema, also auch beim Thema Sex. Eigentlich müsste ich sagen, gerade beim Sex, denn es ist der intimste Teil einer Beziehung.

Karsten und Beate waren da ganz anders. Sie riefen mich gemeinsam an, sprachen gleichzeitig. Ihre Stimmen klangen voller Tatendrang und beide hatten ein großes Mitteilungsbedürfnis. Nicht, dass sie besonders laut waren. Sie plapperten eher. Es klang, als ob sie zusammen ein Duett singen würden und das immer gleichzeitig. Ihre Harmonien sangen sie in ihrer jeweiligen Tonlage perfekt, nur ich verstand kein Wort. Zudem kam ich nicht zu Wort, hörte ihnen einfach nur zu, obwohl ich nicht schlau aus ihnen wurde. Ich fragte mich, ob ich es überhaupt verstehen wollte oder gar musste. Meine Fälle beginnen ja sonst immer anders. Ich stand auf und ging durch mein Büro, weil ich selber diese Unruhe verspürte, die sie auf mich übertrugen. Das ist kein gutes Zeichen für eine Paartherapeutin, denn sie soll die Paare ja zusammenbringen und ihnen weiterhelfen. Diese beiden schienen aber nicht wirklich einen Streit zu haben, mir zwar total unverständlich, welches sexuelles Problem sie hatten.

„Und Sie machen nur Paare?“, hörte ich sie auf einmal gemeinsam fragen. Diese ihrer Fragen ließ sie beide verstummen.

„Ich habe mich spezialisiert auf Paare, die in ihrer Beziehung über Sex reden wollen“, setzte ich an, um ihnen meinen Ansatz zu erklären. „Ich halte es für ein wichtiges Thema. Nein – ich muss konkreter werden – für das wichtigste Thema einer Partnerschaft. Wissen sie: Sex ist immer Thema in einer Partnerschaft.“ Ich machte eine kurze Pause, um zu hören, wie sie reagierten. Nun schienen beide synchron auf stumm gestellt zu sein. Ich stand am Fenster und schaute in die Ferne, als ich fortfuhr.

„Zum Gelingen der Partnerschaft ist es wichtig, dass man darüber redet. Es geht nicht darum, dass Paare Sex miteinander haben, sondern dass sie sich über ihre Sexualität in der Partnerschaft bewusstwerden. Das geht nur, wenn man darüber redet.“

„Das wollen wir!“, gaben beide zeitgleich von sich.

„Es reicht schon aus, dass einer den Wunsch nach Veränderungen spürt. Allein dieser Wunsch verändert die Beziehung schon und muss gemeinsam besprochen werden“, sagte ich und als ich mich hörte, verstand ich, dass beide sich die Veränderung sehnlichst wünschten.

„So ist es normalerweise“, fügte ich hinzu. Ich sagte es eigentlich zu mir, da ich überrascht war, dass Karsten und Beate immer noch so harmonisch auf mich wirkten, obwohl sie den Kontakt zu mir als Paartherapeutin gesucht haben.

„Sexualität ist kein Problem in unserer Partnerschaft“, sagte Beate.

Das hört sich für mich nun noch merkwürdiger an, denn sie hatten mich ja angerufen. Oder hatte ich etwas Wesentliches nicht mitbekommen?

„Sex ist wirklich nicht unser Problem“, bekräftigte Karsten die Aussage seiner Frau.

Wieder musste ich mich setzten, als ich das hörte. Sex ist nicht ihr Problem, fasste ich für mich zusammen, aber was wollen sie von mir? Ich kenne gute Therapeuten und Therapeutinnen, die ich in solchen Situationen gerne weiterempfehle, wenn ich merke, dass ich über das Sexleben nicht an das Problem des Paares kam. Nicht alles findet seinen Ausdruck in der Unzufriedenheit mit dem Sex.

„Wenn ihr kein Problem mit Sex habt, kann ich euch gerne einen anderen Therapeuten empfehlen.“ Erleichtert stand ich auf, um das Adressbuch vom Schreibtisch zu holen, denn ich hatte den inneren Wunsch, dieses Telefonat schnellstmöglich zu beenden. Je länger ich mit ihnen telefonierte, desto rätselhafter wurde mir ihre Harmonie.

„Nein, auf keinen Fall.“ Ihre Stimmen klangen wütend, sie schienen beide, unbedingt mit mir zusammenzuarbeiten zu wollen.

„Ihr Konzept hat uns gefallen“, sagte Beate. „Wir finden es toll, dass sie sich ein ganzes Wochenende Zeit nehmen und mit ihren Paaren zusammenleben.“

„Ja“, sagte ich, „es ist mir wichtig, dass man Vertrauen aufbaut. Bei einer wöchentlichen Sitzung baut man Vertrauen in jeder Sitzung von neuem auf.“ Das war der wesentliche Kern meines Konzeptes, das ich nun seit einigen Jahren erfolgreich anwendete.

Ich arbeitete in einer Gemeinschaftspraxis, die ich mitgegründet hatte. Wir waren erfolgreich, aber ich wurde wie so häufig – wenn ich lange das Gleiche gemacht hatte – unausgeglichen und suchte nach einem anderen Ansatz. Die Idee war schnell da und so verkaufte ich meinen Anteil an der Gemeinschaftspraxis und ließ mir davon ein Ferienhaus bauen. Denn dieses sollte der Grundstock meines neuen Ansatzes sein, hier würde ich mich mit Paaren zu Therapiewochenenden treffen. Ich startete am Freitag und nahm mir das ganze Wochenende Zeit. Ich lebte mit meinen Klienten in diesen Tagen zusammen. Es hatte den Vorteil, dass man sich durch alltägliche Dinge näher kommt. Es entsteht so eine Vertrautheit, die ich in den wöchentlichen Meetings so intensiv nie erlebt hatte.

An diesem Wochenende kann ich das Paar einfach beobachten, wie sie sich in ganz alltäglichen Situationen verhalten und sie in diesen Situationen gleich ansprechen. Wenn wir zum Beispiel zusammen kochen, erfahre ich mehr über sie, als wenn wir nur in einer Sesselgruppe zusammensitzen. Meine Paare verhalten sich in solchen Situationen wie in ihrem gewohnten Alltag. Ich sehe, wer wann was sagt, wie sie aufeinander reagieren in den unterschiedlichsten Situationen. Wie stimmen sie sich ab? Das geschieht alles nur nebenbei, aber es bringt wichtige Erkenntnisse. All das spiegelt sich im Sex des Paares wider. Wir reden dann über alles und sie fühlen sich im Ferienhaus ungezwungener als in meinem alten Praxisraum. So habe ich viele persönliche Dinge erfahren, die ich in einer klassischen Sitzung nur sehr mühsam erfragen musste.

Bei solchen alltäglichen Handlungen wird mir manchmal viel schneller klar, wer das Sagen in der Partnerschaft hat oder wo unausgesprochenen Probleme liegen. Gleichzeitig ist es, für eine Sex-Paartherapeutin wichtig zu sehen, ob sie zärtlich zueinander sind, auch wenn sie sich nur kurz berühren. Durch die gemeinsam verbrachte Zeit bekomme ich einen tiefen Einblick vom Leben des Paares. Als ich das erkannt habe, war ich froh, dass ich diesen Schritt gemacht habe. Gerade beim Thema Sex ist mein Ferienhaus sehr hilfreich.

Ich freute mich, dass ich mein Vorgehen nicht lange erklären musste. Karsten und Beate hatten wohl meine Homepage genau gelesen.

„Wissen Sie“, meinte Karsten, „wir würden dies gerne ausprobieren. Die Methode hat uns zugesagt. Und wenn es nicht klappt, dann können sie uns ja immer noch einen anderen Therapeuten empfehlen.“ Ich wollte gerade zu einer Gegenfrage ansetzen, da hörte ich das „Bitte, bitte!“ von Beate. Ich war überrascht und leicht amüsiert, so etwas Plumpes und Überrumpelndes hatte ich noch nie erlebt. Das war auch der Grund, dass ich mit einem „Warum also nicht?“, antwortete. Sofort fragte ich mich, wie ich das sagen konnte.

„Wie sieht es mit dem übernächsten Wochenende aus?“, fragte er. Sie hatten also auch in meinen Onlinekalender geschaut.

Es folgte noch ein lang gezogenes Bitte von Beate. Ihr Wunsch nach einem gemeinsamen Wochenende mit mir war so offensichtlich.

„Übernächstes Wochenende geht!“ Während ich das sagte, blätterte ich in meinem Gedächtnis noch nach Ausreden, aber es fielen mir keine ein. Ich hatte zugesagt, obwohl ich mich damit nicht wohlfühlte.

„Eine Sache muss ich euch noch sagen. Das steht nicht so auf der Webseite.“

„Ja!“ Ihre Begeisterung wurde für mich inzwischen beängstigend.

„Ihr bekommt in den nächsten Tagen noch einen Brief von mir. Ich will, dass ihr euch gut vorbereitet.“

„Natürlich!“, jubelte sie. So viel Begeisterung hatte ich bei einem Paar noch nie erlebt.

„Und wenn wir Fragen zu deinem Brief haben, dürfen wir dich anrufen.“

„Es ist kein Test, wo ihr die Fragen richtig beantworten müsst.“

„Aber es soll doch richtig sein, nicht dass du von uns ein falsches Bild bekommst“, sagte Beate. Ich bekam Angst, dass ich am Wochenende und vorher jede Minute solche Gespräche wie jetzt führen würde.

„Nein. Es geht nicht um richtig, sondern ihr sollt eine Idee bekommen, was euch erwartet. Euch mental drauf einstellen.“

„Okay“, sagten beide.

„Also danke für euren Anruf“, verabschiedete ich mich.

Ich legte auf und fragte mich, wie wohl unser Wochenende werden würde. Das Telefonat musste ich erst mal einordnen. Ich machte mir sofort Notizen.

Am nächsten Tag setzte ich mich hin und ging sie durch. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht mehr als am Ende des Gespräches. Ich setzte mich hin und schrieb ihnen einen Brief über Befürchtungen und Eindrücke. Als ich ihn durchlas, warf ich ihn weg und fing wieder von vorne an. Ich war ratlos, das musste ich mir nun eingestehen.

Denk an dein Konzept, sagte ich mir und bat sie nun schriftlich, dass sie sich über das Abendessen Gedanken machen sollten. Ich war zu dem Entschluss gekommen, dass es nichts Tiefgründiges sein sollte. Wir würden gemeinsam kochen und ich bekam so die Möglichkeit, sie langsam kennenzulernen. Dies hatte ich schon vielen Paaren als Aufgabe gegeben und es zeigte eigentlich immer eine positive Wirkung – also wieso nicht auch bei Karsten und Beate?

Da war ich mir nun sicher, ich brauchte erst mal Zeit, um mich auf beide einzulassen. Wenn sie das Abendessen zubereiten würden, bekomme ich die Chance, beide in ihrer Art zu beobachten und kennenzulernen. Ich fand, dass es eine gute Idee war. Beide würden aber mehr erwarten, als nur die Aufforderung ein Abendbrot vorzubereiten.

„Überlegt euch, was ihr wollt. Es soll nicht nur ein Essen sein, sondern dieses Essen soll ein Spiegelbild eurer sexuellen Situationen sein.“ Ich lehnte mich zurück, las den Text durch und umschrieb ihre Aufgabe. Sowohl beim Essen als auch Sex geht es um Vorlieben, wie man sich auf sie freut und auf sie einlässt. Essen zu kochen und und sich auf Sex einzulassen, haben mehr gemeinsam, als die meisten denken. Sie sollten beides verbinden. Das ist nicht schwer, aber wird es ihnen beiden leichtfallen? Mit diesen Aufgaben könnten sie sich abarbeiten, dachte ich, ob sie sich viel dazu überlegen würden und es ausführlich vorbereiten würden, wusste ich nicht, war aber gespannt.

Paare im Bett

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