Читать книгу Love – Konsequent scheitern (Band 2) - Ellen M. Zitzmann - Страница 5
ОглавлениеAuf der Finca
Zwölf Uhr mittags. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie hatte verschlafen. Kein Wunder. Erst gegen 4 Uhr morgens war sie eingeschlafen. Die halbe Nacht hatte sie an Alex gedacht und diese Beziehung in allen Details zerlegt. Es waren Erinnerungen, die aufflammten und erloschen – wieder aufflammten, wieder erloschen. Erinnerungen, die ihr zeigten, wie die Dinge einmal waren und nie wieder sein werden. Es war vorbei. Endgültig vorbei. Und sie war frei – frei genug, sich wieder einzulassen, sich neu zu verlieben.
Es war schon halb eins. Müde schleppte sie sich aus dem Bad in die Küche. Auch wenn sie sich einigermaßen fit und wohl fühlte, war sie angeschlagen. Da sie keinen allzu ermatteten Eindruck machen wollte, begrüßte sie Manuel, der am Küchentisch saß, mit einem lockeren Spruch: „Oh, schon wach!“
Dieser hob den Kopf, lächelte ein wenig abwesend und vertiefte sich gleich wieder in die Zeitung. Clarissa saß auf der Terrasse. Sie wirkte in sich gekehrt und schien das Alleinsein gerade vorzuziehen.
„Was wolltest du denn?“ Manuel faltete die Zeitung zusammen und legte sie mit der Titelseite nach oben auf den Tisch.
„Ach, ähm, nichts“, erwiderte Giulia beiläufig und bekam große Augen, als sie die fettgedruckte Überschrift auf der Titelseite las: Sexpuppen können sprechen! Sie beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte ihr Kinn in die Hände und las eifrig den ganzen Artikel. Der Geschäftsführer von True Companion erklärte, dass die Firma daran arbeiten würde, lebensechten und sprechenden Sexpuppen künstliche Intelligenz einzupflanzen, die auf die individuellen Bedürfnisse der Besitzer eingehen würde. In dem Artikel wurden fünf weibliche Ausführungen vorgestellt: 1. Die frigide Farrah. 2. Die wilde Wendy. 3. Die 18-jährige Yoko. 4. Die reife Martha. 5. Die sadistische Susan.
„Was ist?“ Manuel schaute sie verdutzt an.
„Hast du das gelesen?“ Giulia tippte gleich mehrmals mit dem Zeigefinger auf die Schlagzeile.
„Nein. Mich hat das Viertelfinale im Herreneinzel der French Open interessiert. Sensationell. Nadal scheiterte an Djokovic. Absurdes Tennis auf höchstem Niveau.“
„Scheitern ist an sich keine Niederlage“, murmelte Giulia vor sich hin, und dass sie gespannt auf den wilden Charly warten würde. Irritiert drehte sich Manuel zu ihr um und las den Artikel. Mal schmunzelte er, mal hielt er inne, mal wurde er nachdenklich. „Ganz ehrlich, Giulia. Die Übersexualisierung in unserer Gesellschaft geht mir allmählich auf den Geist. Auch möchte ich mir nicht vorstellen müssen, wie oft pornografische Seiten im Netz aufgerufen werden – von Pädophilen, Fetischisten, Voyeuristen, denen zahllose Kinder zum Opferfallen.“
Clarissa schneite herein und wollte wissen, worüber sie sich so lebhaft unterhalten würden.
„Über das Geschäft mit der Erotik, ähm, und der absinkenden Moral im digitalen Beziehungsumfeld.“ Manuel holte tief Luft. Es fiel ihm schwer, sachlich zu bleiben.
„Kaputt. Die Gesellschaft ist einfach kaputt. Aber erst brauche ich einen Kaffee. Bin immer noch müde.“ Einige Minuten später stellte Clarissa eine Kanne mit frisch gebrühtem Kaffee auf den Küchentisch.
Mara stand unvermittelt in der Tür. Sie ließ mit einem Jubelschrei verlauten, wie toll das Schwimmen im Pool war und dass sie duschen gehen würde. Ihre Haare waren triefend nass und ihr Shape-Badeanzug mit Wasser vollgesogen.
Clarissa schenkte eine große Tasse heiß dampfenden Kaffee randvoll ein, während Mara an ihr vorbei ins Badzimmer stapfte. Clarissa lächelte sie aufmunternd an, stellte die Kanne auf den Tisch, reichte Giulia die Tasse, die fragte, ob sie heute schon ihren Mitbewohner erreicht hätte. Im selben Atemzug erinnerte sie ihre Freundin daran, was sie gestern am späten Abend nach dem vierten Glas Rotwein gesagt hatte, dass nämlich ihre Gefühle eine vertrackte Angelegenheit seien und dass sie nicht sagen könne, was ihr in der Liebe fehlen würde. Auch könne sie nicht behaupten, dass ihr Mitbewohner grundsätzlich herzlos sei. In Wahrheit sei sie nämlich ein stinknormaler Familienmensch und würde sich nichts mehr wünschen, als mit ihm wieder richtig zusammenzukommen. Clarissa kniff ihre Augenbrauen zusammen, sodass sich ein paar Falten auf ihrer Stirn bildeten. Mit gedämpfter Stimme antwortete sie: „Nein, ich habe meinen Mitbewohner noch nicht erreicht.“
Nach einer Weile gesellte sich Mara zu ihnen an den Tisch. Nicht wissend, worüber sie sich gerade unterhielten, erkundigte sie sich frei heraus nach Giulias Beziehungsstatus und ob sich denn was Verheißungsvolles auftun würde.
„Nicht dass ich wüsste.“ Giulia war deutlich anzumerken, dass sie sich auf dieses Thema nicht näher einlassen wollte.
„Besser so“, sprang ihr Clarissa zur Seite. „Wer weiß schon, ob wir lange genug leben, um uns ständig über die nächste und nächste und nächste Liebe Gedanken zu machen. Bei der Gelegenheit, Giulia, wie geht’s denn deinem Sohn?“
„Amar? Gut. Wirklich gut. Er hat sich in Frankreich ein Leben aufgebaut und, hm, scheint happy zu sein.“
„Scheint?“
„Nun ja, wissen tut man das nie genau.“
„Dennoch, freut mich zu hören. Das Teenageralter war schwierig genug.“
„Das kannst du laut sagen.“
Zusammen gingen sie hinaus auf die weitläufige Terrasse, um die reine Bergluft zu genießen, in die sich der Duft von Kräutern und Sträuchern mischte. Sie atmeten ein paar Mal tief durch. Mit heiterer Miene und sichtlich entspannt entschied sich Clarissa plötzlich, schwimmen zu gehen. Sie holte die Badesachen aus ihrem Zimmer und schlenderte im Zickzack betont lässig durch den Garten hinunter zum Pool. Dabei fiel ihr Handtuch zu Boden, das sie die restlichen Meter zum Pool noch lässiger hinter sich herzog.
Während Giulia ihre Freundin beobachtete, dachte sie an ihren Sohn. Es waren warme Gedanken, die mit Gefühlen des Stolzes einhergingen. Amar hatte es nach etlichen Jahren des ziellosen Herumirrens geschafft, sich zu stabilisieren. Giulia atmete ein paar Mal tief ein und merkte, wie sich ihr Geist und Körper entspannten. Als sie sich wieder an den Küchentisch setzte, fühlte sie sich leicht und wohl. Mara und Manuel waren tief in ein Gespräch verstrickt und schenkten ihr keine Aufmerksamkeit. Giulia nahm das halbvolle Glas Wasser, das sie auf dem Tisch stehen ließ, leerte es in einem Zug und konzentrierte sich auf das Gespräch.
Manuel sagte: „Nach gründlicher Abwägung, ähm, meine ich, die romantischen Beziehungen laufen doch überall auf der Welt nicht besonders gut, weder im Bett noch im Alltag.“ Er wirkte reifer, älter, so, als hätte ihn sein Leben zu dem Mann geformt, der er hatte sein sollen, dachte sich Giulia insgeheim. Und er war ernster geworden, bewahrte sich jedoch seinen lebendigen Ausdruck, der ihm, wenn er über sein Gesicht huschte, ein jugendlich frisches Aussehen verlieh.
„Wie recht du doch hast, Manuel“, brachte sich Giulia in das Gespräch ein. „Mit den Liebesbeziehungen in den westlichen Konsumgesellschaften wird es eben nicht einfacher.“ Giulia blickte die beiden erwartungsvoll an. Ihr Kommentar schien ihnen ganz willkommen, weshalb sie weitersprach. Sie kam auf Indianerstämme zu sprechen, die mit unkonventionellen Methoden ihr Miteinander in den ehelichen Partnerschaften regeln würden. „Die Aché-Indianer in Paraguay sprechen von einer Ehe, wenn Mann und Frau in derselben Hütte wohnen und sich die Hängematte teilen. Die Ehe gilt als geschieden, sobald sie ihre Hängematten in verschiedenen Hütten aufhängen.“ Giulia kam regelrecht ins Schwärmen. Ohne Luft zu holen, fuhr sie fort: „In anderen Stämmen heiraten die Mädchen mehrere Male, bevor sie eine langfristige Beziehung eingehen, oder sie werden zu vorehelichen Dienstleistungen mit anderen Männern angehalten, um sexuelle Kompetenzen aufzubauen.“
„Interessant. Das mit dem sexuellen Nachhilfeunterricht finde ich gar nicht mal so verkehrt. Den sollte es für Männer wie für Frauen geben. Beim Sex sind doch viele praktisch vollkommen ahnungslos und lassen sich auf faule Kompromisse ein. Nach dem Motto: Der Sex läuft gut, aber die Beziehung nicht, oder die Beziehung läuft gut, aber der Sex ist scheiße, hält man dann an der Restbeziehung fest“, bekräftigte Mara mit süß-saurer Miene und kam auf den 90-jährigen indischen Sexologen Mahinder Watsa zu sprechen, der mit seiner Kolumne Ask the Sexpert weltweite Bekanntheit errungen hatte. Watsa würde über Sex und Sexualität ohne Blabla und Umschweife sprechen, was sehr befreiend wirken würde, berichtete sie voller Begeisterung. Außerdem würde er sich den einfachsten und dümmsten Fragen stellen: Kann man beim Herunterschlucken von Sperma schwanger werden? Ist es sicher, den Penis in der Scheide zu lassen, wenn man schläft? Wird man von der Masturbation blind?
„So lächerlich, wie sich manch eine Frage anhört, so wichtig ist es, sie ohne Scham einem vertrauenswürdigen Menschen stellen zu können, der nicht darüber lacht. Kinder und Jugendliche müssen vorbehaltlos aufgeklärt werden. Denn sie schämen sich, mit ihren Eltern oder älteren Geschwistern darüber zu sprechen.“ Mara nahm sich die Toastscheibe aus dem Ständer, der auf dem Tisch stand und legte sie auf ihren Teller. Ihr war nicht entgangen, dass Manuel sie regelrecht angestarrt hatte, bevor er sein Plädoyer hielt.
„Ich bleibe dabei: Wir sind übersexualisiert durch das Internet. Die Pornos und obszönen Selbstdarstellungen, die dort zu finden sind, machen viel kaputt, bei Erwachsenen wie bei Kindern. Auch muss scharf kritisiert werden wie Männer noch heutzutage Frauen wahrnehmen und marginalisieren. Pornodarstellungen zeigen doch ein absolut unausgewogenes Dominanzverhältnis zwischen Mann und Frau. Frauen sind da nichts weiter als Samenauffangbecken. Und dann, ähm, die ganzen Sexsüchtigen, die sich täglich in den Beratungsstellen melden und über die Verlockungen von Pornografie und Prostitution im Internet berichten. Sexsüchtige gibt es doch in allen Alters- und Einkommensgruppen. Schüler, die ihre Schulabschlüsse deswegen nicht schaffen. Studenten, die nicht mehr von Tinder, YouTube und so weiter loskommen. Erwachsene, die sich um den Schlaf bringen.“ Das Thema regte Manuel ziemlich auf. Abrupt erhob er sich, ging zur Anrichte, holte sich eine Zigarette aus der Schachtel hervor, die neben dem Salzgebäck und den Erdnüssen lag, und steckte sie samt Feuerzeug in seine Hosentasche.
„Du wolltest doch mit dem Rauchen aufhören?“, fragte Giulia etwas provozierend.
Manuel zuckte abweisend mit den Schultern und wandte sich ihr zu: „Wollte ich?“ Er beugte sich vor, fixierte sie mit seinem Blick und sagte: „Stell dir vor, in letzter Zeit habe ich mir noch ein paar andere Macken zugelegt – Schlafstörungen, Übergewicht, Sorgen.“
Mara und Giulia waren wie vor den Kopf gestoßen und begriffen so gut wie nichts. Seine Offenheit machte sie sprachlos und eine ganze Weile saßen sie einfach nur da. Manuel eilte hinaus, zündete sich eine Zigarette an und blieb am Türrahmen stehen.
Giulia erschrak. Der Anblick erinnerte sie an eine Situation, die vergessen war. Sie sah Alex vor sich, wie er einmal mit der glimmenden Zigarette, am Türrahmen eines Lokals lehnte.
„Umso peinlicher ist es …“ Manuel drehte sich zu ihnen um, sprach laut und deutlich weiter, „mir selbst einzugestehen, dass ich als Vater versagt habe.“ Er kehrte an den Tisch zurück, drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und setzte sich neben Mara. „Mein Ältester schmiss die Schule, kurz vor seinem Abi, absolvierte dann eine Schreinerlehre“, erklärte Manuel, zog seine Stirn in Denkerfalten und ergänzte, dass sein Sohn Stuhlmodelle entwerfen würde – von schlicht und puristisch bis extravagant und trendig.
„Cool“, äußerte sich Mara anerkennend. „Er tritt in deine Fußstapfen. Darauf kannst du stolz sein.“ Mara aß den letzten Bissen Toast, den sie sich mit Ziegenfrischkäse bestrichen hatte.
„Wenn du meinst.“
Manuel stand auf, ging wieder hinaus und zündete sich die nächste Zigarette an. Mara beobachtete er aus den Augenwinkeln, die ihm einen fragenden Blick zuwarf.
„Das frische Poolwasser tut gut. Habt ihr schon mal was von Slow Sex gehört?“ Clarissa schneite mit einem Lavendelstrauß in die Küche herein. Gutgelaunt plauderte sie drauflos und erzählte über eine neue Sexualitätsform, die ihr beim Schwimmen durch den Kopf ging. Dabei sei man keinem Leistungsprogramm unterworfen und könne ganz ohne Druck und ohne Penetration Sex genießen. Eine achtungsvolle Methode sei das, bei der sanfte körperliche Berührungen im Mittelpunkt stehen würden und eine Befriedigung in homöopathischen Dosen erfolgenwürde.
Mit einem knarzenden Geräusch schob Giulia ihren Stuhl zurück. „Also Veggie Sex“, schoss aus ihr in höchst zutreffender Weise heraus, währenddessen sie herzhaft lachte und ihren Bauch festhielt. Sie lehnte sich zurück und bekundete grinsend, es schleunigst ausprobieren zu wollen.
Clarissa steckte den Lavendelstrauß in eine Vase, brach sich eine große Scheibe Baguette ab, das seit Stunden auf dem Tisch lag, schnappte sich ein paar Würfel vom pfefferummantelten Schafskäse, den sie im Kühlschrank fand, und hastete, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wieder in Richtung Pool. Endlose Beziehungsgespräche schienen sie momentan nicht zu interessieren.
Giulia und Mara beschlossen hingegen, sich in die bequemen Gartenstühle auf die Terrasse zu setzen und weiter zu diskutieren. Schließlich standen etliche Fragen im Raum: Wie lange hält die sexuelle Anziehung und Romantik zwischen zwei Menschen im Normalfall an? Kann sie ewig andauern, so wie es das klassische Ehemodell vorsieht? Ist die Zweierbeziehung noch zuretten?
Manuel gesellte sich ebenfalls zu ihnen. Er schnippte die Asche seiner Zigarette in den Aschenbecher, hielt sie zwischen dem Ringfinger und kleinen Finger der linken Hand fest und schaltete mit dem Zeigefinger seinen Tablet-PC ein, der auf einem der Gartenstühle lag. Er nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch in die Luft und drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus. Bei Google tippte er ein: Sex, Libido, Partnerschaft. Im Nullkommanichts erschienen eine unübersichtliche Menge von Einträgen, YouTube-Videos und Buchtipps, woraufhin Manuel die Suche eingrenzte und Abfallen, Libido, Ehe eingab. Dank seiner Fähigkeit, Texte schnell zu erfassen und relevanten Wortstoff herauszufischen, konnte er sich einen Überblick verschaffen. Während er noch konzentriert mit gesenktem Kopf auf den Bildschirm seines Tablets starrte, fasste er kurz zusammen: „Die Libido hält in jeder Beziehung etwa drei Jahre an. Nach der Eheschließung sinkt die Lust stark ab. Frauen sind beim Sex schneller gelangweilt als Männer, die sich entgegen der landläufigen Meinung wenig aus sexueller Vielfalt machen. Primatenweibchen sind beim Sex die agierenden Kräfte und stellen attraktiven Primatenmännchen nach.“ Manuel hob den Kopf. Mit einem schalkhaften Ausdruck in seinem Gesicht kommentierte er: „Aha, Frauen stellen also Männern nach. Die Katze ist aus dem Sack.“ Und folgerte daraus, dass sich das romantische Modell der monogamen Ehe auf keinen Fall mit den angeborenen menschlichen Trieben verträgt, weil es die Beziehungspartner in einen endlosen Kreislauf von Frustration und Enttäuschung hineintreibt.
Mara ignorierte seine Anspielung, amüsierte sich dagegen köstlich über die kessen Primatenweibchen. Seelenruhig fragte sie in die Runde, was Beziehungspartner tun können, um der absinkenden Lust auf Sex in einer langjährigen monogamen Ehe entgegenzuwirken.
„Davonlaufen, betrügen, sich zusammenreißen, einer Therapie unterziehen? Oder den Rest des Lebens mit Leere und Nichts verbringen“, antwortete Giulia wie aus der Pistole geschossen. Giulia kam ins Grübeln. Auf dem Weg zum Herd gab sie zu, dass sie in ihrer Verliebtheit oft die agierende Kraft und die Jägerin war. Sie schaltete das Kochfeld der Herdplatte ein, um Rühreier zuzubereiten.
Mara war nicht mehr zu bremsen: „Eine Affäre stellt doch vieles auf den Kopf: Gewohntes, Verhaltensmuster, Bilder, Vorstellungen über die Liebe und Sexualität, die sich selten mit den eigenen Bedürfnissen und denen des Partners decken. Sollten sie das dann doch tun, ist das ein absoluter Volltreffer.“ Mit süßester Stimme fügte sie hinzu: „Affären fordern uns doch alle heraus. Weil sie ein Neudenken darüber einfordern, welche Dinge in der bestehenden Beziehung vernachlässigt wurden. Nach meinem Empfinden eignen sich Affären auch gut dafür, neue Sexpraktiken auszuprobieren und alte Gewohnheiten loszuwerden. So gesehen, sind sie niemals nutzlos, da sie für gewöhnlich die erlahmte Sexualität in einer monogamen Beziehung anregen.“
„Aber, aber, Mara“, erwiderte Manuel hörbar irritiert und sprach in einem sachlichen Ton weiter: „Auch wenn mir der Gedanke zugegebenermaßen gefällt, hätte ich meiner Ex doch nie im Leben sagen können, dass Fremdgehen gut für eine Ehe ist, weil man dann neue Sexpraktiken ausprobieren kann. Ihre Liebe hätte ich sofort verloren. Vielleicht hätte sie mich auch mit einem Messer attackiert!“ Mit der Gabel stocherte er in dem Rührei herum, das ihm Giulia auf einem Teller mit extra viel Speck serviert hatte. Manuel gab zu, dass diese Liebe auch ohne Fremdgehen lange vor der Scheidung verloren war. Noch nie hatte er Mara so waghalsig sprechen hören, was er dem Umstand zuschrieb, dass ihre gemeinsame Schulzeit schon lange her war. Vielleicht zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Jahre. Jedenfalls war Mara damals äußerst schüchtern und stand nur ungern im Mittelpunkt. Er betrachtete ihr dunkelbraunes Haar, das in der Nachmittagssonne glänzte und ihrem Gesicht ein besonders elegantes Aussehen verlieh. Und je länger er Mara ansah, desto geheimnisvoller und anziehender wirkte sie auf ihn. Manuels Gefühle spielten plötzlich verrückt. Es war eine Mischung aus Erregung, Unsicherheit, Angst, Freude. Er schien drauf und dran, sich wieder in seine Jugendliebe zu verlieben.
Mara streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und genoss die Wärme auf ihrer Haut. Von Manuels verliebten Blicken blieb sie ungerührt. Ein wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie im nächsten Augenblick ihre dunkle Sonnenbrille abnahm und erfrischend unprätentiös zu erzählen anfing: „Nach meiner Scheidung konzentrierte ich mich auf meine Karriere und meine minderjährige Tochter. Mein Mann und ich teilten uns das Sorgerecht. Es gab Gott sei Dank keine Streitereien, so blieb uns der Gang zum Jugendamt erspart. Nach meiner Banklehre studierte ich Kommunikationswissenschaften. Bald danach kam ein lukratives Angebot von einer englischen Großbank. Dem konnte ich nicht widerstehen. Ich zog nach London. Sarah blieb bei meinem Ex-Mann in Hamburg. Sie besuchte mich, so oft es ging. In der Bank arbeitete ich mich zur Abteilungsleiterin hoch. Heute verantworte ich das Gesamtmarketing, Spenden und Sponsoring inklusive. Ich bin sehr stolz, vom Geldbeutel eines Mannes unabhängig zu sein. Und beruhigt, dass ich am Ende meines beruflichen Lebens nicht auf eine Teilzeit-Patchwork-Biografie zurückblicken muss – in einem Alter, in dem Männer meist noch eine Hierarchieebene nach vorne rücken, um die Früchte ihres langen beruflichen Aufstiegs in den Ruhestand hineinzu-retten.“
Mara hatte viel erreicht, und Manuel war voller Bewunderung für sie. Zwar waren ihm Einzelheiten ihrer Biografie unbekannt, aber ihr mutiger Lebensweg imponierte ihm. Das war ihm anzusehen.
„Wie wahr, wie wahr.“ Giulias Stimme klang warm und melancholisch, und Clarissa, die sich inzwischen wieder zu ihnen gesellt und Maras Worte vernommen hatte, wusste sofort, was Giulia damit sagen wollte. Nur allzu gern hätte sie jetzt von ihr wissen wollen, weshalb die Sache mit Alex schiefgegangen war, mit der Liebe ihres Lebens, was sie oft genugbetonte.
Giulia schwieg, was sie immer tat, wenn jemand auf Alex zu sprechen kam. Clarissa war der ganzen Heimlichtuerei so verdammt überdrüssig, und statt dass sie die Entwicklung des Gesprächs abwartete, ging sie zurück ins Haus, um nach ihrem Handy zu suchen.
„Nach Alex“, begann Giulia leise, „habe ich es mit Online-Dating probiert. ElitePartner, Parship, eDarling, OkCupid schienen mir seriöse Anbieter zu sein, zumal sie sich von Anbietern wie Tinder abgrenzen.“
„Und dann? Wie ging das weiter?“, fragte Mara voller Neugier, während Clarissa laut und wütend auf die Terrasse gestürztkam.
„Ich frage mich wirklich, warum ich mit dem Idioten noch unter einem Dach wohne, der, wenn ich weg bin, nicht imstande ist, Absprachen einzuhalten und die einfachsten Dinge zu erledigen. Weder das Katzenfutter noch das vorgekochte Essen findet, und mir wegen jedem Scheiß eine Textnachricht schickt. Wie soll ich da den Kopf vom Alltag freikriegen?“ Clarissa war mächtig sauer auf ihren Mitbewohner. Mit voller Wucht knallte sie ihr Handy auf den Tisch.
„Versuchs doch mal mit der Online-Partnervermittlung. Vielleicht erledigt sich das Problem dann von selbst? Gerade wollte uns Giulia über ihre diesbezüglichen Erfahrungen berichten.“ Mara beruhigte Clarissa doch insoweit, dass sie weder vor Zorn platzte noch davonlief, sondern sich auf einen Gartenstuhl setzte. Nachdem sie ein paarmal tief ein- und ausgeatmet hatte, wozu ihr Mara riet, ließ ihre Anspannung merklich nach. Als sie bemerkte, dass sie in der Wut das Kleid falschherum angezogen hatte, musste sie herzhaft lachen. Im Sitzen zupfte sie hier und da noch an dem Kleid herum, beließ es dann dabei.
Mara nahm davon keine Notiz und bat Giulia fortzufahren.
„Ähm, wo war ich stehen geblieben?“
„Na ja, dass du es bei seriösen Anbietern versucht hast“, half ihr Manuel auf die Sprünge, der gerade sein Handy entsperrte.
„Und, wie lief das genau ab?“, fragte Clarissa total interessiert.
„Nun, beim Online-Dating kann man jedes Detail selbst bestimmen: Körpergröße, Beruf, Bildungsabschluss, Verdienst, Hobbys, Temperament, Charaktereigenschaften, Sternzeichen. Und im Vorfeld abklopfen, ob potenzielle Partner auch ja das Zeug zu einem Traummann haben. Das ist faszinierend, denn ich war die Herrin. Zunächst wählte ich astrologische Feuerzeichen aus, Schütze-, Widder-, Löwe-Männer.“
„Hm, warum das denn?“, unterbrach sie Clarissa.
„Weil man diesen Typen männliche Tatkraft, Treffsicherheit, Selbstbewusstsein, Siegeswillen, Souveränität, Freiheitsliebe nachsagt“, scherzte Giulia. „Diesen Kerlen unterstellte ich dann, dass sie mit einer Fernbeziehung, einer sogenannten Living Apart Together-Beziehung, zurechtkommen würden.“ Giulia wurde sehr nachdenklich, als sie berichtete: „Ich habe mich durch Hunderte von Profilen geklickt. Man muss sich das wie eine virtuelle Casting-Show vorstellen. Als mein Testergebnis vorlag, habe ich mir ein buntes Sortiment aus künstlerischem Eigenbrötler, Underdog, ausgemachten Karrieretypen zugelegt. Alle zwischen 40 und 50. Daraufhin hatte mich das Einkaufsfieber gepackt. Wobei klar war, dass der Richtige nur mit einer Premium-Mitgliedschaft zu finden war. So habe ich mich für eine 12-monatige Mitgliedschaft entschieden, um an die lukrativen Premium-Angebote heranzukommen.“
„Wie, was?“, unterbrach sie Mara abrupt.
„Na ja, bei diesen Angeboten handelt es sich um beruflich erfolgreiche Männer – Männer, die spannende Geschichten erzählen können –, großzügige, wortgewandte, weitgereiste, selbstbewusste Männer. Eben keine Langweiler.“
„Und das hast du denen abgenommen?“, meldete sich Manuel zu Wort, legte das Handy zur Seite und schaute skeptisch in die Runde.
„Freilich haben sich die meisten mit der Zeit als wenig originell erwiesen, sodass am Schluss vier, fünf, sechs Typen übrig geblieben sind, bis sich auch diese Kontakte wie von selbst erledigt haben. Leidenschaft und Interesse sind mit der Zeit einfach viel zu platt und zu plump rübergekommen. Es gab nur noch ein Thema.“
„Sex!“, traf Clarissa ins Schwarze.
„Richtig. Mich hat es echt gestört, dass die Männer immerzu über sich, ihren beruflichen Erfolg und persönliche Anliegen gesprochen haben. Ich hatte den Eindruck, dass sie nach devoten, abhängigen Frauen gesucht haben. Nach Frauen, die sich ihrer Karriere ohne Wenn und Aber unterordnen. Darauf konnte ich mich nun wirklich nicht eingelassen. Worauf sich die einen stillschweigend zurückgezogen haben. Die anderen haben ihrem Ärger Luft gemacht, mich beschimpft, beleidigt und unmissverständlich aufgefordert, die Plattform zu verlassen. Davon mal abgesehen, die ständigen Abwägungen über Kosten, Nutzen, Optionen, Präferenzen haben mich mit der Zeit dermaßen angeödet, dass ich meine Suche von alleine beendet und meine Mitgliedschaft gekündigt habe.“
„Bravo, Giulia.“ Manuel klopfte mit den Fingern anerkennend auf den Tisch.
„War deine Sache dann vorbei?“, hinterfragte Clarissa kritisch.
„Nein, ich musste die Mitgliedsbeiträge weiterbezahlen, weil ich die Kündigungsfrist verpasst und sich mein Vertrag automatisch um ein Jahr verlängert hatte. Die Firma in Hamburg blieb hart und ging auf keine kulante Lösung ein, was sie aber auch nicht davon abhielt, mich weiterhin mit Werbeangeboten und Top-Angeboten zu bombardieren. Meine Beschwerden liefen ins Leere. Erst als ich mir eine neue E-Mail-Adresse zulegt hatte, war dieser Spuk vorbei.“
Clarissa sprach jetzt als Anwältin: „Online-Partneragenturen ködern potenzielle Kunden stets mit einer kostenlosen Mitgliedschaft und lukrativen Angeboten, die dann, wenn sie das System nicht durchschauen, für das große Glück immer tiefer in die Tasche greifen müssen, um an begehrte Top-Profile von Premium-Kandidaten heranzukommen. Millionen von Singles begeben sich mittlerweile im Internet auf Partnersuche. Keine Frage, das ist eine bequeme, sehr bequeme Sache, so von Sofa zu Sofa. Daten und Informationen über andere Menschen lassen sich wirklich leicht finden und ausspionieren. Und natürlich ist die mathematische Wahrscheinlichkeit hoch, jemanden zu finden. Ob man den Richtigen oder die Richtige findet, steht allerdings auf einem anderen Blatt.“ Sie wandte sich Giulia zu und sagte: „Nein, diese Art der Partnersuche werde ich nicht verfolgen. Und du solltest es auch bleiben lassen.“ Als Juristin hegte Clarissa grundsätzliche Zweifel an den Geschäftspraktiken der Online-Dating-Industrie. Eilig ging sie in die Küche, holte die eisgekühlte Kräuterlimonade aus dem Kühlschrank und kam mit einem Krug und vier Gläsern zurück. Das Tablett stellte sie auf den Tisch und schenkte ein.
„Wow, was für eine Überraschung!“, jubelte Mara hocherfreut und steckte sich gleich einen von den Schokoladenkeksen in den Mund, die in einer Holzschale lagen.
Mara führte das Glas an den Mund und trank einen kräftigen Schluck. „Das tat mal richtig gut jetzt. Was ist da alles drin?“
„Limetten, Minze, Orangenthymian, Salbei, Ingwerscheiben, Zitronenmelisse, etwas Zucker und zwei Liter Mineralwasser. Fast alle Zutaten sind aus den Kräuterbeeten“, antwortete Clarissa stolz.
Während die Frauen genüsslich an ihren Gläsern nippten, griff Manuel nach seinem Tablet, gab seinen Code ein, um über Partner-Portale zu recherchieren, murmelte er vor sich hin. Ruckzuck war er in seinem Tun versunken. Dabei wirkte er wie ein emsiger Fischer, der vom Fang seines Lebens träumte und im nächsten Moment stinksauer wurde, weil er nichts anderes als Müll aus dem Meer herausfischte. Schließlich wurde er doch fündig: „Prinzipiell“, begann er, „findet man auf den Plattformen für jede Vorliebe und Interessengebiet unzählige Angebote. Es gibt Plattformen für Christen, Muslime, Juden, Atheisten. Für schöne, große, weniger schöne, kleine Menschen. Für Homosexuelle, Tierschützer, Künstler, Vegetarier und für alle, die nur nach erotischen Abenteuern suchen. Natürlich versichern die Anbieter, keine Ramschware und keine Restposten anzubieten, sondern nur Top-Kontakte, also, hm, Liebessuchende mit makellosen Profilen, die man für Hunderte von Euro im Jahr kontaktieren und nach Belieben aufpolieren kann.“ Manuel lachte laut und fuhr etwas kühner fort: „Ein paar Kilos weniger, ein paar Zentimeter größer, um ein paar Euro reicher und ein paar Jährchen jünger. Auf den Plattformen wird gemogelt, was das Zeug hält.“ Er witzelte dann darüber, dass Liebessuchende hinter ihrem Laptop herumsitzen können, wie sie wollen – unfrisiert, unrasiert, ungewaschen, mit übelriechendem Atem und einer Fast-Food-Verpackung in der Hand. „Das kriegt doch keiner mit“, sagte er und dass die Tests einen mit Allerweltsfragen bombardieren würden, die man manipulieren könne, wie man wolle. Sind Sie Raucher, Nichtraucher? Welche Sportarten betreiben Sie? Wo, wie machen Sie Urlaub? Wie wichtig sind Ihnen Treue, Verlässlichkeit, Vertrauen in einer Partnerschaft?
Manuel hob den Persönlichkeitstest bei ElitePartner hervor, der nach seiner Meinung etwas profunder vorgehen würde, weil er beziehungsrelevante Persönlichkeitsmerkmale abfragen würde, etwa persönliche Kompetenzen und Interessen. Ein Matching-System würde dann die Antworten mit denen von anderen Nutzern vergleichen und Prozentwerte ermitteln. Je höher dabei der erreichte Prozentwert einer Übereinstimmung sei, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit für eine gelingende Partnerschaft, so die Theorie. Ob man aber wirklich zu einem anderen Menschen passen würde, nur weil eine 99-prozentige Übereinstimmung erzielt würde, bezweifelte Manuel stark. Weil zu viel Harmonie und Übereinstimmung die lebendige Dynamik in einer Beziehung vernichten würde, sowie Leidenschaft und Erotik. „Wenn erotische Langeweile um sich greift, enden die Liebesbeziehungen direkt im Grab. Die lässt sich auch bei einer 100-prozentigen Übereinstimmung nicht herbeizaubern.“ Manuel drehte sich halb um die eigene Achse, um sich zu vergewissern, dass ihm auch alle zuhörten, fragte dann, ob noch etwas von der Limo übrig sei. Sein Mund sei völlig ausgetrocknet. Clarissa nickte, nahm den Krug und schenkte ihm den Rest von der Kräuterlimonade ein.
Mara zog sich in den Schatten zurück, weil sie die Hitze nicht mehr so gut vertragen würde wie früher, meinte sie. So gut es ging, machte sie es sich in einem Korbsessel bequem und streckte die Beine aus. Es war Sonntagnachmittag und am Himmel war kein Wölkchen zu sehen.
„Apropos erotische Langeweile“, begann Manuel kurze Zeit später, denn das Thema ließ ihm einfach keine Ruhe. „Monogamie droht doch auszusterben, seitdem es die Partnersuche im Netz gibt.“ Der leichte Zynismus in seiner Stimme war nicht zu überhören, als er fortfuhr: „Wie man hört, sind wir Männer im Netz auf einem anderen Kurs – dem bequemeren und billigeren. Dort draußen leben wir angeblich freier und ungehemmter unsere Triebe aus, jagen lustvoll nach gebärfähigen Frauen, die sich mühelos von uns abschleppen lassen. Ob man den virtuellen Frauenverschleiß, sei er nun tatsächlich oder eingebildet, als eine Art moderne Männlichkeitsdarstellung bezeichnet oder als eine einsame Art zu leben, das, hm, das weiß ich selbst nicht.“ Manuel nervten derartige stereotype Denkschablonen gewaltig und er nutzte die Gunst der Stunde, sie mit subtilem Sarkasmus zu kritisieren, ohne dabei seine Stimme zu erheben und in Wut zu geraten.
„Mein Mitbewohner behauptet ständig, das ewige Eheversprechen gehöre ins letzte Jahrhundert und in einer festen Beziehung könne man ganz selbstverständlich Nebenbeziehungen pflegen“, sagte Clarissa darauf, die selbst wenig überzeugt davon klang.
„Ziemlich selbstgefällig und herablassend“, kommentierte Giulia, die aber meinte, dass Monogamie nichts mit Liebe zu tun hätte. Mit zwei Fingern kramte sie das Handy aus ihrer löchrigen Jeanshose heraus.
„Aber so einfach ist das nicht“, funkte Mara dazwischen. Sie erhob sich aus dem Korbsessel und ging schnurstracks auf Manuel zu. „Fakt ist doch“, brachte sie mit starker Stimme hervor, „dass sich im Netz sexistische und über Jahrzehnte verinnerlichte Plattheiten über veraltete Frauenbilder geradezu pandemisch über den Globus verbreiten, ohne dass daran irgendjemand Anstoß nimmt.“
Giulia legte ihr Handy auf den Tisch, stand auf und rannte zum Pool. Statt die Dinge auszudiskutieren, Meinungen und Interessen auszugleichen, brauchte sie jetzt eine Abkühlung. In voller Montur sprang sie kopfüber in das kühle Nass hinein und quietschte vor Freude, als sie den Kopf wieder aus dem Poolwasser rausstreckte. Die Freunde nahmen keine Notiz von ihr und redeten einfach weiter. Die Welt um sie herum schien vergessen.
„Ich habe nicht an die Männer gedacht, die einen Event daraus machen, Frauen zu betrügen, zu belügen, ihnen nachzustellen, sie abzuschleppen. Es ging mir um die viel-beschworene Treue in einer Langzeitbeziehung. Ähm, darum, wie man Sex und Erotik darin am Leben erhalten kann, ohne sich laufend auf Nebenschauplätze einlassen zu müssen“, verteidigte sich Manuel. „Das ist doch ein quälend-lähmender Marathon, wenn man sich aus reinem Pflichtgefühl ein Leben lang mit ein und derselben Person abrackern muss. Außerdem hast du vorhin selbst gesagt, dass Affären neuen Schwung in Beziehungen bringen. Oder habe ich da was falsch verstanden?“
„Nein, hast du nicht. Davon bin ich nach wie vor überzeugt, vorausgesetzt etwaige Affären werden offen angesprochen und konstruktiv aufgearbeitet. Eine Geheimnistuerei zerstört doch die emotionale Sicherheit in einer Beziehung“, konterte Mara.
„Emotionale Sicherheit?“ Auf Manuels Stirn bildeten sich Denkerfalten. Er wirkte etwas desillusioniert, auf eine Art, die man nicht richtig bestimmen konnte. Mara begründete: „Heutzutage geht es in den Beziehungen nicht mehr um die wirtschaftliche Sicherheit, die früher bei einem Seitensprung in erster Linie gefährdet war, sondern um die emotionale Sicherheit, die, wenn sie zerstört ist, eine Identitätskrise bei der betroffenen Person auslösen kann. Weil dann das Bild zerstört ist, dass man alles für den Beziehungspartner ist – Sexpartner, Freund, Seelenklempner, Kumpel – und man seine Erwartungen und Ansprüche analysieren und kritisch hinterfragen muss.“ Mit unbeteiligter Miene beobachtete sie Clarissa, die intensiv mit ihrem Handy beschäftigt war, erhob sich und sagte nachdenklich: „Aber du hast recht, Manuel. Auch ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich meine, wie es zu schaffen ist, Erotik in einer langen Beziehung am Leben zu erhalten?“
„Erotische Intelligenz.“ Clarissas Kommentar überraschte sie, vor allem, weil er so unerwartet kam. Sie legte das Handy zur Seite und gestand ein, dass sie mit Dennis eine Paartherapie machen wollte. „Schon mal was davon gehört?“, fragte sie. Manuel schüttelte den Kopf. Mara verneinte ebenfalls. Offensichtlich konnte Clarissa gleichzeitig Nachrichten auf ihr Smartphone eintippen und zuhören. Denn sie wusste genau, worüber die beiden sprachen, als sie fortfuhr: „Auch mir stellt sich die Frage, wie es Leute schaffen, über Jahrzehnte die Lust und Erotik in einer Partnerschaft aufrechtzuerhalten. Doch als mich Giulia auf Esther Perel aufmerksam machte, begann ich mich mit ihren Ansätzen zu beschäftigen und wurde fündig.“
„Klingt spannend. Erzähl“, sagten die beiden wie aus einem Mund.
„Hm. Perel sieht in Affären und Seitensprüngen nicht das Ende einer langjährigen Beziehung, sondern Chancen auf eine Neuausrichtung, auf Wachstum, Selbstentdeckung und auf mehr Lustgewinn. Verständlich, dass ihre progressiven Ansätze nicht überall auf Zustimmung stoßen und sie sich mit Hassmails der übelsten Art auseinandersetzen musste. Sie ließ sich jedoch nicht entmutigen und ging mit dem sehr emotionalen Thema ,Untreue in traditionellen Beziehungen‘ an die Öffentlichkeit. Sie gründete einen Podcast und stellte immer wieder die simple Frage: Where should we begin? In ihren Vorträgen können die Zuhörer eigene Ideen und Konzepte auf einer großen Bühne präsentieren. Weltweit motivierte sie Paare, an ihren öffentlichen Therapiesitzungen teilzunehmen. Auch wenn die vollständige Anonymität dabei nicht garantiert war, breiteten Millionen von Menschen ihr innerstes Gefühlsleben aus und redeten über intimste Beziehungsprobleme. Zwar sind die Ansätze von der Therapeutin nicht neu, aber das digitale Angebot ist einzigartig.“ Clarissa beteuerte, dass sie davon zwar fasziniert sei, da es sich theoretisch gut anhören würde, doch sexuelle Untreue und mangelnde Verlässlichkeit hätten ihr schon immer schwer zu schaffen gemacht, und das Thema würde sie nach wie vor ziemlich belasten.
„Affären, Erotik, Sex – das sind mächtige Beziehungsthemen“, brachte sich Giulia ein, die wieder unter ihnen weilte und gleich wusste, worum es ging. Sie hatte sich zurechtgemacht und sah in der weißen Sommerbluse zum Anbeißen aus. „Ehrlich, das ist auch der Grund, warum ich mich auf Lucas nicht einlassen will. Weder läuft die Sache rund, noch sind die Chats mit ihm befriedigend. So ist es unmöglich herauszufinden, was wirklich los ist. Ist es der Reiz des Verbotenen? Der Durst nach Abenteuer und Abwechslung? Will er gewisse unerfüllte Sehnsüchte mit Erfolg krönen?“ Zwanglos plauderte Giulia heraus, worüber sie sich im Moment in dieser Liebesangelegenheit den Kopf zerbrach.
„Der Mann soll sich besser auf Tinder umschauen. Dort kann er sich nach Lust und Laune austoben“, riet ihr Clarissa unverhohlen.
„Bei Tinder findet er jede Menge Frauen, die Lust auf schnellen Sex haben, wenig Wert auf persönliche Ansprachen und das romantische Drumherum legen. Man muss sich weder auf den anderen einlassen, noch eine Einladung für ein Abendessen oder ins Kino aussprechen“, bekräftigte Mara, die wieder im Korbsessel im Schatten saß, und, wie es den Anschein hatte, schon praktische Erfahrungen mit der Dating-App gemacht hatte.
Manuel hörte angespannt zu. Doch er ließ Mara erst ausreden, bevor es regelrecht aus ihm herausplatzte: „Wisst ihr, dass sich bei Tinder so mancher Flirt als Betrug entpuppt und im Stalking endet?“
„Darüber habe ich mir echt noch keine Gedanken gemacht.“ Clarissa schaute Giulia an, die verneinend den Kopf schüttelte.
Manuels Beschützerinstinkt erwachte. Wild entschlossen fing er an: „Probleme gibt es vor allem dann, wenn ein Mann eine Zurückweisung nicht verkraftet, seine Machtposition aber mit aller Gewalt verteidigen will.“ Er machte eine Pause, atmete tief ein und fuhr mit leiser Stimme fort. „Das Prinzip von Tinder ist denkbar einfach: Wenn eine Frau einem Mann gefällt, dann wischt man rechts über das Display und ein grüner Kasten erscheint mit dem Wort: Like. Gefällt ihm eine Frau nicht, wischt er sie nach links, und weg ist sie. Wenn sich zwei Personen ein ‚Like‘ schenken, kommt es zu einem ‚Match‘. Der Love-Chat kann beginnen.“
„Für Menschen ab dem dreißigsten Lebensjahr, die in der Leistungsmaschine gefangen sind, ist Tindern ein extrem bequemes und billiges Mittel auf der Suche nach Liebe“, äußerte sich Clarissa dazu.
„Ganz genau. Denn persönliche Treffen ergeben sich gewöhnlich sehr schnell, auch wenn man bis zuletzt nicht weiß, wer einem dann tatsächlich im realen Leben begegnen wird“, bekräftigte Manuel spontan und führte aus, dass es den Leuten meist um Sex gehen würde, so lange, bis ein Partner anfängt, unbequeme Fragen und Forderungen zu stellen. „Wenn einem das dann zu viel wird, holt man sich den nächsten Partner, die nächste Partnerin. Zweifellos kann man auf diese Weise jede Menge von unterschiedlichen Bekanntschaften machen. Selbst, wenn man an One-Night-Stands kein Interesse hat.“
„Warum kennst du dich bei Tinder so gut aus?“, fragte Giulia neugierig und setzte sich gerade auf.
Aus der zerknautschten Zigarettenschachtel vor ihm fischte Manuel abermals eine Zigarette heraus. Anstatt sie jedoch anzuzünden, hielt er sie zwischen den Fingern. Er antwortete: „Mein Sohn.“ Es dauerte eine Weile, bis er mit etwas mehr Details herausrückte: Dass sein Ältester der App verfallen wäre und ihm nichts anderes übrig geblieben sei, als sich damit auseinanderzusetzen. Da er den Kontakt zu Tobias nicht verlieren wollte. Und mit einem sachlichen Vatergesicht bemerkte er: „Im europäischen Vergleich gehören Deutschland und Großbritannien zu den größten Tinder-Märkten. Seit der Jahrtausendwende sind in diesen Ländern weit über 100 Millionen Profile angelegt worden. Bei Tinder werden oft Leute aus der unmittelbaren Umgebung angezeigt, was für die schnelle Erreichbarkeit dienlich ist. Natürlich kann jede Person selbst entscheiden, was und wie viele Informationen man über die persönliche Wohnsituation, über Vorlieben und Interessen preisgegeben will. Kinder und Jugendliche kommen damit aber nicht zurecht. Da sie doch schnell und freiwillig alles über sich herausrücken, wenn es um Liebe und Erotik geht.“
Manuel betonte, dass er das Suchen nach Liebe in der digitalen Welt keineswegs per se verteufeln würde, und dass nicht hinter jedem digitalen Liebesprofil gleich eine Enttäuschung lauern würde, aber die Sache mit seinem Sohn würde ihn sehr beschäftigen. Seit Monaten würde er sich überwiegend in seinem Zimmer verschanzen, egal wo, in Kopenhagen bei ihm oder in Hamburg bei seiner Ex. Es war ihm anzusehen, dass ihm die Sache unter die Haut ging.
Giulia zeigte sich verständnisvoll und lenkte das Thema in eine andere Richtung, indem sie darauf hinwies, dass die sozialen Medien einem auch Möglichkeiten eröffnen würden, neue, weltumspannende Räume zu entdecken. Sie argumentierte vor allem damit, dass man im Internet binnen Sekunden mit befreundeten Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt treten könne. Und dass in Zeiten von hohen Leistungsanforderungen, internationaler Mobilität und persönlichen Verpflichtungen das Internet eine effiziente Sache sei, sich schnell zu informieren und umzuschauen, wenn man mit einer bestehenden Beziehung unzufrieden sei, einen Abbruch verkraften müsse oder sich einfach nur neu orientieren wolle. „Zweifelsohne haben Google, Facebook, Instagram und alle anderen auch Vorteile“, folgerte sie.
Clarissa, die sich aus guten Gründen zurückgehalten hatte, wandte sich höflich an Manuel: „Du lebst in Kopenhagen. Deine Söhne pendeln zwischen Hamburg und Kopenhagen hin und her. Deine Freunde sind auf der ganzen Welt verstreut und …“
„Diese Beziehungen sind aber alle in der Realität gewachsen“, unterbrach er sie energisch.
„Und, ähm, in solchen Fällen ist das Internet einfach spitze. Was ich kritisiere und noch mehr bezweifle, ist, dass wegen eines bloßen digitalen Kontaktes eine Liebesbeziehung entwickelbar ist, die in der Realität über einen längeren Zeitraum hinweg Bestand hat.“
„Die digitalen Medien haben aber auch meine in der Realität gewachsenen Kontakte ganz schön im Griff.“ Diesen neuen Aspekt brachte Giulia ein.
„Hm. Wie soll man das verstehen?“, fragten Manuel und Clarissa gleichzeitig.
Sie würde die Leute in ihrem privaten Umfeld immer weniger oft in der Realität treffen, erläuterte Giulia ihre Gedanken und fuhr fort: „Wir chatten inzwischen doch alle quasi Tür an Tür. Stundenlange persönliche Gespräche. Das Zusammensitzen wie früher, in denen die Tagesaktivitäten besprochen oder Gedanken geordnet wurden, wenn die Emotionen hochschlugen, gehören heutzutage doch zu einer aussterbenden Kommunikationsform.“ Wohingegen man auf diese Nähe in der Kommunikation doch schlecht verzichten könne, wenn man beispielweise Vertrauen und soziale Sicherheit in einer Liebesbeziehung nach einem Seitensprung zurückgewinnen möchte. „Überhaupt, was heißt denn früher? Die Zeit ist ja gerade so mal vorbei.“ Giulia schnippte mit den Fingern, als ob sie die alten Zeiten herbeizaubern wollte. „Vor ein paar Jahren war es noch egal, was man füreinander tat. Wichtig war, dass jemand da war, wenn man jemanden brauchte, und dass man sich darauf verlassen konnte. Heute findet man diesen Jemand immer weniger oft in der Realität als im Internet. Das ist doch verrückt!“
„Die Medien wirbeln unser soziales Miteinander ganz schön durcheinander. Verhaltensweisen, Werte. Ähm, all das verändert sich massiv.“ Clarissa fasste sich an die Brust, wo ihr Herz saß, war es doch genau das, was ihr in ihrer Ehe mit Dennis am meisten fehlte: Gehaltvolle Gespräche am Tisch, anstelle von endlosen WhatsApps und Mails. Ihr fehlten die einfachen Rituale in ihrer Beziehung: Gemeinsam positiv in den Tag starten, einen gemeinsamen Abend genießen, die ein oder andere Zärtlichkeit im Alltag, der Anruf, wenn es eine Terminänderung gibt. War sie zu Hause, stand Dennis in der Küche seines Sternerestaurants, instruierte das Personal, sprach mit den Gästen, saß bis tief in die Nacht im Büro. War er zu Hause, arbeitete sie in der Kanzlei, hastete von einem Gerichtstermin zum anderen. Kommuniziert wurde via Handy – zu Hause war man allein. Und weil Clarissa dieser Kopfzirkus zu viel wurde, stand sie wortlos auf und verschwand.
„So schwer es fällt. Wir kommen nicht umhin, unsere Beziehungen in der Realität zu pflegen“, betonte Giulia. „Auf Dauer kommt doch keine Beziehung ohne nachhaltige, reale Kontakte aus. Wie soll man ein anderes Leben sonst verstehen?“ Giulia saß Manuel gegenüber und fragte ihn unverblümt: „Wie oft hast du deine Ex in den Arm genommen, einfach so, ohne Grund, und ihr gesagt, dass es schön ist, dass sie da ist?“ Sie beugte sich etwas nach vorn, weit genug, sodass er tief in ihren Ausschnitt schauen konnte, wich wieder zurück und richtete sich kerzengerade auf.
Manuel ließ das Feuerzeug aufflammen und zündete sich die Zigarette an, die er zwischen den Fingern hielt. Ungerührt sah er Giulia an, zuckte mit den Schultern und sagte in einem pathetischen Ton: „Vergangene Erlebnisse reichen auch nicht aus, um eine Beziehung nachhaltig zu pflegen. Auf der Basis von gegenwärtigen Momenten planen wir doch Zukünftiges. Menschen, die wir lieben, mit denen wir zusammenleben und zusammenarbeiten, müssen wir daran teilhaben lassen.“
Während diese und die anderen Dialoge sehr berührend waren und zum Nachdenken anregten, war es ziemlich bedauerlich, dass Manuel danach verstummte, was wohl daran lag, dass sich Mara im Korbsessel regte. Wie eine Katze streckte sie sich, während sie herzhaft gähnte. Manuel schien total fasziniert davon zu sein, wie geschmeidig sie ihren superschlanken Körper von links nach rechts drehte.
„Habe ich was verpasst?“, fragte sie spitzbübisch, als sie mit ihrer Darbietung fertig war, und erklärte, dass sie vor sich hingedöst und sich nicht auf die Konversation konzentriert hätte.
Giulia antwortete. „Wir sprachen über Love-Apps – Tinder und Co, darüber, dass man sich in der Liebe auf keine normierten Abläufe festlegen kann und dass …“ Mitten im Satz brach sie ab. In ihrer Haut fühlte sie sich unwohl, obschon sie von Natur aus zuvorkommend und gefällig war. Die Rolle der braven Schülerin, die Rede und Antwort stand, sobald man sie fragte, hatte sie hinter sich gelassen. Manuel könne doch berichten, sagte sie schnippisch, stand auf, um nach Clarissa zu suchen, die wie vom Erdboden verschluckt war.
Eilig ging sie in die Küche, danach durch den Garten die Treppen zum Pool hinunter. „Vielleicht füttert sie ja die Fledermäuschen im Keller, am Hang, unterhalb vom Pool“, rief ihr Mara heiter hinterher.
Der Erdkeller stand offen. Giulia ging langsam und in leicht gebückter Haltung hinein. Ihr Blick wanderte herum. Es schien sich um einen zweckentfremdeten Lagerraum zu handeln, in dem der Gärtner, der auch für die Poolanlage zuständig war, seine Gerätschaften in einer Ecke aufbewahrte. In der gewölbten Decke klafften Risse, und im Gemäuer gab es unzählige Nischen und Löcher durch die Sonnenlicht drang und die kleinen Vampire rein- und rausfliegen konnten. Von einem befreundeten Biologen wusste sie, dass die nachtaktiven und streng geschützten Tierchen auch Gebäude besiedelten, um sich dort tagsüber in den Mauerrissen zu verstecken und sich vor Eindringlingen zu schützen. Der Eigentümer der Finca muss ein Tierschützer sein, überlegte sie, weil er die Nachtjäger nicht aus ihrem Kellerquartier verjagte. Ob sie sich gerade an der Decke kopfüber schlafend festhielten oder im Gemäuer versteckten, konnte Giulia beim besten Willen nicht erkennen. Und ganz gewiss wollte sie die Kerlchen nicht aufscheuchen. Zumal ihr bei dem Gedanken, sie könnten jederzeit über ihren Kopf hinwegfegen, unheimlich wurde und sie sich deshalb auf und davon machte. Als Giulia draußen um die Ecke in Richtung Pool ging und Clarissa mit einer Sichel in der Hand, einem Küchensieb und Beutel wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte, stieß sie einen lauten erschreckten Ton aus.
„Hast du ein Eis dabei?, scherzte Clarissa.
„Nee. Ich habe nach dir gesucht. Und bei der Gelegenheit erfahren, dass sich im Keller Fledermäuse eingerichtet haben. Was machst du hier unten?“
Giulia ließ sich die Furcht vor den Tierchen nicht anmerken und tat so, als sei nichts geschehen. Ihre Freundin liebte Tiere. Fledermäuse genauso wie Lino, den Esel auf dem Nachbargrundstück, den sie täglich mit einem Apfel fütterte.
„Ich sammle Kräuter für die nächste Runde Limo. Die ersten zwei Liter gingen ja weg wie nichts. Außerdem lenkt mich das ab.“
„Aha. Brauchst du Hilfe?“
„Nein. Bin gleich fertig.“
Giulia stieg die Natursteintreppen zur Terrasse wieder hoch. Schon von weitem erkannte sie, dass Mara nach ihr Ausschau hielt. Und als sie an den Tisch trat, warf sie ihr einen fragenden Blick zu. Clarissa würde im Garten Kräuter sammeln, erwiderte Giulia sogleich und fragte Mara leicht provozierend, ob sie denn was verpasst hätte? Mara ging auf ihre Anspielung mit keinem Wort ein, während sich Giulia an die Kopfseite des Tisches setzte, wo sie die Geschehnisse im Blick hatte. Sie war immer noch etwas verstimmt, was sie auf Maras affektiertes Getue zurückführte. Mal sitzt sie da, mal dort. Mal schläft sie, mal beteiligt sie sich, sodass sie stets die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Kennt jemand John Wilson?“, fragte Manuel plötzlich aus heiterem Himmel und unterbach Giulias wirren Gedankenstrom. Gleich darauf lief er ins Haus und kam mit einem Buch unterm Arm rasch zurück. „Ich liebe dich so, wie du bist‘“, sagte er und verriet, dass er das unscheinbare Büchlein vorgestern im Bücherregal entdeckt hätte. Seither würde er zwischendurch zwei, drei Seiten darin lesen. Schneller wäre der kompakte Stoff nicht zu schaffen. Er blätterte ein paar Seiten um, dann wieder zurück, bis er die gesuchte Stelle fand, mit der er sich intensiver auseinandergesetzt hatte. Und zitierte: „dass, wenn die Partner über keine individuellen Fähigkeiten verfügen würden, über Eigenschaften, die dem anderen fehlen und nach denen er sich sehnt, …“ Manuel hielt kurz inne, bevor er weiterlas: „dass dann die erotische Spannung und das Begehren nicht ausreichen würden, die Liebe zwischen zwei Menschen nachhaltig zu nähren.“ Aus einer Beziehung würde vielleicht Harmonie, Wohlwollen, Teilhabe, gegenseitiges Interesse, aber es würde keine elektrisierende Kraft entstehen, wie sie nur zwischen zwei gegensätzlichen Polen aufkommen könne und die für romantisch Liebende von größter Bedeutung sei. Lust und Erotik allein würden auf Dauer zwar stimulierend wirken, in leidenschaftlichen Beziehungen könne das aber zu erotischer Eifersucht und problematischen Machtkonflikten führen, fasste Manuel am Schluss zusammen. Dann legte er das Buch auf den Tisch, die aufgeschlagenen Seiten nach unten und schob sein leeres Glas beiseite. „Beim Lesen ging mir durch den Kopf, dass es dem Millionengeschäft der Onlinepartner-Industrie schnurzpiepegal sein kann, ob diese elektrisierende Kraft zwischen zwei Liebenden entsteht, oder nicht. In erster Linie muss die Kasse stimmen. Den Konzernen und Verlagen, die sich dahinter verstecken, geht es um wirtschaftliche Interessen, darum, jährliche Umsätze in zweistelliger Millionenhöhe zu generieren, weit weg von jeglicher Gefühlsduselei. Und weit weg von philosophisch-schöngeistigen Ansätzen.“ Manuel sah zu Giulia hinüber, gespannt darauf, wie sie sich dazu äußern würde. Ihre freigeistige Haltung schien im gut zu gefallen, da sie horizonterweiternde Beiträge jenseits des Mainstreams in die Gespräche einbrachte, ohne verkrampft und starrköpfig zu wirken. Giulia wiegte sich gerade rhythmisch im Takt der Musik, die aus der Küche drang. Sie machte aber keine Anstalten irgendetwas darauf sagen zu wollen.
„Hits aus den 80ern und 90ern.“ Clarissa tänzelte barfuß mit einem Tablet aus der Küche und schenkte am Tisch die frisch angesetzte Kräuterlimonade in vier Gläser ein.
„Was für eine Wohltat“, schwärmten alle und bedankten sich fast schon überschwänglich für das durstlöschende Getränk.
„Wir haben schon vernommen, dass du im Garten auf der Suche nach Kräutern unterwegs warst“, sagte Mara bestens gelaunt.
„Vegan, durch und durch“, antwortete Clarissa stolz. Sie erhoben ihre Gläser und stießen auf ihr Zusammensein an – den eigentlichen Zweck des Kurztrips.
„Nun sag schon, Giulia, wie findest du die Aussagen von Wilson?“, fragte Manuel sie direkt, „ich würde gern darüber diskutieren.“
„Nun ja. Alex kam mir in den Sinn. Die vielen Machtkonflikte, der Beziehungsstress und, und, und.“ Giulia bedankte sich für den Literaturtipp und meinte, darüber intensiver nachdenken zu wollen. Während sie nach dem Buch griff, das vor ihr auf dem Tisch lag.
„Und du, Mara?“
Manuel war wirklich erpicht darauf, weiter darüber zu diskutieren. Doch Mara zögerte, schaute zur Seite. Es war ein ungewohntes Bild, das die sonst redselige 46-Jährige abgab.
„Was ist?“ Ungeduldig wippte Manuel mit dem rechten Fuß, während Mara schwieg.
„Lass doch“, kritisierte Giulia sein Verhalten. Sie hätte ihn schließlich wegen des Zustands seines Sohnes auch nicht gelöchert. Eher intuitiv nahm sie Mara in Schutz. Am Tisch wurde es still. Nur Lino schrie ein paarmal. Als Manuel im Begriff war wegzugehen, räusperte sich Mara und fing leicht nervös an: „Wilsons Ansätze klingen plausibel. Und, ähm, meine Ex-Beziehung war weder erfüllend noch elektrisierend. Obwohl wir uns gegenseitig respektierten, es harmonisch zuging. Hm. Bis mir schließlich bewusst wurde, dass ich auf Frauen stehe, und ich mich dieser Tatsache stellen muss.“
„Frauen?“, unterbrach Manuel, dem erst einmal die Sprache wegblieb.
Maras Stimme klang jetzt rau und belegt, worauf ihr Clarissa Limonade nachschenkte. Sie nahm das Glas, leerte es in einem Zug und gestand, dass sie sich zunächst heimlich auf verschiedenen Plattformen umgeschaut und gezielt nach Frauen gesucht hätte.
Manuel griff nach der zerknautschten Zigarettenschachtel, drehte sie auf dem Tisch hin und her.
„Ehrlich?“
„Maximal ehrlich!“
Mara hatte sich wieder gefangen, und ihre Stimme klang klar und kräftig wie eh und je. Ihr spontanes Coming-out kam für alle überraschend. Im Gegensatz zu Clarissa und Giulia war Manuels seelisches Gleichgewicht doch ein wenig aus dem Lot geraten.
„Aha, jetzt verstehe ich auch deinen Kommentar, dass Frauen ohne romantisches Brimborium Lust auf Sex haben können. Ich habe mich schon gefragt.“ Clarissa fasste sich an den Kopf, so als ob sie gerade eine wichtige Entdeckung gemacht hatte.
„Bi oder lesbisch?“, fragte Manuel mit einem angespannten Gesicht. Es fiel ihm schwer zu glauben, was er gerade gehört hatte. Und zweifellos musste er jetzt seine Hoffnungen begraben.
„Lesbisch. Seit zwei Jahren wohne ich mit Linda zusammen, und, ähm, bald wird geheiratet. Endlich habe ich mein Glück gefunden und den Menschen, der mir guttut. Mit meinem Ex-Mann verschwendete ich viele Jahre meines Lebens. Immer fehlte mir etwas, das, was man das Gelbe vom Ei nennen könnte. Als schließlich eine neue Kollegin in meine Abteilung kam, geschah es: Ich verliebte mich. Konnte nichts dagegen tun. Mein Single-Leben in London und meine Sucherei im Internet waren auf einen Schlag beendet – obschon es nicht leicht war, mich einer jüngeren Frau zu öffnen, die bereits mit einer Frau verheiratet war, ähm, und über jede Menge lesbischer Erfahrungen verfügte.“
Mara war sichtlich erleichtert und atmete tief ein, als sie aufstand, auf Manuel zuging und ihn von hinten umarmte. Aus ihrem Innern strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus.
„Das muss ich erst mal verdauen.“ Manuel blieb teilnahmslos auf seinem Stuhl sitzen und starrte vor sich hin.
„Ich weiß. Aber danke, dass du nicht locker gelassen hast.“ Mara legte ihm fürsorglich eine Hand auf die Schulter. Um ihrer Freundschaft willen hätte sie ihm das längst sagen sollen, da ihr seine Aufmerksamkeiten und sehnsüchtigen Blicke nicht entgangen seien, erwähnte sie.
Manuel hatte sich gefangen, wirkte selbstsicher und doch betroffen. „Seit der Schulzeit kennen wir uns. Ähm. Damals bin ich voll auf dich abgefahren. Jetzt schäme ich mich über meine Teenagerfantasien und dass ich diesen noch nachhänge. Am meisten bedaure ich aber, dass ich dir keinen Raum ließ, dich mir frei und ohne Zwang anzuvertrauen.“
„Wow. Was für eine großzügige Geste.“ Giulia war begeistert, auch wenn Manuels Worte etwas kitschig und übertrieben klangen. „Und ich dachte, Himmel, was für eine Romanze. Da konnte man schon richtig neidisch werden“, kommentierte sie offen die neue Realität.
„Was soll’s! Hauptsache der Liebeshimmel tut sich über einem auf – ob nun schwul, lesbisch, hetero oder was auch immer. Warum zum Teufel stellen wir uns die Liebe immer nur zwischen zwei Heteros vor?“ Clarissas versöhnlichen Worten, stimmten alle ohne Wenn und Aber zu.
„Dann, dann wollte ich noch was sagen, nämlich, ähm.“ Maras Stimme überschlug sich fast vor Freude. „Nämlich, dass ich mich, ähm, weil ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen wollte, bei ElitePartner angemeldet hatte. Auch, hm, weil ich nach ein paar Jahren ohne feste Beziehung selbstbewusster mit meinen Bedürfnissen und meiner Neigung umgehen – unbeschwerter und freier nach einer Frau suchen konnte. Ich musste erst innerlich heranreifen und mit mir selber klarkommen, bevor ich mich auf das Neue einlassen konnte. Und nun bin ich guten Mutes und kann behaupten, dass jeder Mensch selbst herausfinden muss, was er braucht und ihm guttut. Mit Linda habe ich meine Lebensendliebe gefunden. Sie betreibt inzwischen eine kleine Kunstgalerie in London. Nachdem wir unsere Beziehung etabliert hatten, verließ sie meine Abteilung und fand das, was sie immer schon machen wollte: Moderne Kunst sammeln und verkaufen.“
Giulia eilte in die Küche, holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und brachte sie zusammen mit vier Sektgläsern auf einem Tablett auf die Terrasse. Am Tisch löste sie die Agraffe und ließ den Korken mächtig knallen.
„Darauf stoßen wir jetzt an – auf ein langes Beziehungsglück für Mara und Linda. Auf uns alle. Möge uns die Liebe zufallen, und wir den Mut finden, uns darauf einzulassen.“ Giulia jubelte, als Clarissa einschenkte und Manuel feierlich seine Stimme erhob: „Auf Freundschaft, Liebe und das Leben.“ Offen sprach er dann über seine Liebesbrüche. Und dass er nach der letzten Schlappe eine innere Schutzwand aufgebaut hätte. Er sei zwar kein typischer Casanova, aber mal die, mal jene, das wäre aktuell die einzige Option, auf die er sich einlassen würde. Eine feste Beziehung würde er nicht vermissen. Dagegen das Gefühl von Vertrautheit und Innigkeit, das schöne Gefühl von Gemeinsamkeit, abends auf dem Sofa und morgens beim Aufwachen. Das, ähm, das würde er ehrlich vermissen. Und ließ seinen Blick über seine Zuhörerinnen schweifen.
„Ein bisschen wirkst du jetzt auf mich wie ein erschöpfter Mann mit Eheschaden“, analysierte Giulia scharf und behauptete felsenfest, dass sich alle Sehnsüchte und emotionalen Bedürfnisse im tristen Alltag ändern würden, und man keinen Anspruch auf Schadenersatz hätte, sollten sie unerfüllt bleiben.
„Und doch trachten wir alle danach, mit unseren Sehnsüchten genau diesem Alltag zu entkommen“, vertiefte Clarissa ihren Gedanken.
„Kommt, lasst uns den Rest des Nachmittags allein verbringen“, schlug Manuel vor und fügte hinzu, dass er das alles erstmal verdauen müsse.
„Gute Idee. Mir fehlt sowieso komplett die Konzentration“, entgegnete Mara und meinte schelmisch, dass sie es sich hätte nicht vorstellen können, auf dem Kurztrip in ein Selbstfindungsseminar mit den Freunden zu geraten. Dann kündigte sie an, einen Spaziergang in der Umgebung zu machen.
Da Giulia mit dem Kochen dran war, fragte sie, wer ihr beim Schnippeln des Gemüses und Reinigen der Muscheln helfen würde. Und verabredete sich mit Manuel und Clarissa um 18 Uhr in der Küche. Mara war bereits verschwunden. Clarissa holte zwei kleine Äpfel aus der Küche. „Für Lino“, rief sie Giulia zu und schlenderte pfeifend zum Nachbargelände. Manuel schnappte sich eine Fachzeitschrift für Brückenbau und setzte sich in den Korbsessel in eine Ecke auf der Terrasse, wo er ungestört war. Giulia ging ins Schlafzimmer, um ihren Koffer zu packen. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie fast drei Stunden für sich hatte. Sie warf den Koffer auf eine Betthälfte und fing an, Kleidungsstücke, Schuhe und Geschenke hineinzupacken. Den zur Hälfte gepackten Koffer ließ sie offen auf dem Bett liegen und beschloss, sich auf die freie Betthälfte zu legen, um sich in aller Ruhe die morgige Abreise und die Vorbereitungen für das heutige Abendessen durch den Kopf gehen zu lassen. Auf dem Speiseplan stand: Miesmuscheln auf französische Art mit einer Soße aus Muscadet, Schalotten, Karotten, Stangensellerie, Knoblauch, Kräutern, Crème fraîche.
Darüber musste sie wohl eingeschlafen sein. Denn als sie wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor sechs. Mit einem Satz stand sie neben dem Bett, sauste ins Bad und bespritzte sich das Gesicht mit frischem Wasser. Danach flitzte sie in die Küche, wo Manuel gerade den Sack mit den frischen Miesmuscheln neben die Spüle stellte. Er wirkte sehr entspannt, lachte und sagte, dass ihm bereits der Magen knurren würde.
„Die Schalentiere müssen aber erst gewaschen und geputzt werden“, meinte Clarissa, die zur Tür hereinkam und berichtete, dass Lino sofort den Hügel zu ihr heruntergelaufen sei, als er sie gesichtet hätte. Die Äpfel hätte er im Nu verputzt.
Während sie sich eine Schürze umband, auf der schwarze und grüne Oliven aufgedruckt waren, und sich ein sauberes Geschirrtuch über die Schulter warf, hob Manuel den schweren Sack vom Boden und kippte den Inhalt, der einen starken Geruch nach Meer und Algen verströmte, in das Waschbecken.
Mara kam am Küchenfenster vorbei und rief herein, dass sie noch schnell Linda anrufen werde, da sie wissen wolle, wie die gestrige Vernissage verlaufen sei.
Beim Säubern und Putzen der Muscheln kam Clarissa ins Nachdenken. Sie begann: „Inzwischen gelingt es mir besser, jede Begegnung und jedes Gespräch als ein Geschenk zu betrachten. Erst im Laufe der Zeit wurde mir bewusst, wie wichtig gute Gespräche sind.“ Sie klopfte mehrmals eine Muschel auf eine andere, warf die weg, die sie sich nicht mehr schließen ließen und erzählte aus ihrem Leben munter weiter: „Nach meiner Scheidung ging mir das Leben nicht leicht von der Hand. Kind, Studium, Arbeit – das war zu viel. Ähm, ich glaube, dass in der Liebe viele zueinanderpassen. An wen man schließlich und für wie lange sein Herz verliert, bleibt doch oft dem Zufall überlassen.“
„Oder den Hormonen“, ergänzte Manuel pointiert mit spitzbübischem Lächeln.
„Wohl wahr“, bestätigte Giulia und bat Clarissa darum fortzufahren.
„Den Sprüchen ‚Wir sind wie füreinander geschaffen‘ oder ‚Jeder Topf findet seinen Deckel’ kann ich ehrlich nichts abgewinnen. Es sind nichtssagende Kalendersprüche, mit denen man seine Mitmenschen traktieren und überholte Kräfte, traumhafte Einbildungen und Illusionen der Beharrung mobilisieren kann. Ich für meinen Teil bevorzuge Zufälle. Erst vor Kurzem las ich irgendwo, dass Menschen, die ihre Erfolge mehr dem Zufall als den eigenen Kompetenzen und dem Leistungsvermögen überlassen, eine größere Dankbarkeit dem Leben gegenüber entwickeln, und, ähm, und auch mehr für soziale Zwecke spenden würden.“
„Binsenweisheiten sollten tatsächlich kritisch beäugt werden. Ihnen zu folgen, heißt doch, sich der Dynamik der Ereignisse zu verschließen, alles auf sich zukommen lassen und keine Initiative entwickeln. Anstatt darauf zu vertrauen, folgen wir blind der zersetzenden Wirkung von Zeit und Tradition. Ziemlich reaktionär“, bekräftigte Giulia knapp Clarissas Meinung und konzentrierte sich dann wieder stark dem Berg Muscheln vor ihr.
„Schon wieder etwas Nachdenkenswertes“, scherzte Manuel, drehte sich um und fing an, den Tisch zu decken. Morgen, in aller Herrgottsfrüh, würden sie sich zum Flughafen aufmachen, um, jeder für sich, in eine andere Richtung nach Hause zu fliegen, dachte er wehmütig, während er am Lavendelstrauß auf dem Fensterbrett herumzupfte und sich an den Tisch setzte. Seit zwei Jahren war Manuel in einem bekannten Architekturbüro in Kopenhagen beschäftigt. Dänische Kollegen wurden auf seine Arbeiten aufmerksam. Gerade arbeitete er an mehreren Brückenprojekten, die zu den architektonischen Meisterwerken Kopenhagens zählen. Die Brücken in Kopenhagen sind nicht nur dazu da, um von A nach B zu kommen, sondern es sind Orte der Begegnung, der Einkehr und Entspannung. Orte des vielfältigen Lebens, der sozialen Kommunikation. Vorhin auf der Terrasse zerbrach er sich den Kopf darüber, wie sich der Aufbau einer Circle Bridge noch spektakulärer gestalten lässt, damit sich der Blick in den kreisförmigen Plattformen automatisch auf den Himmel richtet.
Während Clarissa und Giulia fleißig Karotten und Tomaten schnippelten, sich über dieses und jenes unterhielten, schneite Mara zur Tür herein. Der Spaziergang hätte ihr sehr gutgetan. Ihr Kopf wäre jetzt viel klarer. Sie setzte sich neben Manuel, der seine Mails checkte. Er scrollte Dutzende Nachrichten von seinen Kollegen durch, bevor er die Mail von seinem Sohn öffnete. Nach einer Weile sagte er, dass ihn Tobias morgen am Flughafen abholen würde. Er sei ganz spontan nach Kopenhagen gereist.
„Was für ein schöner Zufall“, griff Giulia das Thema von vorhin wieder auf und führte aus: „Als mir ein offener Umgang mit Zufällen gelang, lernte ich mein Temperament und meine Einbildungskraft zu beherrschen, ohne meine Leidenschaft und Zuwendung für den Augenblick zu verlieren.“
„Das ist mir zu kompliziert. Was meinst du genau?“, fragte Clarissa ungläubig.
„Ähm, hört sich vielleicht gestelzt an. Also ein Beispiel: Es ist nicht lange her, als sich ein aparter Amerikaner in den Fünfzigern in einem Konzert neben mich setzte. Schon vor Konzertbeginn fing er an, mit mir zu plaudern, was für Amerikaner so ziemlich das Normalste auf der Welt ist. Er erzählte von seiner Scheidung, seinen Reisen als Privatier, seinem schwerkranken Vater. Und es dauerte nicht lange, bis er mir auf seinem Smartphone seine digitale Fotogalerie präsentierte: Das luxuriöse Wohnhaus in Florida, den gepflegten Garten, das riesige Wohnzimmer mit Designer-Möbeln, die süßen Enkel. Nach dem Konzert, als ich mich verabschieden wollte, sagte er, dass sein Vater in dem Moment gestorben sei, als die Musiker die Fünfte von Tschaikowski gespielt hätten. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, blieb jedoch höflich, bekundete mein Beileid, obwohl ich mit dem familiären Trauerfall ja nun wirklich nichts zu tun hatte. Schließlich haben wir uns in der Menge aus den Augen verloren. Trotzdem, dass ich die Situation ziemlich merkwürdig fand, feierte ich an diesem Abend einen persönlichen Triumpf – den Triumpf über meine Interpretationen und mein manchmal zu großes Mitleid für andere.“ Giulia wirkte abwesend.
„Woran denkst du jetzt?“, fragte Clarissa, die ihre Freundin genau beobachtete.
„Hm. An die Unabhängigkeit – meine innere Unabhängigkeit. Und dass ich mittlerweile in der Lage bin, mein Leben so zu leben, wie es für mich gut ist, ich es nicht nach den Wünschen und Erwartungen von anderen ausrichte. War ein langer Prozess, da ein unabhängiges Leben für eine Frau keine Selbstverständlichkeit ist. Daran hat sich bis heute wenig geändert.“ Nachdenklich schnitt Giulia die Karotten in kleine Streifen.
„Das hat mir schon immer an dir imponiert“, erwiderte Clarissa.
„Was denn?“, fragte Giulia.
„Dass du deinen Weg gehst, ziemlich furchtlos sogar.“
„So, so!“ Giulia blickte ein wenig skeptisch.
Clarissa kam noch einmal auf den Amerikaner zu sprechen. „Wer weiß, vielleicht war der Typ ein Hochstapler, der das alles nur vorgab, um dir zu imponieren“, analysierte sie trocken, während sie die Schalotten in grobe Stücke zerhackte und Knoblauchzehen auspresste.
„Hm, an deinem Verdacht könnte was dran sein.“ Giulia stellte eine Pfanne auf den Herd, schwitzte die Schalotten mit dem Knoblauch in Olivenöl an, gab die schräg geschnittenen Karotten samt Tomaten, Chilischoten und eine Handvoll Kräuter hinein. Den Sud ließ sie vor sich hin köcheln und erhitzte auf einer anderen Herdplatte in einem großen Topf Wasser, in dem dann die Muscheln mit dem Selleriegemüse so lange gegart wurden, bis alle Muscheln geöffnet waren. Anschließend goss Giulia den größten Teil des Wassers ab und gab eine Dreiviertelliter-Flasche Muscadet hinein. Vorsichtig rührte sie das Gemenge um und ließ es nochmals vor sich hin köcheln. Zum Schluss verteilte sie die gehackten Kräuter über dem Gericht. Fertig. Clarissa legte das aufgebackene Baguette auf den Tisch, das Manuel und Mara gestern zusammen mit den Muscheln, dem Gemüse und Wein in den Markthallen des Mercat de Santa Catalina eingekauft hatten.
Im Gegensatz zum Naschmarkt in Wien oder zum Viktualienmarkt in München, wo ganze Busse vorfahren und Hundertschaften von fotografierenden Touristen aussteigen, ist der beschauliche Markt in Santa Catalina noch nicht von Touristen überlaufen. Und man zumeist auf Einheimische aus dem Viertel trifft.
Clarissa setzte sich zu Manuel und Mara an den Tisch, während Giulia den riesigen Topf mit den Muscheln darauf abstellte. Sie öffnete den Deckel. Die halb geöffneten Muscheln verströmten einen intensiven Geruch nach Tang, säuerlichem Wein, Knoblauch und Kräutern.
„Hunger, Hunger!“, rief Mara mit lauter Stimme und beobachtete akribisch die Vorgänge am Tisch.
„Wie war das mit den zufälligen Begegnungen?“, fragte Manuel plötzlich, der mit halbem Ohr zugehört hatte und auch nicht von sich behaupten konnte, dass er das Multitasking aus dem Effeff beherrschte.
Clarissa wiederholte, dass es besser sei, sich auf die Begegnungen einzulassen, die sich zufällig ereignen würden – Tag für Tag, Stunde um Stunde. Und fügte hinzu: „Was ich eigentlich sagen wollte: Ich bevorzuge es, auf überraschende Begegnungen erwartungsfrei und ohne Schicksalsgedanken zu reagieren, beruflich wie privat.“
„Gesetzt den Fall, ein interessanter Mann – einer von meinem Schlag –“, scherzte Manuel, „lächelt dich unentwegt in einem Café an. Es ergibt sich ein Smalltalk. Du lässt das dann einfach geschehen, ohne die Situation mit Gedanken und Interpretationen an eine neue Liebe zu überladen?“
„Ja, so in etwa“, antwortete Clarissa und nickte zustimmend mit dem Kopf.
„Gar nicht so einfach. Ich meine, angemessen auf zufällige Begegnungen zu reagieren, ohne sie mit falschen Annahmen zu überfrachten. Einfach abzuwarten – Mann, oh Mann, das ist verdammt schwer“, bekundete Giulia.
„Schätze, das geht uns allen so. Wie oft schon überlud ich vielversprechende Zufallsbegegnungen mit eigenen Denkmustern. Schnell bauten sich Traumgebilde in mir auf. Und die Hoffnung, es könnte sich eine ewige Liebe entwickeln.“ Mara redete frei von der Leber weg. Seitdem sie ihr Geheimnis gelüftet hatte, ging es ihr richtig gut. Das war ihr total anzumerken. Ergänzend fügte sie hinzu, dass die Vernissage super gelaufen sei. Immerhin hätte Linda einen sechsstelligen Betrag erwirtschaften können.
„Klasse, gratuliere“, antwortete Manuel neidlos und räumte ein, dass vielversprechende Begegnungen für gewöhnlich an ihm vorbeiziehen würden. Mehr denn je, sei er mit dem Handy oder Laptop beschäftigt – mal feige, mal antriebslos.
„Ommm.“ Clarissas Stimme klang angenehm tief und voll. Sie gab zu, dass sie so manch eine Zufallsbekanntschaft im Freundeskreis schnell als Schicksalsbegegnung angekündigt hätte, im festen Glauben, es würde sich etwas Nachhaltiges entwickeln. „Was sich aber entwickelte, waren Frustrationen und Enttäuschungen. Glücklicher wurde ich nicht. Schon gar nicht weiser.“ Sie schöpfte die erste Portion Miesmuscheln aus dem Topf auf den Teller von Mara. Dann auf alle anderen Teller. Als jeder seine Portion bekommen hatte, stellte sie den Topf auf die warme Herdplatte zurück.
Kaum saß sie wieder am Tisch, wurde nach Herzenslust geschlemmt und gezecht. Sie lachten und erzählten viel: über sich, ihre Kinder, Lieblingsprojekte, Interessen, die Arbeit – über die alten Geschichten; was ihnen eben so einfiel und worüber sie sich amüsieren konnten.
Manuel kam auf Palma zu sprechen und dass sich in der Hochsaison die Anzahl der Menschen in der mallorquinischen Hauptstadt verdoppelt, die Busse überfüllt sind, die Müllabfuhr an ihre Grenzen kommt und der Verkehr regelmäßig auf den Zufahrtsstraßen ringsherum mit Staus bis zum Horizont kollabiert. „Es sind die distinguierten Lifestyle-Touristen, die Instagram-Gemeinde und Laptop-Nomaden mit ihrem Anspruch auf authentisches Leben, die die größte Sorge der Einheimischen sind, weil sie sukzessive in ihre Lebensbereiche vordringen, sich mit Fotoshootings überall inszenieren und für ein Haus oder Apartment in der Stadt über Tausend Euro pro Woche hinblättern.“ Manuel verwies auf einen Zeitungsartikel, den er am Vormittag gelesen hatte, und wühlte in dem Stapel Zeitungen auf der Fensterbank, um nach diesem bestimmten Exemplar zu suchen.
„Hier! Hier ist sie.“ Hastig blätterte er eine Seite nach der anderen um und wurde fündig.
„Palma de Mallorca, Diario de Mallorca berichtete gestern darüber.“ Manuel warf den anderen einen kurzen Blick über die Zeitung zu, als wollte er sichergehen, dass sie ihm auch zuhörten. Er fasste den Artikel mit seinen eigenen Worten zusammen und übersetzte gleich ins Deutsche: „Palma denkt momentan über Mietpreisbremsen und über härtere Maßnahmen gegen Airbnb nach, die im laufenden Jahr 2015 fast 80.000 Unterkünfte in der Stadt angeboten hatten. Von Jahr zu Jahr kommen mehr Touristen. Und von Jahr zu Jahr stehen immer mehr Hotelzimmer leer.“
Nach dem Abitur verbrachte Manuel zwei Jahre in Barcelona, lernte dort auf eigenen Füßen zu stehen, Verantwortung zu übernehmen, und ganz nebenbei lernte er Katalanisch, das er fast akzentfrei sprechen konnte.
„Wie gut, dass du uns über die hiesigen Verhältnisse aus dem Lokalblatt informieren kannst. Ich kenne die Insel schon lange. Und habe miterlebt, wie sie sich mit der Zeit veränderte. Deià zum Beispiel war vor Jahren ein verträumtes Künstlerdorf. Robert Graves schrieb dort Gedichte und Mike Oldfield spielte nachts Gitarre in einer Bar, wo sich die Bohemiens trafen. Niemand bekam davon etwas mit, auch nicht davon, dass Anni-Frid in Deià ein Haus besaß. Bis sich das alles änderte, weil vor etwa fünf Jahren eine neue Generation von Reichen und Schönen das Örtchen für sich entdeckte und seither alles öffentlich abläuft: Promi-Hochzeiten, Promi-Partys, Promi-Events. Bis in die frühen Morgenstunden werden die Anwohner dann wachgehalten und dazu gezwungen, sich laute Musik und lärmende Menschen anzuhören. Und jetzt entsteht am Ortseingang das Neubaugebiet,Petit Deià‘ mit Luxuswohnungen. Da kommt der Bürgermeister mit seinem Vorhaben, Wohnraum für die Einheimischen zu schaffen, nicht voran. Stattdessen muss er sich mit anderen Problemen herumschlagen: Wasserknappheit, Müllentsorgung.“ Clarissa liebte die Insel über alles. Selbst der Massentourismus konnte sie noch nicht davon abbringen, einmal im Jahr hierher auf die entlegene Finca in den Bergen zu reisen. Sie brauchte diese Auszeit, um aufzutanken und sich vom Lärm und Benzingestank der Großstadt zu erholen.
„Die Deutschen mit ihrer anerzogenen Liebe zu Pfandflaschen und Mülltrennung kommen bei den mallorquinischen Ökoaktivisten sicherlich gut an“, scherzte Giulia und fuhr im Geiste fort: Eigentlich würde es schon helfen, wenn die Menschen ein wenig darüber nachdenken würden, dass nicht alle Ressourcen auf der Welt unbegrenzt zur Verfügung stehen. Reisen ist ja schön und gut. Aber muss das mehrmals im Jahr sein – nur weil es billig ist? Ihre letzte Fernreise lag Jahre zurück, nicht weil sie nicht konnte oder wollte, sondern weil sich die Themen in ihrem Leben verändert hatten, sie stattdessen in ihrer Freizeit lieber Trainings in Jugendstrafanstalten durchführte, Texte schrieb oder Geschichten recherchierte.
„Wenn wir schon bei den gesellschaftlichen Veränderungen sind. Warum werden Singles nach wie vor wenig beachtet? Das Thema beschäftigt mich.“ Manuel schaute die Damen an, eine nach der anderen, und sagte, dass er nicht verstehen würde, wieso manche Leute das Single-Dasein verpönen und es als Schwäche interpretieren würden. Singles seien inzwischen eine gesellschaftlich relevante Größe, für die sich nicht wenige ganz bewusst entschieden hätten. Abgesehen davon, dass die Mehrheit der Menschen als Single geboren und sterben wird, auch wenn Hunderttausende auf der ganzen Welt am gleichen Tag geboren und sterben werden. „Warum soll ich mir über meinen momentanen Beziehungsstatus Gedanken machen? Es ist, wie es ist!“
Manuel bemühte sich, die widerspenstige Muschel auf seinem Teller zu öffnen. Er zwängte sein Messer vorsichtig in den kleinen Spalt, um den Inhalt nicht zu beschädigen. Doch die Muschel kam ihm keinen Millimeter entgegen. Er verdrehte die Augen und schimpfte laut: „Du störrisches Ding. Du bist ja so was von unfähig.“ Manuel gab nicht auf, bis es ihm schließlich gelang, das kleine Biest zu öffnen. Dabei stieß er einen freudigen Jauchzer aus. „Bei mir gibt es kein Einigeln. Ich wohne in offenen Räumen“, scherzte er vergnügt, während er das Muschelfleisch herauspickte und gierig verschlang.
„So viel dazu“, beschrieb Mara ihren Unmut, der sie befallen hatte, nachdem sie über Manuels Äußerungen nachgedacht hatte: „Du hast vollkommen recht. Singles sind nicht gesellschaftlich breit akzeptiert. Weibliche Singles haben es häufig mit Diskriminierung zu tun, weil sie ja keinen Mann abbekommen haben. Ich musste mir das jahrelang anhören. Indirekt. Und dass das Leben als Single anstrengend ist, sie einsam sterben, auf jeden Fall aber früher als ihre verheirateten Artgenossen. Singles müssen demzufolge also unglücklich, egoistisch, unreif, unangepasst, seltsam und wahnsinnig unsozial sein. Und dann die ständigen Fragen: Warum bist du allein? Wieso bist du nicht verheiratet? In meinen Single-Jahren hatte ich quasi eine Begründungspflicht anderen gegenüber, warum ich solo lebe. Nicht selten wurde vermutet, dass den Singles etwas im Leben abgehen würde, ähm, ganz besonders den Dauer-Singles, die noch kritischer beäugt werden. Das Leben kann für sie nur leer und einsam sein. Um es auf den Punkt zu bringen: Singles sind eine besonders bemitleidenswerte Spezies des 21. Jahrhunderts. Und das Single-Alleinsein ist nicht nur teuer für die soziale Gesellschaft, sondern grundsätzlich unerwünscht.“ Mara sprach sich in Rage, was ungewöhnlich für sie war, gerade jetzt, wo sie sich so glücklich und wohl fühlte. Ihre Gesichtszüge waren von der heftigen Aufregung ganz verzerrt. Und in ihrem Eifer strich sie sich ständig ihr mittellanges Haar von den Schläfen hinter die Ohren.
Manuel kannte derartige Anfeindungen, was er ihr zwischendurch kopfnickend bestätigte, ließ Mara ausreden, ging zum Kühlschrank und wickelte ein paar Eiswürfel in ein Geschirrtuch ein. „Vielleicht solltest du heute Abend ein paar Meditationsübungen machen“, sagte er mitfühlend und hielt das Geschirrtuch an Maras Wange.
„Scherzkeks.“ Mara bedankte sich für die nette Geste, drückte ihr Gesicht fester auf das Geschirrtuch, sagte, dass das ein Reizthema für sie sei. Und, dass sie noch lernen müsse, die damit verbundene aufkochende Wut zu kontrollieren.
„Derartige stereotype Zuschreibungen sind schon längst veraltet und unangemessen“, beruhigte sie Manuel und verwies auf die Ergebnisse einer sozio-ökonomischen Studie zum Partnerschaftswandel und Geburtenrückgang von Jan Eckhard, die er im Internet entdeckt hatte und im Wesentlichen im Kopf hatte. „Der Studie nach ist die Zahl der Single-Haushalte in Deutschland binnen 20 Jahren um fast 50 Prozent angestiegen. Wovon besonders stark Männer bis 49 Jahre betroffen sind. Heute würde man die Single-Anzahl in Deutschland auf etwa 41 Prozent und in den USA auf 45 Prozent schätzen. Und das, obwohl Vorstellungen von einer festen Partnerschaft und Familie in der westlichen Welt unter jungen Menschen von 25 bis 35 Jahren ungebrochen verbreitet sind, genauso wie in unserer Generation der Baby Boomer.“ Junge Menschen würden sich heute aber weniger als Teil von Familien, Berufsständen und Klassen definieren, sondern vielmehr als Einzelkämpfende, die von Bindungs- und Bedeutungslosigkeit bedroht seien. „So gesehen“, folgerte er daraus, „hätten sie mit sich selbst genug zu tun, was ich an meinen beiden Söhnen beobachten kann.“ Dem fügte er hinzu, dass die ansteigenden Single-Zahlen und die Partnerlosigkeit darauf schließen lassen, dass der Haltbarkeitszeitraum von Beziehungen per se sinken würde – trotz der Sehnsucht nach romantischer Liebe und Partnerschaft. Außerdem würde sich die romantische Realität in der westlichen Welt dadurch auszeichnen, dass es die Liebessuchenden zwar ständig mit pochenden Herzen zu tun hätten, aber weniger mit potenziellen Liebespartnern, die sich in ihren Herzen über einen längeren Zeitraum aufhalten würden.
Seine Zuhörerinnen beeindruckte er durch seine profunden Ausführungen und eloquente Ausdrucksweise. Man hätte leicht annehmen können, er wäre Sozialwissenschaftler, nicht Architekt. Manuel genoss diese Aufmerksamkeit und setzte sein charmantestes Lächeln auf, als er kundtat, dass er sich mit dieser Thematik lange Zeit kritisch auseinandergesetzt hätte, schon deshalb, weil ihn die vorurteilsbeladenen und abwertenden Diskussionen über Singles selbst gewaltig nerven würden.
„Singles sind keine vorübergehende Erscheinung mehr“, erwiderte Mara und dass es angesichts dessen an der Zeit wäre, dass westliche Gesellschaften Zukunftsperspektiven in dieser neuen Lebensform sehen würden und nicht nur Defizitäres.
Nachdem die Muscheln verspeist waren, stellte Clarissa eine Schüssel mit Panna cotta auf den Tisch. Der Nachtisch wurde von ihr in aller Schnelle zubereitet und noch schneller verputzt.
„Kaffee?“, fragte Giulia danach und begann, das Geschirr langsam abzuräumen. Auch wenn ihre Frage rein rhetorischer Art war, hieß das nicht, dass sie keine Antwort erwartete. Clarissa nickte.
„Jaaaa“, antwortete Manuel während er die Muschelschalen in Müllsäcke hineinkippte und spontan entschied, sie sofort zu entsorgen, zumal die Müllcontainer nicht weit von der Finca entfernt waren.
„Für mich bitte auch einen Kaffee.“ Mara stand auf, entsorgte das restliche Baguette, sagte: „Ich übernehme das Beladen der Spülmaschine.“ Sie strich die Dessertreste aus der Schüssel, schob einen Finger zwischen ihre Lippen und leckte ihn ab: „Teuflisch verführerisch“, lachte sie und machte sich über das Geschirr her: „Wie ihr wisst, war ich zehn Jahre lang Single. Und da ich mehr über Singles wissen wollte, bin ich auf Bella DePaulo gestoßen. Kennt die jemand?“, fragte Mara, ließ kurz Wasser über die schmutzigen Teller laufen, um sie dann in die Spülmaschine zu räumen.
Clarissa und Giulia schüttelten beide mit dem Kopf.
„DePaulo ist Sozialwissenschaftlerin und Single. Seit Jahren forscht sie auf diesem Gebiet. Ihr Fazit: Singles sind genauso zufrieden wie Paare. Je älter Singles sind, desto zufriedener sind sie – mit sich und ihrem Leben, besonders Frauen. Singles kapseln sich im Gegensatz zu verheirateten Paaren in der Regel sozial nicht ab. Sie verfügen über ein großes, oft internationales Freundes- und Familiennetzwerk und stellen ein realistisches Korrektiv zum idealisierten Ehemodell dar, das ja, wie wir erfahren haben, mit Erwartungen und romantischen Träumen überfrachtet ist.“ Mara stellte die Spülmaschine an und begab sich zu den anderen an den Tisch: „DePaulo benennt in ihrem Buch,Singled Out‘ ein ganzes Bündel von negativen Stereotypen, die eine Paargemeinschaft oder Ehe als das richtige und erstrebenswerteste Beziehungsideal aufrechterhalten würden.“
„Jetzt wird es echt spannend, Mara.“ Giulia klang interessiert, hob ihren Kopf und erwiderte: „Demzufolge müssen unzufriedene Paare ihren Frust ausgleichen und Singles abwerten, ignorieren oder bemitleiden, um in der ehelichen Gemeinschaft zu überleben.“ Giulia schaute Mara an, die erst überlegte, bevor sie auf den treffsicheren Kommentar eingehen konnte.
„Das scheint das versteckte Spiel zu sein, Giulia. DePaulos Forschungen ergaben auch, dass sich Wut und Frust tatsächlich auf Singles niederschlagen können, schon deshalb, weil sie sich der allgemeingültigen Norm entziehen und nicht nachdrücklich nach einem Partner suchen.“
„Wohl aus gutem Grund, da zufriedene Singles nicht auf Teufel komm raus nach einem Partner oder einer Partnerin suchen“, betonte Giulia und trank ihren mittlerweile kalt gewordenen Espresso. „Muss bei dem Thema an ein paar ElitePartner-Kandidaten denken, die sich mir gegenüber sehr abwertend und herabsetzend äußerten und sich recht eigenartig benahmen, wenn ich auf meine beruflichen Errungenschaften und Unabhängigkeit zu sprechen kam. Überhaupt fechten erfolgreiche Frauen mit Männern unangenehme Machtkämpfe aus. Beruflich wie privat – bei denen Frauen meist den Kürzeren ziehen und ins Hintertreffen geraten. Single-Frauen mit guten Universitätsabschlüssen sind leitenden Managern oft ein Dorn im Auge: Sie sind engagiert und kompetent, nicht zwischen Familie und Beruf hin- und hergerissen. Das kenne ich nur zu gut. Bei einer Firmenübernahme hat mich beispielsweise der neue Geschäftsführer von einem Tag auf den anderen an die Luft gesetzt. Dies war einfach für ihn, da er sich von einer Selbstständigen leicht trennen konnte. Und das Großprojekt, das ich sehr erfolgreich leitete, beim Firmenverkauf abgeschlossen war. Bei der Abwicklung meines Vertragsverhältnisses hatte er sich sehr schäbig verhalten, ließ Termine platzen und drohte mit martialischen Maßnahmen. Wochenlang hatte ich Albträume, sah diesen Menschen immer wieder in seiner Nazi-Kluft vor mir. Es war ein zermürbender Machtkampf, bei dem es um sein Ego, um seinen Erfolg ging. Mir blieb nichts anderes übrig, als einen Anwalt einzuschalten, um einigermaßen heil aus der Sache herauszukommen.“ Giulia ging nicht näher auf Details ein, runzelte ihre Stirn und sagte abschließend: „Hätte nie gedacht, dass Buck mit seiner Prophezeiung recht hatte.“
„Buck?“ Mara sah sie fragend an.
„Ein Freund, der in einem Hochsicherheitsgefängnis einsitzt. Ich habe ihn während eines Anti-Gewalt-Seminars kennengelernt und häufig besucht. Buck sagte einmal, dass sich Männer grundsätzlich mit unabhängigen Frauen schwertun würden. Weil sie dann mit ihrer eigenen Unfähigkeit konfrontiert werden – der Unfähigkeit, sich selbst Herausforderungen zu stellen. Und weil ihre Kontrollbemühungen bei diesen Frauen kläglich scheitern würden, müssen sie diese Frauen verachten, um den eigenen Selbstwert nicht zu torpedieren.“
„Hm, da ist was dran. Und Hut ab, vor einem Mann mit solchen Einsichten. Einem, der dann noch im Knast sitzt. Kaum zu glauben“, urteilte Mara anerkennend und bedauerte, dass Manuel das nicht hören konnte, der zu den Müllcontainern unterwegs war. Mara fuhr fort: „Mittlerweile weiß man auch, dass die Annahme, Single-Frauen seien ständig auf der Suche nach einem Partner, ebenso falsch ist wie die Annahme, Frauen würden sich nicht zu helfen wissen. Langjährige Single-Frauen wissen sich durchaus in Sachen eigener Bedürfniswelt zu helfen und suchen nicht aus einem Mangel heraus nach einem Partner, sondern, weil sie sich Nähe, Vertrautheit, Sexualität wünschen.“ Mara wischte die Anrichte in der Küche ab und schaute nach, wie lange der Spülgang noch dauerte.
„Findest du all das bei Linda?“, wollte Giulia wissen, stand auf und gesellte sich zu Mara, die die Tür des Geschirrspülers schloss und das Gerät einschaltete.
„Und ob.“ Freudestrahlend richtete sie sich auf und warf einen kurzen Blick zur Küchentür.
Wobei diese Bedürfnisse, also Gefühlsmuster und Empfindungen, doch von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Dennis und ich passen auf diesem Gebiet überhaupt nicht zueinander“, mischte sich Clarissa ein. Obwohl sie wieder mit ihrem Handy beschäftigt war, hörte sie aufmerksam zu, verstand den Inhalt und Sinn des Gesprächs.
Manuel platzte mit einem ‚Bin wieder da’ zur Tür herein. Seine Präsenz war regelrecht zu spüren.
„Das ist nicht zu überhören“, entgegnete Giulia schroff undfuhr fort: „Und jetzt willst du sicherlich wissen, über was oder wen wir die ganze Zeit geredet haben. Frauen sind doch Tratsch-tanten.“
„So ist es. So ist es.“
„Mara und Giulia haben sich über die zunehmende Unabhängigkeit der Frauen unterhalten und dass das für Männer ein Problem ist“, lenkte Clarissa ein und bewies ein weiteres Mal, dass sie eine exzellente Zuhörerin war. Sie goss den restlichen Wein in ihr Glas, leerte es in einem Zug und sagte geradeheraus: „Die sogenannten Wonder Women in James-Bond-Action-Szenen, die faszinieren, zerstören, morden, ihre Meinung sagen und Standpunkte verteidigen können, sind nun mal einfacher auf der Leinwand zu ertragen als in den eigenen vier Wänden.“
„Wer weiß. Vielleicht sind die neuen Filmheldinnen der richtige Anfang, damit sich Frauen aus ihren Opferrollen herauslösen, was Männer dann auch gut fänden. Momentan sieht es danach aus, dass die Geschlechterrollen in der Filmindustrie neu gedacht werden.“ Manuel gelang es, der Diskussion eine optimistische Sicht beizufügen.
„Ups, eine neue Perspektive. Jeder Impuls für die Befreiung von Mann und Frau muss genutzt werden, um eine neue Menschheit zu konstruieren,“ brachte Mara in die Diskussion ein.
Giulia, die es sich inzwischen auf dem Fenstersitz gemütlich gemacht hatte, nickte heftig, erstaunt darüber, wie gut sich Mara die Gedanken und Ansätze von der Frauenrechtlerin Helene Stöcker gemerkt hatte. Dennoch Giulia war in diesem Moment wenig optimistisch, da es noch ziemlich ungewiss sei, wie sich die heutigen jungen Generationen zu dieser Thematik in der Praxis stellen würden.
„Generell bleibt es doch jedem Mann überlassen, was er aus der Situation macht, wenn er sich in eine unabhängige Frau verliebt“, äußerte sich Manuel dazu.
Giulia stand auf, schmiss die Kaffeemaschine an und verlautbarte: „Singles verlagern ihre Bedürfnisse auf verschiedene Menschen. In meinem Fall gibt es etliche Menschen, mit denen ich etwas unternehme, zusammensitze: Mit Mark ziehe ich um die Häuser, besuche Kunstausstellungen. Mit Laura verreise ich. Leo ist mein persönlicher Berater in Liebesfragen. Ein anderer erledigt diverse Botengänge – und so weiter.“
Die Kaffeemaschine war einsatzbereit.
„Gib mir bitte Bescheid, wenn du noch einen Posten zu vergeben hast“, entgegnete Manuel amüsiert, „und du beispielsweise jemanden für die Romantik brauchst. Bin beeindruckt von deiner Art der Aufgabenverteilung, und selbstverständlich felsenfest davon überzeugt, dass da keiner zu kurz kommt.“
„Mal diese, mal jene“, konterte Giulia. „Du scheinst sehr flexibel zu sein …“ Noch ehe sie den Satz zu Ende sprechen konnte, fingen Mara und Clarissa an, wie verrückt zu lachen.
Manuel, dem das nichts auszumachen schien, erwiderte darauf lässig, dass es doch genauso bei den Männern ablaufen würde. Im Geheimen. Worauf erneutes Gelächter ausbrach.
„Was ich damit aber sagen wollte …“, Giulia stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine, drückte auf den Knopf für Espresso und sog genussvoll den aufsteigenden Duft ein, „… wenn Aufgaben verteilt werden, verlangt man nicht zu viel von einem einzigen Menschen. Gleichzeitig schützt man sich doch davor, bei einer Trennung oder beim Tod eines Partners nicht gleich die gesamte persönliche Welt zu verlieren.“
Aus der Kaffeemaschine floss ein erstklassiger Espresso mit einer perfekt cremigen Schaumschicht. Manuel holte sich eine Espressotasse aus dem Schrank und nahm eine Zitrone aus der Obstschale. Während er nach dem richtigen Messer suchte, um ein Stück abzuschneiden, sagte er: „Singles sind eigentlich zu beneiden“, und fragte, wer Espresso mit Zitrone haben möchte. Alle schüttelten energisch mit dem Kopf, obschon das vielleicht gar keine so schlechte Idee war. Etwas Zitrone im Espresso soll bekanntlich den Kopf frei machen, was ausreichend Wasser aber genauso tat.
Clarissa holte sich eine große Tasse aus dem Schrank und gönnte sich einen cremigen Cappuccino, Mara einen Latte Macchiato. Innerhalb kürzester Zeit waren alle wieder topfit und blieben mitten in der Küche in einem Kreis stehen.
„Ob nun verheiratet, getrennt lebend, geschieden, verwitwet, alleinlebend – was auch immer. Das ist doch nicht das Thema“, begann Clarissa, nachdem sie den ersten Schluck Cappuccino getrunken hatte. Und betonte, dass das Problem für sie der Mythos über die romantische Liebe sei, der mit dem modernen Leben und den alltäglichen Anforderungen nicht mehr in Einklang zu bringen sei, eben weil Frauen unabhängig von ihrer Beziehungskonstellation selbstständiger werden würden. Diese Entwicklung würde auch traditionelle Ehegemeinschaften in Schwierigkeiten bringen. Früher oder später.
„In den USA haben heute bereits genauso viele Frauen wie Männer einen Job. Außerdem sind sie an Schulen und Universitäten erfolgreicher als Männer und verdienen gut. Paradox ist doch, dass es sich dabei häufig um Single-Frauen handelt. Zurück bleiben also die Männer, meist junge, schlecht ausgebildete, statuslose Männer aus prekären Verhältnissen, wodurch sich der hohe Anteil von alleinlebenden jungen Männern erklären lässt“, trug Mara zum Themenkomplex bei, die sich in ihrer Jeanshose mit den ausgestellten Beinen jugendlich burschikos präsentierte.
„Ja, so scheint es zu sein. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Frauen bevorzugt nach oben heiraten“, ergriff Manuel das Wort und verwies darauf, dass das in erster Linie auf Männer mit einem höheren beruflichen und gesellschaftlichen Status – Männer mit Geld – zutreffen würde. „Damit hatte ich es schon oft zu tun, ähm, mit Frauen, die meinen beruflichen Status mehr liebten als mich, was mich, ehrlich gesagt, ziemlich anwiderte. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wie arme, statuslose Männer, denen die Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern erschwert oder gar verwehrt wird, unter diesen Voraussetzungen noch an eine kluge Frau kommen sollen? Die Eroberung eines adäquaten weiblichen Partners wird beileibe nicht einfacher werden für uns Männer.“
„Setzen wir uns doch an den Kamin“, schlug Clarissa vor, köpfte eine Flasche, goss den Rotwein in einen Steinkrug und setzte sich in Bewegung. Im Wohnzimmer stellte sie den Krug auf einen kleinen Beistelltisch. Dann ließ sie sich mit einem leichten Seufzer in den bequemen Ohrensessel fallen und bat Giulia, ihr ein Glas einzugießen. „Ich muss ein paar Minuten chillen“, sagte sie und schloss die Augen.
„Kann mir im Moment nichts Schöneres vorstellen, als mit drei klugen Frauen vor einem offenen Kamin herumzuhängen“, flachste Manuel, legte einen Anzünder in die Mitte des Brennraums, schichtete kleine Holzspäne und immer dickere Scheite darüber. Mit einem langen Streichholz zündete Giulia den Anzünder an, schloss die Sichtklappe und stellte eine Wasserschüssel auf den Kamin. Sie setzte sich neben Mara aufs Sofa. Manuel stand vor dem Kamin, eine Hand in der Jeanshose, in der anderen das Glas Rotwein, das ihm Mara eingeschenkt hatte. Andächtig beobachtete er den Flug der springenden Funken, schob regelmäßig neue Holzscheite in den Kamin, bis die Flammen emporloderten.
Giulia schloss ebenfalls die Augen und hörte Maras wohlklingender Stimme zu: „Wenn nun in modernen Gesellschaften immer mehr Frauen alleine leben und nicht mehr heiraten wollen, auf der anderen Seite junge Männer immer häufiger ohne Frauen auskommen müssen, werden die Veränderungen unser aller Leben betreffen.“
Giulia öffnete ihre Augen und wandte sich Mara zu: „Probier den Wein. Der ist sehr intensiv.“ Sie stand auf, nahm den Krug und füllte Maras Glas, ehe sie sich selbst einschenken konnte. Beide gesellten sich zu Manuel und Clarissa, die inzwischen auch vor dem Kamin stand.
„Parallel dazu finden noch ganz andere gesellschaftliche Entwicklungen statt“, warf Clarissa nachdenklich in die Runde, „weil Frauen sich weltweit immer mehr verweigern, in traditionelle Rollen zu schlüpfen. Männern kommen somit nicht nur Frauen als potenzielle Ehe- und Geschlechtspartnerinnen abhanden, sondern auch Partnerinnen in der Rolle von kostenlosen Dienstleistern für Haus- und Putzarbeiten im Eigenheim oder in der Wohnung.“
„Ähm, die dann nicht einmal das Katzenfutter finden, wenn die Frau weg ist.“
Manuel zwinkerte Clarissa zu, wohl wissend, was sie damit meinte, goss Wein in ihr Glas bis es randvoll war und setzte den Krug wieder schwungvoll ab. Als alle ein volles Glas in der Hand hielten, hob Manuel seins und blickte in die Runde: „Also dann, noch einen Toast“, sagte er feierlich, worauf ihn die Frauen erwartungsvoll anschauten. „Meine Lieben. Ich möchte mich bei euch bedanken: für inspirierende Gespräche und entspannende Tage, die ich mit euch verbringen durfte. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich mit drei blitzgescheiten Frauen so wacker schlagen würde. Um ein weiteres Mal habe ich gelernt, dass ein Mann gut beraten ist, mit Frauen zu verhandeln, und dass er sich persönlich weiterentwickeln muss, um sich überhaupt mit unabhängigen Frauen auf Augenhöhe entspannt einlassen zu können. Wir Männer sollten wirklich lernen, über unsere Gefühle zu sprechen. Und was den weltweiten Frauenmangel angeht, ähm …”, Manuel nahm einen großen Schluck, „… noch muss man abwarten, ob sich das Phänomen in der westlichen Welt stark ausbreitet.“ Manuel sprühte vor Ideen und Witz und brach, nach einem kurzen Augenblick der Stille, erneut in schallendes Gelächter aus. Er zeigte sich in bester Trinklaune: „Für mich ist die Liebe eine Reise, in der man durch bestimmte Phasen miteinander geht, man sich jederzeit aber wieder trennen kann. Auf die Verliebtheitsphase folgt die Phase der Ernüchterung. In dieser können Beziehungen leicht aus dem Gleichgewicht geraten, da das Risiko, sich selbst und den anderen zu verletzen, groß ist. Schließlich kommt es in der Kampf- und Entscheidungsphase zu Machtkämpfen, infolgedessen zu Enttäuschungen und Ängsten vor Ablehnung, zu Eifersucht und Wut. Schlussmach-Profis beenden jetzt eine Beziehung, Aushalter finden sich damit ab, passen sich an oder suchen nach Aufmerksamkeit und Liebe außerhalb der bestehenden Verbindung.“
„Woher weißt du das?“, fragte Clarissa misstrauisch, stellte ihr halb volles Glas auf den Kamin und verschränkte ihre Arme.
„Habe das irgendwo gelesen. Weiß nicht mehr, wo. Die Informationen fand ich aber komprimiert genug, um sie mir zu merken.“ Mit einem verschmitzten Grinsen eröffnete Manuel den Frauen freimütig, dass er noch nie über die Kampf- und Entscheidungsphase in einer Beziehung hinausgekommen sei, auch nicht mit seiner Ex-Frau. Er sei aber gewiss kein Schlussmach-Profi, würde sich aber wie jeder Mensch, Stabilität, Verlässlichkeit und Sicherheit in einer Beziehung wünschen.
„Die Beziehungsphasen folgen nicht linear aufeinander und auch nicht zwingend hintereinander“, ergänzte Mara und räumte ein, sich damit auch schon auseinandergesetzt zu haben: „Die Phasen überlappen sich, greifen ineinander, können übersprungen werden. Man kann auch in eine schon durchlebte Phase zurückfallen und sich nach Jahren in denselben Partner verlieben.“ Sie führte aus, dass es von den beteiligten Partnern abhängen würde, wie lange die einzelnen Phasen andauern, wie sie in Krisenzeiten miteinander umgehen und ihre Konflikte lösen würden. Da keine Liebesbeziehung der anderen gleichen würde, und jede neue Liebesbeziehung wieder ganz anders laufen könne. Deshalb sei es sinnvoll, dass sich die Partner kontinuierlich hinterfragen: In welcher Phase befinden wir uns? Was wünscht sich der andere? Was wünsche ich? Wo stehe ich? Wo steht der andere? Wie gehe ich damit um, wenn mein Partner oder meine Partnerin noch nicht so weit ist, das gar nicht will? Es sei auch wichtig, sich offen, ehrlich und respektvoll zu begegnen. Dabei helfe das Wissen, dass Streit für eine Beziehung sowohl gewinnbringend als auch zerstörend sein kann. Letzteres würde zutreffen, wenn dem anderen eigene Wünsche und Bedürfnisse aufgezwungen, man der Beziehung weder Zeit noch Raum für die Entwicklung lassen und die eigene Ausgeglichenheit, das Gefühl für sich und sein eigenes Leben verlieren würde.
„Das sind hoffnungsvolle Worte, Mara. Wobei sich mir bei deinen Ausführungen die Frage nach der Praxis stellt. Klar, die Partner können sich neu begegnen. Doch Wut- und Eifersuchtsgeschichten sind sehr belastend. Therapien sind auch nicht das Gelbe vom Ei“, brachte Giulia ein, sah Manuel an und überließ ihm das Schlusswort: „Auf die Liebe. Und dass wir sie jemals begreifen mögen.“
Eifrig erhoben sie ihre Gläser und beschlossen, sich auf der Finca wiederzutreffen. Mit strahlenden Augen verkündete Mara: „Wie ihr wisst, werde ich wieder heiraten. Zur Abwechslung eine Frau. Zur Hochzeit seid ihr herzlich eingeladen.“ Mara sah zuerst Manuel an, dann Clarissa und Giulia. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, das so viel Sympathie ausstrahlte, sodass ihr alle nacheinander um den Hals fielen.
Nachdem sie sich zugeprostet hatten, entstand ein Moment der Stille. Und Giulia hätte nicht sagen können, warum sie danach wieder auf die Beziehungsphasen zu sprechen kam. Vielleicht war es die etwas wehmütige und feierliche Stimmung vor dem offenen Kaminfeuer. Vielleicht war es ihre tief sitzende Enttäuschung mit Alex.
„Alex und ich kamen nicht über die Kampf- und Entscheidungsphase hinaus. Ständig taumelten wir zwischen Verliebtheit, Kampf und Frustration hin und her – ohne Chance auf Entwicklung, auf Verlässlichkeit, auf Sicherheit. Mit seinen Wutausbrüchen, seiner Geheimnistuerei musste ich allein fertig werden.“ Giulia atmete tief und gleichmäßig, als sie das den Freunden ehrlich offenbarte.
„Mit Linda bin ich todsicher in der Verliebtheitsphase“, reflektierte Mara, „obschon viele Momente von Geborgenheit und Vertrauen zwischen uns sind.“ Sie blickte sich um und sagte, dass sie auf schwierige Phasen eingestellt sei, sie aber keine Angst davor hätte und sich vor der Verantwortung auch nicht scheuen würde.
Am Ende der Diskussion waren sich dann alle einig, dass die Liebe zwar ein Nährboden für Neurosen und seelische Verletzungen ist. Aber es tausendmal besser ist, eine neue Liebe zu wagen, anstatt fortwährend unerfüllbaren Träumen nachzuhängen.
Insgeheim spürte Giulia, dass es ihr nichts mehr ausmachte, über ihr klägliches Scheitern mit Alex zu sprechen. Sie hatte ihre innere Balance wiedergefunden und gleichzeitig den Wert des Scheiterns erkannt. Die Liebeserfahrung mit Alex lehrte sie: Scheitern kann jeden treffen, zu jeder Zeit, an jedem Tag. Und wenn es einen in irgendeiner Weise persönlich trifft, dann erfährt man nicht nur Schuld, Leid und Vergänglichkeit, sondern Klarheit und Dringlichkeit, die für eine höhere Bewusstseinsstufe benötigt werden.