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2. Aus dem Leben meiner Vorfahren

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Zu den mehr als 20 000, die im Jahre 1732 wegen ihres Bekenntnisses zum evangelisch-lutherischen Glauben von dem katholischen Bischof Firmian aus ihrer Salzburger Heimat vertrieben wurden, gehörten auch

meine Vorfahren. Unbeugsam und ihrem Glauben treu verließen sie ihr Heimatland und zogen einer

ungewissen Zukunft entgegen.

Vertrauter Duft der bunten Wiesen,

wo jedes Kräutlein doch bekannt,

die Berge, diese dunklen Riesen,

wie wunderschön ist dieses Land.


Und Väter, Mütter es bebauten

mit Müh und Fleiß und mit Verstand,

voll Zuversicht der Zukunft trauten,

verließen nun ihr Heimatland

Wie lange mögen sie wohl unterwegs gewesen und wie viele auf diesem Weg gestorben sein, bis sie vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. aufgenommen wurden und im Osten Preußens eine neue Heimat fanden!

Nach der dritten Teilung von Polen-Litauen 1795 kam das Gebiet des heutigen Südwestlitauens zu Preußen. In diesem Gebiet „Neuostpreußen“ siedelten sich dann etliche der Nachkommen unserer Vorfahren aus dem Salzburger Land an. Besonders entlang der Memel hatte Anfang des 18. Jahrhunderts die Pest zahlreiche Menschen dahingerafft. Auch dadurch war das Land dünn besiedelt und Bodeneigentum günstig zu

erwerben.

Meine Mutter, Erna Olga Beier, geboren in Prienai (Litauen), hinterließ für uns folgende Aufzeichnungen:

Unser Großvater, Gustav Drommel, wurde im Jahre 1875 in einem Dorfe nahe dem Städtchen Shaky (Sakiai) in Litauen geboren. Sein Großvater war aus Ostpreußen zugezogen und hatte in Litauen eine kleine Landwirtschaft erworben, denn hier war das Land billiger.

Im 19. Jahrhundert befand sich der größte Teil des damaligen litauischen Territoriums unter russischer Herrschaft, regiert von einem Zaren. Das einfache Volk litt unter Frondiensten und Leibeigenschaft. Sehr hoch war die Kindersterblichkeit unter diesen unmenschlichen Bedingungen. 1830/31 und 1863 kam es zu Aufständen gegen die maßlose Auspressung des Volkes. Aber auch kriminelle Banden trieben ihr grausames Unwesen unter dem Deckmantel des Kampfes für die Befreiung von der russischen Besatzungsmacht.

Zahlreiche Horden zogen von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, plünderten und raubten und zwangen die jungen Männer, mit ihnen zu kommen oder brachten sie um.

Eines späten Abends zur kalten Winterzeit wurde mit großer Heftigkeit an die Haustür der Ururgroßeltern geklopft. Drohende Stimmen riefen: „Sofort aufmachen!“ Unser Urgroßvater war noch ein Kind, während seine beiden Brüder bereits erwachsen waren. Zu Tode erschrocken versteckten sich die älteren Brüder eiligst. Der eine kroch in den Backofen, während der andere auf den Strohboden eilte und sich im Stroh versteckte. Da die Bande immer heftiger an die Tür schlug und in wilder Wut diese aufzubrechen begann, öffnete der verzweifelte Vater. Die Verbrecher durchsuchten und durchwühlen das ganze Haus, zerstörten, was ihnen im Wege stand und stiegen dann auf den Dachboden. Dort stocherten sie mit Forken im Stroh herum und stießen so auf den Bruder unseres Urgroßvaters. Den schwer Verletzten schleppten sie mit sich fort. Am Kreuzweg, wo sie bereits viele Männer aufgehängt hatten, erhängten sie auch ihn. Lange hingen die Leichen dort und niemand durfte es wagen, sie abzunehmen und zu beerdigen. Die Hinterbliebenen aber mussten mit diesen furchtbaren Erlebnissen weiter leben.

Nach einiger Zeit wurden die Aufstände durch russische Truppen niedergeschlagen und gleichzeitig wurden auch die kriminellen Banden bekämpft. Die Leibeigenschaft wurde 1861 formal durch den Zaren Alexander II. im gesamten russischen Reich aufgehoben, doch nur wenig wurde verändert.


Unser Urgroßvater

Das Leben wurd` ihm eine schwere Pflicht

und Frohsinn, der gelang ihm nicht.

Sehr gottesfürchtig war er Lebenszeit.

Das gab ihm Kraft,

doch keine Heiterkeit.

Wenn die Sonne begann ihren Tageslauf,

stand er am frühesten Morgen auf.

Und härteste Arbeit jeden Tag,

doch brachte dies alles geringen Ertrag.

Der Überlebenswille trieb ihn stets an

und so heiratete auch dieser so ernste Mann.


Unser Urgroßvater, der die entsetzlichen Geschehnisse ohne körperlichen Schaden überstanden hatte, heiratete später die aus dem Kirchspiel Fürstenwalde (Ostpreußen) stammende Marianna, Tochter der Witwe Rentel. Gemeinsam kauften sie sich

in Litauen eine kleine Landwirtschaft von zwölf Morgen Land und hatten neun Kinder.

Urgroßmutter pflegte oft aus ihrer Kindheit und Jugend zu erzählen. Da die Landwirtschaft nicht genug einbrachte und die Familie groß war, beschäftigte sich Urgroßmutter mit Weben. Sie verstand es, Handtücher, Tischdecken und Leinen kunstvoll zu weben und hatte stets Arbeit genug. Ihr Tagwerk begann schon um fünf Uhr morgens und auch früher. Ihre Kinder wurden im frühen Alter zur Mitarbeit herangezogen und die vier Söhne mussten bereits mit sieben Jahren das Elternhaus verlassen, denn sie wurden für jeweils ein Jahr an Bauern verdungen, wo sie als Hütejungen arbeiten mussten. Auch unser Großvater war so ein Hütejunge und bei einem Großbauern untergebracht. Später erlernte er den Beruf eines Müllers und Mühlenbauers und wanderte als Geselle zwei Jahre durch Deutschland, um bei verschiedenen Meistern Neues zu lernen.

In Prienai heiratete er Johanna , die Tochter des Färbermeisters Drommel. Sie gehörte zu den älteren von zwanzig Geschwistern und Halbgeschwistern. Das junge Ehepaar erwarb am Stadtrand von Prienai eine kleine Teerschwelerei, die sie im Laufe der Jahre vergrößerten und den Betrieb durch die Herstellung verschiedener Sitzmöbel erweiterten.

Während des ersten Weltkrieges besetzten im Juli 1915 deutsche Truppen Litauen. Die deutschen Männer mussten nun für Deutschland in den Krieg ziehen. Auch unser Großvater, damals bereits 40 Jahre alt, wurde Soldat.

Immer wieder kam es im Lande zu Kampfhandlungen. Unsere Großmutter flüchtete mit ihren fünf Kindern zeitweise in die dichten Wälder der Umgebung der Stadt und suchte hier Schutz. Nahrungsmittel fehlten, das Trinkwasser war verschmutzt und zwei der Geschwister unserer Mutter, die noch im Kleinkindalter waren, starben an der Ruhr.


Die drei Töchter von Johanna und Gustav Drommel: Elma, Lena und Erna (unsere Mutter)

Deutsche Truppen marschierten 1918 bis zum Kaukasus vor, unter ihnen auch unser armer Großvater. 1918 hatte endlich dieser entsetzliche Krieg ein Ende, das sinnlose Töten war vorbei.

In dem Elternhaus unserer Mutter herrschte Trauer und Hunger und vom Großvater keine Nachricht.

Es war der Abend eines eiskalten Wintertages, als es an der Tür des Elternhauses klopfte. Ein ausgezehrter, alt wirkender Mann mit einem langen schwarzen Bart stand plötzlich mitten im Raum. Er stand stumm da und schaute alle lange an. Unsere Mutter und ihre Geschwister waren noch Kinder und erschraken, das jüngste Mädchen versteckte sich hinter der Mutter. Aber unsere Großmutter fiel plötzlich dem Mann um den Hals. Nun hatten auch seine Kinder ihn erkannt. Wochenlang war unser Großvater im kalten Winter zu Fuß unterwegs gewesen. Nur einen Schlitten hatte er bei sich, darauf eine Bibel und ein paar Habseligkeiten. Auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen und mit dem tiefen Glauben, dass Gott ihm die Kraft geben würde, den weiten Weg zu überstehen und seine Familie wiederzusehen, hatte er die lange Wanderung angetreten. Nicht nur einmal war er fast am Ende seiner Kraft gewesen. Nun war er zu Hause bei der geliebten Familie und musste erfahren, dass diese nicht mehr vollzählig war.

In dem kleinen Betrieb der Großeltern war manches zerstört. Viele Rohre waren herausgerissen worden. Großvater höhlte Baumstämme und dicke Äste aus und verwendete diese als Rohrleitungen. Bald konnte der Betrieb wieder produzieren.

Über die Familie meines Vaters erfuhr ich Folgendes:

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verließen zahlreiche Deutsche Litauen, weil ihnen oft das Nötigste zum Überleben fehlte. Sie hofften, im Ausland ihr Glück zu finden und wanderten in andere Länder aus, häufig in die USA, nach Kanada und nach Argentinien.

Zwei Schwestern meiner Großmutter wanderten als junge Frauen in die USA aus, gründeten dort eine Familie und kehrten nie wieder in die alte Heimat Litauen zurück. Nach dem 2. Weltkrieg trafen sie sich mit meiner Großmutter in Kanada, wohin Großmutter 1947 ausgewandert war.

Omas jüngste Schwester soll auffallend schön gewesen sein. Noch sehr jung verliebte sie sich in einen jungen Offizier des Zarenregiments, welches in Kaunas stationiert war. Schon bald heirateten sie und kurze Zeit darauf zog die junge Frau mit ihrem Mann nach Petersburg, wohin er versetzt wurde. Oder wollte er gar versetzt werden? Nie wieder hat man etwas von Omas jüngster, so schöner und ebenso gutgläubiger Schwester gehört. Denke ich an ihr ungewisses Schicksal, so fürchte ich, dass es dem traurigen

Schicksal von Dunja, der Tochter des Postmeisters, geglichen haben mag, wie Alexander Puschkin es in seiner Erzählung „Der Postmeister“ geschildert hat.

Mein Großvater, geboren in dem Dorf Godlavo, und meine Großmutter, geboren in dem Dorf Samapole, waren wegen der besseren Arbeitsmöglichkeiten nach Kaunas gezogen. Auch ihr Leben war ein schwerer Weg. Als sie heiratete, war Großmutter erst 17 Jahre alt. 1904 musste ihr Mann, unser Großvater, als Soldat im Russisch-Japanischen Krieg für die Interessen Russlands kämpfen. Damals war er bereits Vater einer zweijährigen Tochter und ein weiteres Kind wurde erwartet. Im September desselben Jahres wurde er durch einen Bauchschuss an der Front schwer verletzt. Auf dem Heimtransport verstarb er unter größten Qualen im Zug nicht mehr weit entfernt von der Heimatstadt. Inzwischen war sein Sohn, mein Vater, zur Welt gekommen und 6 Tage alt.

Als die Nachricht vom Tod ihres Mannes Großmutter erreichte, rang Töchterchen Elli, die an einer Infektion schwer erkrankt war, um ihr Leben. Nach wenigen Tagen verstarb auch sie. Vom Schmerz überwältigt, war Großmutter wie von Sinnen und vernachlässigte die Pflichten des Lebens. Stundenlang kniete sie an den Gräbern ihrer Lieben, betete verzweifelnd schluchzend. Ihre Kraft schien immer mehr zu schwinden. Die Nachbarn befürchteten, dass sie den Verstand verlieren würde. Daheim schrie ihr Baby, mein Vater, vor Hunger. Nur mit Gewalt konnten die Nachbarsfrauen die Verzweifelte vom Friedhof heimholen. Es war ein täglicher Kampf. Da griffen die guten Frauen zu einer gewagten List. Sie kleideten ihre Männer in weiße Laken und verschiedene Gewänder, malten ihnen schreckliche Fratzen darauf und schickten sie so auf den Friedhof. Dort versteckten sich die Nachbarn hinter Grabsteinen nahe der Gräber von Großmutters Mann und Tochter. Als es dunkel wurde,

kamen die furchterregenden, verkleideten Gestalten aus ihren Verstecken hervor, fuchtelten gewaltig mit den Armen und riefen mit grauenvoll verstellten Stimmen etwa Folgendes: „Scher dich nach Hause! Verlasse den Friedhof! Dein Kind schreit vor Hunger. Du wirst in der Hölle braten, wenn du nicht schnell heim läufst!“ Großmutter geriet in panische Angst. So schnell sie ihre Beine trugen, soll sie den Friedhof verlassen haben und heim gerannt sein. Seit diesem Tage kümmerte sie sich mit größter Aufmerksamkeit, Liebe und Hingabe um den kleinen Oskar. Als Waschfrau arbeitete sie bei Tillmanns, einer Unternehmerfamilie, in Kaunas. Ihren kleinen Jungen hatte sie auch während der Arbeit bei sich.

Warum aber war die junge Witwe in eine so große finanzielle Not geraten, da ihr doch als Kriegerwitwe eine Abfindung zustand? Diese Abfindung, eine größere Summe Geld in Goldmünzen, ein kleines Vermögen für die sparsame Frau, war auch wirklich durch den Staat ausgezahlt worden. Großmutter durfte darüber aber noch nicht verfügen, da sie das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und nach den damals geltenden Gesetzen somit noch nicht mündig war. Bis zu ihrem 21. Geburtstag wurde die Kirche zur Verwaltung der gesamten Geldsumme bestimmt. Als der Pastor, der das Geld zur treuen Aufbewahrung erhalten hatte, es später Großmutter übergeben sollte, leugnete er, jemals auch nur irgendetwas bekommen zu haben. Gewissenlos sah er dem Elend der jungen Mutter zu. Auch die folgenden schmerzvollen Jahre der Familie riefen in ihm keine Reue hervor.

Großmutters Eltern konnten sie in dieser verzweifelten Lebenssituation auch nicht finanziell unterstützen. Es lebte nur noch ihre kranke Mutter. Ihre Eltern hatten eine ganz kleine Landwirtschaft besessen und Großmutters Vater war im kalten ostpreußischen Winter über die Grenze nach Deutschland gegangen, um dort auf dem Markt Butter zu verkaufen. Auf dem Rückweg hatte sich das Wetter verschlechtert. Ein eisiger Schneesturm wehte so stark, dass unser Urgroßvater vom Wege abkam. Er irrte umher und ist in der Nacht in der Schneewüste erfroren.

Einige Jahre später heiratete Großmutter erneut. Mein Vater bekam noch drei Halbgeschwister, von denen ein Brüderchen schon im Kleinkindalter starb. Der Stiefvater trank häufig. Es war für alle Familienmitglieder ein recht sorgenvolles Dasein.

Im 1. Weltkrieg war die ganze Familie, wie auch viele andere deutsche Familien, kriegsbedingt gezwungen, die litauische Heimat zu verlassen und einige Jahre in der Ukraine zu verbringen. Mein Vater war sehr froh darüber, dass er auch dort die Schule besuchen konnte und ukrainisch und russisch lernte. Mit 13 Jahren war für ihn die Kindheit leider zu Ende. Er musste arbeiten und für das Überleben der Familie mit sorgen.

1918, wieder nach Litauen zurückgekehrt, begann Vater auf einem Schleppkahn auf der Memel als Heizer zu arbeiten. Unterernährt und gerade erst 14 Jahre alt, war diese schwere Arbeit für ihn wahrlich kein Vergnügen, sondern ein täglicher Lebenskampf. Nach etwa einem Jahr fand er Arbeit in der Metallfabrik Tillmanns in Kaunas und konnte sich nach einer Reihe von Arbeitsjahren zum Gütekontrolleur hocharbeiten.

Der Stiefvater hatte bereits Anfang der 20er Jahre die Familie verlassen, war nach Argentinien ausgewandert und ist dort verstorben. So war Vater schon in jungen Jahren nicht nur der einzige Ernährer der Familie, sondern auch mitverantwortlich für die jüngeren Geschwister. Er ermöglichte ihnen, Berufe nach ihren Wünschen zu erlernen, wofür ihm beide Halbgeschwister immer sehr dankbar waren.

1934 heirateten unsere Eltern und bauten in Kaunas-Schanzen ein Haus. Eine kurze glückliche Zeit folgte. Nach der Geburt des ersten Kindes erkrankte unsere Mutter schwer und wurde siebenmal operiert. Lange war sie im Krankenhaus. Kaum genesen, erlitt Großvater (Mutters Vater) einen Schlaganfall. Die junge Familie musste das Haus in Kaunas verlassen und zu Mutters Eltern nach Prienai ziehen.


Unser Elternhaus in Kaunas-Schanzen


Das Gartenhaus unserer Eltern in Kaunas-Schanzen


Die Mieter dieses Gartenhauses gehörten verschiedenen Nationen an: eine deutsche Familie, eine litauische Familie, eine russische Familie, eine jüdische Familie.

Es war eine gute, harmonische Hausgemeinschaft.

Die Deutschen, die ja als Minderheit in Litauen lebten, pflegten die alten Traditionen. Sie sprachen Hochdeutsch und den ostpreußischen Dialekt. Manche Redensarten und Worte aus längst vergangenen Zeiten wurden hier noch verwandt. Die Eltern und Großeltern wurden mit „Sie“ angesprochen und die Großmutter nannte man auch Omama. Regelmäßig trafen sich die Deutschen nicht nur sonntags in der evangelischen Kirche, sondern auch bei anderen Gelegenheiten .

Die Einwohner des Städtchens Prienai z,B. unternahmen jedes Jahr einen gemeinsamen Ausflug.


Ausflug der Deutschen aus Prienai 1931

Die schweren Wege-Eine Familiengeschichte

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