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Kapitel 3
ОглавлениеAm 08. April des gleichen Jahres. Es ist fast neun Uhr, und Paul hatte sich für heute vorgenommen zur Kugel zu gehen. Es zumindest es einmal zu versuchen. Gesehen hat er die Kugel nur im Fernsehen, im Internet und so weiter. Aber Paul will sie in Natura sehen. So nahe wie möglich herangehen. Er ist nervös, kann gar nichts frühstücken. Das ist ungewöhnlich. Sonst kann er ohne Frühstück seine Wohnung nicht verlassen. Von einem guten Gefühl kann nicht die Rede sein. Es wäre ihm lieber, diese Kugel wäre nie gekommen und er könne seinen sonstigen Tätigkeiten entspannt nachgehen. Weil sein Leben sich die letzten Jahre erheblich vereinfacht hat. Jetzt will er sie auch einmal wahrhaftig sehen. Paul ist schlank, mittelgroß, dunkelhaarig, so um Ende 40, und Fotojournalist in mehr oder weniger freiwilligem Vorruhestand.
Das Bild seiner Straße hat sich in den letzten zwei Wochen geändert. Ein Frühlingsfest wird es dieses Jahr nicht geben. Die Busse fahren unregelmäßig, dafür patrouilliert das Militär jetzt zyklisch. Halb leere Regale in den Supermärkten weisen auf anhaltende Hamsterkäufe der Bürger hin und der Nachschub von Lebensmitteln ist zudem auch unregelmäßiger geworden. Post und Banken öffnen nur noch für wenige Stunden am Tag und die S-Bahn fährt lediglich im dreißig Minuten Takt.
Paul geht gleich nach links in Richtung Osten, um auf die Bundestrasse 96 zu gelangen, die Berlin von Nord nach Süd verschlungen komplett durchkreuzt.
„Wir wollen die Wahrheit wissen“ und „Das ist das Ende der Welt“, steht auf einigen Transparenten geschrieben, die eine Gruppe Demonstranten an der nächsten Straßenecke vor den Militärpatrouillen hochhält. Bevor Paul die Hauptverkehrsstraße erreicht, muss er sich durch eine mittlere Menschenmenge kämpfen, die dem Spektakel auf der B96 große Aufmerksamkeit schenken. Sein Weg scheint hier schon zu Ende zu sein. Die Straße ist kaum erreichbar und wenn doch, dann nicht zu überwinden. Man kommt nicht auf die andere Seite. Unmöglich. Auf ihr rollen Militärfahrzeuge aller Art rein und raus aus der Stadt. Für den privaten Verkehr längst gesperrt. Einen großen Lärm machen die gepanzerten Fahrzeuge und die Truppentransporter. Menschen stehen in Gruppen herum und diskutieren in allen Sprachen miteinander. Fernsehteams laufen umher und interviewen die Anwesenden. Schwer bewaffnetes Militär überprüft die Identität aller Personen, die sich an dieser Straße befinden. Nachdem auch Paul seine Identität zwei Uniformierten nachgewiesen hat, erklärt man ihm, dass er sich besser nicht weiter von seinem Wohnort entfernen solle. Die Uniformierten haben Mühe gegen den Fahrzeuglärm anzubrüllen. Wir haben eine Ausnahmesituation und da haben sie ihre Befehle. Es geht um die nationale Sicherheit, erklärt einer der Uniformierten.
Paul fragt den Uniformträger ganz naiv, ob es möglich wäre in die Nähe der Kugel zu gelangen. Als der Mann ihn auf diese Frage hin etwas überrascht anschaut, ist ihm klar, dass er das nicht ihn hätte fragen dürfen. Jeden, nur nicht ihn. Er antwortet sinngemäß, dass er das besser vergessen solle. Er würde nicht in ihre Nähe kommen. Er solle lieber wieder nachhause gehen und sich alles im Fernsehen anschauen. Dort würde er gut informiert werden. Dann zeigt der Beamte auf die Militärfahrzeuge, die auf der Straße in die Stadt rollen. Die Jungs haben die Aufgabe das Gebiet, um das Objekt zu sichern, sagt er etwas stolz. Er sagt, dass hier draußen bereits der erste Sicherheitsgürtel beginnt. Dass der City Bereich praktisch evakuiert und hermetisch abgeriegelt sei. Und dass da niemand mehr hinkommt.
Na, das wollen wir doch mal sehen, denkt Paul. Als er noch gearbeitet hat, ist er oft in Spannungsgebiete eingedrungen. Er hat verbotene Sachen gefilmt oder fotografiert, und ist auch erhebliche Risiken eingegangen. Aber das weiß der Uniformierte nicht. Paul geht weiter Richtung Norden. Seit zwei Wochen ist dieses riesige Ding nun hier. Paul will sie sehen, diese mysteriöse Kugel. Mit eigenen Augen will er sie sehen und ein Foto machen. Dafür hat er extra eine kleine Kamera eingesteckt. Nur ein Foto, das von ihm selbst gemacht wurde, reicht. Das hat auch etwas mit seinem Jagdinstinkt zu tun, den er anscheinend nicht los ist.
Vor einer großen Tankstelle bleibt er stehen, und beschließt es nicht allein zu versuchen. Er zieht sein Handy aus der Tasche und wählt Vitos Nummer. Er ist ein Freund aus der Gegenwart. Paul fragt ob er mitkommen will die Kugel ansehen. Vito sagt spontan ja und schlägt Treffpunkt Tankstelle in 20 Sekunden vor.
Paul fragt erstaunt: „In 20 Sekunden?“
„Ja, in 20 Sekunden. Stehe bereits hinter dir“
Paul dreht sich um, und wirklich, da steht er.
„Du willst tatsächlich dort hingehen, Paul? Dann solltest du etwas besser aufpassen. Habe Dich schon eine Weile beobachtet. Wollte die Unterhaltung mit den Soldaten nicht stören. Auch die haben dir noch eine Weile nachgesehen. Davon hast du gar nichts mitbekommen.“
Vito hat Recht, Paul hat das nicht gemerkt. Er muss besser aufpassen.
„Ich denke wir sollten es versuchen“, sagt Paul mit Überzeugung.
„Ich hingegen denke, dazu brauchen wir einen Plan. Wir können nicht einfach losgehen und sehen was passiert. Wir müssen wissen was uns erwartet. Vielleicht nicht im Detail, aber insgesamt schon. Zu berücksichtigen wäre zunächst . . . „
Während Vito erzählt was zu berücksichtigen wäre, schaut Paul die Menschen in der Umgebung an. Wie sie aussehen und was sie machen. Er ärgert sich über seine Nachlässigkeit von vorhin. Vito sagt gerade mit ausgestrecktem Arm etwas von einem Stadtplan, da taucht etwa fünf Meter hinter ihm ein Mann auf, den Paul zu kennen glaubt. Auch dieser Mann hat Paul offensichtlich bemerkt. Beide verharren einen Augenblick, als stünde ihre Zeit still.
Vito merkt, dass Paul jemanden hinter ihm fixiert hat und erschrocken ist. Er dreht sich um, und sieht diesen Mann. Er dreht sich wieder zu Paul und fragt. „Wer ist das?“
Wie in Trance macht Paul zwei Schritte an Vito vorbei in Richtung dieses Mannes.
„Hey Paul, wer ist das?“
„Ich erinnere mich gerade nicht an seinen Namen, aber ich kenne ihn, und es gefällt mir nicht.“ Sagt Paul zischelnd mit einer abwartenden Handbewegung. Dann ruft er dem Mann zu. „Hey Sie, wir kennen uns doch, oder?“ Der Mann allerdings will diese Frage nicht beantworten und taucht in der Menge unter.
„Los Vito, hinter ihm her. Ich kenne den ganz sicher. Und es gefällt mir nicht, dass er wegläuft.“ Der Mann ist älter als die beiden, aber trotzdem blitzschnell verschwunden.
„Hey Paul, ich lauf doch nicht einfach jemanden hinter her.“
„Aber es gibt einen sehr wichtigen Grund dafür, nur ich weiß im Moment nicht welchen. Ich bin sicher, es wird mir wieder einfallen. Los jetzt, hinterher.“
Sie verfolgen den Mann in südlicher Richtung. Vito fragt. „Was soll ich machen, wenn ich ihn habe.“
„Keine Ahnung. Verliere ihn einfach nicht aus den Augen und ruf mich an, wenn du ihn hast. Verdammt Vito ich weiß nicht warum. Aber da stimmt etwas nicht. Der Kerl müsste eigentlich tot sein.“
„Waaas, tot sein. Wo ziehst du mich rein?“ Paul winkt ab. „Wir sollten uns trennen. Er rennt bestimmt da vorne rechts um das Haus herum. Ich will ihm den Weg abschneiden. Lauf du ihm hinter her. Schnell, sonst ist er weg.“
In diesem Moment hört Paul hinter sich eine kräftige Stimme, die sagt. „Ihre Papiere, bitte.“
„Meine Papiere? Ich habe meine Papiere bereits gezeigt. Vor zehn Minuten erst da vorne. Sind wir hier im Krieg, oder was“.
„Nein mein Herr, wir sind nicht im Krieg. Ich will lediglich Ihre Papiere sehen.“ Sagt ein anderer groß gewachsener Uniformträger, ohne eine Spur von Humor im Gesicht.
„Ja natürlich meine Papiere. Bitte sehr, hier sind meine Papiere.“ Freilich muss Paul auch eine weitere Belehrung über sich ergehen lassen. Vito ist außer Sichtweite. Als der Beamte fertig mit ihm ist, klingelt Pauls Handy.
„Hör zu Paul. Ich will da doch nicht mit hineingezogen werden. Die Zeiten sind verrückt genug. Ich hoffe Du bist nicht sauer. Erst diese Kugel und jetzt der lebende Tote, das ist zu viel. Wenn ich ihn sehe rufe ich Dich an. Okay? Aber zur Kugel gehen, darauf habe plötzlich keine Lust mehr. Zuviel Sicherheitspersonal.“ Paul sagt okay und legt auf. Er wurde von diesem Mann auch erkannt, das ist sicher. Dieser Mann darf nicht hier sein. Paul steckt sich eine Zigarette an und merkt wie er zittert. Er setzt sich auf den Sitzplatz einer Bushaltestelle und beruhigt sich wieder.
Es war in Philadelphia im Sommer 1997. Das war damals ein sehr komplizierter Vorgang, den er eigentlich vergessen sollte. Paul schnippt seine Zigarette weg, und beschließt gemächlichen ohne Aufsehen zu erregen, den Weg nach Hause anzutreten. Eine weitere Kontrolle will er nicht, und Stück für Stück fallen ihm die Fakten von damals wieder ein. Ein starkes Unbehagen macht sich in ihm breit. Dieser Mann gerade, der muss eigentlich tot sein. Sein Name war Jeff Wessen. Er wurde 1997 in Philadelphia aus einem Hinterhalt erschossen. Das jedenfalls war die damalige offizielle Version. Dieser Jeff Wessen war ein guter Freund von Pauls damaligem Chef Joe Cannon. Cannon war Redakteur bei der Philadelphia Tribune, im Stammhaus in der 16ten Straße. Paul hatte damals auch eine gute Kollegin. Sie hieß Victoria Senna. Beide unterstanden gleichermaßen dem Redakteur Joe Cannon.
Nun, über zehn Jahre später, taucht er tausende Kilometer entfernt hier auf, und erkennt Paul offensichtlich sofort. Sehr langsam fallen ihm die Umstände von damals wieder ein. Er hatte sie verdrängt und vergessen, weil man ihm das damals empfohlen hatte. Sie waren jedenfalls völlig raus aus seinem Kopf verschwunden. So einen Zufall gibt es nicht, denkt er. Wieso treffen wir gerade hier, in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung zusammen und er rennt weg. Was ist hier los?
Es geschah am 20. Juli 1997. Da erschien dieser Jeff Wessen in der Redaktion in Philadelphia. Joe stellte ihm Victoria und Paul als seine besten Mitarbeiter vor, und sie setzten sich alle vier in den kleinen abhörsicheren Konferenzraum der Redaktion. Jeff erzählte erst belangloses Zeug, doch dann sagte er einen Satz, den Paul schon damals nicht richtig verstand.
„Ich bestätige deine Vermutung zu dem Diebstahl vom 08. September 1992, möchte aber mehr dazu nicht sagen“.
Paul erinnert sich, dass er sich schon damals fragte. Was für einen Diebstahl meint dieser Jeff? Und dass Joe daraufhin aufstand, um den Tisch herumging wie es immer seine Art war, wenn er bedeutungsvolle Sachen zu verkünden hatte, und folgendes sagte.
„Ich danke für dein Vertrauen Jeff. Zu dieser Angelegenheit kann ich sagen, dass der Dieb Max Krickstein heißt.“
Dann wechselten sie das Thema und man unterhielt sich weiter über belangloses Zeug. Paul erinnert sich, dass auch Victoria damals die Vermutung hatte, sie beide sollten nur Zeugen von Teilen dieses Gesprächs sein. Keine wirklichen Teilnehmer. Den Namen Max Krickstein hat Paul danach nie wieder gehört oder selbst ausgesprochen. Erst heute fällt ihm das alles wieder ein. Was hat dieser Krickstein damals gestohlen? Die Frage ist für Paul immer noch offen.
Nachdem damals alle wieder den Konferenzraum verließen, beschlossen Jeff und Joe am Abend ohne Paul und Victoria essen zu gehen. Und so gegen 20:00 Uhr wurden sie beide auf dem Weg zum Restaurant erschossen. Joe Cannon hinter dem Steuer seines Autos und Jeff im Fahrstuhl seines Hotels. Paul und Victoria wurden noch in der Nacht verhaftet und auf eine Polizeiwache gebracht. Hier lernten sie einen Mann namens Joseph Snyder kennen, der sie getrennt voneinander verhörte. Snyder wollte wissen, was sie im Konferenzraum besprochen hatten. Er fragte, ob Jeff etwas Merkwürdiges bestätigte und ob Joe einen Namen nannte.
Paul erinnert sich noch ganz genau, wie aufgeregt er war. Mit Polizei und Mord hatte er von Berufswegen als Journalist schon zu tun. Aber in der Rolle des Beteiligt war er niemals vorher gewesen. Paul überlegte damals, ob er Snyder das sagen muss. Er wollte mit dieser Sache nichts zu tun haben. Der kleine Konferenzraum war abhörsicher und die beiden sind tot. Er betete zum lieben Gott, dass Victoria das gleiche sagte, wie er selbst. Oder zumindest etwas Ähnliches. Paul und Victoria hatten beide ein gutes und nachvollziehbares Alibi für die Tatzeiten. Und sie berichteten Snyder nur von belanglosem Gesprächszeug zwischen zwei alten Freunden. Das mit dem Diebstahl von 08. September 1992 und den Namen Max Krickstein erwähnten sie beide jedoch nicht.
Snyder ließ sie nach 24 Stunden wieder laufen. Er hatte nichts gegen sie in der Hand. Aber Paul erinnert sich, dass es schon komisch war, als man sie laufen ließ. Als ob jemand eine Kaution gezahlt hätte. Aber es war vorbei. Im gleichen Monat kündigte Paul seinen Job in Philadelphia. An seinem letzten Arbeitstag räumte er sein Büro in der Redaktion und wurde mit einem kleinen Festakt der engeren Kollegen verabschiedet. Joes Nachfolger und Victoria verstanden seinen Entschluss und überreichte ihm die Auszeichnung zum besten Fotojournalist der Tribüne des ersten Halbjahres 1997. Die hätte er sowieso bekommen. Dann zog Paul nach Europa. Zunächst nach London, aber im Herbst 1999 nach Berlin.
Victoria hingegen wollte immer nach Süd Amerika. Sie wurde Auslandskorrespondentin in Caracas. Das war ihr Traumberuf. Paul kannte Caracas von früher. Dieser Vorfall in Philadelphia gab ihr den Grund und die Kraft das zu machen. Das war das Letzte was Paul von ihr hörte. Nach ihrer Trennung ließen sie nichts mehr voneinander hören. Sie war eine großartige Frau. Es zog sie aber in unterschiedliche Richtungen. Was mag sie heute machen? Vor allem wenn sie wüsste, dass Jeff Wessen gar nicht tot ist. Vielleicht ist Joe auch nicht tot. Und dann dieser Diebstahl und Max Krickstein. Eine Menge Dinge sind seitdem passiert. Und nun ist dieser ermordete Jeff Wessen plötzlich hier, und will nicht erkannt werden. Paul hat ihn angesprochen und der Mann ist getürmt. Als er wieder zurück in seiner Wohnung ist, waren gerade einmal eine Stunde vergangen. Er kocht sich einen Kaffee und lässt sich in seinen Lieblingssessel fallen. Greift nach der Fernbedienung auf dem Tisch und schaltet den Fernseher ein.
„Mit hochmoderner Technik rücken Spezialisten der seltsamen Kugel immer weiter zu Leibe. Aber auch hier schlagen alle Versuche fehl. Man kann weder etwas von ihr abtrennen noch kann man in sie eindringen. Nicht einmal einen Kratzer kann man ihr zufügen. Es bleibt weder Farbe noch Wasser noch irgendetwas anderes an ihr haften. Ihre Oberfläche leitet keinen Strom, nimmt keine Radioaktivität auf und man kann sie nicht mit Röntgenstrahlen durchdringen. Die höchsten Temperaturen, so wie die tiefste Kälte können ihr nichts anhaben. Meine Kollegin Carmen Sanders spricht mit dem wissenschaftlichen Leiter der Untersuchungskommission Professor Doktor Thomas Dreher und wir hoffen er wird uns einige Fragen zu diesem offensichtlich fremden Objekt beantworten. Hören Sie selbst“.
Carmen Sanders: „Guten Morgen Herr Professor Dreher“
Dr. Dreher: „Guten Morgen Frau Sanders“
„Herr Professor Dreher, in der Bevölkerung hat sich eine Ratlosigkeit breitgemacht. Das Objekt über dem Kurfürstendamm ist nun bereits seit zwei Wochen dort, und wird im Volksmund als die Kugel bezeichnet. Was hat es mit dieser Kugel auf sich und warum ist sie noch immer hier“.
„Natürlich gefällt es uns nicht sagen zu müssen, dass wir nicht wissen was es mit dieser Kugel auf sich hat. Wir befinden uns noch im Stadium der Spekulationen. Und Vermutungen will ich nicht aussprechen“.
„Herr Professor Dreher, kann man nach zwei Wochen und den vielen Untersuchungen sagen, dass es sich bei der Oberfläche der Kugel und dem Gerät insgesamt, um ein Material handelt, das uns gänzlich unbekannt ist?“
„Nein, das kann man nicht sagen. Wir haben einige Tests gemacht. Die Oberfläche der Kugel ist im Stande sehr hohe Umgebungstemperaturen zu akzeptieren, ohne einen Schaden zu nehmen. Hochleistungsschweißgeräte haben genauso wenig Spuren hinterlassen, wie drauf geschossener flüssiger Stickstoff. Gänzlich unbekannt wäre uns ein entsprechend resistentes Material nicht, aber wir haben es trotzdem nicht zur Verfügung.“
„Dr. Dreher, sind Ihnen vergleichbare Materialstrukturen bekannt?“
„Eine vergleichbare Materialstruktur nicht, aber Sie mögen mir einen anderen Vergleich erlauben. Es verhält sich hierbei so ähnlich wie mit der Cheops-Pyramide. Wir kennen die Materialien und die Statik, aber es sind diese Dimensionen, die uns im Unklaren lassen. Diese Pyramide gibt es seit über viertausend Jahren, und wir wissen bis heute nicht wofür und wie sie gebaut wurde, obwohl sie vor uns steht. Diese Kugel ist riesig. Und somit ist riesig viel von den Materialien und der Energie vorhanden, um sie in diese Situation zu bringen in der sie ist. “
„Herr Professor Dreher, eine weitere Frage quält unsere Zuschauer. Warum gerade hier, und nicht irgendwo anders?“
„Natürlich ist das eine sehr gute Frage. Es könnte von einer gewissen Intelligenz zeugen oder von Erfahrungen. Entweder von dem Körper selbst oder eines Navigators. Mit nuklearen Sprengmitteln würden wir sie vermutlich zerstören können. Wir sollten jedenfalls besser davon ausgehen, dass wir es könnten. Aber hier an diesem Ort würde man es mit Sicherheit nicht machen. Das Risiko des Kollateralschadens ist zu groß. Aber so wie es ist, stellt die Kugel keine Gefahr dar. Keine Emissionen, niemand ist bisher verletzt worden und sie hat nicht einmal die Erde berührt. Aber wir können sie anfassen, sie ist hier. Ich weiß aber nicht warum“.
„Vielen Dank für dieses Gespräch Herr Professor Dreher, und viel Glück bei Ihren weiteren Forschungen.
„Danke Frau Sanders.“
„Mein Name ist Carmen Sanders, und ich gebe zurück ins Funkhaus.“
„Danke Carmen.“
Es folgen nun die wichtigsten Börsennachrichten.
„Dax, TecDax, Dow Jones, Nasdaq, Nikkei, etc. fallen in Rekordzeiten auf Rekordtiefe. Ein Umstand, der die Anleger nervös werden lässt. Dr. Gernot Müller, Präsident der Frankfurter Börse im Interview mit meiner Kollegin Judith Breker“.
Judith: „Ja, ich stehe hier mit Herr Doktor Müller auf den Stufen zur Frankfurter Börse und frage ihn, wie tief kann der Dax noch fallen?“
„Wir denken, dass der Tiefstand der Notierungen zunächst auf einen Umstand zurück zu führen ist, der auch den Banken eine verschnupfte Nase verursachen kann“.
„Herr Doktor Müller, kann ich Ihrer Aussage entnehmen, dass eine Vielzahl von Anlegern, auf Grund dieser Kugel Teile ihres Vermögens verlieren werden?“
„Nein, zunächst einmal kann ich an dieser Stelle keine Aussage machen.“
„Also gibt es gar keinen Grund für diesen dramatischen Börsenfall?“
„Einen direkt von ihr abgeleiteten Grund, gibt es nicht, nein.“
„Vielen Dank Herr Doktor Müller. Mein Name ist Judith Breker und ich gebe ab zurück ins Funkhaus“.
„Danke Judith. Wir schalten nun nach New York, wo meine Kollegin Caroline Bergmann in der Wall Street vor dem New York Stock & Exchange Board steht Caroline, was spielen sich dort für Szenen ab?“
Caroline: „Hier ist es noch mitten in der Nacht und es spielen sich schlimme Szenen ab. Tausende von Anlegern harren hier aus, um ihren Unmut über den Fall der Börse kund zu tun. Ich habe mit einigen gesprochen, die große Angst haben, wegen nichts alles zu verlieren. Hier nun einige Stellungnahmen“.
„Ich kann das nicht glauben, meine Altersvorsorge sollte es sein und nun laufe ich die Gefahr alles zu verlieren. Was ist eigentlich passiert? Nichts ist passiert. Kein Terroranschlag, kein Krieg und keine Invasion. Lediglich diese Kugel im fernen Europa und ich verliere meine Ersparnisse. Das ist doch Nonsens.“
„Hi, ich bin Milton, war vor einigen Stunden auf meiner Bank und wollte mein Geld abheben. Sie schickten mich wieder weg mit den Worten, es gebe kein Bargeld mehr, vielleicht morgen wieder. Nun warte ich bis sie wieder öffnet. Ich fühle mich betrogen“.
„Hi, ich bin Lindsay und verstehe gar nicht was hier los ist. Was machen diese ganzen Leute hier auf der Wall Street. Ich will eigentlich nur in die 32ste Straße zu meinem Freund. Der ist so süß, verstehen Sie? Was ist hier los?“
„Hi, ich werde meinen Namen nicht sagen. Aber ich sage euch Börsenspekulanten, dass ich immer eine geladene 44ger in der Tasche bei mir trage. Okay? Verliere ich mein Geld, ihr verdammte Mistkerle, dann knalle ich euch alle ab. Euch alle. Versteht ihr das? Was für einen Dreckstrick habt ihr euch nun wieder einfallen lassen. Wollt ihr uns den Rest des Lohnes auch noch stehlen. Das letzte bisschen Butter vom Brot kratzen und uns auch noch um den Priem betrügen. Den Hals, den ihr nicht voll bekommen könnt, werden wir Euch durchschneiden. Ihr treibt es so weit auf die Spitze, dass es kein Zurück mehr gibt. Dafür werdet ihr in die Hölle fahren. Wir töten euch, eure Familien und die Familie eurer Familien, wenn wir unser Geld nicht bekommen, das nicht euch gehört. Ihr könnt uns alles wegnehmen, aber nicht unser Geld.“
„Mein Name ist Carl Davies, und ich frage Sie, wer zählt nun die vielen verhungerten Kinder, Frauen und Männer, die von geldgierigen Spekulanten mit ihren pervers durchtriebenen Anlageinstrumenten billigend in Kauf genommen werden, wenn sie Wetten auf Grundnahrungsmittel in ihrem Portfolio aufnehmen. Wer zählt die vielen hungernden und kranken Kinder, Frauen und Männer, deren Leben vor allem aus Angst, Leid, Trauer und dem anhaltenden Schmerz des Hungers besteht, und die gelegentlich von wohl genährten und gesunden Reportern in das richtige Informationsformat gepresst werden. Wer zählt die vielen Opfer von Selbsttötung und ihre Hinterbliebenen, die keinen anderen Ausweg sehen, um den Teufelskrallen von Investoren, sowie deren Saatgut und Herbizid Dealern zu entkommen. Wer zählt die vielen Toten und zum Krüppel gesprengten, die bei angeblich systemrelevanten Regierungsumstürze und den geopolitischen Kriegen um die Vorherrschaft ökonomischer Strukturen, ihren Kopf hinhalten müssen. Wer zählt die vielen Frauen, Männer und Kinder, die als Fabrikationssklaven in menschenfeindlicher Umgebung für weniger als wenig Lohn arbeiten, leben und erkranken müssen, damit große Investoren möglichst viel Geld machen. Wer zählt die vielen Obdachlosen, die zunächst von Immobilienhaien geködert, und später von beißwütigen Bankern aus ihren Wohnungen, völlig sinnlos aber rechtens, hinaus auf die Straße geklagt werden. Wer zählt die vielen jungen Arbeitslosen, deren Leben bevor es richtig anfängt schon zerstört wurden, weil Investoren und Banker ihre Taschen nicht voll genug bekommen.“
„Ja, gute Fragen. Ich bin Kathrin Heller, und ich frage, warum verhalten sich die Kulturvölker der Welt all dieser scheußlichen und menschenverachtenden Finanzverbrechen so apathisch gegenüber. Wie freiwillige Leibeigene oder Sklaven aus eigenem Antrieb lecken sie die Stiefel der Finanzfaschisten und glorifizieren den Schein der Superreichen, als ob sie eine Chance wittern, ein Stück von einem imaginären Kuchen abzubekommen. Nicht einen Krümel bekommen sie, im Gegenteil sogar. Sollte es so sein, dass die Kulturvölker der Welt in ihren primitivsten menschlichen Gefühlen verroht sind, so dass keine Alarmsirene mehr in ihren Köpfen aufheult, im Angesicht solcher Taten?“
„Wie du hörst, ist die Stimmung hier schlecht. Ich bin Caroline Bergmann mit einem Live Bericht vom New York Stock & Exchange Board in New York City. Und nun zurück nach Berlin”.
Die sind ja alle völlig verrückt geworden, ruft Paul in den Raum hinein, schaltet den Fernseher aus und wirft verärgert die Fernbedienung auf das Sofa. Verdammt, das fehlte ihm grade noch. Er hat früher etwas Geld erspart. Es ist nicht viel, liegt aber trotzdem im Nichtzugriffsbereich der deutschen Behörden. Diese Sozialhilfe, die er hier bekommt, ist auch nicht viel. Was ihm manchmal fehlt, kann er sich von einem andren Konto holen. Aber das hat er vorsorglich niemandem erzählt. Ein bisschen ständiges Geld ist sehr wertvoll. Er will das nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Paul muss relativieren und genügsam sein. Dann steigert er den Wert der Dinge.
Etwas Andres beunruhigt ihn erheblich mehr. Dieser Mann vorhin hat ihn auch erkannt. Das ist ganz sicher. Dann ist er weggelaufen. In der Menschenmasse verschwunden. Er wollte Paul nicht treffen. Hatte etwas zu verbergen. Wer ist dieser Max Krickstein, und was wurde gestohlen. Paul hat eine Idee. Es ist nicht einmal 10 Uhr, also sehr gefährlich Shana, um diese Zeit zu wecken, aber es muss sein. Paul erhebt sich von seinem außerordentlich bequemen Sessel, greift seine Wohnungsschlüssel und verlässt das Apartment. Er hat es nicht weit. Shana Lansbach ist seine direkte Nachbarin. Sie ist eine ziemlich nette, zierlich attraktive, brünette Internetspezialistin von Ende zwanzig, die manchmal recht zickig und echt frech sein kann. Aber genau das mag Paul an ihr. Man weiß nie, wie sie drauf ist. Sie arbeitet für „Digitox“. Die produzieren Computerspiele. Paul versteht nicht viel von dieser Materie. Er weiß nur, dass Shana zu den wirklich guten gehört. Sie erfindet Figuren und entwickelt Strategien. Paul mag sie wirklich. Nicht ihre Figuren, sondern Shana.
Jetzt aber muss er erst einmal seine 10 Uhr Schwellenangst überwinden und drückt auf ihren Klingelknopf. Keine Reaktion. Er klingelt noch einmal etwas energischer. Ein genervtes „Jaaa“ schallt durch die Tür. Das ist ihre Stimme, erkennt Paul sofort. Und sie ist schlecht drauf. Oh ja, das hatte er auch erwartet. Sofort beginnt er etwas vorsichtiger im Ton.
„Ja, ähm, guten Morgen ich bin`s Paul. Ich muss dich sprechen. Bitte mach auf.“
Dann eine Pause. Ist sie etwa wieder eingeschlafen, denkt er sich. Doch dann wieder ihre Stimme. Jetzt kämpferisch aber kraftlos. „Wer ist da?“
„Paul ist hier, dein Nachbar.“
Eine Weile später öffnet sie die Tür an der Kette. Er kann ihr verschlafenes Gesicht sehen und wie ihre Haare zerzaust sind. Und überhaupt, wirkt sie am Morgen ganz schön zerknittert, was ihm sehr gefällt.
„Was willst du?“ Fragt sie in einem besonders abweisenden Ton.
„Ich will dich zum Frühstück einladen. Sagen wir in 20 Minuten bei mir. Okay?“
„Nein, kein Interesse?“ Dann knallt sie die Tür wieder zu und es ist still.
Paul klingelt erneut. Es dauert wieder ein Moment, dann geht die Tür ganz auf. Sie trägt den dunkelroten Kimono und ist barfuß.
„Hast du heute schon mal auf die Uhr geguckt. Ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Ich bin müde, will nur schlafen. Also, . . . auf Wiedersehen Nachbar“
Sie will die Tür wieder zu werfen, aber Paul hindert sie daran. Hält die Tür fest, geht den einen Schritt in ihre Wohnung hinein und sagt. „Ich weiß, Du bist sehr fleißig und ehrgeizig und du machst wunderschöne Sachen.“ Sie aber wehrt ihn ab und drückt ihn sanft zurück nach draußen. „Was soll der Blödsinn, von wegen ich mache wunderschöne Sachen. Du hast keine Ahnung von dem was ich mache! Also raus jetzt, ich will schlafen.“
Dann küsst er sie zärtlich freundschaftlich auf die Wange und fügt noch hinzu. „Ich bitte dich in 20 Minuten bei mir zu sein. Es ist ungeheure wichtig. Ich brauche dich so sehr. Bitte.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten greift er den Türgriff, zieht ihre Wohnungstür ganz vorsichtig von außen zu und besorgt vom Bäcker gegenüber ihre Lieblingsbrötchen.
Shana ist keine große Frühstückerin. Zwei Tassen Kaffee und ein halbes bis ganzes Brötchen mit Butter und Honig. Mehr ist nicht erforderlich. Als er sich eine Zigarette ansteckt, rümpft sie die Nase, doch dann hört sie aufmerksam zu was Paul erzählt. Paul kennt Shana schon recht gut. Er glaubt zu wissen, wie so eine Geschichte auf sie wirkt.
Das sagt sie nach Pauls Erzählung auch. „Weist du Paul, auf mich wirkt deine Geschichte so, als hättest du in deinen Tabak etwas hinein gebröselt. Etwas was du von diesem Vito bekommen hast. Ich weiß, dass wir in ziemlich verrückten Zeiten leben, seit vor zwei Wochen diese Kugel hierherkam. Aber jetzt bist du plötzlich in einem Doppelmordfall aus dem Jahre 1997 verwickelt. Einen der Toten hast du gerade getroffen und na ja, . . . ich hoffe du verstehst, wenn ich nicht verstehe?“
„Es geht hier nicht ums Verstehen. Es geht darum, ob du mir glaubst.“ Sagt Paul beinahe flehend.
Shana daraufhin. „Das hat nichts mit Glauben zu tun, sondern ob ich dir vertraue. Und ich vertraue dir, okay. Wir sind Freunde und ich hoffe, du wirst dir so etwas nicht ausdenken, um mich mitten in der Nacht in Deine Wohnung zu locken.“
Shana beugt sich über den Tisch und greift den Zettel, auf dem Paul während er erzählte wesentliches mitschrieb. Sie überflog noch einmal seine Notizen, wiederholt das eine oder andere erneut, und erklärt: „Ich werde jetzt duschen und anschließend ein wenig recherchieren. Wenn ich etwas habe, dann melde ich mich.“ Dann steht sie auf und will gehen.
„Moment, ich dachte wir machen das zusammen.“
Shana schon an der Tür: „Nein, nein Paul, . . .das machen wir nicht zusammen.“
Sie küsst ihn auf die Wange, und geht.