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7. Kapitel
Ein fortgejagter Schüler

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Inhaltsverzeichnis

Am anderen Morgen war dasselbe Schauspiel wie am Mittag zuvor. Eins ging hüben, eins drüben, nur daß zwischen den beiden kleinen Feindinnen heute nicht Fräulein, sondern das Kindermädchen Emilie wanderte.

Aber noch einer wanderte mit den dreien mit, und zwar heimlich, ohne daß jemand eine Ahnung davon hatte. Das war ein kleiner Vierfüßler mit seidenweichem, weißem Fell. Puck war mit durch die geöffnete Korridortür entwischt und folgte jetzt seiner kleinen Herrin getreulich in die Schule.

Als das Kindermädchen sich unten verabschiedete, dachte Puck gar nicht daran, dasselbe zu tun. Anstatt kehrtzumachen, lief er in plötzlichem Bildungsdrang dreist hinter dem nichtsahnenden Nesthäkchen her in die zehnte Klasse.

Dort entstand durch das Erscheinen des vierfüßigen Schülers ein wilder Aufruhr.

»Ein Hund – ein Hund!« so schrien sie erschreckt durcheinander. »Ein Hund ist in der Klasse – der beißt – ach, ich habe ja solche Angst!«

Auf die Bänke und Tische kletterten die kleinen Hasenfüßchen in ihrer Furcht, denn zur Schande der zehnten Klasse muß es gesagt sein, daß da so manches kleine Fräulein darunter war, das sich nicht an einen Hund heranwagte.

Puck aber sprang lustig blaffend in der Klasse umher, als ob der ganze Tumult nur zu seinem Vergnügen stattfände. Je höher die Beinchen der kleinen Mädchen in ihrer Hundescheu hopsten, um so höher hopsten auch vor Freude die Hundebeine.

Annemarie war, trotzdem sie gar keine Angst vor Hunden hatte, ebenfalls an dem lauten Schreien beteiligt. Da die Kinder ein dichtes Knäuel um das Hündchen bildeten, ahnte sie nicht, wie nah der gefürchtete Eindringling ihr stand.

Da erschien Fräulein Hering in der Klassentür.

»Nanu, was ist denn hier los?« fragte sie ärgerlich über den ungehörigen Lärm.

»Ein Hund – ein großer Hund – er beißt!« kreischte es wieder durcheinander.

Puck hatte sich respektvoll beim Erscheinen der Lehrerin unter einer Bank verkrochen.

»Wo – wo ist er denn?« Fräulein Hering glaubte, ein Riesenköter habe die Kinder so in Schrecken gesetzt.

»Da – da!« aufgeregt wiesen die kleinen Mädchen unter die Schulbank.

Dort hockte das winzige weiße Zwerghündchen und wedelte mit dem Puschelschwänzchen, um seine harmlose, freundschaftliche Gesinnung zu bekunden.

»Aber Kinder, habt euch doch nicht!« lachte jetzt Fräulein Hering beim Anblicke des gefürchteten Feindes. »Vor dem süßen Hündchen habt ihr Angst?« sie griff unter die Bank und hielt den kleinen Eindringling in die Höhe. »Hier ist unser neuer Schüler!«

»Puck!« schrie Annemarie los, die den Hund jetzt zum erstenmal richtig zu sehen bekam, »das ist ja unser Puck!«

Kaum war der Name ihr entschlüpft, da entschlüpfte auch der neue Schüler der Lehrerin. Mit einem Satz war er bei seiner rechtmäßigen kleinen Herrin, unbekümmert darum, daß sein weißes Pfötchen in das offene Tintenfaß eintauchte.

Nesthäkchen preßte ihren kleinen Freund zärtlich ans Herz.

Aber Fräulein Hering machte jetzt ein ernstes Gesicht.

»Wieso hast du den Hund mitgebracht, weißt du nicht, daß Hunde nicht in die Schule gehören, Annemarie?« fragte sie mißbilligend.

»Ich kann nichts dafür, er muß heimlich hinter mir hergelaufen sein«, verteidigte sich die Kleine. Aber Puck blaffte Fräulein Hering so laut an, daß diese kein Wort verstand. Das Hündchen merkte wohl, daß man seiner kleinen Freundin einen Vorwurf machte.

»Ja, hier kann der Hund nicht bleiben«, versuchte Fräulein Hering sich bei dem wütenden Gekläff verständlich zu machen, während eins der kleinen Hasenfüßchen sogar aus Angst zu weinen anfing.

»Laß ihn in den Hof hinunter, Annemie, er wird schon nach Hause finden.«

Aber nur um so fester hielten die Kinderarme den ausgewiesenen Schüler.

»Nein – nein – der Schinder fängt meinen süßen Puck, er hat keine Hundemarke um!« jammerte Nesthäkchen. »Er wird sich ja auch sicher ganz artig verhalten«, so bettelte die Kleine für den vierfüßigen Freund.

Als ob Puck verstanden hätte, daß es jetzt galt, sich wie ein wohlgesitteter Hund zu benehmen, stellte er mit einemmal sein Blaffen ein, sprang auf den Schultisch und machte schön.

Das war wirklich niedlich. Die Kinder freuten sich über das possierliche Tierchen, und auch Fräulein Hering war von seiner Liebenswürdigkeit besiegt.

Puck wurde in der zehnten Klasse geduldet und nahm auf das »Kusch dich!« von Nesthäkchen seinen Platz zwischen Annemarie und Margot, den verfeindeten kleinen Freundinnen, ein.

Margot aber hatte Furcht vor Hunden. Die Nähe des kleinen Vierfüßlers war ihr sichtbar unbehaglich. Sie rückte möglichst ab und sah von der Seite mißtrauisch zu ihm hin. Daß ihr Interesse daher ein geteiltes zwischen dem Einmaleins von Fräulein Hering und dem Puck von Annemarie war, kann man sich denken.

Überhaupt die Aufmerksamkeit ließ heute in der zehnten Klasse recht viel zu wünschen übrig. Aller Augen waren, statt auf die Lehrerin, auf die Bank gerichtet, wo der neue Schüler mit der rosa Seidenschleife thronte.

Puck war entschieden am meisten bei der Sache. Mit erhobenem Schwänzchen saß er andächtig da und sah Fräulein Hering unverwandt an.

Nur ab und zu rieb er den Kopf an Annemaries Arm, aus Dankbarkeit, daß er bei ihr bleiben durfte. Aber um Margot, die er bereits kannte, und von deren Bösesein mit Annemarie er keine Ahnung hatte, nicht zurückzusetzen, kroch er plötzlich zu ihr hinüber, um ihr ebenfalls seine Freundschaft zu beweisen.

Jedoch Margot war dafür ganz und gar nicht empfänglich. Laut schreiend sprang sie von der Bank auf.

»Er beißt – er will mich beißen!« Sie brach in ein jämmerliches Angstgeheul aus.

Fräulein Hering mußte das dumme, kleine Mädel beruhigen und es von den gutmütigen Absichten des Hündchens überzeugen. Aber Margot wollte durchaus nicht mehr neben dem neuen Schüler sitzen. Die Lehrerin wies ihr einen weniger gefährlichen Platz an, und Margot wanderte auf eine andere Bank.

Das nahm Annemarie ihrer ehemaligen Freundin schrecklich übel. Wer zu ihrem süßen Puck schlecht war, für den hatte sie auch nichts mehr übrig. Mit ungeheurer Verachtung blickte sie auf das dumme Angsthäschen.

Trotzdem wäre die Stunde ganz gut verlaufen, wenn Puck nicht einen zu großen Ehrgeiz in seiner kleinen Hundeseele gehegt hätte.

Als die Lehrerin die Rechenaufgaben abfragte, beteiligte sich auch Puck am Unterricht. Er antwortete unbefangen, ohne aufgerufen zu sein, denn er wußte nicht, daß das in der Schule nicht Brauch ist.

»Wieviel ist zweimal zwei?« fragte Fräulein Hering.

»Wau – wau – wau – wau«, erwiderte Puck ganz richtig viermal.

Seine Schuld war es wirklich nicht, daß die junge Lehrerin die Hundesprache nicht verstand.

Er blaffte lauter, weil er sich besser verständlich zu machen glaubte. Und als auch dies noch nichts nützte, sprang er plötzlich tollkühn mit einem Satz auf das Katheder, um sich Gehör zu verschaffen.

Laut auf kreischten die Kinder, und Fräulein Herings Geduld war nun erschöpft.

»Bringe den Hund zum Schuldiener, daß der ihn inzwischen in Gewahrsam nimmt«, befahl die Lehrerin.

Traurig zog Klein-Annemarie mit dem laut räsonierenden Zwerghündchen ab.

Puck war aus der Klasse gejagt worden – die Schande!

Das Hündchen schien dieselbe weniger tief zu empfinden als seine kleine Herrin. Die Freiheitsberaubung bereitete ihm anscheinend viel größeren Schmerz. Und als Nesthäkchen jetzt mit ihm in die Kellerräume zur Schuldienerwohnung hinabstieg, faßte Puck plötzlich einen verzweifelten Entschluß. Der Gefangene kniff aus.

Hops – da war er herunter von Klein-Annemaries Ärmchen, hoppla – da jagte er, was er nur konnte, die Treppen wieder hinauf. Mit lautem Gebell freudigster Genugtuung ging es durch die stillen Flure und Korridore der Schule.

In größter Aufregung stürmte Nesthäkchen hinter dem Flüchtling drein. Soviel die Kleine auch rief und befahl: »Puck – Puckchen, hierher!« – alles umsonst.

Puck hatte sämtliche Bande der Wohlerzogenheit und des Gehorsams abgestreift.

Die Klassentüren öffneten sich. Lehrer und Lehrerinnen erschienen mit entrüsteter Miene auf der Türschwelle, um der Ruhestörung auf den Grund zu kommen.

Da sahen sie ein winziges, weißes Etwas durch die Gänge rasen, bald treppauf, bald treppab, und hinterher einen reizenden, kleinen Blondkopf, der hilflos die Arme nach ihm reckte.

Als ein großes, weißes Wollknäuel erschien das wie besessen springende weiße Etwas den meisten, aber da ein Wollknäuel für gewöhnlich nicht zu bellen pflegt, neigte man schließlich doch der Ansicht zu, daß man es mit einem Hunde zu tun habe.

Aber wie kam ein Hund in die Mädchenschule?

Puck hatte indessen außer den Klassen jedem Winkel der Schule seinen Besuch abgestattet. Jetzt ging die wilde Jagd geradeswegs ins Direktorzimmer, das bei dem tollen Tumult natürlich nicht geschlossen blieb. Während jede Schülerin nur herzklopfend, in scheuer Ehrfurcht das Zimmer des Herrn Direktors zu betreten wagte, sprang der unverschämte Puck dem Gestrengen der Schule ohne jeglichen Respekt gegen die Beine.

»Nanu?!« machte dieser verdutzt. Aber sein Gesicht wurde noch betroffener, als der kleine Köter – hast du nicht gesehen – mit geradezu unglaublicher Dreistigkeit auf seinem Schreibsessel Platz nahm. Von dort aus blaffte er den würdigen Herrn an, als ob ihm dieser Platz von Rechts wegen zukäme und nicht er der Eindringling wäre, sondern der Herr Direktor.

Da aber ereilte Puck das Verderben.

Ein jüngerer Lehrer, der sich an der Verfolgung beteiligt hatte, faßte das weiße, blaffende Wollknäuel im Genick und schüttelte es tüchtig.

»So, du Bürschchen, wirst du wohl Ruhe geben!«

Aber das fiel dem Gefesselten nicht im Traume ein. Er bellte noch viel wütender und schnappte sogar nach den Fingern des Lehrers.

Kaum konnte der Herr Direktor dabei den Sachverhalt von der atemlosen Annemarie erfahren.

Der Lehrer brachte das Hündchen jetzt selbst in den Keller hinunter, damit es nicht wieder Fluchtversuche machte.

Annemarie kam mit einem Verweis und der ernsten Mahnung davon, künftig besser acht auf ihren Hund zu geben, daß er ihr nicht wieder zur Schule folgte.

Die Schülerinnen aber von der zehnten bis zur ersten Klasse hatten sich alle ganz köstlich bei dem außergewöhnlichen Konzert amüsiert.

Der Schuldiener versprach, den fortgejagten Schüler bei sich aufzunehmen, und die kleinen Blondköpfe in der Schuldienerwohnung waren selig über den Spielgefährten. Der aber hätte lieber der Rechenstunde in der zehnten Klasse beigewohnt. Er winselte, jaulte und blaffte, daß man’s durch die ganze Schule hörte.

In der Zwischenpause lief Annemarie sofort in die Kellerwohnung des Schuldieners. Dadurch entging sie gleichzeitig der peinlichen Schwierigkeit, mit einer anderen als Margot in der Zwischenpause zu gehen. Sie teilte ihr Frühstücksbrot getreulich mit dem armen vierfüßigen Gefangenen. Dankbar leckte Puck ihr die Händchen.

Plötzlich erschien Margot, die Annemarie gerade meiden wollte, schüchtern in dem dämmerigen Gang.

»Ich habe eine Flasche Milch mit«, sagte die verfeindete Freundin verlegen, »wenn du vielleicht für Puck etwas davon haben willst.« Das kleine Mädchen hatte augenscheinlich den Wunsch, ihre ängstliche Abneigung gegen das Hündchen wieder gutzumachen.

Da quoll die mühsam zurückgehaltene Liebe auch in Klein-Annemaries Herzchen empor. Sie schlang die Arme um die Freundin, küßte sie ungestüm und bat dabei: »Habe mich wieder lieb!«

Ach, wie gern tat das Margot. Auch ihr hatte ja die vierundzwanzigstündige Feindschaft mit Annemarie das Herz abgedrückt. Neben Puck standen die Wiederversöhnten, liebevoll umschlungen, während das Hündchen sich seine Milch schmecken ließ.

Diesen Mittag zogen Annemarie und Margot nicht hüben und drüben heimwärts. Arm in Arm sprangen sie mit seligen Gesichtern dahin. Ihnen voran der wieder glücklich der Gefangenschaft entronnene Puck. Freudig klang sein Bellen durch die Straßen Berlins.

»Weißt du, Margot«, flüsterte Annemarie der Freundin beim Abschied ins Ohr, »es war doch fein, daß der liebe Gott heute Puck mit in die Schule geschickt hat. Sonst wären wir beide am Ende nie mehr gut geworden!«

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