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3. Kapitel. Kinderhort.
ОглавлениеKleine Näschen drückten sich gegen die regenbespritzten Fensterscheiben. Sieben an der Zahl. Die dazu gehörenden Kleinen, Mädel und Jungen zwischen drei und sechs Jahren, standen auf Kinderstühlchen und Bänken und spähten angelegentlich hinaus. Da gab's eigentlich wenig zu sehen in dem grauen, verregneten Hofgarten. Ein entlaubter Kastanienbaum, der seine triefenden Zweige schüttelte, ein nasser Fliederbusch. Drüben am Gesims des roten Backsteingebäudes ein paar frierende Spatzen, zu einem nassen Federknäuel zusammengerollt.
»Tante Jetta kommt noch immer nicht«, stellte ein kleines Mädchen mit einem gelben, in semmelblonde Zöpfchen eingeflochtenen Zigarrenbändchen seufzend fest.
»Tante Jetta soll aber nu endlich kommen und mit uns spielen«, verlangte ein kleiner Hosenmatz energisch.
»Nee, lieber wieder von'n Weihnachtsmann erzählen, das is viel scheener«, rief Paulchen mit dem ständigen Schmutznäschen.
»Und zu Weihnachten wünsch' ich ma von'n Weihnachtsmann 'ne Puppe, so' ne jroße –«, rief das niedliche Käthchen. »Nee, lieber für Vatern 'n Paar neue Stiebel. Er hat jesagt, er kiekt schon mit de Hühneraugen aus seine alten raus.« Das war der etwas ältere, schon verständigere Bruder.
»Weihnachten is nich – wir haben kein Jeld für sowas. Weihnachten is man bloß was für die reichen Leute, hat meine Mutter jesagt«, meinte Ingeborg mit dem spitzen, altklugen Gesicht. Sie war die Älteste der Abteilung, schon neun Jahre alt, und beteiligte sich nicht an dem Hinausspähen. Sie saß auf einer Bank und strickte an einem Strumpf wie eine Alte.
»Haach – is ja gar nicht wahr. Tante Jetta hat uns erzählt, der Weihnachtsmann bringt allen Kindern was, wenn sie artig sind. Nicht bloß den reichen. Und meine Muttel sagt das auch«, rief Lenchen mit dem gelben Zigarrenzopfband.
»Die wissen das ja gar nicht – – –«
»Was – die Muttel und Tante Jetta wissen alles. Die Tante Jetta ist so klug und so gut ach, wenn sie doch bloß erst käme!« rief ihre eifrigste kleine Verehrerin.
»Wenn sie doch bloß erst käme!« echote der Kinderchor sehnsüchtig hinterdrein und preßte aufs neue die Näschen gegen das Fensterglas, bis Tante Martha mit den Frühstücksbechern erschien.
Die kleine Gesellschaft mußte heute noch recht lange auf die von allen besonders geliebte Tante Jetta warten.
Die saß noch drüben in dem roten Backsteingebäude und bemühte sich eifrig, den sozialpädagogischen Ausführungen von Fräulein Dr. Engelhart zu folgen. Das waren Mariettas liebste Stunden bei der bedeutenden Leiterin der Anstalt. Es war nicht nur die geistvolle, anregende Art, mit der Fräulein Doktor auch das nüchternste Ding behandelte, es war vor allem die Wärme, die sie in alles zu legen wußte, das völlige Aufgehen in ihrem Vortrag. Das schaffte einen unsichtbaren Zusammenhang mit den Schülerinnen und riß selbst die gleichgültigeren mit fort. Oh, es war nicht immer so ganz einfach zu folgen. Es erforderte strenge Gedankenkonzentration, ernst logische Folgerung. Hatte man mal auch nur sekundenlang an etwas anderes gedacht – schon hatte man den Faden verloren und irrte wie in einem geistigen Labyrinth umher. Ebenso wie Fräulein Dr. Engelhart an sich selbst die höchsten Anforderungen stellte, so verlangte sie das gleiche auch von ihren Schülerinnen. Sie waren keine Schulkinder mehr, sie waren erwachsene Menschen, die wissen mußten, worauf es ankam. Sie mußten reif genug sein, um den Ernst der Arbeit zu erfassen. Bei den meisten traf das auch zu. Aber einige gab es doch darunter, denen entweder die Fähigkeit des scharfen logischen Denkens abging, oder andere, die es gar nicht wollten, denen es zu unbequem war. Es war fabelhaft, wie die Vortragende diese aus ihrer Stumpfheit aufzurütteln verstand und zur Teilnahme heranzuziehen wußte. Der Faden der Sympathie, der sich gleich am ersten Tage von Fräulein Dr. Engelhart zu Marietta Tavares hingesponnen, hatte sich befestigt. Marietta war eine der Eifrigsten und Lernbegierigsten und verehrte die Vorsteherin ganz besonders. Und auch diese hatte die strebsame Schülerin von allen am meisten in ihr Herz geschlossen. Die großen, schwarzen Augen, die so sprechend jede Empfindung ihrer Besitzerin wiedergaben, Mariettas zarter Liebreiz, verbunden mit ihrer Bescheidenheit, hatten es Fräulein Dr. Engelhart angetan. Heute winkte sie ihr nach Beendigung der Unterrichtsstunde.
»Fräulein Tavares, bitte, noch einen Augenblick.« Und als Marietta nach vorn getreten war, fuhr sie fort: »Sie sind jetzt sechs Wochen drüben im Kinderhort praktisch tätig. Gefällt Ihnen Ihre Arbeit dort?«
»Oh, sehr gut«, kam es aus vollem Herzen.
»Man ist auch dort recht zufrieden mit Ihnen. Nur meinte die Hortleiterin« – Mariettas schwarze Augen wurden ein wenig bange –, »daß Sie dort nicht mehr viel zu lernen haben. Sie beherrschen die Horttätigkeit besser als die jungen Damen, die schon länger dort arbeiten.«
»Ich bin früher schon in verschiedenen Krippen, Horten und Kinderheimen tätig gewesen«, wehrte Marietta bescheiden das Lob, obgleich es ihr große Freude bereitete, ab.
»Dann haben Sie gewiß den Wunsch, an einer anderen Stelle praktisch zu lernen. Ich dachte mir, vielleicht in der Waisen- oder in der Schulpflege. Auch in einer Jugendlesehalle könnten Sie sich betätigen. Ich komme dabei gern Ihren persönlichen Wünschen entgegen.«
Mariettas Gesicht, von dem zarten Ton der Teerose, ward rosig überhaucht. Ein Zeichen dafür, daß sie erregt war.
»Dürfte ich nicht noch einige Zeit drüben im Hort bleiben?« bat sie, allen Mut zusammenraffend. »Ich habe meine Arbeit und vor allem meine kleinen Schutzbefohlenen dort lieb gewonnen. Es würde mir schwer werden, sie so schnell zu verlassen. Die Kinder freuen sich schon darauf, mit mir Weihnachten zu feiern, und ich möchte sie nicht enttäuschen.«
Fräulein Doktor schüttelte ihr herzlich die Hand. »Brav, Fräulein Tavares. So soll es sein, daß man seine Arbeit lieb gewinnt und sich schwer davon trennt. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie noch einige Zeit drüben bleiben wollen. Freilich müssen wir auch daran denken, daß Ihre weitere Ausbildung nicht darunter leidet.« Damit war die Unterredung beendet. Es erfüllte Marietta mit freudiger Genugtuung, daß Fräulein Dr. Engelhart mit ihr zufrieden war.
Ja, ihre kleinen Freunde drüben mußten sich heute noch recht lange gedulden, bis Tante Marietta kam. Für die gab's noch eine Stunde Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik. Das waren ziemlich fremde, schwierige Begriffe, die man sich zu eigen machen mußte. Die Vortragende, ein Fräulein Regierungsrat, war eine bedeutende Frau, die ihr Feld vorzüglich beherrschte. Sie war auch sicher eine gute Pädagogin und doch – die Begeisterung, die Marietta in den Stunden bei der Leiterin der Anstalt empfand, blieb dabei aus. Sie lernte aus Pflichtgefühl, und das erschwerte ihr die Arbeit.
In diesen Stunden glänzte besonders Gerda Ebert. Sie hatte eine schärfere Auffassungsgabe als ihre Kusine Marietta, und war daran gewöhnt, sachlich klar zu denken. Wenn Marietta irgend etwas nicht verstanden hatte, Gerda wußte es ihr stets zu erklären.
Heute gab es eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Kusinen. Gerda war gar nicht damit einverstanden, daß Marietta noch im Kinderhort blieb, wo ihr die Möglichkeit geboten worden war, so schnell schon an eine andere Stelle versetzt zu werden. Das bedeutete eine Auszeichnung. Und vor allem galt es doch, immer weiter zu streben, immer Neues zu lernen. »Man muß seine Arbeit als Ganzes lieben, aber sich nicht an einzelne Teile derselben hängen. Sonst verliert man darüber das Ziel aus den Augen.« Das war Gerdas Auffassung.
»Du magst recht haben, Gerda«, gab Marietta zu, als sie Arm in Arm mit ihr durch den nadelfeinen Regen dem Internat der gegenüberliegenden hauswirtschaftlichen Frauenschule zuschritt. Dort nahmen sie an den Tagen, an denen sie des Nachmittags praktisch tätig waren, das Mittagessen ein. »Recht hast du schon, aber – wir sind eben verschieden. Ich arbeite mehr mit dem Herzen, du mit dem Verstande.«
»Mit dem Herzen allein wirst du viele Enttäuschungen erleben. Glaube mir, Kind,« – Gerda tat, als ob sie zehn Jahre älter wäre, – »auch auf sozialem Gebiete muß das Herz vom Verstand regiert werden.«
»Puh!« – Marietta schüttelte ihr goldbraunes Kraushaar, an dem die Regentropfen wie lauter Brillanten blitzten. »Weißt du, Gerda, das Regenwetter hier draußen ist gerade nicht dazu geeignet, beim Promenieren tiefsinnige Dinge zu erörtern. Komm rasch«, sie schauerte zusammen, »wir sind ganz durchnäßt.«
»Das macht nichts, ich bin in meinem Lodenmantel zweckmäßig gekleidet. Dein Gummimantel hält nicht so warm. Wenn wir später unsere Recherchen in den notleidenden Familien machen müssen, dürfen wir auch nicht nach dem Regen fragen. Das wird dir vielleicht manchmal recht schwer werden, Jetta, bei Wind und Wetter, von Straße zu Straße, treppauf, treppab. Du, Tropenkind, brauchst ja noch mal soviel Wärme und Sonne wie wir. Solchen Regen kennt man bei euch im Sonnenlande sicher nicht.«
»Sage das nicht, Gerda. Wenn es mal bei uns in den Tropen regnet, dann gießt es Bäche vom Himmel herunter, wie man es hier gar nicht kennt. Dann gibt es große Überschwemmungen. Das Vieh auf den Weiden ertrinkt. Die Häuser stehen unter Wasser, und die Leute fahren mit Kähnen in den Straßen. Merkwürdigerweise ist der Himmel dabei oft ganz blau, es regnet aus blauem Himmel. Das könnt ihr euch kaum vorstellen, nicht wahr? Ich erinnere mich, wie Anita und ich eines Tages in Sao Paulo mit der Miß shopping waren. Bei herrlichstem Wetter waren wir fortgefahren. Plötzlich strömender Regen, ihr nennt es einen Wolkenbruch. Das Wasser stand alsbald so hoch, daß unser Auto nicht einmal durchkam. In unseren leichten Kleidern mußten wir durch Bindfadenregen mit einem Boot heimfahren.«
Gerda hatte interessiert zugehört. Sie liebte es, wenn Marietta aus dem Tropenlande berichtete. Die beiden jungen Mädchen waren inzwischen durch Gänge, Treppen und Korridore der hauswirtschaftlichen Frauenschule geschritten. Wie in einem Ameisenstaat kribbelte es dort von fleißigen Mädchen. Und weise, wie in einem wohlorganisierten Ameisenstaat, zog jedes die ihm vorgeschriebene Bahn. Mit großen Wirtschaftsschürzen angetan, erfüllte ein jedes seine Pflicht auf dem ihm angewiesenen Platze. Unten im Souterrain, in der weißgekachelten Waschküche, standen sie in kurzärmeligen Kleidern am dampfenden Waschfaß und Spülzober und spritzten sich, trotz emsiger Arbeit, übermütig das Seifenwasser ins Gesicht. In dem Raum daneben wurde die schon getrocknete Wäsche sorgfältig von den jungen Hausgeistern gelegt und gemangelt. Wieder eine Abteilung weiter, da fuhren die blanken, elektrisch geheizten Eisen geschickt und unbeholfen über weißes Leinen. Die große Küche mit dem Herd in der Mitte bildete den Haupttummelplatz der jungen Welt. Da wurde gequirlt und gerührt, gekocht, gebacken, gebraten und geschmort; Geschirr gespült, Töpfe gescheuert. Ein Stockwerk höher surrten Nähmaschinen; Scheuerbürsten dämmten Wasserfluten. Überall war emsiges Treiben.
Für die junge Brasilianerin war diese planmäßige hauswirtschaftliche Ausbildung der deutschen Mädchen immer wieder eine Quelle der Bewunderung. Wie notwendig derartige praktische Kenntnisse waren, hatte Marietta inzwischen oft genug eingesehen. Ihr selbst hatte nach absolvierter Schulzeit das Studienjahr auf der allgemeinen Frauenschule nicht nur eine Vertiefung und Erweiterung auf wissenschaftlichem Gebiet gegeben. Sie hatte sich auch hauswirtschaftlich dort betätigt. Das Tropenprinzeßchen mit den zarten Fingern hatte sich vor keiner Arbeit gescheut. Sie war tüchtig und umsichtig dabei geworden. Das kam ihr jetzt bei ihrer sozialen Hilfsarbeit sehr zustatten.
Der geräumige Eßsaal lag im obersten Stockwerk. Gerda und Marietta entledigten sich draußen ihrer nassen Überkleider und betraten den hell getünchten Raum, dem selbst der graue Regentag, der griesgrämlich durch die Fenster hereinschaute, nichts von seiner anheimelnden Freundlichkeit nehmen konnte. An langen Tafeln mit blendend weißem Tischzeug, von Zöglingen zierlich gedeckt, saßen bereits etwa fünfzig junge Mädchen, die meisten zwischen sechzehn und zwanzig Jahren. Die Schülerinnen der sozialen Frauenschule gehörten schon zu den älteren und hatten daher Vorzugsplätze an dem Lehrerinnentisch. Der größere Teil der jungen Mädchen wohnte im Internat. Aber auch die Schülerinnen der verschiedenen Abteilungen der Frauenschule und der angegliederten Horte, deren Heimweg für die Mittagspause zu weit war, erhielten hier eine wohlschmeckende Mahlzeit. Marietta und Gerda nahmen grüßend an dem Tische, dem die Leiterin des Internats vorstand, Platz. Verschiedene Schülerinnen von der sozialen Schule waren bereits anwesend. Die beiden Kusinen wurden mit freudigen Zurufen empfangen. Sie waren beide recht beliebt bei den Kolleginnen. Die eine wegen ihres klugen, ernsten Könnens, die andere wegen ihres lieben Wesens. Muntere Gespräche waren im Gange, junges Lachen erklang hier und da. Es ging ungezwungen bei dem gemeinsamen Mittagstisch zu. Junge Zöglinge mit zierlichen Servierschürzen boten die Schüsseln an, wechselten geräuschlos die Teller. Man hätte die Empfindung gehabt, zu einer Festlichkeit geladen zu sein, wenn nicht hin und wieder mal ein mahnendes »Fräulein Lotte, nicht die Fleischplatte von rechts reichen, da kann sich kein Mensch bedienen«, oder auch »aber Fräulein Hilde, ein herabgefallener Löffel wird zur Seite gelegt, nicht auf die Schüssel zurück«, erklungen wäre.
Mit dem letzten Bissen schwirrte alles wieder auseinander, ein jedes zu seiner Pflicht. Auch die Wege der beiden Kusinen trennten sich. Gerda Ebert arbeitete in einem unweit gelegenen Säuglingsheim, um dort die Säuglingshygiene zu studieren. Marietta eilte nun endlich in das gegenüberliegende Gebäude zu ihren Hortkindern.
Die hatten die Hoffnung auf Tante Jettas Kommen schon aufgegeben. Kindern geht ja jeder Zeitbegriff ab. Tante Martha, eine erst siebzehnjährige Hortlerin, die noch das Abc der Kinderfürsorge erlernte, wußte nicht viel mit ihnen anzufangen. Sie hatte jedem etwas zu spielen gegeben und verlangte nun, daß sich die kleinen Jungen und Mädchen möglichst leise mit ihrem Baukasten, Püppchen oder Hottepferdchen beschäftigen sollten, um die großen, schulpflichtigen Kinder, die am Nachmittag hier ihre Schularbeiten machten, nicht zu stören. Im Grunde aber wollte sie selbst nicht gestört sein. Sie hatte eine Weihnachtsarbeit, eine bunte Wollhäkelei, bei der man zählen mußte, vorgenommen. Jede Frage der ihr anvertrauten Küken kam ihr störend in die Quere und wurde dementsprechend nicht gerade freundlich beantwortet. Die Kinder, des sich Alleinbeschäftigens überdrüssig, suchten daher ihr Vergnügen auf eigene Faust. Paulchen nahm dem Zeter schreienden Käthchen die Puppe fort und sprang damit johlend im Zimmer umher. Gustel warf dafür Paulchens schön gebauten Turm mit lautem Krach um, so daß sich jetzt eine lebhafte Prügelei zwischen dem kleinen Puppenräuber und dem Turmzerstörer ergab. Lenchen, mit dem gelben Zigarrenzopfband, wollte den Frieden vermitteln, geriet aber dabei mit in den Tumult hinein. Und die übrigen beteiligten sich aus Freude am Lärmen, und weil sie sonst auch nicht gerade Besseres zu tun hatten, ebenfalls an dem Radau. Tante Martha, die ihre Zählerei nun doch aufgeben mußte, rief vergebens dazwischen: »Kinder, wollt ihr wohl gleich ruhig sein!« Eher kann man einem Wasserfall befehlen, innezuhalten, als einer losgelassenen Kinderschar. Die Großen wurden natürlich auch nicht länger von ihren Schularbeiten gefesselt, sondern nahmen ebenfalls Partei und rauften lustig mit. Ein ohrenzerreißender Lärm empfing die gerade in diesem Moment eintretende Marietta.
Die stand zuerst starr. Dann aber griff sie auf gut Glück eins aus der wilden Horde heraus – es war Paulchen mit dem Schmutznäschen – und wischte ihm mit ihrem eigenen Batisttuch Tränen und Näschen ab. »Ja, Kinder, was habt ihr denn heute? Ihr seid doch sonst so lieb«, sagte sie mit ihrer weichen, fremdklingenden Stimme. Dieselbe ging in den Wogen der allgemeinen Zügellosigkeit ebenso unter wie Tante Marthas verzweifelte Drohungen. Aber plötzlich ein Jubellaut, mitten aus dem wüsten Getobe – wie ein verirrter Vogelton bei Gewitter – »Tante Jetta – Tante Jetta ist da!« Man hatte sie entdeckt. Im Augenblick war das Bild ein anderes. Die kleinen Raufbolde ließen voneinander ab und umstrickten die endlich Erschienene zärtlich mit ihren Ärmchen. Lenchen mit dem Zigarrenbändchen kletterte sogar auf den Stuhl, um heranzukommen.
Marietta strich beruhigend über die erhitzten Kindergesichter. »So, nun setzt euch mal erst brav auf eure Plätze und dann erzählt mir, warum ihr eben so unartig wart.«
»Die olle Käthe brüllt immer jleich« – »nee, der Paul hat« – – – »und der Gustel hat mir meinen schönen Turm janz« – – »und Karle hat mir so doll jeschubbst – – –« so ging das wieder durcheinander.
»Aber Friedel, so heißt es doch nicht, wie heißt es?« Marietta war der deutschen Sprache jetzt so mächtig, daß ihrem Ohr das falsche Sprechen mancher Kinder weh tat.
»Der Karle hat mir so doll jestoßen«, verbesserte sich der kleine Blondkopf.
»Lenchen, sag' du unserem Friedelchen, wie es richtig heißt.«
»Karl hat mich so doll gestoßen.« Trotz des gelben Zigarrenbändchens im Zopf sprach Lenchen ein gutes Deutsch. Sie war von besserem Herkommen. Der Vater war Buchhalter gewesen, früh gestorben und die Mutter in kümmerlichen Verhältnissen zurückgeblieben.
»Mit den Gören ist heute kein Auskommen, Fräulein Jetta, sie müßten alle eine Stunde in die Ecke gestellt werden«, beklagte sich Tante Martha empört.
Marietta warf einen verständnisvollen Blick auf die bunte Häkelei der jungen Dame. Ehe sie noch antworten konnte, rief aber einer von den großen Jungen: »Pfui, Tante Martha, weißte, was du bist? 'ne olle Pfennigklatsche!«
»Tante Martha ist eine Pfennigklatsche – Tante Martha is 'ne olle Petze!« Aufs neue schien das Gejohle losgehen zu wollen.
Stillschweigend, ohne ein Wort zu sagen, griff Marietta nach ihrem Lederhütchen.
»Nich gehen! – Tante Jetta soll mit uns spielen!« Selbst die ärgsten Schreihälse wurden sofort zahm und verlegten sich aufs Betteln.
»Ihr seid mir heute zu unartig, Kinder«, sagte diese traurig.
»Wir wollen ganz artig sein! Liebe, liebe Tante Jetta, bleibe doch bei uns!« Das war Lenchen.
Mariettas weiches Herz vermochte all den zärtlich bittenden Stimmen nicht standzuhalten. Sie hängte den Hut wieder an den Nagel, verlangte aber als gute Pädagogin: »Fritz, entschuldige dich erst bei Tante Martha wegen des häßlichen Wortes.« Dies geschah zur geheimen Belustigung der beiden jungen Damen, indem Fritz Tante Martha treuherzig die tintenbeschmierte Hand reichte und dabei die ehrenvolle Erklärung abgab: »Tante Martha, du bist keine Pfennigklatsche nich!«
Nun saßen sie alle, die Kleinen, mit gefalteten Händchen so brav auf ihren Plätzen, als ob sie niemals wie eine wilde Horde getobt hätten, und blickten erwartungsvoll auf Marietta.
»Kleben wir wieder bunte Ketten für den Weihnachtsbaum, Tante Jetta?«
»Au ja – und Goldkörbchen flechten wir wieder und Silber-Netze – – –«
Aber Tante Marietta schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Kinder, heute habt ihr es nicht verdient, daß wir Weihnachtsarbeiten machen. Das ist eine Belohnung für artige Kinder. Ketten und Körbe von unartigen Kindern hängt der Weihnachtsmann gar nicht an den Tannenbaum an. Wir werden heute an unserer Puppenwohnung weiter arbeiten.«
»Och, die olle Puppenwohnung«, wollte Ingeborg wieder Einwendungen machen, aber ein ernster Blick von Tante Jetta ließ sie sofort verstummen. »So, Kinder, nun räumt erst euer Spielzeug ein und legt es wieder ordentlich in den Schrank, ehe wir was Neues vornehmen. Ihr Großen arbeitet fleißig, damit ihr nachher auch mitspielen könnt. Nun, Kläre, wieviel Fehler waren im Diktat? Oh, so viele? Da werde ich dir nachher ein paar Sätze diktieren, so schlechte Arbeiten dürfen meine Kinder nicht schreiben. Wie geht's dem Vater, Lorchen? Haben ihn die Früchte erquickt, ja? Nun schreibe mal besonders schön, damit der kranke Vater sich freuen kann und schnell gesund wird.« So schritt Marietta von einem ihrer kleinen Schützlinge zum andern, jeden mit einem freundlichen Wort ermunternd.
Woran lag es bloß, daß die Kinder bei Fräulein Marietta stets brav und lieb waren und sie selbst immer Ärger mit ihnen hatte? fragte sich Fräulein Martha. Kinder waren sicher auch ungerecht, genau wie Große. Sie mochten sie wohl nicht so gut leiden. Daß sie selbst dazu die Veranlassung gab, indem sie ihre Pflichten nicht ernst genug nahm und sich nicht voll dabei einsetzte, das sagte sich das junge Mädchen nicht.
Wirklich, es war merkwürdig, wie die Kinder jetzt alle voll Eifer dabei waren, an der Puppenwohnung zu helfen. Je nach Alter und Geschicklichkeit wurden sie dabei beschäftigt. Die Puppenwohnung selbst, aus Pappe, durch Pappwände in Zimmer und Küche, ja sogar in zwei Stockwerke abgeteilt, stand bereits im Rohbau. Jetzt galt es Tapeten zu malen. Lenchen und Ingeborg bekamen das Wohnzimmer zugewiesen. Auf die Rückseite von mattem Goldpapier durften sie leichte Ornamente, die Tante Jetta ihnen vorzeichnete, malen, ausschneiden und auf dunkelgrünes Glanzpapier kleben. Das gab eine herrliche Tapete. Zwei kleinere, Gustel und Käthchen, hatten die Schlafzimmertapete zu liefern. Diese war einfacher. Weiße Streifen wurden in regelmäßigen Abständen auf himmelblaues Papier geklebt. Die drei kleinsten flochten bunte Papierteppiche für die Zimmer. Paulchen malte das Pappdach mit ziegelroten Steinen an und Karlchen tuschte braune Türen. Die Großen arbeiteten voll Eifer, ihre Schularbeiten zu vollenden, um ebenfalls helfen zu können. Die Jungen machten aus Zigarrenkisten mit dem Laubsägekasten allerlei nettes Mobiliar, Tisch, Stühle, Bettstellen. Während die größeren Mädel auf Kongreßstoff Gardinen, Tischdecke und Bettdecken stickten. Voll emsiger Geschäftigkeit waren sie alle dabei, die Kleinen, mit feuerroten Bäckchen arbeiteten sie. Nichts durfte zu dem Puppenhaus gekauft werden, alles wurde selbst fabriziert. Ein Lob von Tante Jetta, ein anerkennendes Streicheln der blonden und dunklen Köpfchen war der schönste Lohn.
»So, Fräulein Martha, jetzt ist ja alles hier eifrig bei der Arbeit, nun werde ich mich mal erst zu meinen Krippenkindern begeben«, wandte sich Marietta an die junge Helferin. »Ich komme bald wieder zu euch, Kinder, wer inzwischen am schönsten gearbeitet hat, bekommt eine Belohnung.« Damit verließ Marietta den Raum.
Die Laufkrippe in dem Zimmer gegenüber gehörte ebenfalls zu ihrem Reiche. Hier waren die Ein- und Zweijährigen, die zum Teil schon auf eigenen Füßchen einhertrappelten, aber der eigentlichen Säuglingskrippe bereits entwachsen waren. Als Schülerin der sozialen Frauenschule hatte sich Marietta in allen Abteilungen des Hortes auszubilden. Aber da sie älter war als die jungen Hortlerinnen, und da dieselben alsbald merkten, daß sie die Sache besser beherrschte als sie selbst, räumten sie ihr eine leitende Stellung ein. Marietta in ihrer Bescheidenheit machte niemals einen falschen Gebrauch davon. Sie übernahm nicht die Rechte, sondern nur die Pflichten und die Verantwortung einer Leiterin.
Auch in dem großen, saalartigen Zimmer, der Laufkrippe, wurde Mariettas Erscheinen jubelnd begrüßt. »Tatta Setta – Tatta Setta!« – aus dem großen Laufgitter, das die Mitte des Raumes einnahm, tappelte es auf unsicheren Beinchen, kroch es auf allen vieren, angelte es mit den Ärmchen jauchzend der Eintretenden entgegen. Die ergriff eins der zappelnden kleinen Dinger und schwenkte es zur allgemeinen Erheiterung in der Luft umher. Dann gaben alle Kleinen Patschhändchen und sagten guten Tag, wobei manche schon einen richtigen Knicks machten, ganz gleich, ob Junge oder Mädel. Die meisten der kleinen Gesellschaft trieben die Höflichkeit so weit, daß sie sich gleich dabei wieder auf die Erde setzten.
Ein etwas größerer Junge saß abseits von den anderen in einer Ecke. Er hatte sich nicht an den allgemeinen Empfangsfeierlichkeiten beteiligt. Er hatte einen auffallend großen Kopf und sah ziemlich verständnislos drein. Aber als Marietta jetzt zu ihm trat, ihm über die Haare fuhr und liebevoll fragte: »Ottchen, wer bin ich?« Da ging es über das teilnahmslose Gesichtchen wie aufzuckendes Verständnis. »Sette«, sagte er mühsam. Es war das einzige Wort, das der bereits Vierjährige bisher gelernt hatte. Er gebrauchte es sowohl für Marietta als auch für die Kinderserviette, die man ihm zu den Mahlzeiten umband. Beides war ihm gleich wichtig, die einzigen Lichtpunkte in seinem Dämmerleben. Ottchen war geistig zurückgeblieben und daher noch in der Laufkrippe, der er seinen Jahren nach schon entwachsen war. »Unser kleiner Idiotenjüngling« nannten ihn die jungen Helferinnen oder auch »unser Wasserköpfchen«. Marietta aber mochte das nicht hören. Ihrem warmen Herzen tat das arme Kind, das nur zum Vegetieren auf der Welt war, leid. Unermüdlich versuchte sie, die schlummernden Geisteskräfte in ihm zu wecken, mit dem Erfolg, daß er jetzt das erste Wort »Sette« sprach. Augenblicklich hatte Ottchen die Entrüstung seiner Pflegerinnen erregt. Er war noch nicht stubenrein und mußte wieder frisch behost werden.
Krampfartiges Husten aus dem Laufgitter ließ Marietta in ihrer Sorge um Ottchen innehalten. Ja, was war denn mit Mausi? Mausi hatte zwar neulich schon etwas gehustet, aber so arg ...
»Fräulein Erna, hat Dr. Ritter Mausi heute gesehen?« erkundigte sie sich erschreckt. Der Arzt kam täglich in den Kinderhort, um die Kinder zu beobachten.
Diese zuckte gleichmütig die Achsel. Fräulein Hilde aber meinte: »Die Kleine hustet ja bloß ein bißchen. Dr. Ritter hat ihr vor einigen Tagen Brechwurzelsaft verschrieben. Den nehmen wir pünktlich ein, nicht wahr, Mausichen?«
Mausichen konnte nicht antworten, denn der Husten würgte sie. Die Tränen traten dem Kind dabei in die Augen, puterrot wurde das Gesichtchen von dem Anfall.
»Mausi muß sofort isoliert werden – das Kind hat bestimmt Keuchhusten«, ordnete Marietta erregt an. Sie kannte diesen krampfartigen Küsten von ihrer früheren Tätigkeit her. »Wir müssen den Arzt und Fräulein Dr. Jungmann« – das war die Hortleiterin – »sofort benachrichtigen. Hier muß desinfiziert werden. Hoffentlich ist noch keins von den anderen Kindern angesteckt.«
Mausi wurde mit Gummiquietschpuppe und einer abwaschbaren Zelluloidkatze in die Isolierbaracke, einem Nebenzimmer, eingeliefert. Fräulein Erna, die sie dort betreuen sollte, behauptete, den Keuchhusten noch nicht gehabt zu haben und für Ansteckung besonders empfänglich zu sein. Fräulein Hilde fand, sie sei bei den anderen Kindern unentbehrlich. So wanderte Marietta mit Mausi, Gummiquietschpuppe und Zelluloidkatze in den Isolierraum.
Vergebens warteten die Hortkinder nach Fertigstellung ihrer Tapeten, Teppiche und sonstiger Einrichtungsgegenstände für das Puppenhaus auf Tante Jetta und die versprochene Belohnung. Zum erstenmal hielt Tante Jetta heute nicht Wort. Sie kam nicht wieder zum Vorschein. Gewissenhaft hielt sie sich von den andern Kindern fern und versuchte der armen Mausi jede nur mögliche Erleichterung zu verschaffen.
Die enttäuschten Kinder, die vergeblich warteten, begannen wieder Unfug zu treiben. Sie verdarben sich gegenseitig die mühsam verfertigten, netten Sachen und fingen, da Tante Martha grade in der Küche die Schüsselchen mit Grießbrei füllte, wiederum an zu johlen und sich wie junge Katzen zu balgen.
Der Lärm lockte Fräulein Dr. Jungmann herbei. »Ja, Kinder, was soll denn das heißen? Schämt ihr euch nicht, euch so ungezogen zu benehmen?« donnerte sie in den Tumult hinein. Vor Tante Jungmann hatten sie alle Respekt, die Kleinen sowohl wie die Großen. Eingeschüchtert ließen sie voneinander ab.
»Wo ist Tante Marietta?« forschte die Leiterin ärgerlich. An den Tagen, an denen Marietta im Hort arbeitete, pflegten derartige Radauszenen nicht vorzukommen.
Ingeborg erstattete Bericht, daß Tante Jetta zu den Kleinen gegangen und nicht wiedergekehrt sei. In der Laufkrippe erfuhr Fräulein Dr. Jungmann, was sich zugetragen, und gab sofort die notwendigen Anweisungen zum Desinfizieren.
»Sie haben verständig und umsichtig gehandelt, Fräulein Tavares«, sagte darauf die Hortleiterin, den Isolierraum betretend. »Aber Sie hätten irgendein anderes junges Mädchen bei dem Keuchhustenkind lassen sollen. Ihre Unterstützung ist mir bei der Gesamtheit von größerem Wert.«
Kein Wort kam über Mariettas Lippen, daß die anderen sich der Pflicht entzogen hatten.
Die Türglocke begann jetzt ihre Stimme zu erheben, in kleinen Zwischenräumen, als könne sie sich gar nicht beruhigen. Das waren die von der Arbeit kommenden Mütter, die ihre Grießbrei löffelnden Kleinen aus dem Kinderhort heimholten. Wie leuchteten die Augen in den blassen, verarbeiteten Gesichtern beim Anblick des den ganzen Tag entbehrten Lieblings. Wie sprangen die Kleinen der Mutter in die Arme. »In'n Hort is scheen, aber bei Muttern is's noch ville scheener!«rief Paulchen mit strahlenden Gesicht.
Mausis Mutter wurde davon verständigt, daß sie ihre Kleine mit Rücksicht auf die andern Kinder für einige Wochen zu Hause behalten müßte. »Ach Jotte doch, ach Jotte doch, nu hatte ich jrade so'n scheenen Verdienst, und nu muß ich wieder mit der Arbeit aufhören. Wo soll ich denn Mausichen bloß lassen? Die Nachbarin hat selbst sechse, die wird sich hüten und Mausichen auch noch nehmen. Noch dazu mit'n Keuchhusten. Den hat se sich doch sicher bei Ihnen hier jeholt, und nu, wo se'n weghat, wird se an die Luft jesetzt.«
»Hören Sie mal, liebe Frau Adumat, wenn Sie für all die Liebe, die Ihr Kind hier genießt, sich noch undankbar und ungehörig benehmen, brauchen Sie die Kleine überhaupt nicht mehr herzubringen«, bedeutete ihr Fräulein Dr. Jungmann energisch.
»Jotte doch, so war's doch nich jemeint. Ich weiß doch man bloß nich, wo ich mit das Wurm hin soll. Man braucht doch jetzt die paar Jroschen so notwendig«, entschuldigte sich Mausis Mutter. Marietta wandte sich bittend an die Leiterin. »Würde ein Kinderkrankenhaus die Kleine nicht aufnehmen?« fragte sie leise. Die soziale Not griff ihr ans Herz.
»Nee, in 'n Krankenhaus jeb' ich mein Mausichen jar nich. Da krieg ich ihr nich lebendig wieder raus. Lieber hungern wir.«
»Sie sollen nicht hungern, Frau Adumat«, versprach Marietta eifrig.
Unten auf der Straße im Regengeriesel des frühen Dezemberabends, durch den die Mutter sorgenvoll mit ihrem Kinde heimschritt, fühlte die Frau plötzlich einen Papierschein sich zwischen ihre erklammten Hände schieben.
»Das ist für Mausis Pflege und recht gute Besserung!« sagte eine liebe Stimme.
Es war doch schön, Geld zu haben – wenn man andern damit helfen konnte.