Читать книгу Nesthäkchen und der Weltkrieg - Else Ury - Страница 4
2. Kapitel. »Extrablatt!«
ОглавлениеHanne, die treue Alte, die Doktors Nesthäkchen schon auf den Armen getragen, war ganz aus dem Häuschen durch die Kriegsaufregung und die vielen Reden ihrer Freunde, des Grünkramhändlers, Milchmanns und Portiers. Sie wußte gar nicht mehr, was sie tat.
Auch heute legte sie Großmama neben die Kaffeekanne zu Nesthäkchens heimlichem Entzücken die silberne Suppenkelle hin.
»Ei, Hanne, soll ich den Kaffee mit der Kelle austeilen«, Großmama lachte mit ihrem Enkelchen um die Wette.
»Nein, wir sollen sie gewiß als Kaffeelöffel benutzen und den Zucker in der Tasse damit umrühren«, rief Annemarie übermütig.
»Nee, diese Russen, die machen mich doch reine varrickt«, Hanne griff kopfschüttelnd nach dem etwas groß geratenen Kaffeelöffel.
»Na, warten Sie nur, Hanne, wenn die Russen erst vor Berlin stehen, dann wird's noch ganz anders sein«, neckte Nesthäkchen. Es kannte die Russenfurcht der treuen Seele.
Die war denn auch gleich Feuer und Flamme.
»Um Jottes willen, tu dir nich versündigen, Kindchen. Bis vor Küstrin sollen ja schon die Kosaken streifen, hat der Portier, der heut mit sein Rejiment fortjemacht is, jesagt. Und der Milchmann hat heut morjen janz deutlich Kanonendonner jehört. Und was der Jrünkramfritze von nebenan is, der meint, kommen tun se sicher, die Russen, indem daß wir nämlich zu ville Feinde haben. Mit eenen werden wa woll fertig, aber nich mit det viertel Dutzend!« Hanne reckte ihre dicken, roten Arme, als sei ihr die schwere Aufgabe zugefallen, ganz allein Deutschland gegen all seine Feinde zu verteidigen.
»Na, beruhigen Sie sich nur, Hanne«, Großmama, die sich vor kurzem selbst deshalb Sorgen gemacht, schaute jetzt belustigt drein. »Unsere tapferen Feldgrauen werden uns schon vor russischem Besuch zu schützen wissen. Auf sie müssen wir vertrauen in dieser schweren Zeit. Vor allem aber auf den Helfer da droben!«
»Jotte doch, ja – wenn man der Herr Doktor und unsere jnädige Frau zu Hause wären, denn wär' mich auch lang' nich so miesepetrig zumut. Aber so auseinanderjerissen, wie man nu is, da fiehlt man natierlich die Verantwortung für die janze Familie. Denn Jroßmamachen ist doch auch jrade kein Jüngling nich mehr. Und man is doch nu schon über zehn Jahr im Haus.«
»Ja, ja, Hanne, wir wissen ja, daß Sie's gut meinen.« Großmama, die schon selbst besorgt genug war, mochte sich ihr gemütliches Kaffeestündchen nicht verstören lassen.
Aber Hannes Mundwerk war mit Ausbruch des Krieges ebenfalls mobil gemacht, wenn sie jetzt anfing zu reden, hörte sie so schnell nicht auf.
»Ja, und was ich noch sagen wollte, die Leute reden ja alle, es jibt sicher 'ne Hungersnot. Wie wild kaufen se ein. Was der Kaufmann von de Ecke is, hat zumachen müssen, weil se ihm seinen Laden geradezu jestürmt haben. Ich hab' auch 'n bisken was mitjebracht, man kann ja nie wissen, wie's kommt. Nudeln und saure Heringe und 'n scheenen Spickaal und Schokoladenpulver. Denn mir hat letzte Nacht jeträumt – – –«
Hanne sollte ihren Traum nicht mehr zum besten geben können, denn lachend fiel Nesthäkchen ihr ins Wort: »Au, wenn's Hungersnot gibt, dann stippen wir die Nudeln in die saure Heringssoße, und den Spickaal essen wir mit Schokoladenspeise!«
»Ach, Annemiechen, du bist noch ville zu jung, um den Ernst der Zeit zu bejreifen«, Hanne machte Miene, sich wieder an die alte Dame zu wenden, bei der sie mehr Verständnis zu finden hoffte.
Aber auch Großmama hatte vorläufig genug. »Bitte, rufen Sie Klaus zum Kaffee, Hanne, und sehen Sie zu, ob Herr Hans schon zurück ist.« Damit war die Unterhaltung fürs erste abgebrochen.
»Der Herr Hans ist noch nich wieder da, und auch unser Klaus is fortjejangen«, kam die Köchin nach kurzem wieder zurück.
»Klaus auch fort?« trotzdem Großmama in den fünf Tagen, in denen sie Doktor Brauns Sprößlinge bemutterte, nun schon daran gewöhnt sein mußte, daß Klaus öfters von der Bildfläche verschwand, erschrak sie stets aufs neue. »Ich dachte, er liest in seinem Zimmer. Wo mag der Junge nun bloß wieder stecken?« Es war doch nicht so einfach, mit den wilden Enkelkindern fertig zu werden. Großmama war an beschauliche Ruhe gewöhnt.
Annemarie rührte in ihrem Kakao herum und kämpfte mit sich. Sie wußte ganz genau, wo Bruder Klaus steckte, denn Annemarie war von jeher seine Vertraute. Unter die Linden war er mit ein paar Freunden gegangen, weil da am meisten los war. Ob sie nicht verpflichtet war, Großmama, die sich sicherlich Gedanken über sein Ausbleiben machte, zu beruhigen? Aber petzen wollte sie doch auch nicht – was machte sie bloß?
»Extrablatt – Extrablatt – großer Sieg – Festung Lüttich im Sturm genommen« – mitten in Nesthäkchens Überlegung hinein erklang es von der Straße herauf.
Dort hatte sich eine Menschenmenge um den Verteiler der Freudenbotschaft versammelt. Man riß dem Mann die Blätter aus den Händen – der erste große Sieg!
Jubelnd teilte es einer dem andern mit.
»Wenige Tage nach der Kriegserklärung schon solch ein Schritt vorwärts! Da sieht man es doch, daß Gott mit unserer gerechten Sache ist!« Dankbar faltete Großmama die Hände.
Nesthäkchen aber brannte der Boden förmlich unter den Füßen. Ach, jetzt auch da unten sein zu können in dem Freudentumult.
Da entdeckten Annemaries scharfe Augen mitten in dem schwarzen, ständig wachsenden Menschenknäuel einen ihr bekannten braunen Krauskopf über einem blauweißgestreiften Matrosenanzug.
»Da ist Kläuschen, sieh nur, Großmama – er hilft Extrablätter verteilen – ach, laß mich auch – bitte, bitte, Großmamachen!«
Wie der Wind war die Kleine wieder davon, bevor Großmama noch Einspruch erheben konnte. Aus dem dichtesten Gewühl leuchtete bald das rote Musselinkleid zu der kopfschüttelnden, über ihre Brille hinweg herabäugenden alten Dame hinauf.
Doktors Nesthäkchen beteiligte sich jubelnd ebenfalls an dem Verteilen der ersten Siegesbotschaft. Bis zum Platz gab es gemeinsam mit der Berliner Straßenjugend dem Ausrufer das Geleit. Mit Klaus um die Wette schrie es: »Extrablatt – Extrablatt – großer Sieg bei Lüttich!«
Mit brennenden Wangen und leuchtenden Augen, jedes eins der Blätter zur Großmama hinaufschwenkend, so kehrten die beiden Ausreißer schließlich wieder zurück.
Großmama wußte nicht, sollte sie schelten oder sich über die Siegesnachricht freuen. Schließlich tat sie alles beides.
An dem Dickschädel von Klaus prallten Vorhaltungen meist ab, Nesthäkchen aber stand ganz bestürzt da.
Nun hatte die liebe Großmama schon wieder Grund, ärgerlich zu sein. Und sie hatte sich doch erst vor kurzem so fest vorgenommen, Großmuttchen nicht wieder zu beunruhigen. Ja, Annemaries schlechtes Gedächtnis, das machte ihr öfters einen Strich durch die Rechnung. Nur an dem lag es, wenn Nesthäkchen öfters mal Schelte erhielt. Denn ihre Vornahmen waren wirklich immer die besten. Auch im Kinderheim war es ihr oft so ergangen.
Beide Arme schlang Annemarie um Großmamas Hals.
»Nicht böse sein, liebstes, bestes Großmuttchen. Ganz Deutschland freut sich doch heute über den ersten Sieg! Da darfst du nicht schelten. Und es war doch auch fürs Vaterland, daß ich die Extrablätter verteilen half«, so bettelte die kleine Schmeichelkatze. Konnte die alte Dame da noch länger zürnen? Man brauchte nicht mal eine Großmama zu sein, um Nesthäkchens bittenden Blauaugen nicht widerstehen zu können.
»Ich alte Frau bin viel zu schwach für euch wilde Gesellschaft«, meinte sie schließlich. »Es bedarf jüngerer Kräfte, um euch Banditen im Zaum zu halten. Ich möchte am Ende an euer früheres Fräulein schreiben, ob es nicht wieder zu euch kommen will – denn wer weiß, wann Muttchen heimkehren wird!« Das letzte wurde von einem schweren Seufzer begleitet.
»Au ja, mein geliebtes, goldenes Fräulein!« Annemaries Augen glänzten. Ihr Fräulein hatte das kleine Mädchen die vielen Jahre, wo es im Hause bei Doktor Braun war, geradezu vergöttert. Tränen waren geflossen, als Fräulein zu Ihrer Mutter heimging, da Annemarie auf ein Jahr an die Nordsee kam. Und nun sollte sie wieder zurückkehren – die Aussicht war zu herrlich!
Klaus konnte seine Freude mehr beherrschen. Ihm erschien es weniger verlockend, noch einen mehr zum Aufpassen im Hause zu haben. Fräulein würde ihn sicher in seiner Freiheit beschränken, sie hatte den Strick immer ziemlich kurz gehalten.
»Ich finde dich noch gar nicht so alt, Großmama«, meinte er deshalb voll Ritterlichkeit. »Unser Direktor im Gymnasium ist bestimmt noch älter als du, der hat nicht nur weiße Haare, sondern sogar schon einen weißen Bart. Und der wird doch mit all den vielen Jungs, die noch viel ungezogener sind als ich, fertig.« Viel ungezogener als er konnten seine Schulkameraden nun schwerlich sein, denn er leistete darin durchaus Anerkennenswertes.
Großmama schien auch nicht recht überzeugt.
»Und denn überhaupt – Mutti wird doch bestimmt bald nach Hause kommen. Was soll sie denn bloß bei den ollen Engländern, die sich so gemein gegen uns benommen haben, so lange!« bot der Tertianer weiter seine Überredungskunst auf.
»Da ist Mutti schon – bestimmt, das ist sie!« wie stets, wenn es klingelte, stürzte Nesthäkchen auch jetzt beim Anschlagen der Glocke erwartungsvoll zur Tür hinaus.
Aber enttäuscht kehrte die Kleine zurück.
Wieder umsonst – wieder nicht die sehnlichst erwartete Mutter! Nur Bruder Hans war es, der erhitzt vom Bahnhofsdienst heimkehrte.
Heute schien der Obersekundaner gar nicht angestrengt, trotzdem er seit dem frühen Morgen am Schlesischen Bahnhof Körbe mit Tassen, Kannen mit Kaffee und große Platten belegter Brote an die durchfahrenden Truppenzüge hatte heranschleppen helfen.
»Famoser Sieg – ja, wenn wir Deutschen erst mal loshauen – Tag, Großmama – na, Kleinchen, wie geht's?« Der Gruß mußte heute hinter der Siegesfreude hinterherhinken
»Bist du sehr müde, mein Jungchen?« Die gute Großmama machte dem Enkel bereits ein Glas Limonade zur Erfrischung zurecht.
»Nee, gar nicht – fein war's heute! Du, Klaus, da hättest du dabei sein müssen! Denk' mal, wir Pfadfinder bringen nachmittags Stullen an einen Zug, der aus lauter offenen, mit Girlanden geschmückten Viehwagen besteht. Und weil die Feldgrauen sich manchmal genieren, ordentlich zuzugreifen, reden wir ihnen tüchtig zu. Und besonders einer, der wollte durchaus nichts mehr nehmen und versicherte mir immer wieder lachend, sein Soldatenmagen könne beim besten Willen nicht mehr vertragen. Aber ich ließ nicht locker, bis er mir schließlich doch 'ne Wurschtstulle abnahm. Da pufft mich einer von den Pfadfindern in den Rücken. »Mensch,« flüsterte er mir zu, »weißte denn nicht, wer das ist?« – »Nee,« sage ich. »Das ist doch Prinz Joachim!« Wahr – und wahrhaftig, er war's! Mitten im Viehwagen unter all den Mannschaften wie ihresgleichen. War ich stolz, daß er gerade meine Wurschtstulle aß. Und als der Zug weiterfuhr, da hat er mir noch mal zugewinkt.«
Hans wirbelte vor Freude das Schwesterchen auf dem engen Balkon herum. Aber nicht Annemarie verging dabei Hören und Sehen, sondern der Großmama.
Klaus aber riß dem Bruder fast vor Aufregung einen Jackenknopf ab, an den er ihn krampfhaft festhielt, um immer mehr von dem wunderbaren Ereignis zu erfahren.
»Ein richtiger Prinz – morgen geh' ich aber bestimmt auch nach dem Schlesischen Bahnhof. Vielleicht kann ich ebenfalls dort helfen – unser Kaiser hat ja viele Söhne, am Ende kommt morgen wieder ein Prinz durch«, rief er mit blitzenden Augen.
»Jawoll, die Prinzen wimmeln da nicht so herum, so'n Glück wie ich haben nur Sonntagskinder! Und du wirst überhaupt nicht zum Helfen zugelassen, mein Söhnchen, du bist ja kein Pfadfinder.« Hans warf sich mächtig in die Brust.
»Schadet nichts, ich gehe doch hin – kommst du mit, Annemarie?«
»Na und ob!« Nesthäkchens Blauaugen blitzten nicht weniger als die braunen von Klaus.
»Ausgeschlossen, ihr bleibt alle beide hier!« unterbrach Großmama das Pläneschmieden der zwei. »Das fehlte noch gerade, daß ich euch in diesem Menschengewühl auf dem Bahnhof wüßte, unter all den Lokomotiven, wo ich schon so keine ruhige Minute habe, wenn ihr nicht bei mir seid.«
Nesthäkchen ergab sich schweren Herzens in ihr Schicksal, während der Nichtsnutz Klaus eifrig überlegte, wie er wohl trotz des Verbotes am nächsten Tage der großmütterlichen Aufsicht am besten entwischen könnte.
Am Abend, als Großmama ihre Enkelkinder endlich sicher in den Betten wußte, atmete sie erleichtert auf. Ganz zerschlagen von all der Unruhe und Aufregung saß sie am Schreibtisch und schrieb an Fräulein. Denn sie allein war der schweren Aufgabe, die durch den Krieg aus Rand und Band gekommenen Sprößlinge ihrer Tochter zu beaufsichtigen, nicht mehr gewachsen.
Nesthäkchen aber lag im Bett und betete aus Herzensgrund: »Lieber Gott, laß doch meine liebe Mutti bald wieder nach Berlin kommen, aber nicht die ollen Russen. Und beschütz' doch auch meinen Vater im Krieg. Und auch Onkel Heinrich und all die anderen Soldaten. Und schick' uns doch wieder solchen seinen Sieg wie heute, ja? Bitte, hilf uns Deutschen doch, lieber Gott.«
Da aber fiel Nesthäkchen plötzlich ein, daß vielleicht zur gleichen Stunde französische oder englische Kinder den lieben Gott ebenfalls um seine Hilfe anflehten. Darum setzte es schnell noch hinzu: »Und wenn du uns nicht helfen willst, dann hilf, bitte, den andern doch auch nicht – bleibe wenigstens neutral, lieber Gott. – Amen!«