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3. Kapitel Samariterin

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Vor dem Hause scharrten ungeduldig die Pferde. Es waren prachtvolle Tiere. Der Rappe war der Lieblingsgaul der Donna Tavares, während die jungen Mädchen kleinere Silberfüchse als Reitpferde besaßen. Pedro, der Mulatte, hielt sie am Zügel. Er war es gewöhnt, daß man auf sich warten ließ. Langsam schritt er mit den Tieren unter den Olivenbäumen hin und her.

Endlich erschienen die Damen. In ihren kleidsamen, hellen Reitkostümen, große Tropenhüte zum Schutz gegen die Sonne auf dem Kopf, schwangen sie sich graziös in den Sattel. Milton Tavares hielt seiner Gattin den Steigbügel. Diesen Dienst überließ er keinem anderen.

»Sobald ich die telefonische Verbindung mit Santos habe, komme ich euch nach. Grüßt inzwischen die Mutter und Margarida. Sollte es länger dauern, so reite ich euch den Weg durch den Olivenhain entgegen.«

Er blickte den drei anmutigen Reiterinnen, die grüßend davonsprengten, mit stolzfreudigen Empfindungen nach.

Unter Oliven und Orangenbäumen führte der Weg zu strauchartigen Anpflanzungen, die sich bis an die blauen Berge in endlosen dunkelgrünen Wellen dehnten. Das waren die Kaffeeplantagen. Immergrüne, lederartige Blätter verbargen die duftenden, rötlich-violetten Blüten. In regelmäßigen Abständen waren die mannshohen Sträucher angelegt. Sie gaben der Gegend etwas Einförmiges. War das Auge doch gerade im Tropenlande an bizarre Formen von Pflanzen, an üppigste Vegetation und buntesten Farbenreichtum gewöhnt.

»Wie ich die Plantagen zum erstenmal vor Jahren erblickte, haben sie mich traurig gestimmt«, sagte Frau Ursel sinnend. »Sie erschienen mir wie ein gewaltiges Meer, das Tausende von Menschen verschlingt, um einzelnen seine Schätze zu spenden.«

»Papi sagt, unsere Plantagen seien ein Segen für viele, die sonst keine Arbeit hätten«, meinte Marietta nachdenklich.

»Der Vater hat recht. Seitdem die netten Siedlungshäuser entstanden sind, empfinden wohl auch die Arbeiter den Segen ihres schweren Tagewerks.« Liebevoll blickte Frau Ursel auf einen weißen Komplex von kleinen Häusern, der aus dem dunkelgrünen Blättermeer wie eine weiße Insel herausragte.

»Weißt du, Mammi, wie die Plantagen, so denke ich mir den deutschen Wald«, sagte Marietta sinnend. Ihre dunklen Augen bekamen etwas Träumerisches.

»Unseren lieben deutschen Wald? Nein, mein Herz, der ist ganz, ganz anders. Den kann man sich nicht vorstellen, ohne ihn gesehen zu haben. Wie ein lichtgrüner Dom wölben sich die Baumkronen der Buchen und Eichen. Anemonen, Waldveilchen und Vergissmeinnicht umkränzen den murmelnden Bach. Singvögel, nicht so bunt wie die hiesigen, aber mit ungleich süßerem Wohllaut, jubilieren im grünen Blätterhaus. Auf samtweichem Moos ruht es sich herrlich am Herzen der lieben, deutschen Muttererde.« Immer sehnsuchtsvoller wurde die Frauenstimme.

»Solche Riesenfarren, solche üppigen Schlingpflanzen und so hohe Palmen wie bei uns gibt es im deutschen Wald sicher nicht. Und auch nicht so herrliche Obstbäume. Du hast uns selbst erzählt, Mammi, du hättest niemals früher so große Orangen und Pfirsiche gesehen wie hier. In Europa ist alles zwergenhaft klein«, warf Anita dazwischen, die nichts gegen Amerika aufkommen ließ.

Frau Ursel beachtete den Einwurf nicht. Die war mit ihren Gedanken weit fort. »Sechzehn Jahre sind es nun her, daß ich die Heimat, die Eltern, all die Lieben in Deutschland nicht mehr gesehen habe. Wer mir das damals gesagt hätte, als ich eurem Vater über das große Wasser folgte! Ich hätte es nicht für möglich gehalten.«

»Wärst du ihm dann nicht gefolgt?« erkundigte sich Anita neugierig.

»Ich glaube doch wohl«, lächelte die Mutter. »Aber schwer, noch ungleich schwerer wäre es mir geworden. Ich habe es damals als neunzehnjähriges Ding doch noch nicht erfaßt, was solch eine Trennung, ein derartiges Loslösen von der Heimat bedeutet.«

»Onkel Juan war doch inzwischen zu Besuch bei uns«, versuchte Marietta die wehmütigen Gefühle der Mutter zu zerstreuen.

»Mein Bruder Hansi – ja, das war auch die einzige persönliche Verbindung mit der Heimat. Wißt ihr noch, wie er mit euch gespielt und getobt hat, der Onkel Hans? Sieben Jahre wart ihr damals. Eine Ewigkeit ist es schon wieder her.«

»Wenn ich Donna Tavares gewesen wäre, ich wäre sicher mindestens alle zwei bis drei Jahre nach Europa hinübergegondelt. Daran erkennt man, daß du keine Amerikanerin bist, Mammi«, ließ sich Fräulein Klugschnack vernehmen.

»Nein, Anita, meine deutsche Herkunft trägt nicht die Schuld an meiner Sesshaftigkeit. Ihr seid daran schuld, ihr Kinder, und auch der Vater. Das erste mal, als ich mit euch hinüberfahren wollte – zur silbernen Hochzeit der Großeltern war's –, da zähltet ihr erst wenige Monate, und der Arzt fürchtete wohl mit Recht den Klimawechsel für euch. Bald darauf starb der Großvater Tavares. Die Last des vielverzweigten Kaffee-Exports lag auf den Schultern eures Vaters. Er konnte nicht monatelang dem Geschäftsbetrieb fernbleiben. Und mich so lange missen, wollte er noch weniger. So ward es von Jahr zu Jahr verschoben. Dann erschien Juan, unser kleiner Nachkömmling. Und wieder vergingen die Jahre. Zu Beginn eines jeden nahmen wir uns vor, in diesem Sommer geht es bestimmt hinüber. Stets kam etwas dazwischen. Die Großeltern in Lichterfelde sind alt geworden bei dem ständigen Hoffen und vergeblichen Harren. Wer weiß, ob man sie nochmal wiedersieht.« Solch mutlose Kundgebung ihrer Heimatssehnsucht war sonst gar nicht Frau Ursels Sache.

Die Töchter waren denn auch bestürzt und erschreckt.

»Aber Mammi, liebe, kleine Mammi, nun dauert es doch gar nicht mehr lange, dann fährst du mit uns zu den Großeltern nach Deutschland. In kurzem ist Weihnachten – gleich nach Ostern reisen wir. Das ist gar nicht mehr lange hin.« Wenn es galt, ihre Mammi wieder froh zu machen, wurde Marietta ebenso lebhaft und beredt wie ihre Zwillingsschwester.

»Wenn ich nur mal erst wieder Nachricht hätte. Die Großmutter schreibt sonst so regelmäßig alle zwei Monate. Aber nun ist schon ein Vierteljahr seit ihrem letzten Brief vergangen. Hoffentlich ist drüben alles gesund.«

Aus dem dunklen Grün der Anpflanzungen tauchten die hellen, breitränderigen Farmerhüte der Plantagenarbeiter auf. Kauernde Gestalten richteten sich bei dem nahenden Hufschlag von der Arbeit empor und grüßten die Vorüberreitenden ehrerbietig. Dunkle und hellfarbige Gesichter, schwarze und blaue Augen. Es war ein Gemisch der verschiedensten Nationalitäten und Rassen.

Das Sommerhaus der Janqueiras war erreicht. Es lag landschaftlich schöner als das Tavaressche, dem Gebirge näher. Aber der Bau wirkte geschmacklos und überladen protzig. Schwarze Diener halfen den Damen beim Absteigen. Man führte sie in den Salon. Auch dort zeigte sich Mangel an verfeinertem Geschmack. Sofa und Sessel waren mit weißen Leinenüberzügen verhängt. Margarida hatte das in einem Berliner Schloß bei ihrem europäischen Aufenthalt gesehen und ließ sich nicht davon abbringen, dies besonders vornehm zu finden. Die Krone war von einem graublauen Papierlampenschirm verhängt. Die Vasen schmückten bunte Papierblumen. Die Kinder kannten den Salon der Großmutter Tavares nicht anders, wenn sie auch den Unterschied von dem eigenen Heim herausfühlten. Ursel aber gab es stets einen Stich ins Herz, sooft sie den geschmacklosen Raum betrat.

»Ah, ihr seid es – willkommen – willkommen!« Die Schwiegermutter, noch heute Spuren ehemaliger Schönheit verratend, begrüßte in ihrer lebhaften italienischen Art Schwiegertochter und Enkelinnen, sie nach Landessitte auf die Wangen küssend. »Kommt ins Schlafzimmer, da ist es gemütlicher.« Sie schritt den dreien voraus.

Auch daran hatte sich Frau Ursel gewöhnen müssen, daß man hier in Brasilien gute Freunde und Anverwandte im Schlafraum empfing. Auf den Betten nahm man Platz, die nur Matratze, Leinentuch und ein Paradekissen, das am Tage zum Schmuck lag und zur Nacht fortgenommen wurde, zeigten. Das Moskitonetz, das wichtigste Utensil in den Tropen, war zurückgeschlagen.

Auch Donna Margarida erschien, erfreut über den lieben Besuch. Sie war nicht mehr zierlich und graziös wie ein Püppchen, sondern war von den vielen Süßigkeiten und dem Schlaraffenleben, dem sie huldigte, etwas in die Breite gegangen.

Man saß auf den Betten. Farbige Diener brachten Eis und Früchte. Frau Ursel mußte über alle Bekannte in Sao Paulo Bericht erstatten. Denn die beiden anderen Damen waren schon über einen Monat aus der Stadt entfernt, und der Klatsch spielte dort eine wichtige Rolle. Anita verstand es besonders, die Ereignisse in humoristischer Weise darzustellen. Die Großmutter, deren erklärter Liebling sie in ihrer südländischen Lebhaftigkeit und Schönheit war, strahlte, und auch Tante Margarida bildete ein dankbares Publikum. Frau Ursel aber mochte das Herziehen über den lieben Nächsten nicht, ebensowenig, daß ihr ohnedies schon genügend selbstbewußtes Töchterchen derart den Mittelpunkt bildete. Sie unterbrach Anitas amüsante Beschreibung: »Nita, du läßt heute dein Lästermündchen wieder mal abschnurren. Nun ist es genug. Gehe mit Jetta lieber in den Garten.«

Marietta sprang erfreut auf, sie langweilten diese Berichte, geradeso wie ihrer Mutter. Anita aber zog ein Mäulchen.

»Jetta und ich wollen lieber eine Stunde reiten.« Ohne die Schwester zu fragen, nahm Anita es als selbstverständlich an, daß diese ihren Wunsch teilte. War Marietta doch immer nachgiebig und fügsam.

»Aber nicht weiter als bis zur Schlucht, Kinder. Pedro oder Diego reitet natürlich mit euch mit.«

Die jungen Mädchen verabschiedeten sich. Bald darauf sah man die Silberfüchse im Trab durch die Plantagen sprengen. Der schon etwas steifknochige Neger Diego konnte kaum hinterdrein.

»Ah, das tut gut, Jetta, nach dem langen Stillsitzen.« Anitas schwarze Locken wehten. Wie eine junge Amazone flog sie dahin.

Auch Marietta war eine gute Reiterin, nur war sie in all ihren Bewegungen ruhiger. Aus ihren dunklen Augen sprühte ebenfalls die Freude an dem herrlichen Sport.

»Ein Wettritt, Jetta«, schlug Anita vor. »Wer zuerst bei der großen Kokospalme an der Schlucht ist. Der Graben wird als Hindernis genommen. Eins – zwei –«, bei »drei« sauste sie schon davon.

Die Schwester folgte im Abstand einer Pferdelänge. Da hemmte Marietta plötzlich den Galopp. War da nicht irgendwo ein Weinen erklungen? Ein Zügelruck brachte den Gaul zum Stehen. Scharfen Auges spähte das junge Mädchen in den grünen Wellen der Kaffeesträucher, die den Weg besäumten, umher. Halt – da schimmerte ein rotes Röckchen.

Unter einem nur wenig Schatten spendenden Gummibaum kauerte ein kleines etwa siebenjähriges Mädchen. Blonde, wirre Haarsträhnen fielen über die sonnengebräunten Händchen, welche die Kleine vor das Gesicht geschlagen hatte. Der schmächtige Kinderkörper zuckte in ruckweisem Schluchzen.

Im Nu war Marietta vom Rücken des Pferdes herabgeglitten. Sie trat zu dem weinenden Kinde und legte ihm mitleidig die Hand auf den Kopf. »Warum weinst du, Kleine?« fragte sie in der portugiesischen Landessprache.

Das Kind ließ die Hände von dem verweinten Gesicht sinken und sah erstaunt zu dem vornehmen Mädchen auf. Es antwortete nicht.

»Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?« drang Marietta in die Kleine.

Das Kind schüttelte den Kopf. Es begann von neuem zu schluchzen.

Ratlos stand Marietta vor dem kleinen Findling. Ihrem weichen Herzen schien es unmöglich, davonzureiten und das Kind seinem Schmerze zu überlassen.

»Diego, reite weiter zu Donna Anita und sage ihr, daß ich gleich nachkomme«, gab sie dem alten Neger Weisung. Dann wandte sie sich wieder dem weinenden Blondköpfchen zu.

Ein Gedanke kam ihr. Sollte das Kind am Ende ihre Frage nicht verstehen? Es hatte so verständnislose Augen gemacht. Ein Kind der Tropen war es sicher nicht. Aber in welcher Sprache versuchte sie es?

»Warum weinen du, Kind?« Die deutschen Laute, auf welche Marietta die Liebe für ihre Mutter übertrug, kamen ihr ganz von selbst auf die Lippen. Im Gegensatz zu Anita, die stets dagegen Front machte. Das Kind hob jäh den Kopf. Aus den verweinten Blauaugen kam ein Lächeln. »Ich habe Hunger, und Mutter ist krank«, sagte es in deutscher Sprache.

»Armes Kind!« Zum erstenmal begegnete dem reichen, im Luxus aufgewachsenen Mädchen jemand, der Hunger litt. Hatte sie denn gar nichts, denselben zu stillen? Entsetzlich mußte es sein, hungern zu müssen.

Das junge Mädchen griff in die Tasche des Reitkleides. Da – das Stück Schokolade, das sie stets beim Ausreiten bei sich trug, würde den Hunger stillen.

Das Kind verschlang die Süßigkeit gierig.

»Nun du nicht hast Hunger mehr?« erkundigte sich Marietta freundlich.

»Mächtigen Hunger«, dabei blieb das Kind. »Ich habe heute nur zwei Bananen gegessen.«

»Kochen ihr keine schwarzen Bohnen?« Das war das Nationalessen, das auch auf dem ärmsten Tische nicht fehlte.

»Mutter ist krank, Mutter kann nicht kochen.«

»Aber dein Vater oder die Großmutter, sorgen sie nicht für dich?«

»Vater ist tot, und Großmutter ist weit weg. Über dem großen Wasser in Deutschland. Da ist's schön, sagt Mutter. Da hat sie in einem richtigen Haus gewohnt und ein Bett gehabt wie die reichen Leute.«

»Und hier ihr haben kein Bett?« fragte Marietta leise. Das Elend war dem verwöhnten Mädchen noch nie so kraß entgegengetreten. Es griff ihr ans Herz.

»Bloß ein Lager auf der Erde aus Gras und Blättern. Mutter sagt, wenn Vater noch lebte, würde sie gern alles ertragen. Aber Vater ist ja nun tot. Und Mutter wird auch bald sterben.« Das Kind sprach dieses Furchtbare mit einer gleichgültigen Selbstverständlichkeit aus.

»Oh, nicht sagen so Trauriges!« Entsetzt blickte Marietta auf das kleine Mädchen. »Deine Mutter wird werden gesund. Haben ihr einen Arzt?«

»Wir haben kein Geld.« Die Kinderaugen sahen sorgenvoll drein.

Marietta überlegte nicht länger. »Ich werde gehen zu deine Mutter.« Vergessen war Anita und der Wettritt. Vergessen, daß sie niemals allein ohne einen Diener gehen durfte. Auch daß der Vater es nicht besonders gern sah, wenn seine Damen die Siedlungshäuser besuchten. Anita pflegte sich stets davon zu drücken. Aber Marietta hatte die Mutter schon öfters auf ihren Wegen der Menschenpflicht begleitet.

Das Pferd wurde an den Gummibaum gebunden. Dann folgte Marietta der Kleinen in die Kaffeeplantagen hinein. Kreuz, quer, wie in einem Irrgarten zogen sich die Wege durch die Anpflanzungen. Immer neue grüne Mauern türmten sich vor den beiden auf. Die Sonne brannte heiß. Marietta war nicht gewöhnt, zu Fuß zu gehen. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. Die Unebenheiten der schlechten Wege verursachten ihren zarten Füßen durch das feine Schuhwerk Schmerzen.

War es nicht voreilig gewesen, sich so weit zu entfernen? Würde Anita sie nicht suchen? Sollte sie umkehren?

Nein – nein! Sie ging ja einen Samariterweg. Hatten die Ärmsten, denen sie Hilfe bringen wollte, nicht ständig mit solchen Strapazen und Qualen zu kämpfen? Mußten sie nicht noch obendrein schwere Arbeit leisten? Sangen dort nicht irgendwo sogar Leute bei der Arbeit? Mit aller Willenskraft zwang Marietta die ungewohnten Strapazen.

Nach einer halben Stunde – eine Ewigkeit dünkte sie dem erschöpften Mädchen – öffnete sich der endlos scheinende grüne Buschwald der Kaffeeplantagen. Ein freier Platz wurde sichtbar mit gelbgrauen Lehmhütten. Das war das Dorf, die Ansiedlung der zu den benachbarten Plantagen gehörenden Arbeiter.

Niemals war Marietta bis hierher gekommen. Für die Ausfahrten und Spazierritte pflegte man landschaftlich malerische Punkte zu wählen. O Gott, sah das hier öde und verlassen aus. War es denkbar, daß in diesen fensterlosen, elenden Lehmhütten Menschen hausten?

»Zu welche Fazenda ihr gehören?« erkundigte sie sich. Das Kind nannte einen Namen. Er war angesehen in Sao Paulo, der Name Orlando. Die Familie lebte dort in Reichtum und Luxus. Zum erstenmal taten sich hier dem jungen Mädchen die krassen sozialen Gegensätze auf.

Vor einer der Hütten sielten sich nackte braune Mulattenkinder im Staub. Irgendwo blaffte ein Hund. Sonst alles wie ausgestorben. Das ganze Dorf war auf den Plantagen bei der Arbeit.

Mariettas kleine Führerin steuerte auf eine der Hütten zu. Der türenlose Eingang zu derselben war so niedrig, daß selbst das Kind beim Betreten der Hütte den Kopf neigen mußte. Palmenblätter bildeten das Dach. Statt einer Tür hing das Moskitonetz zum Schutz gegen die lästige Insektenplage vor der Öffnung.

Unwillkürlich hemmte Marietta den Schritt. Nein, nein, sie konnte nicht diesen verwahrlost ausschauenden Raum betreten! Ihr ästhetisches Empfinden, ihr Kulturgefühl bäumte sich dagegen auf.

»Schläfst du, Mutter?« hörte sie da das Kind drin sagen. »Wach auf, Mutter. Da ist ein feines Mädel, das redet wie wir. Sie hat gesagt, sie will dir helfen.«

Darauf ein Stöhnen, dann eine matte Frauenstimme: »Uns kann keiner mehr helfen, Lottchen. Uns hat selbst der liebe Gott verlassen.«

Der verzweifelte Ton dieser Worte ließ Marietta alles andere vergessen. Sie sah nicht mehr die elende Hütte, vor der sie noch soeben zurückgeschaudert. Hier war ein Mensch in Not. Hier mußte geholfen werden. Schon bückte sie sich, um in die Hütte zu gelangen.

Der kleine Erdraum erhielt Luft und Licht nur durch die Türöffnung. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Holztruhe. In der Ecke, aus ein paar Steinen errichtet, eine primitive Kochgelegenheit. Alles dies unterschied Marietta in dem dämmerigen Halbdunkel nach dem blendenden Sonnenlicht draußen erst nach und nach. Vorläufig hatte sie nur Augen für das kranke Weib, das da auf einem mit ein paar Lumpen bedeckten Blätterlager hingestreckt lag. Große, fiebrig glänzende Augen schauten erstaunt fragend auf die junge Besucherin.

»Guten Tag, liebe Frau, Sie sein krank?« begann Marietta teilnehmend. Das Elend, das ihr hier unverhüllt entgegengrinste, legte sich ihr beklemmend auf die Brust. Sie vermochte kaum zu sprechen.

Bei den deutschen Lauten, obgleich sie fremdländisch anklangen, war es wie ein Lächeln über das abgezehrte Gesicht der Kranken gezogen.

»Sehr krank. Es geht zu Ende – ich fühl's. O Gott, der Durst, der entsetzliche Durst!« Ein Ächzen folgte.

»Wo es geben Wasser hier?« wandte sich Marietta, ihre Erschütterung niederzwingend, an das Kind. Sie griff nach einem braunen Krug.

»Dort – die Nachbarin hat uns heute morgen, ehe sie zur Arbeit ging, einen Eimer Wasser geholt. Aber das Wasser ist schlecht, man darf es nicht trinken. Es muß gekocht werden. Sonst wird man krank und muß sterben wie Vater«, setzte das Kind altklug hinzu.

Schlechtes Wasser, das Seuchen erzeugte. Marietta hatte in Sao Paulo davon sprechen hören, daß auf verschiedenen Kaffeeplantagen unverantwortlicherweise ungesunde Wasserverhältnisse seien. Himmel, wie war es möglich, daß die Orlandos in größtem Luxus lebten, während ihren Arbeitern die notwendigste Lebensbedingung, gesundes Wasser, fehlte?

»Wasser – nur einen Schluck Wasser! Ich verbrenne!« stöhnte die Fieberkranke.

»Wir werden die Wasser kochen«, meinte Marietta kurz entschlossen. »Wo man kann kochen?«

Das Kind wies auf die aufeinandergetürmten Steine: »Holz liegt draußen. Aber der Herd raucht, wenn wir Feuer machen. Dann muß Mutter wieder husten.«

Ratlos stand Marietta da. Nur selten mal hatte sie in ihrem Elternhause die Küche betreten. Dort hauste die Dienerschaft, die schwarzen Köchinnen, die den ganzen Tag backten und brateten. Das war kein Aufenthalt für die jungen Fräulein.

Hätte sie doch nur Diego mitgenommen. Nun mußte sie selbst sehen, fertig zu werden. Denn die Kranke bat unausgesetzt um Wasser.

»Ich werden machen Holzfeuer.« Mit ihren zarten Händen griff Marietta nach einem großen Scheit Holz und wollte es in den Steinherd legen.

»Man muß das Holz klein machen«, belehrte sie das Kind. »So hat Mutter es immer gemacht und auch die Nachbarin macht es so.«

Marietta griff nach einem Messer. Sie schämte sich vor der Kleinen, daß sie, die soviel Ältere, das nicht wußte.

Das Holz war zäh, das Messer stumpf. Ritsch – da war es statt in das Holz in Mariettas ungeschickte Finger gegangen. Rotes Blut tropfte hernieder.

»Es nicht tun weh«, beruhigte sie das erschreckte Kind und machte mit ihrem Spitzentaschentuch einen Notverband. »Aber es sein besser, ich schicken euch unseren Diener. Und der Arzt muß kommen auch.«

»Und auch was zu essen«, erinnerte sie das kleine Mädchen.

»Zu essen, ja, Lotta. Meine Mutter wird schicken euch.« Es fiel Marietta plötzlich schwer auf die Seele, daß sie sich allein so weit entfernt hatte. Man würde sie suchen, sich um sie sorgen. Und hier hatte sie nicht einmal etwas nützen können. Unverantwortlich hatte sie gehandelt, ganz unüberlegt. Wäre es nicht viel richtiger gewesen, sie hätte von den Eltern Hilfe erbeten?

Die armen Menschen hier litten Hunger und Durst, und sie vermochte denselben nicht zu stillen. Eine Wahrheit ging dem reichen, verwöhnten Mädchen hier in dieser Einsamkeit auf: Man mußte lernen, man mußte selbst Hand anlegen können, sich nicht nur von der Dienerschaft abhängig machen. Es konnte Lebenslagen geben, in denen man auf sich selbst angewiesen war. Wollte man anderen Hilfe bringen, mußte man vor allem sich selbst zu helfen wissen.

»Fräulein, mich hungert« – erinnerte Lottchen die mit versonnenen Augen Dastehende.

»Wasser – nur einen kleinen Schluck Wasser!« kam es seufzend von den Lippen der Frau.

Marietta fuhr empor. »Ja, ja, ich gehen sofort. Ich senden Wasser, gute Wasser und Erfrischungen. Haben Sie einen Wunsch noch, liebe Frau?«

Die Kranke öffnete bei der weichen, mitleidigen Stimme mit Gewalt die fieberschweren Augen.

»Das Kind – das Kind«, flüsterte sie.

»O ja, Lotta wird erhalten Essen, gutes Essen«, versprach Marietta bereitwillig.

Die Kranke schüttelte den Kopf. Mühselig suchte sie die Worte. »Ich werd's nicht mehr lange machen – das Kind – was wird aus dem Kind – – –.« Dieser Gedanke schien sie in ihren Fieberträumen entsetzlich zu quälen.

»Wenn der Arzt wird kommen, Sie werden ganz gesund, liebe Frau.« Tränenschwer klang Mariettas Stimme. Der Jammer der Verlassenen griff ihr ans Herz.

»Ich will nicht mehr – ich kann nicht mehr – nur mein Kind – mein Lottchen – – –«

»Meine Mutter wird sorgen für ihr.« Dieselbe Mutterliebe, die aus diesen verängstigten, mühsamen Worten der Schwerkranken sprach, empfand ja auch ihre Mutter. Die Mutterliebe war reich und arm gemeinsam, verband sie miteinander.

Wieder schüttelte die Kranke das Haupt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zu sprechen vermochte. Der Atem ging keuchend, stoßweise: »Nicht hier bleiben – das Kind soll fort – nach Deutschland – zu meiner Mutter – im – im lieben Schlesierland – Wasser – nur einen Tropfen Wasser – – –.« Ihre Gedanken begannen sich aufs neue zu verwirren.

So unerfahren das junge Mädchen war, sie sah, sie fühlte, daß hier noch ein anderer Gast bald die Hütte betreten würde – der unerbittliche Sensenmann.

»Bringe mir zurück zu meine Pferd, Lotta, daß ich kann schicken Hilfe«, wandte sie sich an das Kind. Noch einen Mitleidsblick zu der Ärmsten auf ihrem Blätterlager, dann stand Marietta wieder draußen in der glühenden Tropensonne.

»Welchen Weg wir müssen gehen, Lotta?«

Das Kind zuckte die Achsel.

»Ich weiß nicht«, sagte es schließlich nach längerer Überlegung.

Das junge Mädchen stand ratlos. Nach welcher Richtung sollte sie sich wenden? Die Lehmhütten, die einigen Anhalt boten, sahen alle eine wie die andere aus. Aber da waren ja die kleinen Negerkinder, die sich noch immer im Sande sielten, an denen waren sie vorhin vorübergekommen. Also mußte dieser Weg der richtige sein. Aber waren es auch dieselben Kinder? Die Negerkinder gleichen sich ja mit ihren schwarzwolligen Krausköpfchen wie ein Ei dem anderen. Auf gut Glück schlug Marietta den Weg an den spielenden Kindern vorüber ein. Wenn er sie nur heimbrachte, wenn er nur nicht in entgegengesetzte Richtung führte! Es war für einen Fremden gar nicht möglich, sich aus diesem Labyrinth der Kaffeeanpflanzungen mit seinen Kreuz- und Quergängen herauszufinden. Ein richtiger Irrgarten. Immer wieder stand man unschlüssig vor neuen Wegen. Dazu brannte die Sonne von Minute zu Minute glühender. Marietta, welche als mütterliches Erbteil die Tropentemperatur lange nicht so gut vertrug wie ihre Zwillingsschwester Anita, fühlte sich total erschöpft. Das Kind neben ihr weinte vor Hunger und konnte ihr absolut nichts nützen. Dazu empfand es Marietta als ein Unrecht, daß sie das Kind von dem Sterbelager der Mutter mitgenommen hatte. Aber allein hätte sie sich nie und nimmer in diese endlos grüne Wildnis hineingewagt. Noch nie in ihrem vierzehnjährigen Leben war sie einen Schritt außerhalb des Hauses allein gegangen.

Kein Mensch ringsum. Keine Plantagenarbeiter, die man um den Weg fragen konnte. Das Singen, das sie auf dem Hinweg vernommen, war verstummt. Es fehlte nicht viel, dann hätte Marietta es wie ihre kleine Begleiterin gemacht – geweint. Nur mit aller Gewalt hielt sie die Tränen zurück.

Sicher war sie länger, als der Hinweg betrug, gewandert. Es wurde ihr plötzlich zur furchtbaren Gewissheit, daß sie in entgegengesetzter Richtung ging. Aber auch dort mußte sie doch schließlich in bewohnte Gegenden kommen. Die Orlandos hatten, wie alle Plantagenbesitzer, ihr Sommerhaus auf ihrer Fazenda. Wenn sie wenigstens dorthin gelangte.

Lottchen war vor Hunger, Müdigkeit und Hitze zu keiner Auskunft mehr imstande. Schwer ließ sie sich von Marietta weiterziehen. Aber auch diese verließen die Kräfte. Unter einem breitzweigigen Kaffeeboskett, das einigermaßen Schatten bot, ließ sie sich, unfähig zum Weitergehen, nieder. Wie lange sie so gesessen, wußte sie nicht. Das Kind hatte das Köpfchen an ihre Schulter gelegt und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Alles still. Nur der heiße Tropenwind flüsterte mit den Blättern.

Da ein Laut, ein heller, schreiartiger. Er schreckte Marietta aus ihrem Dämmerzustand auf.

War es ein Vogel, der Jukano? Noch einmal – deutlicher – ein helles Gewieher war es – Pferde mußten in der Nähe sein. Marietta riß das schlummernde Kind empor. Sie ging dem Tone nach. Stimmen wurden laut – Rufe – deutlich, immer deutlicher zu unterscheiden – »Marietta – Marietta! – – –« Wie mit Engelszungen klang es an das Ohr des verirrten Mädchens.

»Hier – hier – – –.« Sie hatte nicht mehr die Kraft zum lauten Gegenruf. Aber der war auch nicht mehr nötig. Diego, der alte, treue Neger, stand plötzlich vor ihr. Weinend sank ihm das erschöpfte Mädchen in den Arm.

Diegos Freudenruf brachte alsbald die anderen zur Stelle. Vater und Mutter in größter Sorge und Aufregung. Anita fiel der Zwillingsschwester lachend und weinend um den Hals. Die Großmutter und Tante Margarida warteten im Auto auf der Landstraße, während die Dienerschaft die Plantagen rings in der Nähe des Gummibaumes, an dem Marietta das Pferd zurückgelassen, absuchten. Ein ganzes Ende davon entfernt, hatte Diego sie gefunden.

Vorläufig vermochte Marietta auf keine der Fragen, mit denen vor allem Anita sie bestürmte, Antwort zu geben. Der Mutter bleiches Antlitz gewahrend, hatte sie nur hervorgebracht: »Meine Mammi, solche Sorge habe ich euch gemacht!« Dann hatte sie völlig erschöpft die Augen geschlossen. Aber als man ihr in der kühlen Wohnung, zu der sie das Auto brachte, Eiskompressen auf die brennenden Schläfen legte und sie mit Früchten und Limonade erquicken wollte, stieß sie plötzlich das Gereichte erschreckt von sich.

»Das Kind – es hungert!« war das erste, was sie wieder sprach.

»Das Kind hat bereits eine Mahlzeit bekommen. Es ist wieder ganz vergnügt. Aber wie geht's dir, mein Liebling? Durchsichtig blaß siehst du aus.« Frau Ursel streichelte zärtlich die bleichen Wangen der Wiedergefundenen.

»Ach, das ist ja Nebensache. Aber Mammi, man muß zu der Fazenda der Orlandos, wo die schrecklichen Lehmhütten für die Arbeiter sind, gutes Wasser, Lebensmittel und vor allem den Arzt senden. Die Mutter des kleinen Mädchens liegt allein im Sterben – sie leidet entsetzliche Qualen durch Durst. Das Wasser dort ist verseucht – – –.« Ein Schauder überflog die junge Gestalt. Die traurigen Eindrücke, verbunden mit den ungewohnten Anstrengungen, waren zu viel für Mariettas zarten Organismus.

Nicht umsonst nannten die Arbeiter der Tavaresschen Fazenda Donna Tavares ihre gute Fee. Umsichtig und tatkräftig veranlaßte sie sofort das Nötige, um der Schwerkranken Hilfe zuteil werden zu lassen. Sie kam zu spät. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Die Ärmste war in ein besseres Land hinübergeschlummert.

Marietta und Lottchen mußten von den übrigen Hausgenossen tagelang abgesperrt und unter ärztlicher Aufsicht bleiben. Denn die Sorge lag nahe, daß sie den bösen Krankheitskeim auch bereits in sich trügen. Das waren furchtbare Tage des Harrens, der sorgenschwersten Ungewissheit für Frau Ursel. Das Bitterste war für sie dabei, daß selbst sie nicht zu ihrem Kinde durfte. Sogar das Weihnachtsfest mußten die beiden Mädchen getrennt von den übrigen verleben. Trotzdem wurde es für Marietta der schönste Weihnachtsabend, den sie bisher gefeiert. Mit liebevollem Herzen war sie bemüht, der kleinen Waise die fehlende Mutter zu ersetzen, ihr Freude zu bereiten. Lottas Glück über all die schönen Gaben, die sie sich nach brasilianischer Sitte vom Baum pflücken mußte, war Mariettas reinste Weihnachtsfreude. Sie selbst hatte sich von den Eltern nur den Wunsch erbeten, daß Lotta im Hause bleiben dürfe und die Eltern für sie sorgen würden, bis die Verwandten in Deutschland ausfindig gemacht worden seien.

Am weitgeöffneten Fenster stand die junge Marietta und schaute in den heißen Weihnachtsabend hinaus. In den Palmen spielte der Nachtwind. Blütenschwerer Duft umkoste ihre Stirn. Aus dem Erdgeschoß klangen süße Töne durch die Tropennacht. Die Mutter sang, wie alljährlich, das deutsche Weihnachtslied. Droben blitzte der Sternenhimmel. Da – dieser funkelnde, das war sicher der Weihnachtsstern.

Ob der auch im fernen Deutschland strahlte?

Nesthäkchen und ihre Enkel

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