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1. Kapitel Hurra – fünfzig Kinder!

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An das Fenster schlug der Aprilregen. Klitsch – klatsch – tromtromtrom – klitsch – klatsch – tromtromtrom.

Hüit – hüi – it – heulte der Sturm im Ofen, er rüttelte an den Fensterscheiben, daß sie laut zu klirren begannen.

Nesthäkchen, das den Blondkopf noch tief in den Kissen vergraben hatte, warf sich bei dem wilden Konzert unruhig hin und her. Es rieb sich die Blauaugen und sah sich verschlafen in der Kinderstube um.

Da lag sie – die neue Schulmappe! Mitten auf dem weißen Tisch; ernst mahnend blickte sie zu der kleinen Langschläferin herüber.

Richtig, der erste Schultag war ja heute! Aber Klein-Annemarie war noch ganz schrecklich müde, die mochte noch nicht an Aufstehen und Schule denken. Es war ja ihr Geburtstag gestern gewesen, da war sie später als gewöhnlich ins Bett gekommen. Und dann war es doch auch solch häßlicher, grauer Regenmorgen.

Warm und fest kuschelte sich die Kleine wieder in ihre Kissen ein, während draußen Regen und Wind weiter pladderten und heulten. Klitsch – klatsch – tromtromtrom – hüi – it – ach, wie schön war es im molligen Bettchen!

Da trat Fräulein an Nesthäkchens Lager.

»Annemie – Liebling – es ist Zeit, du mußt aufstehen.« Zärtlich streichelte ihre Hand die wirren Blondlöckchen der Kleinen.

Aber Annemarie, die erst vor kurzem wieder eingeschlafen war, atmete sanft und gleichmäßig weiter. Sie rührte sich nicht.

»Liebling, du gehst ja heute das erste mal in die Schule, wach auf, sonst kommst du zu spät«, so versuchte Fräulein das müde Kind zu ermuntern.

Unverständliches Grunzen war Annemaries Antwort auf Fräuleins Mitteilung, daß sie heute das erste mal in die Schule ginge. Dabei hatte die Kleine doch den wichtigen Tag gar nicht erwarten können.

Fräulein stand ratlos. Alles Streicheln, Liebkosen und Zureden wollte nichts nützen. Nesthäkchen rührte sich nicht.

Da griff Fräulein schließlich zu dem großen Schwamm. Klitsch – klatsch – spritzte sie der kleinen Schlafenden ein paar Tropfen ins Gesicht.

»Fräulein – Fräulein – es regnet – es regnet in mein Bett rein!« Entsetzt fuhr Annemarie jetzt endlich hoch.

Vor ihr stand Fräulein und lachte die mit dem Ärmel des Nachthemdchens im Gesicht herumwischende Kleine aus.

»Na, bist du jetzt endlich munter, Annemie, willst du nun aufstehen und in die Schule gehen?«

»Nee«, gähnte Nesthäkchen mit aller Gemütsruhe und machte Miene, sich auf die andere Seite zu legen.

»Aber Liebling, du hast dich doch so auf heute gefreut?«

»Es ist mir zu schlechtes Wetter, ich will lieber zu Hause bleiben«, erklärte die Kleine, in das Regengrau hinausblinzelnd.

»Denk' nur, Annemiechen, wenn alle Kinder so sprechen würden, dann blieben sie alle dumm, und die Lehrerin säße allein in der Klasse und könnte die leeren Bänke und Tische unterrichten«, stellte Fräulein vor.

Annemie mußte bei dieser Vorstellung hell auflachen, und das machte sie noch munterer als der Schwamm. Hops – da sprang sie mit beiden Beinen aus dem Bett heraus, denn dumm wollte die Annemarie doch nicht bleiben!

Wie schön die neue Schulmappe aussah, die Großmama ihr gestern zu ihrem siebenten Geburtstag geschenkt hatte!

Die Kleine war so in die braunlederne Schönheit der Mappe versunken, daß sie nicht einmal merkte, wie kalt und naß der Schwamm war, mit dem Fräulein sie gerade bearbeitete. Und als ihr das grünschottische Schulkleidchen nun übergezogen wurde, als die schwarze Schulschürze mit roter Stickerei darüber prangte, da klopfte Nesthäkchens kleines Herz wieder in freudigem Stolz. Vergessen war alle Müdigkeit, vergessen das häßliche Regenwetter – klitsch – klatsch – tromtromtrom – wie lustig die Musik da draußen jetzt dem kleinen Schulmädel klang.

Noch einen Abschiedsblick auf ihre Puppen, die bis zum heutigen Tage Klein-Annemaries einzige Sorge gewesen. Da saßen sie alle und staunten ihre kleine Mama mit der Schulmappe voll unverhohlener Bewunderung an. Puppe Gerda, ihr Nesthäkchen, streckte ihr sogar beide Arme entgegen. Einen zärtlichen Kuss gab Annemarie noch schnell ihrem Liebling. Sie schwankte – sollte sie Gerda mit in die Schule nehmen? Aber nein, die Puppe war zu groß, sie ging nicht in die neue Schulmappe hinein.

»Seid brav, Kinder, bis ich wiederkomme, denn ich habe heute keine Zeit für euch, ich muß in die Schule«, sagte die Kleine wichtig. Dann ging es, die Mappe auf dem Rücken, eiligst ins Speisezimmer.

Dort saßen Vater und Mutter beim Kaffee, während Annemaries ältere Brüder, Hans und Klaus, bereits eine Stunde früher zur Schule gegangen waren.

»Na, Lotte, schon gestiefelt und gespornt, soll es nun wirklich Ernst werden?« Zärtlich klopfte Vater dem Töchterchen die rosige Wange. Vater und Mutter riefen ihr Nesthäkchen fast immer mit dem Kosenamen »Lotte«.

Mutti aber schaute mit nassen Augen in den nassen Aprilmorgen hinaus. Es wurde ihr unsagbar schwer, nun auch ihr Kleinstes, ihr Nesthäkchen, zur Schule zu geben.

»Erkälte dich nur nicht, meine Lotte, bei dem gräßlichen Wetter; zieh Gummischuhe an, daß du mir keinen Schnupfen kriegst!« sagte sie besorgt.

»Ach was, dann macht Vater mich wieder gesund; er ist ja ein Doktor«, lachte Nesthäkchen.

Aber als Mutti ihr jetzt Kakao in die Tasse goss und ein Brötchen mit Butter strich, schüttelte die Kleine, die sonst immer bei bestem Appetit war, das Köpfchen.

»Ich kann heut' wirklich nichts essen, ich bin ganz satt, und es ist auch schon viel zu spät – da klingelt die Schulglocke ja schon – ach Gott, ich komme sicher nicht mehr zur rechten Zeit!« Damit wollte Annemarie ohne Hut und Mantel zur Tür hinaus, denn von der Straße herauf klang es deutlich »klinglinglingling«.

Vater aber holte das kleine Fräulein wieder zurück. »Das war ja bloß die elektrische Bahn, die gerade vorbeifuhr«, beruhigte er sie. »Du hast noch vollauf Zeit, Lotte, nun setze dich mal her, und trink und iß. Ein Kind, das nicht gefrühstückt hat, wird nicht in die Schule hineingelassen.«

Wenn Vater in diesem bestimmten Tone sprach, wagte selbst sein Nesthäkchen kein »Aber« mehr. Gehorsam setzte sich Annemarie hin, trank den Kakao und würgte das Brötchen hinunter, denn die Schulaufregung machte sich jetzt doch geltend. Von ihrer Mappe aber trennte sie sich selbst beim Frühstück nicht, die blieb aufgeschnallt.

Draußen auf dem Treppenflur war die ganze Familie versammelt, als Nesthäkchen nun an Fräuleins Hand zum erstenmal in die Schule zog. Vater winkte mit der Hand, Mutti mit dem Taschentuch, während sie sich heimlich eine Träne von den Wimpern wischte. Hanne, die Köchin, erschien mit der Markttasche, um sich das Wunder – Nesthäkchen als Schulmädel – anzuschauen. Das Stubenmädchen Frieda wedelte mit dem Staubtuch hinter Annemarie her, und Puck, das weiße Zwerghündchen, mit dem Schwanz.

Nesthäkchen aber hatte keine Zeit mehr, sich umzugucken. Das hopste, die Kapuze des blauen Regencapes über das kurzlockige Blondhaar gezogen, selig neben Fräulein durch die Straßen Berlins. Ihr kleiner Regenschirm und die neue Schulmappe hopsten bei jedem Schritt mit.

Klitsch – klatsch – pitsch – patsch – in alle Pfützen ging es achtlos hinein, daß Fräulein von oben bis unten bespritzt wurde.

Plötzlich blieb Annemarie erschreckt stehen.

»Fräulein, ich muß noch mal umkehren, ich habe ja mein neues Frühstückskörbchen vergessen! Ach Gott, sonst bin ich sicherlich, wenn du mich mittags von der Schule abholen kommst, verhungert und mausetot.«

»Ei, Annemie, so schlimm wird es nicht werden. Ihr habt heute noch keinen richtigen Unterricht, nur Schulaufnahme und Stundenplanverteilung, das dauert nicht lange«, beruhigte sie Fräulein.

»Glaubst du, daß viele Kinder da sein werden, Fräulein?« fragte Annemarie rasch getröstet.

»Sicherlich«, meinte Fräulein.

»Das ist fein,« Nesthäkchen vollführte einen Luftsprung mitten in eine Pfütze hinein, daß die Kapuze ihr von den Locken rutschte, »da können wir schön spielen.«

»In der Schule lernt und arbeitet man, Annemie, nur in der Pause darf gespielt werden«, dämpfte Fräulein ihre Freude.

»Dann will ich überhaupt immer nur Pause haben!« Mit dieser Vornahme betrat Nesthäkchen die neue Schule.

Klein-Annemarie kannte das große, rote Gebäude mit der hohen Mauer bereits von der Anmeldung her. Aber als sie jetzt zum erstenmal als richtiges Schulmädel die breiten Steintreppen hinaufstieg, faßte sie doch eingeschüchtert nach Fräuleins Hand. Einen tiefen Knicks machte sie vor dem Schuldiener; ließ der sie auch rein? Sie hatte ja ihren Kakao ausgetrunken.

Fräulein nahm ihr draußen auf dem langen Korridor die nassen Sachen ab und hängte sie an einen Garderobenhaken. Dann strich sie ihr die verwehten Locken aus der Stirn, zupfte ihr das Schulschürzchen zurecht und schob sie zur Klassentür.

»So, Liebling, nun geh hinein und passe hübsch auf, was die Lehrerin euch sagt. Ich warte unten im Hausflur auf dich.«

Aber Nesthäkchen hielt Fräuleins Hand fest umklammert.

»Nein – nein, Fräulein – du sollst mit reinkommen, allein habe ich so dolle Angst.« Es zuckte weinerlich um den frischen Kindermund.

»Aber du Dummchen, ich kann doch nicht mit in die Klasse kommen; sieh nur, wie verständig die anderen kleinen Mädchen sind, die gehen ganz allein.« Fräulein wies auf mehrere kleine Mädelchen, die höchst unternehmungslustig die zehnte Klasse betraten.

Da schämte sich Annemarie ihrer Furcht und ging herzklopfend hinter ihren neuen Mitschülerinnen her.

»Guten Morgen«, sagte sie leise, blieb an der Tür stehen und steckte vor Verlegenheit den Finger in den Mund.

Aber erschreckt zog sie ihn wieder heraus, denn hell klang es von einem vorlauten, kleinen Ding durch die Klasse: »Haach – die lutscht ja noch!«

Alle Kinder blickten neugierig zu Annemarie hin.

Die griff nach der Türklinke und wollte sofort wieder davon. Nein – hier blieb sie nicht – i wo – sie ließ sich doch nicht auslachen!

Da aber kam eine freundliche Stimme vom Katheder her: »Na, tritt nur näher, mein Kind, gib mir die Hand und sage mir, wie du heißt.«

Die Stimme war so sanft und lieb, fast wie die von Mutti. Und die junge Lehrerin, die Annemarie nicht gleich unter all den vielen Kindern entdeckt hatte, schaute so vertrauenserweckend aus, daß die Kleine ihren Plan, fortzulaufen, aufgab. Zögernd trat sie an das Katheder heran.

»Wie heißt du denn, mein Kind?« klang es wieder aufmunternd an ihr Ohr.

»Annemie«, flüsterte das kleine Mädchen so leise, daß die Lehrerin Ohren wie ein Luchs hätte haben müssen, um es zu verstehen. Dazu hielt es den Kopf fast bis zur Erde gesenkt.

Sanft hob das Fräulein den allerliebsten Blondkopf des schüchternen kleinen Dingelchens zu sich empor.

»Ei, du schämst dich doch nicht etwa, daß du mich nicht ansehen magst?« fragte sie lächelnd.

»Nein, gar nicht, bloß weil die Kinder mich ausgelacht haben, schoniere ich mich«, stieß Klein-Annemarie etwas hörbarer hervor. Denn sie hatte inzwischen Vertrauen zu der netten, jungen Dame gefaßt.

Da lächelte das Fräulein noch mehr.

»Na, dann sage uns doch mal ganz laut, wie du heißt, du kannst doch gewiß schreien!«

»Annemie, und wenn ich artig bin, ›Lotte‹«, brüllte Nesthäkchen jetzt, daß die Lehrerin und alle Kinder vor Schreck zusammenfuhren. Das mußte sogar Fräulein unten im Treppenflur vernommen haben.

»So ist's recht, nun möchte ich aber auch gern noch wissen, wie dein Papa heißt, Annemie?« sagte die Lehrerin, wieder schnell gefaßt.

»Der heißt Vater.« Die Kleine sah das Fräulein treuherzig an.

»Ja, aber er muß doch noch einen anderen Namen haben?« Nesthäkchen dachte nach.

»Freilich, Mutti nennt ihn ›Edchen‹, und manchmal auch ›mein Einziges‹, aber Hanne und Frieda sagen ›Herr Doktor‹«, rief sie voll Stolz über ihre Schlauheit.

Da lachte Fräulein ganz laut, und alle Kinder lachten mit, ohne eigentlich zu wissen warum.

Klein-Annemarie wandte den Kopf verlegen nach der Tür. Wurde sie nicht schon wieder ausgelacht? Diesmal blieb sie aber nicht hier. Spornstreichs machte sie kehrt, und fort war sie, ehe die erstaunte Lehrerin sie noch zurückhalten konnte.

Drunten im Treppenflur stand Fräulein mit mehreren Müttern und Kindermädchen und wartete auf Annemarie. Da erschien Nesthäkchen plötzlich vor ihr mit heißem Gesicht, ohne Hut und Mantel.

»Kind – Annemie – warum kommst du denn jetzt schon wieder, ist denn die Schule schon aus?« fragte sie erschreckt.

»Nein, aber ich gehe nicht mehr in die olle Schule,« erklärte die Kleine weinerlich, »ich will nach Haus zu Vater und Mutti, und zu Hanne und Frieda!«

»Aber Annemiechen, warst du denn unartig, daß man dich fortgeschickt hat?« forschte Fräulein, aufs höchste betroffen.

»I wo« – unter Tränen begann es in Nesthäkchens Blauaugen schon wieder schelmisch zu blitzen – »ich bin ganz von allein ausgerückt. Sie haben mich ausgelacht, und – und – das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen!«

Mit großer Mühe gelang es Fräulein endlich, der Kleinen den richtigen Sachverhalt zu entlocken, und mit noch größerer Mühe, Nesthäkchen zu überreden, es noch einmal mit der Schule zu versuchen. Sie führte die kleine Ausreißerin selbst in die Klasse zurück, wo die Lehrerin schon in Sorge um sie gewesen.

Von Fräulein erfuhr die Klassenlehrerin auch, daß die kleine Schülerin Annemarie Braun heiße. Es wurde ihr ein Platz auf der vordersten Bank zwischen zwei anderen Kindern angewiesen, und ihr Fräulein konnte die Klasse wieder verlassen.

»So, Annemarie,« wandte sich die junge Lehrerin jetzt nochmals der Kleinen zu und fuhr ihr freundlich über die weichen Locken, »nun verrate mir mal, warum du nicht bei uns bleiben wolltest. Gefällt es dir denn nicht hier in der Schule?«

»Nee, gar nicht!« war Annemaries Antwort, die nichts an Ehrlichkeit zu wünschen übrigließ. »Zu Haus, da haben sie mich alle lieb, da lacht mich keiner aus!« setzte sie leise hinzu.

»Hier werden wir dich auch alle lieb haben, Annemie, wenn du brav und fleißig bist«, tröstete das Fräulein.

Die gütigen Worte erfüllten das liebegewohnte Herzchen von Klein-Annemarie mit einer großen Zärtlichkeit für die junge Lehrerin.

Eins – zwei – drei – kletterte sie auf die Schulbank, und von dort – da sie noch immer nicht heranreichen konnte – auf den langen, schmalen Tisch. Ehe die Lehrerin es sich versah, schlangen sich ihr zwei Ärmchen um den Hals und ein roter Kindermund küsste sie voll Ungestüm.

»Ich werde dich sehr, sehr lieb haben, Tante«, versprach Annemarie, ihr frisches Gesichtchen zärtlich an die Wange der Lehrerin schmiegend.

Sanft machte sich diese von den sie umstrickenden Ärmchen frei.

»Das ist nett von dir, Annemie,« sagte sie belustigt, »aber wir sagen hier nicht Tante, dazu ist ein Schulmädel schon zu groß. Ihr sagt Fräulein Hering zu mir.«

»Hahaha«, lachte es da aus einer Ecke, und »hahaha« fiel der ganze Chor von fünfzig Kindern ein.

»Ei, über was freut ihr euch denn so?« fragte Fräulein Hering.

»Hahaha – Hering – den ißt man doch mit Pellkartoffeln, so kann man doch nicht zu einer Lehrerin sagen!« Es war dasselbe vorlaute, kleine Ding, das vorhin »haach – die lutscht ja noch!« gerufen.

»Aber warum kannst du mich denn nicht Fräulein Hering nennen, Hilde?« Das Fräulein amüsierte sich gottvoll.

»Nee, Hering ist doch ein Tier, und alle Tiere, Ochse, Esel, Schaf, das sind Schimpfnamen. Und seine Lehrerin darf man doch nicht schimpfen!« rief Hilde eifrig.

»Ihr könnt mich ruhig Fräulein Hering nennen, das ist nicht geschimpft, denn ich heiße doch so«, sagte die Lehrerin, noch immer mit dem Lachen kämpfend. Dann wandte sie sich nach der anderen Seite. »Aber Margot, weinst du denn noch immer?« Sie neigte sich zu einem kleinen Mädchen hinab, das die ganze Zeit über ihr Gesicht hinter dem rotgeränderten Taschentuch vergraben hatte.

Annemarie drehte neugierig den Kopf nach der Heulsuse hin, und alle anderen Kinder wandten sich ebenfalls nach der weinenden kleinen Margot um.

»Sieh nur, wie vergnügt die vielen kleinen Mädchen hier sind, nur du weinst und hast noch immer Angst; wir tun dir doch nichts, Margot«, redete Fräulein ihr weiter zu.

Da ließ die furchtsame Kleine endlich ihr feuchtes Taschentuch sinken, und ein verweintes, schmales Kindergesicht mit großen, braunen Augen kam zum Vorschein.

Annemarie reckte sich fast den Hals aus. Herrgott – kannte sie das kleine Mädchen denn nicht? Natürlich – das war doch die Kleine, die seit dem ersten April in die Kinderstube ihr gegenüber eingezogen war. Sie hatten sich doch schon öfters zugenickt, alle beide.

Mit einem Satz war Annemarie über den Tisch hinüber. Springen und klettern konnte sie, das hatte sie von ihrem Bruder, dem wilden Klaus, gelernt. Sie rannte durch die Klasse und rief, der kleinen Margot beide Hände hinstreckend, freudestrahlend: »Du, heul' bloß nicht mehr, ich bin ja auch hier!«

Wirklich verklärte ein Glückesschimmer plötzlich Margots Jammermiene, als sie ihre kleine Nachbarin ebenfalls erkannte.

»Rück' mal 'n bißchen, dann setze ich mich zu dir«, kommandierte Klein-Annemarie, die jetzt jede Scheu verloren hatte.

»Nein, das geht nicht, Annemie, hier in der Schule läuft man nicht von einem Platze weg, da mußt du sitzenbleiben, wo ich dich hingesetzt habe«, mischte sich Fräulein Hering hinein.

»Aber dann weint Margot doch wieder, wenn ich sie allein lasse«, gab Annemarie zu bedenken.

Wirklich verzog sich Margots Mund bereits viereckig, ein neues Geheul verheißend.

»So tausche meinetwegen mit Erna Rust und setze dich neben Margot Thielen«, gestand Fräulein Hering, eine zweite Tränenauflage fürchtend, zu.

Und nun saßen die beiden kleinen Hausgenossinnen, die sich eigentlich kaum kannten, mit glücklichen Gesichtern nebeneinander.

»Ich habe einen kleinen Pudeltintenwischer, süß ist der!« Annemarie zog den süßen Tintenwischer aus dem Federkasten und hielt ihn hoch, damit ihn auch die anderen Kinder bewundern konnten.

»Ich habe einen Mohrentintenwischer – ich einen Glückspilz – meiner ist noch viel, viel feiner, der ist mit Perlen – und meiner ist aus Muttchens ollem Handschuh« – so zwitscherte das mit einemmal in der zehnten Klasse lustig durcheinander.

Fräulein Hering klatschte in die Hände und gebot Ruhe.

»Nun seid mal still, Kinder, ihr dürft nur sprechen, wenn ich euch was frage. Aber jetzt will ich euch was erzählen.«

»Au ja – au ja, – fein – bitte, von Aschenbrödel, nein lieber von Hänsel und Gretel«, so gingen die Schnäbelchen wieder.

Fräulein Hering wurde nicht böse. Sie wußte ja, daß es immer einige Tage dauerte, bis sich die ganz Kleinen an die Schulordnung gewöhnt hatten.

»Also die Klasse ist jetzt vollzählig, fünfzig Kinder«, begann Fräulein Hering aufs neue. Aber sie kam nicht weiter.

»Hurra – fünfzig Kinder!« trompete es jubelnd dazwischen. Dabei wußte Klein-Annemarie nicht mal, daß sie es gewesen, die diesen Freudenausruf getan.

Fräulein Hering drohte nur lächelnd, weil Annemarie ihre Mahnung, nicht ungefragt zu sprechen, so rasch vergessen hatte.

»Wir werden nun fleißig zusammen rechnen, schreiben und lesen lernen, damit ihr die schönen Geschichten in euren Märchenbüchern alle selbst lesen könnt, nicht wahr?«

»Ja – ja!« rief es hier und da. Annemarie aber meinte weniger begeistert: »Ach, wenn Fräulein mir vorliest, das ist auch sehr hübsch.«

»Aber wenn du es allein lesen kannst, dann macht es dir noch viel mehr Spaß«, versicherte die Klassenlehrerin und griff zu einem Pack loser Blätter. »Jetzt gebe ich jeder von euch zwei Zettel. Auf dem einen stehen die Bücher und Hefte verzeichnet, die ihr für die Schule mitbringen müßt, der andere ist euer Stundenplan. Verwahrt sie gut auf.« Sie verteilte die Blätter unter den vielen, begierig danach greifenden Kinderhändchen. »So, und nun sind wir für heute fertig. Morgen früh findet ihr euch wieder um neun Uhr hier in der Klasse ein. Jetzt wollen wir beten – wer kann ein Gebet hersagen?«

»Ich – ich – nein, ich – ach, ich weiß ein viel schöneres – bitte, ich!« so tobte das wieder durcheinander.

»Ei, Margot, weißt du keins?« Fräulein wandte sich der schweigenden keinen Furchtsamen zu, die aus ihren verweinten Augen noch immer ängstlich in den Tumult bückte.

Die nickte blutübergossen. Dann aber faltete sie ihre Händchen und begann mit leiser Stimme:

»Müde bin ich, geh zur Ruh,

Tue beide Äuglein zu.«

»Das war sehr schön, Margot,« lobte die Lehrerin, als sie geendet, »wenn es auch eigentlich noch ein bißchen früh zum Schlafengehen ist. Jetzt gebt mir die Hand und sagt mir Lebewohl.«

Wie eine Welle von blonden und dunkelhaarigen Kindern stürmte es gegen Fräulein Hering an, daß diese sich kaum aufrechterhalten konnte. Lauter kleine Händchen, lauter knicksende Beinchen.

»Leb' wohl, Lotte – auf Wiedersehen, Hilde – na, Margot, morgen hast du doch keine Angst mehr – auf Wiedersehen, Annemarie.«

»Auf Wiedersehen, Tante« – und sich besinnend, daß sie ja den Namen nennen sollte, verbesserte sich Annemarie: »Auf Wiedersehen, Tante Fräulein Hering.«

Diesmal langte Nesthäkchen mit strahlendem Gesicht unten bei Fräulein an. Allerdings nur mit einem Gummischuh und ohne den kleinen Regenschirm. Von dem hatte ein anderes Kind Besitz ergriffen und wollte ihn durchaus nicht wieder herausgeben, weil er ihm so gut gefiel.

Nachdem Fräulein mit vieler Mühe beides wieder herbeigeschafft hatte, ging es wieder in das Regenwetter hinaus.

»Klitsch – klatsch – tromtromtrom« machte der Regen.

»Hüit – hüi – it« heulte der Wind.

Alle beide aber übertönte das Jauchzen von Nesthäkchen: »Hurra – fünfzig Kinder!«

Nesthäkchens erstes Schuljahr

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