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3. Kapitel Wie es Puppe Gerda bei Nesthäkchen gefiel

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Als Gerda, das Puppenkind, am nächsten Morgen ihre Schlafaugen aufschlug, schlief ihre neue kleine Mama noch. Neugierig sah Gerda sich ihr Mütterchen näher an. Mit roten Bäckchen lag es auf dem stickereibesetzten Kissen und lachte im Schlaf. Gewiß träumte es von dem neuen Kinde. Die hübsche kleine Mama gefiel dem Puppenkinde sehr, sicher würde sie es gut bei ihr haben. Gerda nahm sich vor, immer brav zu sein und Annemie nie zu ärgern. Dann aber faltete sie ihre Zelluloidhände und flüsterte: »Lieber Gott, ich danke dir, daß du mich zu einem so guten Mütterchen gebracht hast!«

Klein-Annemarie schlief noch immer, und Puppe Gerda begann sich allmählich zu langweilen.

Surr – surr – da summte eine Fliege über dem Kinderbett und setzte sich der Puppe gerade auf die Nase.

»Surr – surr – wie kommen Sie denn hierher, Fräulein?« begann die Fliege die Unterhaltung. »Ich wohne doch schon schrecklich lange, zwei ganze Tage, in der Kinderstube, aber Sie habe ich hier noch nicht erblickt.«

»Ich bin erst gestern hier eingezogen«, antwortete die Puppe schüchtern und schielte herzklopfend auf ihre Nase. Denn sie hatte in ihrem Leben noch niemals eine Fliege gesehen.

»Surr – surr – wo haben Sie denn früher gewohnt?« erkundigte sich die Fliege.

»In einer großen Pappschachtel, aber da war es lange nicht so hübsch wie hier. Stockdunkel war es darin, und die Luft war auch nicht besonders«, erzählte Puppe Gerda ein wenig zutraulicher. Und da sie sah, daß die Fliege es gut mit ihr meinte, setzte sie noch hinzu: »Ich habe es doch fein getroffen, daß ich hierher gekommen bin, nicht?«

»Sum – sum«, sagte die Fliege mal zur Abwechslung, legte eins der dünnen Vorderbeinchen an die Stirn und dachte nach. »Ja, es sind recht anständige Leute, sie geizen nicht mit Zuckerkrümelchen und hängen an die Kronen keine heimtückischen Leimbänder, an denen wir armen Fliegen zappelnd unser Leben lassen müssen. Sum – sum.«

»Nicht wahr, die kleine Annemarie ist gut?« fragte die Puppe, denn das lag ihr mehr am Herzen als Zuckerkrümel und Leimbänder.

»Freilich,« surrte es zurück, »die Annemie tut keiner Fliege etwas zuleide. Aber der Klaus, ihr älterer Bruder, vor dem nehmen Sie sich in acht, Fräulein. Das ist der gefährlichste Mensch, den ich kenne. Wenn der Sie mal fängt, quetscht er Sie zu Apfelmus, oder er reißt Ihnen mindestens ein Bein aus. Mit meiner guten, alten Tante hat er's gerade so gemacht, der Tunichtgut!«

»Ich werde ihm möglichst aus dem Wege gehen«, nahm sich die Puppe furchtsam vor. »Doch ich sah gestern Abend noch einen jungen Herrn, treibt der's auch so schlimm?«

»Sum – sum – wie man's nimmt! Ganz so arg ist der Hans wohl nicht. Aber er hat manchmal eine große, bauchige Glasflasche in der Hand, damit rückt er uns armen Fliegen zu Leibe. Spiritus ist darin, der steigt uns so zu Kopf, daß wir geradeswegs in die große Flasche hineinfliegen müssen. Und wer erst einmal drin ist, der kommt nicht wieder heraus, elendiglich muß er in dem Spiritus ersaufen! Hüten Sie sich vor der Fliegenflasche, Fräulein, surr – surr!« Die Fliege summte so laut vor Empörung, daß Nesthäkchen sich zu bewegen begann.

Husch – war das Fliegchen auf und davon und Puppe Gerdas Nase leer.

Annemarie aber streckte sich und reckte sich, und dann schlug sie endlich die Augen auf.

Gerade als Puppe Gerda überlegte, ob es nicht das gescheiteste wäre, vor den bösen großen Brüdern Reißaus zu nehmen und davonzulaufen, ehe Annemie noch erwachte, fühlte sie sich von zwei weichen Kinderarmen innig umschlungen. Ein rotes Mündchen preßte sich auf den ihren, und ein warmes Herzchen pochte gegen ihren kalten Zelluloidkörper. So lieb und zärtlich, daß alle Angst vor dem fürchterlichen Klaus und vor der großen Fliegenflasche bei Gerda verflog. Wohl behütet und geborgen fühlte sich Puppe Gerda bei ihrem Mütterchen.

»Guten Morgen, mein einziges Gerdachen – hat mein Nesthäkchen denn auch schön geschlafen?« klang es ihr liebevoll entgegen.

Die Puppe nickte, denn ihr Kopf war mit Gummischnur befestigt.

»Wollen wir uns denn nun anziehen und süße Zuckermilch trinken?« fragte das sorgsame Mütterchen weiter.

Puppe Gerda lächelte erfreut. Sie hatte schon großen Durst, und Zuckermilch war ihr Leibgericht. Aber vorläufig mußte sie sich noch etwas gedulden. Denn Fräulein trat ins Zimmer, um erst mal Annemarie aufzunehmen.

Die schnitt ein Gesicht. Das dumme Anziehen – sie hatte sich so darauf gefreut, noch ein bißchen mit ihrer Gerda im Bett zu spielen.

Da neigte sich Fräulein zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Das kleine Mädchen wurde rot und sah verlegen auf ihr Puppenkind.

Hatte es Gerda auch bloß nicht gehört, was Fräulein soeben gesagt hatte? Ob sie sich denn gar nicht vor ihrem neuen Kinde schäme, und daß sie jetzt immer sehr artig und gehorsam sein müsse, um ihrer Gerda ein gutes Beispiel zu geben.

Nein, die Puppe machte ein ganz harmloses Gesicht und sah respektvoll zu ihrer kleinen Mama auf.

Eins – zwei – drei – war die aus den Federn, Fräulein sollte sie nicht umsonst gemahnt haben. Gerda wurde in die Bettecke gegen das Stickereikissen gesetzt und durfte bei Annemies Toilette zugucken.

Und das war gut, denn Annemie nahm sich vor ihrem neuen Kinde zusammen. Das sollte doch nicht wissen, daß seine Mama noch ab und an beim Waschen schrie, wenn das Wasser mal besonders naß war. Fest biß die Kleine die Zähnchen zusammen, daß ihnen kein Laut entschlüpfte, während Fräulein den großen Schwamm in Bewegung setzte und eklig rubbelte. Aber als Nesthäkchen selbst beim Kämmen nur ein einziges kleines »Au!« hören ließ, trotzdem der alte Kamm gerade heute tüchtig ziepte, schloß auch Fräulein Puppe Gerda in ihr Herz. Denn die ganz allein hatte das Wunder zuwege gebracht.

Gerda mochte sich von ihrer kleinen Mama nun auch nicht beschämen lassen. Als Annemarie endlich Zeit fand, sie anzukleiden, biß auch sie ihre niedlichen Porzellanzähnchen fest zusammen. Denn Annemie rubbelte noch viel ekliger als Fräulein und riß noch viel toller an den goldblonden Flachshärchen. Aber nein – nur nicht schreien, was hätten denn auch die anderen Puppen bloß von ihr gedacht!

Die waren dem neuen Ankömmling sowieso nicht sehr freundlich gesinnt.

»Ich will angezogen werden, ich muß in die Schule, sonst kriege ich einen Tadel!« rief Irenchen schon zum dritten mal hinter der weißen Mullgardine ihres Himmelbettes hervor. Aber die Kleine hatte heute nur Auge und Ohr für ihre Gerda.

»Annemie hat mir heute noch gar keinen Umschlag auf meine schlimmen Augen gemacht, trotzdem Doktor Puck es verordnet hat«, jammerte auch Mariannchen.

»Ja, sie hat sich heute überhaupt noch nicht um uns gekümmert, aber den Zieraff mit dem blonden Flachskopf, der erst gestern gekommen ist, küsst sie in einem fort«, berichtete Irenchen, durch die weiße Mullgardine lugend, eifersüchtig. »Dabei habe ich doch viel schönere und vor allem ganz echte Zöpfe.«

»Wie sieht denn die Neue aus, ist sie denn wenigstens hübsch?« erkundigte sich Mariannchen angelegentlich. Gar zu gern hätte sie ihre verklebten Augen aufgemacht, um Puppe Gerda zu betrachten.

»Ich finde, sie sieht recht gewöhnlich aus«, meinte Irenchen geringschätzig.« Rote Backen hat sie wie ein Bauermädel; wenn man vornehm sein will, muß man so blaß sein wie ich!«

Auch in dem weißen Puppenwagen murrte es.

Lolo, das Negerkind, hatte mit der steifen Porzellanhand die Wagengardine ein wenig zur Seite geschoben, um besser sehen zu können.

Unerhört war das doch, da wusch und kämmte die kleine Puppenmama das Neugeborene, und sie selbst, die doch tausendmal schmutziger aussah und einen Struwwelkopf aus schwarzer Wolle hatte, sie mußte so liegen.

Aber plötzlich schrie Lolo, die ein kleines Wutteufelchen war, erbost los und trampelte sogar mit den Füßen gegen die Wagenwand.

»Meine Spitzenschürze – mein hübsches Sonntagsschürzchen bindet sie dem fremden Balg um – wirst du mir wohl meine Schürze nicht mausen!« rief sie so laut, daß auch Baby neben ihr im Steckkissen die Äuglein aufmachte und das Mündchen weinerlich verzog.

»Mama – Mama,« rief Baby, »ich will mein Fläschchen mit süßer Zuckermilch.«

Aber Klein-Annemarie hörte nicht das Weinen und Rufen ihrer Kinder. Die fütterte gerade Puppe Gerda mit der süßen Zuckermilch, die eigentlich Baby sonst bekam.

»Schmeckt es dir, mein Gerdachen?« fragte sie liebevoll und tat noch einen Löffel Zucker aus der Puppenküche zu.

Die Puppe schüttelte den Kopf.

Nein, es schmeckte ihr gar nicht, trotzdem sie Zuckermilch so gern trank, und trotzdem Annemie ihr schönstes rosa Tässchen mit Goldrand dazu genommen hatte. Wie sollte es der Gerda auch munden, da Baby unausgesetzt nach ihrer Zuckermilch schrie? Da Lolo immer noch über ihre gemauste Sonntagsschürze schimpfte, die Annemie noch dazu mit Milch bekleckert hatte. Auch Irenchen gab keine Ruhe und rief in einem fort, daß sie heute bestimmt in der Schule nachbleiben müsse. Am liebsten hätte sich Gerda die Ohren zugehalten, um all die häßlichen Worte, die ihr galten, nicht zu hören. Aber das konnte sie nicht, obgleich sie eine Gelenkpuppe war.

Sie machte sich steif und wollte nicht mehr trinken, um dem armen, durstigen Baby noch ein bißchen übrigzulassen. Aber Annemarie war eine ebenso gute wie strenge Mutter.

»Wenn du nicht austrinkst, wirst du nicht groß und stark, mein Liebling«, sagte sie in demselben bestimmten Ton, mit dem Mutti sprach, wenn sie selbst mal nicht ihren Kakao trinken wollte.

Da trank Puppe Gerda gehorsam ihr rosa Tässchen aus, aber es schmeckte ihr kein bißchen.

Und als sie jetzt in den Puppenstuhl gesetzt wurde, da ward sie auch dort ihres Lebens nicht froh. Aus der umgekippten Fußbank zu ihren Füßen hob sich ein kurzlockiger Puppenjungenkopf mit einem großen Loch, und Kurt, der Nichtsnutz, bläkte ihr die Zunge heraus, soweit er nur konnte. Aber nur, weil Annemie gerade aus dem Zimmer gegangen war, um selbst ihren Kakao zu trinken.

Da kam das kleine Mädchen zum Glück zurück, und auch Fräulein mit Annemaries blauem Matrosenmantel und weißem Hütchen. Fräulein machte Annemie zum Spazierengehen fertig, und das Puppenmütterchen setzte ihrer Gerda die Osterhasenkappe mit den rosa Ohren auf.

»Nun bist du fein, mein Liebling, nun wollen wir in den Tiergarten fahren.« Damit warf Nesthäkchen Lolo aus ihrem Puppenwagen heraus, und Baby wanderte hinterdrein auf die harte Puppenkommode. Nicht einmal, daß Babys gestrickte Windelhöschen naß waren, sah die Annemarie!

In den weißen Wagen wurde Gerda gesetzt. Sie wurde sorgsam mit der rosa Seidendecke zugedeckt und bekam Irenchens schönen roten Sonnenschirm in die Hand. Noch auf der Treppe hörte Gerda das empörte Irenchen hinter sich her schimpfen.

Da war ihr auch die Freude am Spazierengehen gestört.

Ihre kleine Mama aber schwatzte und lachte in einem fort. Die dachte mit keinem Gedanken an die armen, vernachlässigten Puppenkinder zu Hause. Sie zeigte ihrer neuen Gerda die Sehenswürdigkeiten von Berlin: Den Portier vor der Haustür, der beinah soviel war wie der Kaiser, die tutenden Autos, die Schokoladenautomaten und die goldene Puppe hoch oben auf der Siegessäule.

»Nicht wahr, es ist fein auf der Welt?« fragte sie ihre Puppe mit strahlendem Gesicht.

Die lächelte gezwungen.

O ja, es konnte einem schon gefallen, wenn nur die übrigen Puppen nicht so häßlich zu ihr gewesen wären!

»Ei, Annemie, hast du denn ganz vergessen, deine anderen Kinder heute in ihren Garten aus das Blumenbrett zu schicken?« fragte Fräulein, als sie wieder nach Haus gekommen waren.

»Ach, die alten,« lautete die gleichgültige Antwort, »ich habe ja jetzt ein neues, süßes Nesthäkchen!«

Das hörte Mutti, die gerade ins Kinderzimmer trat.

»Denk' mal, Lotte,« sagte sie ernst, »wenn ich mich nicht mehr um Hans und Klaus kümmern würde, weil ich ja dich, mein Nesthäkchen, habe! Das wäre doch traurig für die beiden, nicht?«

Die Kleine nickte und wurde rot. Dann griff sie stillschweigend nach ihren alten Puppen und spedierte eine nach der anderen in den Garten auf das Blumenbrett hinaus, sogar Kurt, den Schlingel. Aber die rechte Liebe fehlte dabei.

Auch als nachmittags, während Annemie mit ihrer Gerda Großmama besuchte, ein Platzregen herniederprasselte, blieben die Ärmsten da draußen in dem Hundewetter, und noch dazu ohne Schirm. Erst Frida, welche die Fenster schloß, brachte die Puppen ganz durchweicht wieder in das Kinderzimmer zurück. Irenchen nieste, sie hatte sich einen tüchtigen Schnupfen geholt, Mariannchen zitterte vor Kälte, Lolo bekam Schüttelfrost, Kurt klagte über Gliederreißen, und Baby hustete.

Aber Annemie, die sonst solche gute kleine Puppenmutter gewesen, sah sich nicht einmal nach ihren kranken Kindern um. Sie mußte ja ihrem Nesthäkchen das Abendbrot bereiten. Muttis Mahnung war wieder vergessen.

Gerda allein vernahm das Niesen und Husten, das Weinen, Jammern und Schimpfen der armen Puppen.

»Die Neue muß wieder aus dem Hause – hatschi – hatschi! So'n Kiekindiewelt – so'n Dreikäsehoch!« räsonierte Irenchen. »Kaum hat sie ihre Nase hier in die Kinderstube gesteckt, da hat sie uns auch schon Annemaries Liebe gestohlen. Wir wollen sie so lange ärgern, bis sie Reißaus nimmt, die fremde Krabbe – hatschi – hatschi.«

»Ich geh' ja ganz von selbst«, wollte Puppe Gerda traurig antworten, aber da schob ihr Annemie gerade einen Bissen Apfel in den schon geöffneten Mund.

Am Abend, als die zwei, Nesthäkchen und ihre Gerda, wieder zusammen in dem weißen Gitterbettchen lagen, wälzte sich die Puppe ruhelos hin und her. Annemie schlief längst, aber die arme Gerda fand keinen Schlummer.

Sollte sie heimlich davonlaufen, damit Klein-Annemarie sich wieder um ihre andern Kinder kümmern konnte? Ach, sie hatte ja ihr Mütterchen selbst schon so lieb, so lieb – die Trennung brach ihr fast das Herz.

Laut auf schluchzte die Puppe. Annemie regte sich.

»Warum weinst du, mein Liebling?« fragte sie im Traum.

»Ich muß wieder fort von dir«, jammerte Gerda.

»Weshalb denn bloß?« Ganz erschreckt fragte es Klein-Annemarie. »War ich schlecht zu dir, war ich liederlich mit deinen Sachen, oder habe ich dich am Ende zu sehr geziept?«

»O nein,« flüsterte die Puppe ihr ins Ohr, »du warst sehr gut gegen mich, viel zu gut! Aber du hast deine andern Kinder, die dich doch auch lieb haben, ganz über mich vergessen. Die sind traurig und schimpfen auf mich, darum ist es das beste, ich gehe wieder.« Eine Träne kullerte Gerda über das Porzellangesicht.

»Nein, nein – ich lasse dich nicht weg«, rief Annemie im Traum und preßte ihr Nesthäkchen fest ans Herz. »Ich will ja wieder gut gegen meine andern Puppen sein, Mutti hat ja auch all ihre Kinder lieb. Nur bleibe du bei mir!«

Da nickte Puppe Gerda und lächelte unter Tränen.

Und dann schliefen sie alle beide.

Nesthäkchen und ihre Puppen

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