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Mord in Kamerun Antje Haugg

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Die Sonne war leuchtend orangerot über Kamerun aufgegangen, ein paar Schritte über den Himmel gewandert und hatte auf ihrem Weg einen blassgelben Farbton angenommen. Der frühe Morgen hatte schon einen wunderschönen, warmen und gleißend hellen Sommertag versprochen, und er hielt Wort.

Mittlerweile waren die Morgengesänge der Vögel verstummt, intensives Grillenzirpen hatte sie abgelöst. Die umstehenden Bäume spendeten ein wenig Schatten und Kühle, aber nicht genug. Die Hitze würde am späten Nachmittag unerträglich werden. Es hatte lange nicht geregnet, sodass die spärlichen Grashalme beleidigt ihre Spitzen hängen ließen und eine kränklich-braune Färbung aufwiesen.

Ebenfalls eine kränklich-braune Färbung wies der Wirt auf, der vor seiner Ausflugsgaststätte ›il Tramonto‹ im Gras lag. Eine Grille saß auf seiner Nasenspitze und zirpte ihm einen hysterisch anmutenden Totengesang. In seiner Brust steckte ein großer Wurfspeer, dessen nicht blutbeflecktes Ende wie der Zeiger einer Sonnenuhr zum Himmel aufragte.

Wesentlich hysterischer noch als die Nasenspitzengrille kreischte die Frau auf, die soeben zur Witwe geworden war, als sie ihren Mann in diesem Zustand entdeckte. Und dieses Kreischen sollte so schnell nicht aufhören …

***

Kriminalhauptkommissarin Julia Lehmann kaute gelangweilt auf dem Ende ihres Kugelschreibers herum, während ihr Kollege Stefan Siems ihr gegenüber an seinem Schreibtisch saß und sie amüsiert beobachtete. In der Ecke ihres Büros surrte ein Standventilator, ohne viel zu bewirken. Die stickige Luft waberte dickflüssig durchs Zimmer und erschwerte das Atmen. Die Hitze war hier in der Bayreuther Innenstadt schon am späten Vormittag schier unerträglich. Es war der heißeste Juli seit Jahren, und außerdem der trockenste. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet, und die Festspielstadt lechzte wenige Tage vor der Premiere regelrecht nach Regen und Abkühlung. Vergeblich – keine Aussicht auf ein Gewitter oder gar ein richtiges Tief. Niemand bewegte sich mehr als nötig, alle schleppten sich lethargisch durch die Tage. Sogar die Verbrecher schienen Sommerferien zu machen: Es passierte so gut wie gar nichts, nicht einmal simple Taschen- und Trickdiebstähle wurden gemeldet. Dementsprechend unterbeschäftigt saßen die beiden Kriminalbeamten an ihren Tischen. Der Nordbayerische Kurier von heute war bereits gelesen, sie waren also zu untätigem Warten auf den Feierabend verurteilt, denn auch der leidige Papierkram war schon aufs Laufende gebracht.

Als sich das schrille Klingeln des Telefons seinen Weg durch die zähe Luft bahnte, schreckten beide hoch und jeder versuchte, als Erster den Hörer zu erwischen. Stefan war einen Tick schneller als Julia und streckte ihr triumphierend die Zunge heraus, bevor er sich meldete. Doch dann wurde er sehr schnell ernst.

Nach wenigen Minuten, die sich für Julia endlos dehnten, legte er auf und winkte ihr aufzustehen.

»Arbeit, Julia – wir müssen nach Kamerun. Da liegt eine Leiche, mit einem Speer aufgespießt.«

Er angelte nach dem Autoschlüssel und wartete mit einem Anflug von Ungeduld auf seine Kollegin, die noch eine lauwarme Flasche Mineralwasser aus ihrer Schublade holte, bevor sie ihm folgte.

Gerade wollten sie zur Zimmertür hinaus, als diese von außen so schwungvoll aufgerissen wurde, dass Stefan sie beinahe an den Kopf bekommen hätte. Im letzten Moment ging er einen Schritt zurück, und das war auch gut so, sonst hätte ihn Staatsanwalt Strasser wohl über den Haufen gerannt. Strasser, den alle hinter vorgehaltener Hand ob seiner Körpergröße nur den Bonsai nannten, schnarrte sofort wütend los:

»Sagen Sie mal, was ist denn das nun wieder für ein schlechter Scherz?!? Ist da jemandem die Hitze nicht bekommen? Was haben wir denn bitteschön mit einem Mord in Kamerun zu schaffen? Müssen wir demnächst auch nach Syrien oder Afghanistan, wenn dort jemand umgebracht wird? Ich verbitte mir solche Anrufe!«

Julia schnaufte genervt durch. Jedes Mal war es dasselbe mit Strasser: Er schaffte es innerhalb von fünf Sekunden, sie auf die Palme zu bringen. Auch heute wieder. Und wie meistens war sie nur zu bereit, sich mit dem Bonsai anzulegen.

»Herr Strasser, darf ich Sie darauf hinweisen, dass dieser Anruf nicht von uns kam, sondern von der Leitstelle? Und davon abgesehen: Sie leben jetzt doch auch schon seit drei Jahren in Bayreuth – da müssten Sie mittlerweile auch wissen, dass es nach Kamerun keine fünf Kilometer sind. Von daher in unserem Zuständigkeitsbereich, und deswegen fahren wir jetzt hin. Also halten Sie uns bitte nicht von unserer Arbeit ab – Sie sind es doch, der es nie erwarten kann, dass endlich Ergebnisse auf dem Tisch liegen.«

Mit diesen Worten rauschte sie an Strasser vorbei und hinaus in die drückende Hitze, gefolgt von ihrem grinsenden Kollegen Stefan. Undeutlich war eine laut knallende Tür zu hören, der Schall schien in der heißen Luft stecken zu bleiben.

»Das war der Bonsai – jetzt ist er wieder auf 180«, kommentierte Stefan und öffnete die Autotür. Sie wichen zurück, da drin war es tatsächlich noch wärmer, obwohl das Auto im Schatten geparkt war.

Es half nichts: Sie mussten hinein und zum Tatort fahren. Julia fluchte leise, als sie das brennend heiße Gurtschloss anfasste. Sie öffneten sämtliche Fenster und fuhren los, über die Nürnberger Straße in Richtung Wolfsbach auf die Bundesstraße und dann links in den Wald hinein, zu der idyllisch gelegenen Ausflugsgaststätte Kamerun, auf einer versteckten Waldlichtung, umgeben von hohen Bäumen, die Schatten spendeten – ohne heute Abkühlung zu verschaffen.

Kurz nachdem sie in den Wald abgebogen waren, bemerkte Julia einen etwa einen Meter großen, auberginefarbenen, dirigierenden Wagner, der am Straßenrand auf einem Sandsteinquader stand. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Diese Hörlfiguren standen doch wirklich überall! Der Künstler hatte, nachdem seine hundertfach angefertigten Russhunde, Wagners Lieblingshund, sehr erfolgreich gewesen waren, nachgelegt und den Meister selbst in großer Stückzahl und einer gewöhnungsbedürftigen Farbauswahl in ganz Bayreuth verteilt.

Noch bevor sie die Leiche sahen, wies ihnen der Schaft eines großen Wurfspeers den Weg, und direkt daneben sahen sie Doktor Kollrab werkeln, der den Toten bereits untersuchte. Er nickte den beiden Beamten freundlich zu, wie immer fasziniert von seiner Arbeit.

»Grüß Gott miteinander! Sehen Sie nur: Der Mörder hat ganze Arbeit geleistet. Ein Volltreffer mitten ins Herz, und das mit diesem Speer. So wie ich es einschätze, aus Distanz geworfen. Das muss ein Profi gewesen sein, der hat nicht zum ersten Mal so ein Gerät in der Hand gehabt. Und ich gehe davon aus, dass der Täter ein Mann war – oder eine professionelle Speerwerferin. Da steckt Kraft dahinter.«

Kollrab bückte sich und zeigte auf die Brust des Toten, die schwarz war von getrocknetem Blut.

»Der Mann musste nicht leiden. Ich schätze mal, bevor er überhaupt wusste, was los ist, war er schon tot.«

Er strahlte Julia regelrecht an. Es war unglaublich, wie sehr Kollrab in seiner Arbeit aufging.

Julia nickte ihm zu und fragte: »Weiß man, wer der Tote ist?« Ein Streifenbeamter, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte – Julia kannte nur seinen Vornamen Michel – , kam jetzt hinzu und übergab Julia einen Personalausweis.

»Der steckte in seiner Gesäßtasche. Offenbar ist das der Wirt, Angelo di Lorenzo. Seine Frau hat uns angerufen, der Kollege Brunner sitzt mit ihr innen in der Gaststube und befragt sie. Sie war komplett durch den Wind, deswegen ist er mit ihr rein, damit sie das Bild nicht ständig vor Augen hat.« Er machte eine vage Handbewegung in Richtung Haus. »Wenn ich dann nicht mehr gebraucht werde … ich müsste zum nächsten Tatort.«

Julia blickte ihm erstaunt ins Gesicht. »Wie jetzt? Erst passiert tagelang überhaupt nichts, und dann gleich zwei Einsätze gleichzeitig?«, fragte sie verblüfft.

Michel nickte und begann zu grinsen. »Ja, und wenn man so will, auch wieder Mord. Nur diesmal an Gartenzwergen.«

»Gartenzwergen.« Julia war so verdattert, dass sie das Wort nicht einmal mehr als Frage formulierte.

»Irgendein Irrer hat in den 99 Gärten angeblich alle Gartenzwerge auf einen Haufen getragen und zerschlagen. Und wie auf einem Grabhügel hindrapiert.«

Der Uniformierte schleppte sich durch die Hitze zu seinem Auto zurück und fuhr davon. Julia schüttelte unwillig den Kopf, nicht sicher, ob sie wohl schon an hitzebedingten Wahnvorstellungen litt. Schließlich ging sie in die Gaststube hinein, wo Michels Kollege Brunner gerade die Personalien der Witwe aufgenommen hatte. Sie stellte sich vor und sprach Frau di Lorenzo ihr Beileid aus. Die arme Frau saß vollkommen schockiert und gebrochen auf einem der rustikalen Stühle, ein großes Geschirrtuch in den Händen, das sie abwechselnd zu einem Strang verdrillte und als überdimensionales Taschentuch verwendete. Kollrabs Beruhigungsspritze hatte ihr Kreischen in leises Weinen abflachen lassen.

»Frau di Lorenzo, können Sie sich das Ganze erklären? Ich meine, hatte Ihr Mann Feinde? Oder gab es einen konkreten Anlass für die Tat, einen Streit vielleicht?«

Wieder schnäuzte sich die Witwe kräftig in das Geschirrtuch, bevor sie stockend antwortete.

»Da war wirklich was. Vor ein paar Tagen hat uns ein Kerl angerufen, seinen Namen hat er nicht gesagt. Und der wollte uns das Anwesen abkaufen. Einfach so, das müssen sie sich mal vorstellen. Ruft an, fällt mit der Tür ins Haus, ohne lange rumzureden, und bietet uns eine halbe Million. Abgesehen davon, dass der Preis lächerlich war – er meinte, wir hätten drei Tage Bedenkzeit. Drei Tage! Natürlich hat mein Mann abgelehnt, als dann der zweite Anruf kam. Aber zuvor hat er gefragt, warum der denn überhaupt unseren Gasthof haben will und sich keinen pachtet. Meinte der doch glatt, er braucht keine Kneipe, was er vorhat, das wäre Kunst, die den Hörl blass werden lässt. Und dann hat er noch was gefaselt von Festspielhäusern und großen Dimensionen. Mein Mann hat gar nicht mehr richtig zugehört und gleich gesagt, wir verkaufen nicht. Dann hat der Kerl gebrüllt, wir würden der Kunst im Weg stehen und hätten die Folgen zu tragen.«

Sie weinte heftiger und schnäuzte sich abermals. Und wieder hatte Julia das Gefühl, hitzebedingt zu halluzinieren. Sie gab sich einen Ruck und hakte nach: »Und warum haben Sie nicht gleich die Polizei informiert, wenn Sie bedroht wurden?«

Erneutes Schluchzen. »Wir haben das doch nicht ernst genommen. Wir haben gedacht, das ist ein Spinner, der sich einen schlechten Scherz erlaubt. Und jetzt ist mein Angelo tot …«

Die weiteren Ermittlungen vor Ort ergaben absolut nichts. Zwar fanden die Beamten die Stelle, wo sich der Täter versteckt gehalten und von wo aus er auch den Speer geschleudert hatte, aber außer zertrampeltem Gras fanden sich dort keine Spuren, schon gar keine verwertbaren. Schließlich räumten sie das Feld und fuhren frustriert zurück in die Stadt. Michels Kollegen, den dieser offensichtlich komplett vergessen hatte in seinem Eifer von einem Tatort zum nächsten zu fahren, nahmen sie mit zur Dienststelle.

Dort erwartete sie zumindest ein Hinweis auf die Tatwaffe: Eine Angestellte des Iwalewahauses hatte angerufen und einen Einbruch gemeldet, bei dem ein Speer gestohlen worden war. Ein Gastgeschenk einer Delegation aus Kamerun, die vor einiger Zeit den Lehrstuhl für Afrikanologie besucht hatte. Die SpuSi war bereits vor Ort und machte das, wonach sie benannt worden war, nämlich Spuren sichern.

Julia seufzte frustriert und öffnete die nächste lauwarme Wasserflasche. Um das Kraut gar fett werden zu lassen, hatte der Getränkeautomat vorgestern seinen Geist aufgegeben, und der Kundendienst war frühestens für morgen angekündigt. Kühlschrank stand natürlich auch keiner zur Verfügung, denn die Ämterkantine war in einem anderen Gebäude untergebracht.

Stefan griff sich eine Akte und fächelte sich damit Luft zu. »Das ist ja mal richtig übel. Wir haben wirklich gar nichts in der Hand. Wenn die SpuSi im Iwalewahaus genauso wenig findet wie in Kamerun, dann sehe ich ziemlich schwarz.«

»Und an Strasser will ich gar nicht denken – der wird so was von hochgehen, wenn er das hört, dass man ihn bis in die Fußgängerzone schreien hören wird«, stöhnte Julia genervt. In diesem Moment klingelte ihr Handy, und es meldete sich ein Herr Bauer. Julia brauchte einen Moment, bis die den Nachnamen und die Stimme richtig zuordnen konnte. Dann wusste sie, dass Michel auch einen Nachnamen hatte.

»Michel? Was gibt es denn? Was macht dein Gartenzwergmord?«

***

Michel Bauer fuhr mit dem Streifenwagen die Scheffelstraße hinauf, bog rechts ab in Richtung Kreuz und stellte das Auto auf dem kleinen Parkplatz am Rabenstein direkt neben einem Blumenfeld ab, das hier mitten in der Stadt für farbenfrohe Kleckse sorgte und gerne besucht wurde, um sich mit ganz frischen Schnittblumen einzudecken. Allerdings war es aktuell selbst dazu zu heiß, und die Gladiolen und Cosmeen ließen traurig die Köpfe hängen, wohl wissend, dass sie hier zerknittert verblühen würden, ohne jemals ein Wohnzimmer oder einen Küchentisch zu schmücken. Sie hatten zu wenig Wasser, um ein ansprechendes Äußeres zu gewinnen. Und die Bayreuther waren so gelähmt von der Hitze, dass ihnen der Sinn nicht danach stand, sich auf einem Blumenfeld einen Sonnenstich einzufangen. Entsprechend leer war der Parkplatz, und Michel schaute sich kurz um, bevor er zielstrebig auf eine Hecke am Feldrand zu marschierte. Es waren nur wenige Schritte, aber schon wieder lief ihm der Schweiß aus allen Poren. Ohne großes Suchen entdeckte er die abgesperrte Eingangstür der Kleingartenkolonie ›99 Gärten‹, und wie am Telefon besprochen rief er in die Anlage hinein: »Hallo? Frau Niklas?«

Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis die Gerufene aus ihrem Garten kam und ihm die Tür aufsperrte.

»Das ist ja prima, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich zeig Ihnen gleich mal den Ort des Verbrechens, kommen Sie herein. Ich frag mich ja nur, wo unser Vorstand bleibt, der Herr Bruckner. Ich hab ihm schon dreimal aufs Band gesprochen, aber er ruft mich nicht an. Der weiß ja noch nicht mal was von der Geschichte. Na ja, macht ja nix, dann zeige eben ich Ihnen alles.«

Sie liefen langsam über kurz geschorenes, halb vertrocknetes Gras an den einzelnen Schrebergärten vorbei. Schließlich blieb Petra Niklas vor einem offenbar nicht verpachteten Gärtchen stehen und zeigte hinein. Das Gras stand kniehoch und gelb auf dem Rasen, die Beetflächen lagen brach und waren mit verwelktem Unkraut durchsetzt. Auf einem Beet direkt neben dem dunkelbraunen Gartenhäuschen mit Hirschgeweih über der Eingangstür lag ein bunter Tonscherbenhaufen, etwas mehr als zwei Meter lang, einen guten Meter breit und ungefähr 50 Zentimeter hoch. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass es sich hierbei wohl um die Reste von Gartenzwergen handelte. An einem Ende des Grabhügels lagen keine Tonscherben, sondern die Billigvarianten in Plastik, denen allesamt die Köpfe abgesägt worden waren. Michel starrte teils fasziniert, teils fassungslos auf den Ort der Verwüstung.

»So, jetzt schauen Sie sich das mal selbst an. Ich hab ja schon am Telefon gesagt, dass der Verrückte offenbar in der ganzen Kolonie unterwegs war und so gut wie alle Gartenzwerge eingesammelt haben muss. Die hat er dann wohl hierher geschleppt und alle kaputt gemacht.«

Michel schüttelte ratlos den Kopf. »Also, ich kann die Spurensicherung anfordern, aber die sind grad mit einem Mord beschäftigt. Das kann dauern. Und ob es viel bringt, ist die nächste Frage. Aber ich probier's.« Er telefoniert kurz und wandte sich dann wieder der braungebrannten Frau zu, die traurig die Zwergenreste begutachtete.

»Meinen Sie, den findet man überhaupt?«, fragte sie, und an ihrem Tonfall konnte man erkennen, dass sie nicht dieser Meinung war. Er nickte ihr verständnisvoll zu.

»Überlegen Sie es sich, ob sie wirklich Anzeige erstatten wollen. Schauen Sie, ich hab grad meine Kollegin angerufen. Die meint, dass die Spurensicherung wohl auf absehbare Zeit nicht abkömmlich sein wird. Und wer weiß, ob man überhaupt was findet. Also wenn der Kerl Handschuhe angehabt hat … und vermutlich war das eh irgend so ein Dummejungenstreich. Vielleicht wäre es am Sinnvollsten, das Ganze einfach auf sich beruhen zu lassen?«

Petra Niklas seufzte. So etwas ähnliches hatte sie sich schon gedacht gehabt.

»Wenn nur unser Vorstand kommen würde, ich weiß gar nicht, wo der nur bleibt … Ganz ehrlich: Wenn es nach mir ginge, dann lassen wir das Ganze gerne auf sich beruhen. Aber ich muss erst mit dem Vorstand reden. Oder einen Aushang machen? Was meinen Sie denn? Haben wir überhaupt eine Chance, dass dieser Irrsinn aufgeklärt wird?«

Michel Bauer schüttelte bedächtig und schweißtriefend seinen Kopf. »Wenn ich ehrlich sein soll – nein. Haben Sie denn keine Vereinskasse, mit der man Ersatzzwerge bezahlen kann?«

Petras Augen leuchteten auf. »Na klar! Und zufällig bin ich Kassenwart. Ich weiß zwar nicht, ob es sinnvoller ist, Gartenzwerge zu kaufen anstatt Bierkästen von dem Geld. Aber andererseits, wenn ich mir einige Pappenheimer hier so anschaue, denen tut's besser, wenn sie mal nüchtern sind.« Sie lachte. »Ich könnte mir eh vorstellen, dass die meisten froh darüber sind, dass die scheußlichen Zwerge endlich weg sind. Also, ich bin's wenigstens.«

»Ich wär's ehrlich gesagt auch. Aber ich werde zumindest einige Fotos vom Tatort machen und den Fall aufnehmen. Also, wann ist das Ganze denn passiert?«, fragte Bauer.

Petra Niklas zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Tut mir leid, aber so ganz genau kann ich das nicht sagen. Sie sehen ja selbst, dass bei der Hitze kein Mensch hier ist. Ich ja auch nur, weil ich Urlaub habe und meine Ruhe haben will. Aber die meisten Gärtner kommen nur nach Sonnenuntergang zum Gießen her. Denen ist es einfach zu heiß. Mir nicht, mir kann's nicht warm genug sein.« Tatsächlich schien ihr die Hitze wesentlich weniger zuzusetzen als dem Beamten. Was mit Sicherheit auch daran lag, dass sie wesentlich luftiger angezogen war als er. Jedenfalls konnte man ihr ansehen, dass sie das Wetter genoss. »Ungefährer Zeitpunkt?«, hakte er nach. Sie legte den Kopf schief, überlegte kurz. »Also, vor drei Tagen bin ich hier vorbei gekommen, da war es noch nicht. Und vor zwei Tagen hat mich der Großhuber von ganz hinten, unten, drauf angesprochen, dass ihm sein Gartenzwerg am Weiher abgeht. Ich weiß ja nicht, ob dieser Irre alle Zwerge in einer Aktion hierher gebracht hat oder nach und nach.«

Michel Bauer knipste seine Fotos, machte sich einige Notizen und ramschte dann lustlos in dem Scherbenhaufen herum, ohne wirklich nach etwas zu suchen. Schließlich hob er den Kopf eines dümmlich grinsenden Schlumpfs hoch, starrte ihn verständnislos an und ließ ihn zurück auf den Grabhügel fallen.

Petra Niklas musste wieder lachen. »Das ist der nackte-Hintern-Schlumpf, eigentlich ist das ja Stilbruch, ein Schlumpf statt Zwerg. So was stellt sich nur der Niedermayer auf. Ich denk mal, um den Rest der Welt zu ärgern. Da ist die andere Hälfte …«, sie bückte sich und angelte nach einem himmelblauen Torso mit heruntergelassener weißer Hose.

Bauer zog die Augenbrauen hoch und verzog das Gesicht. »Zumindest wissen wir jetzt, dass der weiße Puschel nicht nur die Hose ist«, stellte er fest und machte Anstalten zu gehen.

»Moment, ich komm mit und sperr Ihnen auf.«

Als sie sich an der Eingangstür verabschiedeten, fiel Petras Blick nach rechts. Irritiert ging sie einen Schritt weiter und zeigte auf den kleinen Wagner, der da vor der Hecke stand und enzianblau vor sich hin strahlte.

»Das wird immer närrischer, jetzt steht sogar da schon so ein komischer Kerl. Reicht es denn nicht, dass die Innenstadt mit denen zudrapiert ist?« Kopfschüttelnd ging sie wieder zur Tür zurück. »Also, ich kann dann die Scherben wegräumen? Oder soll das noch so liegenbleiben?«

Michel Bauer schüttelte den Kopf. »Nein, das kann weg. Aber das machen Sie jetzt nicht allein, oder?«

»Ach, dann hab ich wenigstens eine Beschäftigung – mein Buch hab ich eh schon durch.« Sie nickte ihm kurz zu und verschwand hinter Büschen und Hecken.

Michel Bauer schleppte sich zu seinem Dienstauto zurück und öffnete erst einmal sämtliche Fenster und Türen, bevor er stöhnend einstieg und ins Büro zurückfuhr.

Während er seinen Bericht verfasste, schlenderte Petra Niklas zum Vereinsheim hinüber und holte einen großen Schubkarren aus dem Geräteraum. Dann machte sie sich an die Arbeit und lud die Scherben ein. Die Plastikzwerge würde sie getrennt entsorgen. Schnell war die Schubkarre gefüllt. Da sie der Meinung war, die männlichen Vorstandsmitglieder könnten durchaus auch einen Beitrag leisten, holte sie kurzerhand einen zweiten Schubkarren und ließ den gefüllten einfach stehen. »Der müsste aber hoffentlich ausreichen für die Tonscherben«, murmelte sie vor sich hin. Nochmals versuchte sie, Paul Bruckner zu erreichen. Plötzlich horchte sie auf und steckte ihr Handy wieder ein. Paul musste schon ganz in der Nähe sein – sie hatte seinen Klingelton erkannt. »Na endlich!«, rief sie erleichtert. »Paul, hier bin ich. Komm mal her und schau dir das Chaos hier an. So was hast du noch nicht gesehen!«

Keine Antwort.

»Paul? Hier bin ich, im Schrödersgarten. Kommst du?«

»Paul?«

»Paul, ich hab doch grad dein Handy klingeln gehört. Jetzt hör auf mit dem Quatsch und komm her. Es ist wichtig.«

»Paul!?!«

Genervt fischte sie ihr eigenes Handy wieder aus der Hosentasche und klingelte noch einmal durch. Da! Ganz deutlich war es zu hören, Pauls Handy. Petra schaute sich suchend um, dann horchte sie genauer hin und versuchte herauszufinden, woher die Melodie kam. Sie stutzte.

»Paul, sag jetzt aber nicht, dass du das warst mit den Zwergen!«, rief sie empört.

Es klingelte unter der schon flacher gewordenen Scherbenschicht. »Das gibt’s doch nicht, der Paul wird das angerichtet haben und dabei hat er sein Handy verloren« murmelte sie und begann, die Zwergenteile auf die Seite zu schaffen, um an Pauls Handy heranzukommen. Dann hörte sie damit auf, verwirrt, verunsichert. Das Beet war freigeräumt, aber das Handy nicht zu sehen. Sie wählte nochmal Paul Bruckners Nummer. Das Klingeln kam aus der Erde.

Petra Niklas begann zu wühlen, vorsichtig, zaghaft. Die Erde war locker und sandig, ansonsten wäre sie durch die Trockenheit schon längst steinhart geworden. So aber kam sie rasch tiefer. Und sie musste auch nicht besonders tief graben, denn plötzlich fühlten ihre suchenden Finger etwas nicht Erdiges. Etwas, das auf seltsame Art gleichzeitig kalt und lauwarm war, fest und weich. Sie fasste es – das war kein Handy. Sie zog daran. Paul Bruckners Daumen bahnte sich seinen Weg ans Sonnenlicht. Kalt und lauwarm, fest und weich, blass und dunkel verkrustet zugleich.

Petra Niklas kippte nach hinten.

***

Als diesmal das Telefon läutete, war es Julia, die Stefan die Zunge herausstrecken konnte. Und deren Gesicht schnell ernst wurde. Die beiden Ermittler fuhren hinauf zu den 99 Gärten, flüchteten vor Strassers Tobsuchtsanfall. Als der Bonsai dann noch hörte, dass vor einer guten Stunde erst ein Beamter am Tatort gewesen war, ohne Verdacht zu schöpfen, knallten Türen und drohten Köpfe zu rollen. Julia und Stefan konnten wirklich froh sein, dass sie in diesem Moment schon an der Scheffelstraße parkten …

Petra Niklas war noch sehr blass um die Nasenspitze, aber sie hatte sofort einen Notruf abgesetzt, kaum dass sie aus ihrer kurzen Ohnmacht wieder erwacht war. Jetzt stierte sie ins Leere, saß im Schatten eines uralten Kirschbaums und wurde von Dr. Kollrab mit einer Flasche Wasser erstversorgt, ganz nach seinem Motto zuerst die Lebenden und dann die Toten. Nach dem dritten großen Schluck wurde sie wieder munterer, schüttelte immer wieder den Kopf, dass die kinnlangen braunen Haare nur so flogen, und murmelte vor sich hin: »Naa, naa, naa – ich hab doch gedacht, ich find sei Handy und net den ganzn Paul …«

Als Julia und Stefan dazukamen, setzte sich Julia kurzerhand ebenfalls unter den Kirschbaum. Sie stellte sich kurz vor und fragte dann leise, aber eindringlich: »Können Sie mir ein paar Fragen beantworten? Sie haben den Toten gefunden?«

Petra nickte. »Unter den Gartenzwergen. Ihr Kollege Bauer war vorhin hier, aber wir haben doch nicht gedacht, dass unter den Zwergen jemand vergraben liegt … ich hab versucht den Paul zu erreichen, und dann hab ich sein Handy gehört. Deshalb hab ich angefangen zu graben. Ich hab sein Handy gesucht. O Gott, ich hab gedacht, er hat den Mist mit den Zwergen verzapft, und dabei ist er tot …«

»Und wer ist Paul? Ihr Mann?«, wollte Julia wissen. Petra schaute sie verblüfft an. »Mein Mann? Nein, um Himmels Willen, nein. Paul ist unser Vorstand. Paul Bruckner. Ich hab schon mehrfach versucht ihn zu erreichen, wegen der Gartenzwerggeschichte. Aber er hat nicht gehört. Jetzt weiß ich ja, warum.«

»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? War etwas hier anders als sonst? Oder hat Herr Bruckner etwas Auffälliges erwähnt?«

»Nein, eigentlich nicht. Obwohl – warten Sie mal. Da war doch was, ich weiß nur nicht, ob es etwas mit dem Mord zu tun hat. Es war doch Mord, oder?«

Julia seufzte. »Da werden wir abwarten müssen, was Doktor Kollrab sagt, wenn er den Toten untersucht hat. Aber ich gehe schon von Mord aus. Warum sonst würde man einen Toten einfach irgendwo vergraben? Also, was ist Ihnen eingefallen?«

»Der Paul hat vor ein paar Tagen erzählt, dass irgend so ein Spinner bei ihm angerufen hat. Der wollte wohl unsere Gartenkolonie aufkaufen. Natürlich ist das komplett indiskutabel, und das hat der Paul ihm auch gesagt. Der Kerl hat gemeint, er gibt ihm drei Tage Bedenkzeit, um das mit dem gesamten Vorstand zu besprechen. Und als der Paul gefragt hat, warum zum Geier er überhaupt die ganze Kolonie braucht, was das für ein neues Studentenwohnheim werden soll, da hat der Kerl nur gelacht und gesagt, das wird kein Studentenwohnheim, sondern Kunst. Kunst, die den Hörl blass werden lässt. Festspielhauskunst.«

Schlagartig war Julia trotz der Hitze voll konzentriert. »Festspielhaus, haben Sie gesagt? Stefan – wir haben was!«

Ihr Kollege kam dazu, auch für ihn war sofort klar, dass ein Zusammenhang zu Kamerun bestand. »Scheiße, damit hätten wir einen Serienmörder. Ich frage sofort nach, was die Anrufrückverfolgung bei di Lorenzo ergeben hat.«

»Hat Paul Bruckner Ihnen erzählt, ob er noch ein zweites Mal angerufen wurde?«, wollte Julia noch wissen.

Doch Petra Niklas schüttelte ratlos den Kopf. »Das weiß ich leider nicht, wir haben seitdem nicht mehr miteinander gesprochen. Aber die drei Tage sind jedenfalls schon vorbei, wenn Ihnen das weiterhilft?«

Stefan kam wieder näher. »Nichts. War wohl ein Wegwerfhandy. Wär' ja auch zu schön gewesen … «, sinnierte er.

Doktor Kollrab kniete neben der Leiche, sein Gesicht war knallrot und Julia bekam ernstlich Angst, er könnte sich einen Sonnenstich, Hitzschlag oder gleich beides eingefangen haben.

»Ist Ihr Garten weit weg von hier?«, fragte sie Petra. Als diese verneinte: »Haben Sie einen Sonnenschirm, den wir ausleihen könnten?«

Und so kam es, dass wenig später Doktor Kollrab von einem sonnenschirmtragenden Beamten flankiert wurde, während er die Erstuntersuchung des ehemaligen Vorstands abschloss.

»Er wurde offenbar bewusstlos geschlagen, und zwar, soweit ich das hier und jetzt beurteilen kann, mit einem Gartenzwerg. Am Hinterkopf findet sich eine entsprechende Wunde mit Partikeln, die ich, ohne Garantie, für Tonsplitter halten würde. Und anschließend – und hier sollten wir dankbar sein, dass Frau Niklas nur einen Finger gesehen hat und nicht die komplette Leiche – wurde ihm wohl mit einem Spaten in die Brust gestoßen. Kein wirklich schöner Anblick, er sollte schnell weggeschafft werden, damit er in der Rechtsmedizin auseinander genommen wird. Ach, es ist ein Jammer, dass ich da nicht dabei sein kann. Vielleicht sollte ich meine Versetzung beantragen?«

Er packte sein Köfferchen und verabschiedete sich, hochzufrieden ob der Tatsache, dass er gleich zwei Mordopfer an einem einzigen Tag hatte untersuchen dürfen.

Julia sah ihm stirnrunzelnd hinterher. »Unser verkappter Gerichtsmediziner. Der hat wirklich das falsche Arbeitsgebiet.«

Kollrab behandelte eigentlich die Lebenden, hatte sich aber bereits mehrfach bewährt, wenn er als Bereitschaftsarzt zu Gewalttaten gerufen worden war. Und ganz offenbar hatte sich das zu einem skurrilen Hobby von ihm entwickelt.

Julia und Stefan begleiteten Petra Niklas noch zu deren Garten, wo sie mit zur Abwechslung einmal gekühltem Mineralwasser versorgt wurden, bevor sie wieder zurück fuhren, um Strasser Bericht zu erstatten. Die SpuSi blieb noch vor Ort, aber beide hatten das ungute Gefühl, dass die nicht viel finden würden.

Petra Niklas ihrerseits schwor sich, in dieser Saison nicht mehr in der Erde zu graben, bis die Möhren reif wären.

***

Strasser tobte immer noch, und weder Julia noch Stefan rissen sich darum, sein Zimmer zu betreten. Sie hatten insofern Glück, als er bemerkt hatte, dass sie auf den Parkplatz gefahren waren – er stand bereits in ihrem eigenen Zimmer, als sie herein kamen.

»Was ist das hier eigentlich für ein Sauhaufen?«, schnarrte er wutentbrannt, als die Tür aufging. »Macht hier eigentlich jeder nur noch was er will? Wie kann es sein, dass ein Beamter am Tatort ist und nicht mal merkt, dass es ein Tatort ist? Man sollte alle hier um eine Stufe degradieren!« – durch Julias Kopf huschte die boshafte Frage, ob der Bonsai sich da wohl mit einschloss, aber sicherheitshalber biss sie sich auf die Zunge – »Was ist da eigentlich los? Besteht ein Zusammenhang mit dem ersten Mord? Gibt es ein Motiv? Haben Sie schon jemanden festgenommen? Ich hoffe doch, dass ja!«

Strasser ging die Luft aus, und Julia nutzte die Chance, um einzuhaken. Aber wenn sie gedacht hatte, dass Strasser sich beruhigen würde, hatte sie sich getäuscht. Im Gegenteil. Er tobte noch mehr.

»Ein Serienmörder, meinen Sie? Ein Verrückter, der in Bayreuth herumrennt und wahllos Leute um die Ecke bringt? Für Festspielhäuser? Und das kurz vor der Premiere??? Und Sie haben keine Spur, keine Verdächtigen? Was meinen Sie wohl, was morgen im Kurier stehen wird? Polizei unfähig – eine Stadt in Angst! Oder Polizei steht irrem Killer hilflos gegenüber! Ich will Ergebnisse sehen, das wissen Sie genau!«

Der Bonsai sackte regelrecht zusammen, seine Wut war verraucht und verpufft. Stefan schob ihm einen Stuhl hin, auf den er sich fallen ließ.

»Okay, wenn Sie dann fertig sind, Herr Staatsanwalt, dann können wir uns ja vielleicht mal zusammensetzen und die Fakten analysieren?«, fragte Julia bissig. Wenn sie auch nur den Hauch einer Spur hätte vorweisen können, dann hätte sie sich mit dem Bonsai ein Wortgefecht geliefert. Aber unter diesen Umständen erschien ihr das alles andere als ratsam. Und so verbrachte sie den Abend mit ihrem Lieblingsfeind in einer Zweckgemeinschaft, die leider alles andere als fruchtbringend war …

***

Als sie am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe schon in der Dienststelle erschien, stellte sie fest, dass andere Leute auch nicht untätig gewesen waren in dieser Nacht. Und dass diese Tätigkeiten nicht minder ergebnislos verlaufen waren als ihr Abend mit Strasser. Die Rechtsmedizin Erlangen hatte ihre Berichte geschickt, und Doktor Kollrab hatte Recht gehabt. In beiden Fällen. Auch fanden sich an den Leichen keinerlei Spuren, die auf den Täter hätten schließen lassen können. Abgesehen von der Tatsache, dass der Kerl wohl ziemlich kräftig war, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mann, konnten sie keine Rückschlüsse ziehen. Bruckner war bereits einen Tag vergraben gewesen, als Petra Niklas ihn gefunden hatte. Und di Lorenzo, das zweite Opfer, war einen Tag nach Bruckner gemeuchelt worden. Bei der Vorstellung, dass auch der heutige Tag eine Leiche bringen würde, drehte sich Julias Magen um.

Die SpuSi hatte ihre Untersuchungen in beiden Fällen abgeschlossen, es war wie verhext: Der Täter hatte offenbar viel Sorgfalt darauf verwendet, alle Spuren zu verwischen. Auch im Iwalewahaus war nichts zu finden. Entweder hatte einer der Besucher einen Schlüssel entwendet, was durchaus denkbar war, weil seit einiger Zeit schon der Reserveschlüssel verschwunden war, der eigentlich im Kopf einer Holzstatue versteckt lag. Allerdings war weder der Verlust gemeldet noch das Schließsystem erneuert worden, weil man wohl davon ausgegangen war, dass der besagte Schlüssel einfach verlegt worden wäre und sich mit Sicherheit wieder finden würde, sobald die Schlösser erneuert wären. Oder – und das war durchaus auch nicht auszuschließen, sogar noch viel wahrscheinlicher – der Dieb und Täter war ein Mitarbeiter. Vielleicht auch ein Ehemaliger. Julia seufzte. Sie würden umfangreiche Vernehmungen durchführen müssen und eine Liste aller Ehemaligen überprüfen. Jeder von denen musste gewusst haben, wo der Reserveschlüssel lag.

Auch die Untersuchung von Bruckners Handy ergab nichts Vernünftiges. Der geheimnisvolle Täter war zwar offensichtlich irr, aber auch genial.

Licht ins Dunkel sollte ausgerechnet von dem kommen, auf den Julia heute gerne verzichtet hätte: Staatsanwalt Strasser kam kurz nach halb acht im Stechschritt herein – und überfiel Julia und Stefan mit einer Neuigkeit, die wie eine Bombe einschlug.

»Jetzt haben wir ihn«, schnarrte er, diesmal gar nicht wütend, sondern eher aufgeregt und hibbelig wie ein Kind an Weihnachten.

»Wir kriegen ihn. Stellen Sie sich vor, was meine Frau mir gestern erzählt hat, als ich nach Hause kam: Dieser Tage hätte jemand bei uns angerufen, weil er unser Wochenendgrundstück kaufen möchte, draußen in Destuben. Es gehört meiner Frau, sie hat es von ihrem Großvater geerbt. Sie hat gleich gesagt, dass sie nicht verkaufen möchte, aber der Kerl wollte sich nicht abwimmeln lassen. Er hat wohl zu ihr gesagt, sie solle sich das gut überlegen, er würde sich wieder melden. Sie hat mir das gar nicht erzählt, weil wir uns nur zwischen Tür und Angel gesehen haben in dieser Woche. Sie wissen ja, sie ist ehrenamtlich engagiert und gerade schwer eingespannt, weil das Sommernachtsfest in der Eremitage bevorsteht. Jedenfalls muss er das sein! Sie kommt in einer halben Stunde hierher, und dann werden wir eine Falle ausarbeiten, die unweigerlich zuschnappen wird, sobald er angebissen hat! Wie gut, dass der Kurier noch keine Details veröffentlicht hat! Und wie gut, dass nur meine Frau im Telefonbuch steht. Offenbar weiß der Kerl nicht, wo ich arbeite. Sonst hätte er nicht angerufen, da bin ich mir sicher.«

Strasser schwebte auf Wolke Sieben. Die Aussicht auf eine bevorstehende Verhaftung, von ihm ins Rollen gebracht, und auf die unweigerlich folgenden Schlagzeilen im Kurier versetzte ihn in Hochstimmung. Er sah sich schon wegbefördert nach Nürnberg, völlig außer Acht lassend, dass seine Frau nach langen Jahren im Exil hier ihre Wurzeln wiederentdeckt hatte und mit Sicherheit nicht mehr wegziehen würde.

Tatsächlich hatten sich die Lokalredakteure zurückgehalten, was Informationen über eventuelle Mordmotive betraf. Ein riskantes Spiel angesichts der Vermutung, dass weitere Opfer folgen könnten, aber so wurde der Täter nicht kopfscheu gemacht.

Weder Julia noch Stefan war es wohl bei dem Gedanken, Strassers Frau als Köder zu benutzen. Aber Strasser war nicht mehr davon abzubringen, und wenn sie ehrlich waren, hatten sie keine Alternativen zu seinem Plan. Schließlich stimmten sie zu, und als Frau Strasser erschien – die übrigens sowohl optisch als auch akustisch perfekt zum Staatsanwalt passte –, hielten sie eine taktische Besprechung zu Viert ab.

***

Als der Anruf tatsächlich kam, klopfte Frau Strassers Herz bis zum Hals, aber sie spielte tapfer ihre Rolle.

»Grüß Gott, Frau Strasser. Ich rufe nochmal an wegen Ihres Grundstücks am Panzerteichweg. Haben Sie es sich überlegt? Ich würde gut zahlen und daraus etwas wirklich Eindrucksvolles machen.«

»Grüß Gott, Herr – wie war doch gleich Ihr Name?«

»Müller. Erwin Müller, Frau Strasser.«

Erwin Müller. Wie geistreich. Wer's glaubt.

»Herr Müller, ich wäre grundsätzlich einverstanden. Aber ich würde gerne zuvor mit Ihnen gemeinsam das Grundstück besichtigen, Ihnen alles ganz genau zeigen. Nicht dass Sie die Katze im Sack kaufen.«

Leises Lachen drang aus der Leitung.

»Das ist nett von Ihnen, Frau Strasser. Aber das braucht es eigentlich nicht. Ich habe schon eine konkrete Vorstellung sowohl von Ihrem Grundstück als auch von der Verwendung, der ich es zuführen möchte.«

Du liebe Güte, was für ein gestelztes Geschwafel!

»Was haben Sie denn vor damit?«

»Das, meine Liebe, würde Ihre Vorstellungskraft sprengen. Ich werde darauf ein Festspielhaus errichten, sozusagen eine Replik des Grünen Hügels. Die Erste von Hundert. Der Meister selbst wäre begeistert von dieser Idee gewesen! Hörl mit seinen Hunden und Wagnern wird blass werden vor Neid. Und Sie, liebe Frau Strasser, Sie werden Premierenkarten für jede Vorstellung in diesem Festspielhaus bekommen, weil Sie der wirklich großen Kunst den Weg bereitet haben.«

Sie verdrehte die Augen, bevor sie weiter redete. Gerade noch rechtzeitig hatte sie die taktischen Zeichen gesehen. Sie musste das Gespräch hinziehen, damit die Beamten den Standort des Irren ermitteln konnten.

»Herr Müller, ich würde zu gerne sehen, was und wie Sie das geplant haben. Fahren wir doch gemeinsam zu dem Grundstück, und Sie erklären mir vor Ort alles.«

»Nur zu gerne, meine Liebe. Nur zu gern. Wann könnten Sie denn?«

»Warten Sie – ich muss erst meinen Terminkalender holen … einen Moment noch … ach, das ist mir aber unangenehm, ich habe ihn ja gar nicht hier unten, der liegt im ersten Stock … nur noch einen kleinen Augenblick, Herr Müller …«

Ein hochgereckter Daumen von dem Beamten am Tisch, und Frau Strasser schlug eine Uhrzeit vor, die sofort von ihrem Anrufer bestätigt wurde.

Erleichtert verabschiedete sie sich und legte auf.

»So. Und jetzt also ab in den Panzerteichweg, richtig? Du liebe Zeit, ich glaube, ich brauche erst einmal eine Baldriantablette! Oder besser ein Likörchen?«

***

Julia und Stefan waren persönlich bei dem Einsatzkommando dabei. Sie wollten sichergehen, dass nichts schiefging. Auch Staatsanwalt Strasser himself lauerte im Gebüsch. Der große Garten am Waldrand war quasi umstellt, und sowohl im Gartenhaus als auch hinter den großen Eibenkugeln, von denen jeweils eine in jeder Ecke des Gartens stand, hatten sich weitere Uniformierte versteckt. Das Gelände war vorab gründlich durchkämmt worden, um sicherzugehen, dass der Mörder noch nicht hier war. Und jetzt warteten sie alle, es war die Ruhe vor dem Sturm. Zu gerne hätten sie ihn bereits vorab geschnappt, aber sein Handy war ausgeschaltet und nicht zu orten.

Pünktlich um drei Uhr nachmittags hörte man Stimmen. Frau Strasser begrüßte einen Mann, der auf einer Vespa angerollt gekommen war. Sie sperrte die Gartentür auf, und gemeinsam gingen die beiden in den Garten. Alles verlief nach Plan. Nun würde Frau Strasser ins Gartenhaus gehen, unter dem Vorwand, etwas zu trinken zu holen. Damit wäre sie aus der Schusslinie, statt ihrer würden die Beamten aus dem Haus heraus stürmen, den Täter festnehmen und Ende.

Soweit der Plan.

Allein, er scheiterte an einem Erdwespennest.

Besagte Erdwespen lebten mehr oder weniger friedlich in einem Mauseloch unter einem weit ausladenden Perückenstrauch. Und genau dort hatte sich der Bonsai versteckt. Voll Enthusiasmus lauerte er dort, einen guten Meter vom Einflugort der kleinen schwarz-gelben Schwirrer entfernt. Er hatte sie nicht bemerkt, und sie fühlten sich durch den seltsamen kleinen Mann nicht gestört, da er nicht in ihrer Flugbahn kauerte, sondern weiter links.

Was allerdings weder Strasser noch den Wespen klar war, das war die Tatsache, dass der Mäusetunnel vom Loch weg nur wenige Zentimeter unter der Erdoberfläche direkt zu Strassers Versteck führte. Und außerdem die Tatsache, dass selbst ein Bonsai in der Lage war, einen solchen Tunnel zum Einsturz zu bringen, wenn er voll Nervosität mit dem Fuß scharrte.

Es kam, wie es kommen musste. Strasser scharrte, lautlos zwar, doch effektiv, und der Tunnel fiel in sich zusammen, die trockene Erde bröselte auf die erbosten Wespen, und diese sammelten sich ohne zu zögern zur Formation Kampfgeschwader Schwarz-gelb. Strasser hielt sich tapfer. Zehnmal wurde er mindestens gestochen, ohne dass ein Laut über seine Lippen gekommen wäre. Doch dann hielt er es nicht mehr aus. Überall um ihn herum schwirrte und summte es immer wütender, ein verzweifeltes Stöhnen, ein klagender, vergehender Laut entwich den gequält zusammengebissenen Lippen – und dann sprang er auf und rannte davon, gefolgt von dem zum Äußersten entschlossenen Kampfgeschwader Schwarz-gelb.

Die Reaktionen erfolgten ebenso blitzschnell wie unterschiedlich.

Müller zuckte zusammen, fluchte unflätig los und packte die völlig überraschte Frau Strasser, die ihrerseits auch noch von Angst um ihren Gatten gepackt worden war, welche spontan abgelöst wurde von Angst ums eigene Leben, als sie plötzlich spürte, wie etwas Kaltes an ihren Hals gedrückt wurde, das sich bedrohlich einem Messer ähnelnd anfühlte. Gleichzeitig wurde sie mit einem Arm fest umschlungen, aber keineswegs zärtlich und liebevoll, wie es der Bonsai zu tun pflegte, wenn sie sich denn einmal mehr als zwischen Tür und Angel begegneten, sondern vielmehr hart und ruckartig, was sie dazu veranlasste, zur Salzsäule zu erstarren.

Die Beamten stürmten aus ihren Verstecken, aber nur, um ebenfalls zu erstarren, denn Müller brüllte sie an: »Keinen Schritt weiter, oder die Frau ist tot!«

Julia bewegte sich ganz langsam und vorsichtig. Deeskalation. Jetzt keinen Fehler machen. Sie hob die Hände. »Ich bin unbewaffnet, sehen Sie?«

Die Dienstwaffe steckte nicht im Halfter. Vielmehr drückte sie fest und kühl in Julias Lendenwirbel. Als hätte sie es geahnt …

»Bleiben Sie sofort stehen! Ich stech die ab, ich schwör's! Bleiben Sie, wo Sie sind.«

Man konnte dem Irren ansehen, wie nervös er war, wie kurz davor durchzudrehen.

Julia blieb stehen und ging mit dem Oberkörper ein wenig zurück, um ihm anzudeuten, dass sie nichts unternehmen würde. Sie fühlte sich ratlos, hilflos. Wenn sie oder irgendjemand sonst schießen würde, dann war Frau Strasser doppelt gefährdet. Einmal durch die Kugel, und dann noch durch das Messer. Julias Hirn ratterte, eingedickt von der Hitze, verzweifelt vor sich hin, ohne dass sie eine Lösung für das Problem fand.

Reden. Sie musste mit ihm reden. Ihn zermürben.

»Hören Sie, das bringt doch nichts. Warum wollen Sie Frau Strasser denn töten? Lassen Sie sie gehen. Wir können doch über alles reden. Lassen Sie Frau Strasser gehen, und wir verhandeln. Sie könnten sie gehen lassen und mich stattdessen nehmen. Ich komme zu Ihnen, und Sie machen einfach Frauentausch. Wie wäre es damit?«

Er schaute gehetzt nach allen Seiten.

»Schnauze! Lassen Sie das! Gehen Sie weg! Alle!«

»Und dann? Lassen Sie Frau Strasser dann ziehen?«

Müller, falls er denn überhaupt so hieß, schüttelte den Kopf. »Nein. Sie bleibt bei mir. Ich nehme sie mit, als Geisel. Ich verlange ein Auto. Ein schnelles Auto. Vollgetankt. Und einhundert Grundstücke für meine einhundert Festspielhäuser. Und der Hörl soll herkommen.«

Julia war verblüfft. Der Mann war noch viel irrer als vermutet.

»Der Hörl?«

Zeit schinden, bis sie einen Plan hatte.

»Welcher Hörl?«

Wieder blickte er sich gehetzt um.

»Welcher Hörl denn wohl. Der Hörl halt. Der mit den Hunden. Und den Wagnern. Die vor meinen Festspielhäusern stehen sollen. Vor jedem einer. Aber nicht die, die dirigieren. Das sind nur Platzhalter, bis er die anderen gemacht hat.«

»Welche anderen denn?«

»Na die, die sich verbeugen. Wie jeder Künstler, wenn er fertig ist. Und der Hörl wird fertig sein. Das wird seine letzte Kunst sein. Einhundert Wagner, die sich verbeugen. Vor meiner Kunst. Vor meinen Festspielhäusern. Vor jedem einer. So wird das werden.«

Komplett irr. Sie hatten es mit einem gemeingefährlichen, komplett irrsinnigen Serienkiller zu tun, der die Frau des Staatsanwalts als Geisel hatte. Ganz klasse. Schlimmer hätte es kaum kommen können. Julia spürte, wie ihr kalter Schweiß in den Nacken rann. Sie hatte verloren. Diesmal würde sie den Kürzeren ziehen. Statt Verhaftung nur Chaos und Gewalt. Strasser würde seine Frau verlieren, und sie alle miteinander ihren Job. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Dreifach gequirlte Hühnerkacke!

Energisch kämpfte sie gegen die aufsteigende Panik an. Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Einen Plan ausarbeiten. Frau Strasser retten. Den Mistkerl drankriegen.

Fieberhaft rasten die Gedanken.

Doch plötzlich …

Sein Kopf ruckte nach links, er schrie noch einmal: »Stehenbleiben! Halt! Stopp! Sonst passiert was!«

Doch er blieb nicht stehen, der Bonsai auf der Flucht vor dem Geschwader Schwarz-gelb. Er rannte genau auf seine Frau zu. Ohne den Geiselnehmer bewusst wahrzunehmen, suchte er dort Schutz, wo ihn immer Zuspruch und Trost erwarteten, wenn er diese benötigte.

»Hiiiiiiiilde!«, schrie er in verzweifelter Not, zerstochen, rot getupft, verschwollen. Ein Zombie auf der Flucht.

Erkannte im letzten Moment die Gefahr, in die er seine Hilde brachte, und schwenkte kreischend ab in Richtung Gartentür. Das Geschwader Schwarz-gelb wiederum bremste irritiert ab, orientierte sich um und stürzte sich wütend auf sein neues Opfer, nämlich die weibliche Salzsäule und deren männlichen Umarmer.

Diesem Angriff standzuhalten hätte mehr Willenskraft erfordert als Müller oder Nichtmüller aufbringen konnte. Und so ließ er denn nach einem kurzen Moment der Standhaftigkeit die einer Ohnmacht nahen Hilde los und wollte Strasser hinterher, in kopfloser Flucht vor Geschwader Schwarz-gelb.

Das allerdings wurde verhindert durch eine überaus erleichterte Kommissarin, die ihre Waffe aus dem Hosenbund zog, einen Warnruf abgab, um der Pflicht Genüge zu tun, und dem trotzdem losrennenden Irren dann kurzerhand in den rechten Fuß schoss.

Den Rest erledigten die wütenden Wespen.

***

Wenig später war der Mörder verhaftet, nicht ohne zuvor von dem eiligst angekommenen Doktor Kollrab verarztet worden zu sein. Der Schuss in den Fuß war nur ein Streifschuss gewesen, der schnell verbunden war. 34 Wespenstiche wurden akribisch gezählt und der Kreislauf des Verhafteten überwacht.

Die Wespen hingegen waren von Frau Strasser gezähmt worden, die aus dem Gartenhaus eine Packung ihrer heißgeliebten Räucherstäbchen holte und gleich alle auf einmal anzündete. Das jagte den Rest des Geschwaders auf und davon.

Auch der Bonsai war wieder zurückgekommen, humpelnd und schimpfend, und wurde von seine Hilde zärtlich getröstet. Dass sie ebenfalls etwas Trost und Zuspruch benötigt hätte, kam ihm nicht in den Sinn. Vielmehr hinkte er schließlich zu Doktor Kollrab und ließ sich ausgiebig verarzten, während Julia seiner Frau gut zuredete.

Und schließlich löste sich die ganze Versammlung in Wohlgefallen auf.

Die Kurier-Schlagzeile des nächsten Tages lautete nicht, wie Strasser sich erhofft hatte: wagemutiger Staatsanwalt klärt Mordserie und verhaftet Serienkiller.

Stattdessen titelte man: Staatsanwalt davongerannt – Wespen stellen Serienkiller.

Dem Irren, der übrigens ironischerweise Tristan Tannhäuser hieß, drohte eine lebenslange Sicherheitsverwahrung. Er, der in seiner Jugend bayrischer Meister im Speerwurf gewesen war, hatte tatsächlich im letzten Jahr ein vierwöchiges Praktikum im Iwalewahaus absolviert.

Herr Hörl, als er von der Geschichte erfuhr, war anfangs geschockt, überlegte dann kurzfristig, die Idee aufzugreifen und mit Festspielhäusern im Maßstab 1:100 in Serie zu gehen. Schließlich verwarf er den Plan wieder und befasste sich stattdessen mit dem Schoßhündchen der Markgräfin Wilhelmine, das die Landesgartenschau bereichern sollte.

Hilde Strasser, die das Ganze erstaunlich gelassen wegsteckte, war angenehm überrascht, als sie vor ihrem Haus einen dirigierenden knallroten Wagner entdeckte, den Tannhäuser ihr direkt vor dem Treffen noch vor die Tür gestellt hatte.

Julia und Stefan durften sich mit dem üblichen Bürokram und endlosen Berichten herumschlagen, waren aber letztendlich sehr zufrieden damit, dass es keine weiteren Opfer zu beklagen gab.

Petra Niklas kam in der Nacht zur Kolonie, schnappte sich die blaue Wagnerfigur und trug sie zum entgegengesetzten Eingang.

Doktor Kollrab schrieb ein Versetzungsgesuch, das er nach reiflicher Überlegung allerdings zerknüllte und in den Papierkorb warf, weil er es nicht übers Herz brachte, Bayreuth zu verlassen. Danach war ihm wohler zumute, er schaltete den Fernseher ein und sah sich eine Doppelfolge Quincy an.

Michel Bauer wurde nicht degradiert, musste aber in den nächsten Wochen Strasser täglich seinen Cappuccino bringen, um ihn wieder gnädig zu stimmen.

Nach weiteren zehn Tagen ließ das Hitzehoch endlich von Bayreuth ab, pünktlich zur Festspielpremiere gab es ein heftiges Gewitter mit Wolkenbruch, so dass alle prominenten Gäste ziemlich nass wurden.

Einen weiteren Tag später kam der Reparaturdienst und tauschte den defekten Getränkeautomat in der Dienststelle aus.

***

Nachbemerkung: Auch wenn Herr Hörl und seine Plastikkunstwerke tatsächlich existieren, ist doch sein Charakter wie fast alle anderen in dieser Geschichte frei erfunden. Eine einzige Person gibt es noch, die auch im wirklichen Bayreuth anzutreffen ist – und sie weiß, wer gemeint ist.

Mörderische Geschichten - Es kann jeden treffen

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