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Auf dem Berg

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Özel Li bezog einen leerstehenden Unterstand hinter des Meisters Hütte. Im Morgengrauen standen sie auf und rezitierten im Einklang mit der Bahn des Mondes gemeinsam heilige Texte. War der Mond voll und rund, sangen sie Anrufungen, die das Leben stärkten und lange währen ließen. Unter der schmalen Sichel des Neumondes war es dagegen gut, die Kräfte des Körpers und seine Energie zu erneuern. Meister Norbu lehrte sie jahrhundertealte Melodien. Sogar ihre Schreibkünste waren an diesem Ort willkommen. Der Meister trug ihr auf, alte, verschlissene Gebetstexte auf frische Papierstreifen zu übertragen. Sie lernte begierig und ihr Leben war mit lauter neuen Tätigkeiten ausgefüllt. Özel war so zufrieden auf dem Berg, dass sie nur ganz selten an ihre Familie dachte.

Jeden Vormittag holte sie Wasser aus der nahen Quelle und bereitete ein Mittagsmahl aus Reis oder Gerstenbrei, wilden Kräutern und Wurzeln. Nachmittags wanderten sie häufig in die Bergwälder und suchten seltene Pilze und Pflanzen. Der Meister unterwies sie in der Kunst, fein ausgesuchte Rezepturen aus Pflanzenauszügen zu mischen. Manchmal bekam Norbu Legpa Besuch von Hilfesuchenden aus den Dörfern und dann schrieb Özel die Anweisungen des Meisters nieder, damit später eine Apotheke das passende Heilmittel für den Kranken zubereiten konnte. Geduldig fertigte er Schutzbändchen und Medizinpillen für Bittsteller, die Krankheiten heilen und böse Geister fernhalten sollten. Am Abend saßen sie schweigend vor der Hütte und blickten über das Tal in den grenzenlos weiten Himmel. Fast war es, als ob es schon immer so gewesen wäre.

An jedem fünfundzwanzigsten Tag des Mondkalenders feierten sie den Tag der Dakinis, jener erleuchteten weiblichen Wesen, die im Himmelsraum tanzen. Özel Li faszinierten diese schönen, stolzen Frauen, wenngleich sie vor dem Rollbild der nackten Simhamukha in der Hütte des Meisters eine unerklärliche Scheu verspürte. Niemals würde sie den bedrohlichen Schrecken jener Nacht vergessen, in der die Dakini im Traum auf ihrem Körper herumgetrampelt war. An jedem Abend des Dakinifestes vollzogen sie gemeinsam vor dem Rollbild der blauen Simhamukha in der Hütte eine besondere Zeremonie.

»Simhamukha ist die zornvolle Erscheinungsform einer Gottheit und sie ist die wichtigste Schützerin der Lehren meiner Meister und unserer Übertragungslinie«, erklärte der Meister eines Abends.

»Ihr Löwenkopf ist ein Symbol für Furchtlosigkeit und mit dem Messer in der Hand durchschneidet sie jede hinderliche Bindung. Hätte sie dich nicht in jener ersten Nacht als Schülerin angenommen, hätte ich dich wieder weggeschickt. Doch in meinem Geist konnte ich sehen, dass sie dich im Traum aufsuchte und die Arbeit an dir aufnahm. So war sie es, die dich erwählte, nicht ich.«

Özel staunte.

»Erzähl mir mehr über die Himmelstänzerinnen, Meister«, bat sie.

»Dakinis sind die Trägerinnen unseres geheimen Wissens, sie bewahren und schützen es. Sie sind Kräfte, die sich als erleuchtete weibliche Wesen verkörpern. Manche zeigen sich in friedvollen und gütigen Erscheinungsformen, andere erscheinen wild und ungezähmt. Sie durchmessen den Raum in Windeseile. Am Morgen vor deiner Ankunft besuchte mich seit langer Zeit einmal wieder die schwarze Krähe. Sie ist eine Verkörperung der Dakini, ein gutes Zeichen, das dein Kommen ankündigte. Und wenn es Zeit ist, wirst du einer von ihnen begegnen«, schloss der Meister mit einem Augenzwinkern und wickelte die Gebetstexte in ein blauseidenes Tuch. Die Ruhe der Nacht hüllte die Hütte ein.

Eines Nachts, es war Vollmond und sie hatten nach dem Abendessen gemeinsam ein Ritual ausgeführt, erwachte sie von seltsamen Geräuschen und einem leisen hellen Gelächter. Was war das? Unter der Wolldecke lauschte Özel Li in die Nacht, bis sie ihre Neugier nicht mehr bezähmen konnte. Sie schlich zur Hütte des Meisters und spähte durch eine Ritze in der Holzwand. Im schwachen Dämmerschein einer Butterlampe waren zwar nur flirrende Schatten zu erkennen, doch Özel war trotzdem sicher, aus dem verhaltenen Raunen eine weibliche Stimme herauszuhören. Einen Augenblick lang warf der Lichtschein den Schatten einer Frau an die Wand: sie war nackt. Özel verschlug es den Atem. Rasch und verlegen lief sie zurück in ihre Kammer und kroch unter die Decke, der ihr eigener vertrauter Geruch anhaftete. Ein Gedanke jagte den nächsten. Was war das für eine Frau? Hatte der Meister eine Gefährtin? Aber war er nicht schon zu alt? Das Rollbild der nackten Dakini in seiner Hütte, die unverhüllte Frau … vielleicht war sie ja eine Erscheinung oder aber der Meister hatte tatsächlich Besuch von einer Frau. Özel war verwirrt. Von Übungen eines Yogi mit einer Yogini hatte sie bislang nur aus seltenen und merkwürdigen Geschichten der Besucher in ihrem Dorf erzählen gehört. Niemand hatte bisher ihren Körper berührt.

Am Morgen erhob sie sich wie üblich und bereitete Tee und Gerstenbrei am Feuerplatz. Der Meister trat aus der Hütte, als sei nichts geschehen, wäre da nicht ein vergnügtes Lächeln in seinen Augenwinkeln gewesen. Als sie später in der Hütte aufräumte, war ihr, als liege ein Hauch von Rosenblüten in der Luft. Beschämt wegen ihrer nächtlichen Neugier verschloss sie das Ereignis tief in sich. Wochen später, als sich einige hilfesuchende Dörfler wieder auf den Nachhauseweg gemacht hatten und sie beim salzigen Buttertee unter der knorrigen Esche beieinander saßen, wandte sich Özel Li an ihren Lehrer:

»Meister, bei den einfachen Menschen gelten einige Wiedergeburten und Leben mehr als andere. Lehrer wie du oder hohe Lamas in den Klöstern werden von allen verehrt. Es heißt, ihr müsst sehr viele Verdienste in früheren Leben angesammelt haben. Andere Menschen gelten weniger. Frauen gelten weniger als Männer und solche, die Tiere töten und schlachten, gelten weniger als jene, die Tierfleisch verkaufen oder essen.«

Ein überraschter Blick aus Norbu Legpas braunen Augen traf sie. Er runzelte die Stirn und stellte seine Tasse auf einen Schemel.

»Eine Mutter hat sieben Kinder geboren«, begann er. »Welches von ihnen wird sie am liebsten haben, die älteste Tochter, die ihr im Haus am meisten zur Hand geht und schon am längsten bei ihr ist, oder das jüngste, weil es ihres Schutzes am meisten bedarf, oder vielleicht das vierte Kind, ein Mädchen, weil es sehr schön ist, oder den zweitgeborenen Jungen, weil er den Namen der Familie weitertragen wird? Was meinst du, Özel?«

Özels Gedanken wanderten das erste Mal seit langer Zeit wieder zu ihrer Mutter. Sie hatte acht Kindern das Leben geschenkt. Eines war gleich nach der Geburt gestorben. Sie hatte drei Brüder und drei Schwestern und war die fünfte in der Reihe der Geschwister. Jedes Kind war ganz anders, hatte eigene Vorlieben und unverkennbare Eigenarten, genauso wie Hundewelpen. Tashi, ihr ältester Bruder, konnte besonders gut mit Tieren umgehen, seiner flüsternd lockenden Stimme folgten sie aufs Wort. Ihre Schwester Pema sang so schön, dass ihr alle im Dorf gerne lauschten. Karpo wiederum liebte es, mit seinem zahmen Adler durch die Gegend zu ziehen, zu jagen und üppig mit Nahrung beladen nach Hause zurückzukehren. An wen sie auch dachte, es stimmte, jeder hatte eine besondere Gabe und sie vermochte nicht zu sagen, welches Kind die Mutter wohl am meisten liebte. Sie hatte immer gewollt, dass es allen Kindern gut erging und ihnen nur das Beste geschah.

Özel Li schüttelte ratlos den Kopf: »Ich weiß nicht, Meister. Liebt eine gute Mutter nicht alle Kinder gleich, auch wenn sie so verschieden sind? Sie sind ein Teil von ihr und sie hat ein jedes lange Monate in ihrem Bauch getragen, sie genährt und gehegt.«

Norbu Legpa nickte unmerklich.

»Wenn schon eine Mutter zu einer solch grundlosen, bedingungslosen Liebe fähig ist, Özel, wie kannst du glauben, dass irgendein Lebewesen unter dem weiten grenzenlosen Himmel wichtiger oder weniger wichtig sein kann? Dies sind nur Gedankenspielereien der Menschen. Doch gibt es in jedem Leben diese unaussprechlich kostbaren Momente, in denen ein Mensch etwas begreift, etwas in sich hineinlässt, durchlässiger ist für tieferes Verstehen und sich über die üblichen Urteile erhebt. Diese Momente sind es, in denen sich die Schleier des Nichtwissens heben und in ihm eine Ahnung seiner eigenen Vollkommenheit aufblitzt. Dann mag es sein, dass er unter diesem Eindruck eine weitreichende, lebensverändernde Entscheidung trifft, sein Dasein von grundloser Liebe erfüllt wird und er sich zutiefst eins fühlt mit der belebten und unbelebten Welt. Dann ist der Mensch ganz bei sich, zu Hause in seinem Herzen«, sprach Norbu Legpa und schaute ihr lange in die Augen.

»Alles, was lebt, alles ist vollkommen und unterschiedslos sichtbar gewordene Liebe, geboren aus der wahren Natur, der großen Mutter, so du willst, aus dem göttlichen Sein. Wir Menschen haben dem großen Einen viele Namen gegeben, und doch gibt es nur das Eine, Unaussprechliche: unsere wahre Natur. Sie umfasst alles. Das ist das Wissen der Ältesten: das Geheimnis der großen Vollkommenheit.«

Der Meister lächelte unergründlich.

»Wenn du Menschen aufmerksam beobachtest, wirst du bemerken, es gibt in jedem Leben etwas ganz und gar Einzigartiges, Unverwechselbares. Wie ein jeder seine Lieblingsspeise hat und sich wünscht, sie so gut wie möglich zu kochen, mit der größtmöglichen Sorgfalt und Liebe, so ist der Mensch, ohne es zu wissen, ständig auf der Suche nach dieser einen Vollkommenheit. Die tiefste Sehnsucht des Menschenherzens ist es, sich immer mehr öffnen zu dürfen, grenzenlos und unbekümmert ganz Herz zu sein, sich mit allen Poren und jeder Seelenfaser hineinzugeben, hineinzustrecken in dieses Sein.«

Norbu Legpa schloss die Augen und wandte sein Gesicht in die untergehende Sonne, und auch wenn manche seiner Worte für Özel Li fremd und neu klangen, war ihr, als hätte der Meister etwas, für das sie noch keine Worte hatte, in ihr bewegt und genährt.

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