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Hinterm Zaun

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Wie beinahe jeden Morgen stand Lilly hinter dem Zaun und blickte auf die noch unverbrauchte Welt. Eigentlich hieß sie Anneliese, aber so lange sie denken konnte, wurde sie Lilly genannt. Obwohl noch Dunst in der Luft lag, so kündigte sich doch bereits jetzt ein schöner, sonniger Tag an. Lilly war froh um jeden Sonnenstrahl, denn ihre kleine Wohnung im Erdgeschoss mit dem Gartenanteil war nicht sehr warm. Außerdem musste Lilly sparen, das Leben war nicht immer ihr Freund gewesen und sie hatte so manchen Schicksalsschlag hinnehmen müssen. Aber daran dachte sie jetzt nicht, während sie mit ihren viel zu großen Schlappen und dem übergroßen Pulli am Gartenzaun stand und beobachtete, wie ihre Umgebung langsam erwachte.

Die Katze der Nachbarn war anscheinend die ganze Nacht unterwegs gewesen. Sie trollte maunzend am Zaun vorbei und sah aus, als ob sie ein kuscheliges Sofa gebrauchen könnte. Für einen kurzen Moment zog ein Schatten über Lillys Gesicht. Sie hatte früher auch immer Katzen. Lilly liebte Katzen. Doch jetzt mit den Jahren traute sie sich nicht mehr, eine Katze bei sich zu halten. Die Angst, sie würde vor der Katze das Zeitliche segnen, war einfach zu groß. Wohin sollte das Tier dann gehen? Wer würde es nehmen? Nur manchmal, an solchen Tagen wie heute, wäre es wundervoll so ein schnurrendes Wesen um sich zu haben. Dabei konnte sie von Glück sagen. Das kleine Gartenstück war ihr ein und alles. Sie pflegte und hegte es, so wie es ihr Geldbeutel und ihre Gesundheit zuließen. Für die Vögel hatte sie ein Wasserbad aufgestellt und die Piepmätze nutzten das kühlende Nass nur allzu gerne. Lilly saß oft stundenlang auf ihrem Stuhl auf der Terrasse und sah den Amseln zu. Die schwarzen Vögel nutzen das kleine Schwimmbad am häufigsten. Ab und zu gesellten sich Meisen und Spatzen dazu, aber die Amseln behielten die Oberhand und beanspruchten das Wasserreservoir für sich.

Langsam begann sich das Leben auf der anderen Seite des Zaunes zu dehnen und zu räkeln. Die Kinder mussten zur Schule und die Erwachsenen machten sich auf den Weg in die Arbeit. Kurt, der zwei Häuserblocks weiter wohnte, führte seinen Hund aus. Die beiden kamen fast jeden Tag am Zaun vorbei und begrüßten Lilly mit einem Lächeln und einem herzlichen „Wau“. Lilly mochte den schrulligen Herrn mit seinem Hund, für den sie immer ein Leckerli zu Hause hatte. Manchmal blieben die beiden am Zaun stehen und unterhielten sich ein wenig mit ihr. Meist über belangloses Zeug oder Kurt erzählte von seinen Kindern und Enkeln, die leider Gottes 300 km weit weg in einer anderen Stadt lebten. Sie kamen ihn zwar oft besuchen, aber wenn sie wieder weggefahren waren, verschwand für Tage der Glanz aus den Augen des alten Herrn. Sein ganzes Glück war dann der Hund, der dies auch stets mit einem Schwanzwedeln bekräftigte.

Lilly liebte die wiederkehrenden Rituale in ihrem Leben und so stand sie Tag für Tag, wenn das Wetter es gestattete, morgens hinter dem Zaun und ließ das Leben an sich vorbeiziehen. Nicht dass in der Straße so viel los wäre, aber das, was sie sah ließ sie einfach ruhig werden. In den langen Wintermonaten wusste sie, die Erlebnisse hinter dem Zaun erst so richtig zu schätzen. Wenn es draußen kalt war, wurde es fast Mittag bis Lilly ihre Nase in die kühle Luft streckte. Nässe und Kälte hielten sie oft genug davon ab, nach draußen zu gehen. Seit ein paar Jahren peinigte sie Rheuma und so zog sie es vor, den Winter weitestgehend in ihren kleinen Vierwänden zu verbringen.

Doch bis zum Winter war es noch eine Weile hin. Lilly schlurfte zurück ins Haus, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Sie fühlte sich wohl hier in dieser Umgebung. Nur manchmal beschlich sie ein ungutes Gefühl. Dann, wenn sie daran dachte, wie lange sie wohl noch alleine zurechtkommen würde. Ihre beiden Söhne waren viel zu beschäftigt und Lilly wollte sie mit diesen Fragen auch nicht belästigen. Sie hatte sich einmal ein Heim angeschaut mit den vielen Zimmern und den endlosen Gängen. Der größte Verlust für sie wäre allerdings ihr Garten. Ohne Garten zu sein, konnte sich Lilly nicht vorstellen, das wäre ihr Untergang. Mit der heißen Tasse in der Hand ging Lilly zurück an den Zaun.

Mittlerweile hatte es die Sonne schon über die Häuserdächer geschafft und sie erfüllte die ganze Umgebung mit ihrem herrlich warmen Licht. Lilly dreht ihr Gesicht Richtung Sonne und blinzelte ihr zu. Der Kaffee schmeckte herrlich, so wie das an einem perfekten Morgen sein musste. Ja, im Grunde war ihr Leben perfekt. Sie hatte alles, was sie brauchte und in manchen Momenten da war sie sogar richtig glücklich. Das Leben vor dem Zaun war ihr schon ein wenig fremd geworden. Nicht dass sie sich abschottete, aber ihr fehlte es einfach an Gelegenheiten, ihr kleines Reich zu verlassen. Ab und zu ging sie einkaufen oder besuchte ein paar Freunde in der Nähe. Besuch hatte sie selten, wenn dann an ihrem Geburtstag oder an Weihnachten. Am Zaun kamen immer die gleichen Leute vorbei. Sie kannte sie alle und die Leute kannten sie. Bestimmt waren einige darunter, die sie für merkwürdig hielten, andere wiederum lächelten so freundlich und hatten stets ein liebes Wort im Gepäck. Am meisten freute es Lilly, wenn sich die Kinder der Umgebung vor ihrem Zaun aufhielten. Im Nu waren alle ihre Sorgen verflogen und sie hatte ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Der kleine Max von nebenan brachte sie manchmal sogar richtig zum Lachen mit seinen Späßen. Lilly nippte erneut an ihrem Kaffee während die Sonne höher und höher stieg. Lilly war dankbar für alles, was sie hatte. Das war nicht viel, aber es war genug. Lilly gehörte zu den Menschen, die sich immer alles erkämpfen mussten. Für sie war das Leben sehr mühselig gewesen und die wenigen schönen Stunden konnte sie an einer Hand abzählen. Sie hatte gelernt, die Schönheit und die Wunder des Lebens in den kleinen Dingen zu sehen. Sie liebte Blumen und die Blumen liebten sie. Wenn keiner hinsah, dann nahm sie die von den anderen achtlos weggeworfenen Pflanzen wieder aus der Biotonne und päppelte sie hingebungsvoll auf. Die meisten Pflanzen dankten es ihr, indem sie wunderschön gediehen. Nein, viel hatte sie nicht und das Wenige, das sie hatte, ging mit Nahrung und dem Notwendigsten jeden Monat auf.

Doch sie war gar nicht so scharf auf das Leben vor dem Zaun, hatte sie doch selbst zu spüren bekommen, wie trügerisch die Welt sein konnte. Wahrscheinlich würde sie bis zu ihrem Tod hinter dem Zaun stehen? Irgendwann würde sie der Briefträger vermissen, Kurt oder der kleine Max von nebenan, vielleicht auch ihre Söhne? Aber wer weiß das schon? Plötzlich zogen dunkle Wolken auf und der anfangs so herrliche Tag begann, im Grau zu ersticken. Lilly schauderte und zog sich in ihren geliebten Lehnstuhl auf die kleine, überdachte Terrasse zurück. Die ersten, schweren Tropfen purzelten schon vom Himmel. Hier war sie sicher und es dauerte nicht lange und ein Schleier, gewebt aus Millionen Regentropfen, versperrte ihr die Sicht auf den Zaun.

Die Taube Luise

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