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Das ausgestorbene Schiff

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„Ein Schiff! Gelobt sei Gott, das ist ein Schiff!“ jauchzte plötzlich Gustav, der Matrose, als er den Kopf einmal nach einer anderen Richtung wandte, mit heiserer Stimme auf.

Sie hatten beide längere Zeit nach Osten geblickt, wohin ein Schwarm Vögel strebte, und miteinander beraten, ob das wohl Landvögel seien. Nun sahen sie mit einem Male in der anderen Richtung ein Schiff, und zwar nicht nur als dunklen Punkt, nein, sie konnten sogar deutlich die Segel desselben unterscheiden.

Sie hatten wohlweislich dem leichten Winde entgegengerudert, und dieser brachte das Schiff, während sie darauf zuruderten, ihnen schnell näher. Nach einer halben Stunde konnten sie es deutlich erkennen. Es war ein kleiner Schoner, der nur wenige Segel gesetzt hatte und daher langsamer segelte, als es bei dem Winde möglich gewesen wäre. Nach einer weiteren halben Stunde riefen sie es an – jetzt waren sie gerettet! Als sie sich jedoch dem Schiffe näherten, sagte Richard betroffen: „Merkwürdig, ich sehe wohl das Steuerrad, aber es steht kein Mann daran.“

Es war überhaupt kein Mensch auf dem niedrigen Deck zu sehen. Doch so verödet liegt das Deck von Schiffen zuweilen da, es befindet sich oftmals, wenn die Takelage in Ordnung und der Wind konstant ist, kein Mensch darauf. Aber stets muß am Steuerrade ein Matrose stehen, und daß der hier fehlte, war wirklich ein Rätsel.

Ein starkes Tau hing außenbords herab. An ihm kletterten die beiden Schiffbrüchigen nun hinauf, indem sie das Boot sich selbst überließen. Gustav war zuerst oben, und der nachfolgende Steuermann hörte ihn einen Schrei des Schreckens ausstoßen. Dann stand auch er starr vor Entsetzen da.

In dem tief liegenden Boote hatte sich ihnen vorhin der Anblick entzogen, der sich ihnen jetzt hier oben bot: auf Deck lagen gegen zwanzig Männer, alle lang ausgestreckt, ohne ein Zeichen des Lebens von sich zu geben, also tot – und doch nicht tot. Denn wenn man nicht annehmen wollte, daß sie erst vor wenigen Minuten alle samt und sonders gleichzeitig von einer plötzlichen Todesstarre befallen worden waren, so hätten die Leichen ganz anders aussehen müssen. Aber keine Spur von Todesqual war in den Zügen, kein Zeichen von Verwesung. Es war, als seien sie eben erst mitten in der Arbeit vom Schlage getroffen worden. Ja, es mußte in der That so sein; noch vor einer Minute konnte der Matrose, der jetzt kalt und starr neben dem Steuerrade lag, dieses fest in der Hand gehalten haben, denn das Schiff war ja bisher vor den Wind gesteuert worden und wurde erst in dem Augenblicke, als die beiden Unglücksgefährten es betraten, plötzlich steuerlos und kam aus dem Wind, sodaß die Segel klatschend gegen die Rahen schlugen. Doch nicht dieser Umstand allein versetzte die Seeleute in Schrecken, auch der Anzug, den die Männer trugen, übte eine unheimliche Wirkung auf sie aus. Lebte man denn im Mittelalter? War dieses Schiff etwa nicht ein moderner Schoner, erbaut am Ende des neunzehnten Jahrhunderts? Wie kam es, daß alle diese Männer die Kleidung eines viel früheren Jahrhunderts trugen, lange Schoßröcke mit Gürteln und blanken Knöpfen, kurze Kniehosen aus Samt, Wadenstrümpfe und Schnallenschuhe? Weshalb hatten sie das lange Haar in der Mitte gescheitelt und die Bärte wegrasiert?

„Das ist der fliegende Holländer,“ flüsterte endlich Gustav, fast mit geisterhafter Stimme, „am Tage sind die Männer hier tot, erst bei Nacht werden sie wieder lebendig.“

Obgleich Richard selbst von jenem Grausen befallen worden war, das ein so schauerliches Rätsel auf jeden ausüben mußte, sprang er doch, sich ermannend, sofort an das sich planlos drehende Steuerrad, brachte den Schoner wieder vor den Wind und band die Speichen fest.

Dann wandte er sich an den ihm zunächst liegenden Matrosen, der das Steuerrad geführt hatte – vorausgesetzt, daß dieser auch wirklich ein Matrose gewesen war, denn er glich in seinem sauberen Kostüm aus einem sehr feinen, Richard ganz unbekannten Stoffe und mit den seidenen Strümpfen eher einem reichen Mynheer aus dem zehnten Jahrhundert – und nun begann er, seine Furcht bezwingend, ihn näher zu untersuchen. Der Mann war thatsächlich tot, kalt und noch ganz steif, als wäre er vor fünf Minuten erst plötzlich gestorben. Oder hatte Gustav recht, und hielt die Totenstarre nur während des Tages an, um bei Nacht wieder dem Leben zu weichen?

Aber das moderne Schiff! Ein solches besaß der fliegende Holländer in der Fabel doch nicht!

Der starke Gustav war jetzt zu allem unfähig, er stierte nur immer mit entsetzten Augen auf die altertümlich gekleideten Leichen. So begab sich Richard allein unter Deck. Das Schiff war wohl verproviantiert, sogar mit Brot, das noch ganz frisch war, auch mit geräucherten Fleischwaren, als hätte es eben erst einen nördlichen Hafen verlassen. Richard löschte seinen Durst und aß etwas, rief dann nach Gustav und inspizierte, da dieser seinen Durst vor Schreck ganz vergessen zu haben schien, die Innenräume allein weiter. Schiffspapiere, die er hauptsächlich suchte, fand er nicht; nicht ein einziges war vorhanden. In der Kajüte stieß er jedoch noch auf zwei Leichen, darunter befand sich die einer jungen, schönen Dame, die in eine Art von weißem Nachtgewand gekleidet war.

Ein ganz modernes Schiff, mit allem ausgerüstet, was die Neuzeit den Seefahrern an Proviant, nautischen Instrumenten, Karten und anderem bietet, besetzt mit der Mannschaft einer alten, ausgestorbenen Generation, wie mit den Puppen aus einem Wachsfigurenkabinett! Menschen aus Fleisch und Blut, tot und dennoch keine ausgetrockneten Mumien – da konnten sich die Haare vor Entsetzen sträuben!

Der König der Zauberer

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