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1. Vorwort

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Es ist bekannt, dass die Mündliche Überlieferungstradition bei den Kurden stark ist. Die kurdischen Märchen sind keine Ausnahme. Sie tragen in sich nicht nur viele kulturellen Elemente aber auch Lebensstil und Denkformen der Kurden. Das kurdische Märchenschätz geht bis zur archaischen Frühzeit.

In den meisten ihrer Märchen spiegeln sich gesellschaftliche und politische Strukturen der Kurden wieder. Der Agha wird in seinem Palast dargestellt, umgeben mit Dienern, Beratern und von wunderschönen Gärten; ihm gegenüber stehen die Bewohner der Städte und Dörfer, die Bauern, die Nomaden. Kurdische Märchen sind reich an Tiergeschichten, Schwänken und Zaubermärchen, wobei die Tierwelt in ihnen offensichtlich ein Hauptthema ist. Es sind wahrscheinlich geographische und anthropologische Gründe, dass Tiere und Tierfabeln einen wichtigen Platz in diesen Märchen haben, denn die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung lebte auf dem Land, in eng zusammen mit den Tieren.

Wenn zum Beispiel der kurdische Schriftsteller und Erzähler Osman Sabri über das Gesamtbild der Kurden spricht, so schreibt er gern in Fabeln von schwachen und verfolgten Tieren. Erwähnt sei hier auch, dass Tierfabeln vor allem bei den indogermanischen Völkern vorkommen[1].

Einer der Lieblingshelden der kurdischen Volksprosa ist Mirza Mihemed, von welchem auch eines der hier niedergeschriebenen Märchen handelt. Es variiert von Region zu Region, wobei ich die hier befindliche Version des Märchens in der Region Siirt in der Türkei gesammelt habe.

Neben den bereits erwähnten Tiermärchen und Fabeln präsentiert das vorliegende Buch sowohl Legenden, Hausmärchen als auch die bei Kurden sehr häufig vorkommenden Zaubermärchen als weitere Genres der Volksprosa.

Die Eigentümlichkeit der kurdischen Märchen sei sehr klar, sagt Frau Luise-Charlotte Wetzel, die gute Arbeit zum Thema kurdischer Märchen geleistet hat, obwohl man in kurdischen Märchen fremde Einflüsse finden kann, wie die arabische Fabulierkunst[2], die Verwandtschaft mit einigen türkischen Schwankerzählungen oder die in allen orientalischen und auch europäischen Märchen zu findenden Motive. Ein Beispiel für diese Eigentümlichkeit ist die Rolle der Frau in kurdischen Märchen, welche unvergleichlich aktiver dargestellt wird. Sie ist Kampfgefährtin des Mannes, ihre Intelligenz und ihr Verhalten werden hochgeschätzt[3].

Erwähnt werden sollen hier auch Ordichane und Celile Celil[4], welche kurdische Märchen, vor allem Volksmärchen, gesammelt, aufgezeichnet und kommentiert haben. Ein anderer bekannter kurdischer Märchensammler ist Cemal Nebez[5]. Er war Lektor zwischen 1971–78 an der Freien Universität von Berlin im Institut für iranische Philologie und leistete besonders im Bereich der kurdischen Linguistik sehr wichtige Arbeiten.

Fast alle von mir selbst gesammelten und hier aufgeschriebenen Märchen haben ein so genanntes „Happy End“, ein allgemeines Charakteristikum der Weltmärchen. Das Böse wird am Ende bestraft und das Gute belohnt, die Protagonisten finden ihr Glück und der Wunsch geht immer in Erfüllung. Die kurdischen Märchen haben meist eine feste Floskel für den Anfang und das Ende.

Am häufigsten beginnen die Märchen mit den Worten: „Çarekî ji çaran rehmet li dê û bavê gûhdaran, li warek x hebû“, was wortgetreu übersetzt heißt: „Ein Mal von vielen Malen, mögen die verstorbenen Mütter und Väter der Zuhörer in Frieden liegen, an einem Ort gab es X[6]“ oder auch „Hebû tinebû, x hebû“, zu Deutsch „Es war einst, es war ein X“.

Zum Abschluss eines Märchens heißt es dann: „Ihre Wünsche sind ihnen erfüllt worden, mögen auch Eure Wünsche in Erfüllung gehen.“ Wenn von einem Glück die Rede ist, heißt es: „Sieben Tage und sieben Nächte tönten die Trommeln und spielte die Sonar. Sie mögen sich ihres Glückes freuen, freut Ihr Euch des euren.“ Neben diesen Abschlussfloskeln wird besonders in der Region Siirt immer folgender Vers gesagt: „Çiroka me ço nav deviya, rehmel li dê û bavê we hemiyan”, zu Deutsch: „Unser Märchen ist zu Ende (wortgetreu: ‚in die Büsche’) gegangen und mögen alle eure Verstorbenen in Frieden liegen.“

Dieses Buch enthält die Märchen, die mir mein Großvater während meiner Kindheit in der Region Siirt zuerst erzählt hatte. In meiner Zeit auf dem Gymnasium hatte ich dann schon manche davon niedergeschrieben. Sie standen seitdem in meinen Tagebüchern, bis ich einigen Leuten begegnete, deren Dörfer Anfang 1990er Jahre aus Sicherheitsgründen evakuiert worden waren, und die sich daraufhin in unserem Dorf niederließen. Zu jener Zeit wohnte ich in der türkischen Stadt Adana, als ich jedoch im Jahr 1993 unser Dorf besuchte und mich mit diesen Familien unterhielt, habe ich mich wieder mit den Märchen beschäftigt. So konnte ich beispielsweise von den zwei Familien Abdulkadir (Qado) Schen, der Sohn Ibrahims, und Ibrahim Schen aus der Region Botan einige Märchen sammeln und sie meinen Märchen hinzufügen. Darüber hinaus konnte ich durch Gespräche über die Märchen diese mit denen meines Großvaters vergleichen und dort notwendige Veränderungen vornehmen.

Für die Richtigkeit der Märchenversionen habe ich nochmals einige Verwandten und Freunde in meiner Heimat befragt. Trotz all meiner Bemühungen konnte ich manche Lücke in einem Märchen nicht ausfüllen. Vor allem das erste Märchen ist nicht vollständig, da es verschiedene Versionen des Märchenteiles gibt. Viele der anderen Märchen habe ich verbessert, einige konnten wiederum unverändert blieben.

Die Idee jedoch, daraus ein Buch zu machen, stammt von meinem Bruder Lokman, welcher Germanistik studierte. Als ich auf die Zulassung für die Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin wartete, habe ich mich wieder hingesetzt und mit Lokmans Hilfe alle zehn Märchen neu bearbeitet und zusammengestellt. Mein Bruder kannte sie besser, da er längere Zeit mit unserem Großvater verbracht hatte und sogar neben ihm war, als dieser im Jahr 1995 starb. Mein Großvater hatte keinen Schulabschluss, aber anstelle des Schulbesuches ging er in eine Medresse, wo er bei einem Gelehrten eine religiöse Ausbildung erhielt und so das heilige Buch „Koran“ lesen konnte. Die arabische Schrift schreiben oder Arabisch sprechen hatte er jedoch nicht gelernt. Außer für seinen Militärdienst und einer Pilgerfahrt nach Mekka war er nirgendwohin gereist. Er war sehr gläubig und las uns immer die religiösen Hymnen, Märchen, Erzählungen und Geschichten vor.

Eigentlich hätte ich dieses Buch „Die Märchen meines Großvaters“ nennen sollen, da ich aber ich viele Veränderungen vornahm und neue Märchen eingefügte, wovon viele zu den kurdischen Volksmärchen gehören, habe ich den Titel „Die kurdischen Märchen“ gewählt.

So bedanke ich mich zuerst bei meinem Großvater (Gott möge ihn in Frieden ruhen lassen), dass er mein Interesse für die Märchen geweckt hatte. Ich danke meinem Bruder Lokman für seine viele Hilfe und den Mut, den er mir gab, dieses Buch zu schreiben. Des Weiteren gebührt der Familie Ibrahims und Qados und all den anderen, die aus dem Gebiet Botan in unser Dorf einwanderten, großer Dank.

Ein Freund, bei dem ich mich besonders bedanken möchte, ist Christian Schröter. Wir haben zusammen Iranistik studiert. Er kennt sich sehr gut mit dem Thema Märchen aus und hat sogar einige Erfahrung als Märchenerzähler für Kinder in Berlin und seiner Heimat Thüringen gesammelt. Er erledigte die deutsche Korrektur, nahm nötige Veränderungen vor und brachte die Arbeit auf den letzten Stand. Für die viele Arbeit, die er für dieses Buch geleistet hat, bin ich ihm sehr dankbar.

Die jeweiligen zugehörigen Abbildungen geben einen wirklich wunderbaren Eindruck von den einzelnen Erzählungen und wecken das Interesse bei den Lesern. Vielen Dank an den irakischen Kurden Fehmi Balayi für diese Illustrationen. Bei Roni Ozmen bedanke ich mich für die kurdische Redaktion. Außer diesen Personen gehört mein Dank alle jenen, die mir ihre Zeit gaben und mir die Märchen wieder und wieder erzählten. Zu letzt noch ein Dank an meine Freunde und Verwandte für ihre Hilfe.

[1] Luise-Charlotte Wentzel, 1978, Kurdische Märchen, s. 271, Köln, Duseldorf, Diederichs.

[2] Das Rahmen-Motiv aus „1001 Nacht“, dass Geschichten-Erzählen vor drohendem Unheil bewahren kann, wurde auch von den Kurden übernommen.

[3] siehe hierzu das Buch von Eva Savelsberg, Siamend Hajo und Carsten Borck, 2000, „Kurdische Frauen und das Bild der kurdischen Frau‎“ , Kapitel Phantasie: Die weiblichen Heldin, Seite 39.

[4] Ordichane und Celile Celil, 1978, „Kurdische Volksmärchen“, Jerewan/Armenien (mit einem Vorwort in kurdischer Sprache mit kyrillischer Schrift)

[5] Cemal Nebez „Kurdische Märchen und Volkserzählungen“ (1972), Bamberg.

[6] „X“ bedeutet hier einen Menschen, ein Tier oder eine Sache.

Kurdische Märchen: Ein Stück des indo-europäischen Kulturerbes

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