Читать книгу Als Maria in Dublin die Liebe fand - Emma Donoghue - Страница 7

KAPITEL 1

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»2 SUCHEN MITBEWOHNERIN!« Zwei Fitzel Kreppband fixierten die Karte am Schwarzen Brett. »EIGENES ZIMMER. Wow! BIGOTTERIE UNERWÜNSCHT.«

Der Text war mit roter Tinte geschrieben, außer dem Wow!, das jemand dazugekritzelt hatte. Irgendein Daumen hatte die obere Hälfte der 2 verschmiert, so dass sie jetzt wie ein Schwan aussah, der seinen Schnabel hoch in den Wind reckte. Maria kramte nach einem Kuli.

Sie schrieb die Anzeige auf die erste Seite ihres Notizblocks ab, der, wie sie leicht verärgert feststellte, so leer und jungfräulich aussah wie die Hausaufgabenhefte, die die Nonnen am ersten Schultag immer verkauft hatten. Sie unterschlängelte die Telefonnummer. Wahrscheinlich wohnte in der Zwischenzeit schon jemand in dem Zimmer, denn die beiden oberen Kartenecken hatten bereits Eselsohren. Trotzdem, einen Versuch war es wert. Es war besser als alle anderen Angebote. Maria war nicht sicher, wie lange sie es noch mit der Tante und deren Fußbänkchen aushalten würde.

Ihr Blick glitt über das Anschlagbrett mit den abblätternden Zetteln, auf denen alles Mögliche angeboten wurde von »Nachhilfe in fließendem Angelsächsisch« bis »Verkaufe garantiert sicheres Fahrradschloss«. Von den Mietangeboten klang eines so trist wie das andere. »S. niedr. Miete« bedeutete mit Sicherheit ein Loch und »informelle Atmo« Blauschimmel im Brotschrank.

Maria steckte den Kuli in ihre Blusentasche zurück und lehnte sich gegen die Säule mit den Flugblättern. Sie faltete die Hände locker über dem Notizblock und hielt ihn gegen den Bauch gedrückt. Ihre Mundwinkel hoben sich ein wenig – gerade so viel, als ob sie auf jemanden warten würde, hoffte sie, aber nicht so, dass es albern aussah. Sie presste den Notizblock fester an sich und fühlte sich so wohl wie in einer alten Rüstung. Mit gesenktem Blick beobachtete sie die Menge, die in der Mensa jeden Tisch und Stuhl in Beschlag nahm.

Ein paar Typen in schwarzem Leder traten gegen einen Kaffeeautomaten. Sie sah schnell weg, damit nicht einer von ihnen einen Spruch auf sie losließ, auf den ihr keine Antwort einfallen würde. Durch die Schmutzschicht auf dem Fenster fiel ihr Blick auf eine silbrige Fläche. In der Collegebroschüre hatte der See um einiges blauer ausgesehen. Ihr Griff um den Notizblock war zu fest, sie lockerte die Finger und stellte sich vor, sie wäre ein Seehecht. Dick und stoisch würde sie geheime Öldosenlager untersuchen, schwarze Aststücke, eine gesunkene Sandale, die grün vor sich hin schimmelte. Ein großer geduldiger Fisch, der auf den Sommer wartet, wenn der erste nichtsahnende Zeh nur wenige Zentimeter vor seinem zuschnappenden Maul entfernt eintaucht. Maria unterdrückte ein Lächeln.

Sie beugte die Knie und ließ sich hinabgleiten, bis sie auf der obersten Stufe saß. Irgendetwas kitzelte sie am Hals, und sie wich abrupt aus, aber es war nur die abstehende Ecke eines der orangefarbenen Plakate für den Erstsemesterball. Über ihre Schulter hinweg las sie die Einzelheiten und registrierte, dass in »Kommittee« ein paar Konsonanten zu viel untergebracht waren. Dann befahl sie sich, nicht gleich am ersten Tag so verdammt negativ zu sein, und wandte den Kopf wieder nach vorn. In einer entfernten Ecke, unter dem mit braunen Spritzern übersäten Wandgemälde von Mutter Irland, entdeckte sie einen flüchtigen Bekannten aus ihrem Heimatort. Seine Cordhosenknie waren bis unters Kinn hochgezogen, ein Flugblatt der Ökologiegruppe verbarrikadierte das Gesicht. Nein, sie würde nicht hingehen und hallo sagen – so verzweifelt war sie nicht.

Trigonometrie war ein stickiges Mauseloch im vierten Stock. Sie zählte vierundzwanzig Köpfe und zwängte sich zaghaft in die letzte Reihe. Das Mädchen neben ihr schien zu schlafen, das gesträhnte Haar hing ihr wie Efeu ums Gesicht. Maria spürte die Wärme, die von der weichgepolsterten Hüfte ausging. Als der Tutor ihre Namen abfragte, ging eine Art Rucken durch die Bank, und der Kopf des Mädchens flog hoch.

Maria las sich den Anzeigentext noch einmal durch; sie spürte, wie ihr Mund vor Unschlüssigkeit erschlaffte. Als die Namensliste rundging, versetzte sie ihrer Nachbarin einen behutsamen Stoß und hielt ihr den Notizblock hin. »Entschuldigung, aber weißt du vielleicht, was diese kleinen Zeichen hier bedeuten?«

Rosafarbene Fingernägel kaschierten ein kurzes Gähnen. »Das bedeutet einfach Frauen«, murmelte das Mädchen. »Irgendwie feministisch, kenn man ja, die Sorte.«

Ihr Blick wurde forschend. Maria flüsterte: »Vielen Dank« und senkte den Kopf. Sie war weit davon entfernt, »diese Sorte zu kennen«. In der Bücherei ihres Heimatortes hatte sie Der weibliche Eunuch entdeckt, eine zerfledderte Ausgabe, in die die verrückte Nelly Anmerkungen auf die Seitenränder gekritzelt hatte. Es hatte ihr sehr gut gefallen – ganz besonders die Stellen, die Nelly unterschlängelt hatte –, aber sie konnte sich keine Mitbewohnerinnen vorstellen, die den ganzen Tag lang daraus zitierten. Aber letztlich, sagte sich Maria, als der Kurs sich zum Ende hinschleppte, war sie nicht hier, um Vertrautes zu finden. Wenn Dublin sich also merkwürdig anfühlte – so windig, überall leere Chipstüten, niemals still –, dann war je merkwürdiger, umso besser.

Es war fünf nach zwölf, als sie an den vielen Ellbogen vorbei aus dem Raum schlüpfen konnte. Eine Gruppe Dozentinnen und Dozenten kam aus deren Aufenthaltsraum hinter ihr, ihre anglophile Art, die Wörter auszusprechen, hallte durch den Flur. Maria eilte die Treppenstufen hinunter auf der Suche nach einem Telefon. Als sie ihr Spiegelbild in einem der verschmutzten Treppenhausfenster erblickte, blieb sie stehen, um die Schulterpolster ihrer schwarzen Jacke zurechtzurücken. Diese verdammten Dinger – sie sollten ihr einen Ausdruck von Selbstbewusstsein verleihen, stattdessen machten sie ihr einen Buckel. Sie fuhr mit den Fingern durch ihren Pony und reckte ihr spitzes Kinn energisch vor.

»Huhuu, Maria!«

Sie ignorierte den Ruf, denn hier kannte niemand ihren Namen.

Der Ruf wurde schriller. Sie spähte unter dem Geländer durch und sah, dass die gesträhnte Blonde aus dem Tutorium ihr aus einem Wirrwarr von Trenchcoats heraus zuwinkte. Um zu ihr zu gelangen, musste sie sich zwischen einer abstrakten Bronzefigur und dem Pappdolmen der Archäologiegruppe hindurchzwängen.

»Du heißt doch Maria, nicht wahr?« Sie trug eine Anstecknadel aus Emaille, auf der Material Girl stand.

»Ja, aber es spricht sich nicht ›Mar-eia«, sondern ›Mar-ia‹, mit einem spitzen ›i‹«, erklärte sie.

Die Stimme ergoss sich weiter. »Spitz? Wie schrecklich. Ich schmeiße Mathe übrigens gleich wieder. Das Leben ist zu kurz. Ich habe gehört, wie der Trigonometrie-Typ deinen Namen aufgerufen hat, und gedacht, also die sieht so aus, als wüsste sie, wovon der da quasselt, was mehr ist, als man von mir behaupten kann.«

»Mir gefällt Mathe irgendwie«, sagte Maria zögernd.

»Pervers.« Ihr Blick schweifte ab zu einem Flecken auf ihrer blassrosa Hose, und sie kratzte mit einem Fingernagel daran herum. »Ich persönlich wechsele zu Philosophie. Ich habe gehört, dass man dort die Prüfung in jedem Fall besteht.« Sie schaute auf. »Oh, ich heiße Yvonne, hatte ich das schon gesagt? Tut mir leid, ich hätte mich vorstellen sollen.«

Maria verzog das Gesicht zu ihrem ersten Grinsen an diesem Tag. Weil sie nicht wollte, dass es auch nur eine Sekunde zu lang anhielt, sah sie weg und sagte, dass sie auf der Suche nach einem Telefon sei.

»Drüben in der Ecke, hinter dem Raum der Studentengemeinde. Ist es wegen der WG?«

»Ja – vielleicht.« Zu defensiv. »Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden.«

»Ich persönlich«, vertraute Yvonne ihr an, »hätte kein Vertrauen zu irgendetwas, das auf einem Aushang in diesem versifften Studentenwerk angepriesen wird. Eine Kusine von mir hat eine sehr schlechte Erfahrung mit einem gebrauchten Mikrowellenherd gemacht.«

Maria schürzte die Lippen. »Was hat er ihr denn angetan?«

»Das weiß ich auch nicht so genau«, gab Yvonne zu. »Also, hör zu, wenn die Frauenbewegten dir nicht liegen … Ich habe einen Onkel, der wirklich sehr schöne Wohnungen vermietet, richtige Apartments, gleich hinter Dublin 4 …«

»Nun, ich suche eher etwas Preiswertes«, sagte Maria. »Ich muss sehen, dass ich mit meinem Geld auskomme.«

Yvonne nickte, ihre Ohrringe hüpften auf und ab. »O Gott, ich weiß, wovon du redest, wo geht das nur immer hin? Ich bin bei meiner Mum schon bis über beide Ohren wegen des Ballkleids verschuldet. Wie sollen wir das bloß bis Weihnachten durchhalten, Maria, kannst du mir das mal sagen?«

»Ja.«

»Ähm, hallo, Entschuldigung, ist das 036942?«

»Soviel ich weiß.«

»Oh. Also, es ist wegen eurem Aushang.«

»Unserem was?«

»Wart ihr das nicht?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Eure Anzeige. Eurem Aushang am Schwarzen Brett im Studentenwerk.«

»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«

»Aber – tut mir leid, ich habe ihn dort erst heute Morgen gesehen.«

»Was stand denn da?«

»Also, es fängt mit einer ›zwei‹ an, dann so eine Art Symbol oder so was …«

»Bleib dran. Ruth? Ruth, stell den verdammten Fön ab! Sag mal, offerierst du unsere Dienste seit Neuestem im Studentenwerk? Was? Nein, ich bin nicht begriffsstutzig. Oh, die Wohnung, okay, warum hast du mir denn nichts gesagt? – Du da, bist du noch dran? Ich erfahre hier nie etwas.«

»Ich hatte nur gedacht, vielleicht könnte ich vorbeikommen und mir das Zimmer mal ansehen, falls es euch recht ist. Es sei denn, ihr habt schon jemanden.«

»Was weiß ich – womöglich hat sie das ganze Gebäude schon an die Zeugen Jehovas untervermietet.«

»Vielleicht sollte ich später noch mal anrufen.«

»Nein, ist schon in Ordnung. Warum kommst du nicht auf einen Happen vorbei?«

»Heute noch?«

»Wir sterben doch morgen.«

»Ihr macht was?«

»Nutze den Tag, denn morgen sterben wir. Entschuldige, ich spiel mich nur auf. Komm so gegen acht.«

»Wirklich? Das wäre super. Bis dann.«

»Warte doch, wie heißt du überhaupt? Ich frage nur, damit wir nicht irgendeine Fremde, die hier reinschneit, zum Abendessen einladen.«

»Entschuldigung. Ich heiße Maria.«

»Also, ich bin Jael. Übrigens, stand unsere Adresse in der Anzeige?«

»Ich glaube nicht, nein.«

»Dann gebe ich sie dir vielleicht besser, es sei denn, du verlässt dich lieber auf deine Phantasie.«

»Sag mal, machst du dich irgendwie über mich lustig?«

»Darauf kannst du deinen Hintern verwetten. Okay, also jetzt mal im Ernst, Leute – es ist Beldam Square 69, oberstes Stockwerk. Du nimmst den Bus Nummer sieben ab Universität und sagst dem Schaffner, er soll dich hinter der Kirche ›Zu den kleinen Schwestern der Armen‹ rauslassen. Okay?«

»Ich denke schon.«

»Und sei hungrig.«

Sie liebte die Doppeldeckerbusse, jeden einzelnen dieser letzten schwerfälligen Ungeheuer. Einmal zu Weihnachten hatte ihre Mam mit ihnen einen Ausflug nach Dublin gemacht. Maria war noch klein gewesen, sieben oder so, aber sie hatte die Hand ihrer Mutter auf der halben Wendeltreppe des Busses losgelassen und war zu der vordersten Reihe gerannt. Sie hatte so getan, als hätte sie ein riesiges Lenkrad zwischen den Fäustlingen, und hatte jede Kurve genommen, wobei sie verächtliche Blicke auf die Radfahrenden warf, die im Busschatten verschwanden, als hätte die Erde sie verschluckt. Als sie durch die O’Connell Street bretterte, dunkelte der Nachmittag bereits, und als der Bus in der Henry Street hielt, musste man sie mit Gewalt losreißen. Resigniert war sie den Blockabsätzen ihrer Mutter in die Menge gefolgt. Als sie über die Schulter hinweg zurückgeblickt hatte, sah sie, wie in der ganzen Straße die Weihnachtslichter angingen, weiße Birnchen an einem Baum nach dem anderen, die gemeinsam den Himmel marineblau färbten. Maria hatte ihre Mutter fragen wollen, wieso Licht die Dinge dunkler machte, aber dann waren sie schon in der Moore Street gewesen, und ihre Stimme war untergegangen in den gellenden Rufen: Ge-schenk-pa-pierl Fünf Bogen zwanzig Pence!

Dies hier war nicht dieselbe Strecke, sondern eine sehr viel ruhigere Fahrt, aber vielleicht hatten die zehn Jahre seither lediglich ihre Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt. Der Bus tuckerte um georgianische Plätze herum, vorbei an abwesend wirkenden Bürofenstern. Es war kurz nach halb acht und keine Seele mehr zu sehen; nur hier und da ein Zeitungsladen an einer Straßenecke, aus dem noch Licht strömte. Maria stieg an der richtigen Haltestelle aus, aber weil sie Angst hatte, zu früh zu sein, wanderte sie zu dem letzten Laden zurück und trödelte zwanzig Minuten lang bei den Zeitungen herum. Die junge Frau hinter dem Verkaufstresen hatte einen hohl klingenden Husten – bei jedem Anfall krümmte sie sich auf ihrem hohen Hocker zusammen. Nach einer Weile begann Maria sich unbehaglich zu fühlen und kaufte eine Ausgabe von Her und eine Tüte Chips.

Sie leckte sich das Salz von den Fingern, als sie an der dritten Ecke des Beldam Square vorbeiging. Die Nummer 69 grenzte direkt an eine kleine Straße, die Ziffern waren in das Oberlicht eingraviert. Maria klopfte zweimal an die Seitentür mit dem abblätternden Lack, bis sie merkte, dass diese nur eingeklinkt war. Drinnen tastete sie nach dem Lichtschalter. Drei Meter über ihr ging eine Lampe an, rund und perlmuttfarben wie die bei ihrem Zahnarzt, auf die sie sich beim Bohren konzentrierte. Als sie die erste teppichbelegte Treppe halb hinauf war, fiel ihr das zusammengerollte Hochglanzmagazin unter ihrem Arm wieder ein. Sie zog es hervor und überflog die Titelseite. »Bereitet Ihr Chef Ihnen Kummer?« – das war in Ordnung, und selbst die glühendste Feministin konnte nichts gegen »Mit Brustkrebs leben« einwenden. Zweifel kamen ihr allerdings bei »Warum nette Männer nicht sexy sind«, und als ihr Blick auf »Zu Weihnachten – runter mit dem Speck« fiel, rollte sie die Zeitschrift wieder zusammen und ließ sie unten auf der Treppe liegen. Sie konnte sie ja auf dem Rückweg wieder einsammeln. Vielleicht mochte sie die beiden gar nicht.

Von einer Stufe zur nächsten stand Maria im Dunkeln. Das verdammte Licht hatte einen Zeitschalter. Mit ausgestrecktem Arm griff sie nach dem Geländer, eine kalte Schlange aus Holz, die ihre Hand nach oben zog. Noch war nichts von gekochten Linsen zu riechen, dachte sie, als sie um eine Biege geführt wurde und dann eine weitere Treppe hinauf. Wie viele Feministinnen braucht man, um eine Glühbirne in die Fassung einzuschrauben? Eine, die die Birne einschraubt, eine, die die Linsensuppe rührt, und eine, die sich über das Wort »einschrauben« aufregt. Ihr frecher kleiner Bruder hatte das einmal gesagt, als sie sich eines Abends über einen sexistischen Beitrag im Fernsehen beschwert hatte. Sie hatte ihm dafür später eines mit dem Geschirrtuch übergezogen.

Ein grauer Lichtstreifen zerteilte die obersten Treppenstufen. Die nackte, unlackierte Tür stand eine Handbreit offen. Maria beobachtete, wie sie sich im Luftzug leicht bewegte. Sie knöpfte ihre Jacke zu und wieder auf. Der Geruch von Knoblauch war verlockend. Ihr erstes Pochen war kaum zu hören. Sie fasste sich ein Herz und bummerte gegen das Holz.

»Hi, Moment – das Essen brennt an!«, schrie es von drinnen. Eine lange Pause. »Ich meine, du kannst natürlich reinkommen.«

Maria stand im Dämmerlicht eines Flurs und ertastete eine halbe Erdnuss tief in der Tasche ihrer Jeans, als eine Frau sich mit dem Ellbogen den Weg durch einen Perlenvorhang bahnte. Sie stopfte ein paar Haarsträhnen unter eine schwarze Kappe und lächelte warm und herzlich. »Ich bin Ruth – die andere.« Sie hielt die Perlen beiseite und ließ Maria eintreten. Sie wies auf ein Sofa, über das eine Decke mit Schottenmuster geworfen war, und murmelte: »Setz dich. Ich muss eben ein Wörtchen mit unserem Wok reden. O Göttin, was für ein Chaos.«

Maria räusperte sich. »Halb so schlimm«, erklärte sie und suchte sich auf dem Sofa einen Platz zwischen einem Wörterbuch und einem Körbchen voller Brombeeren.

»Weißt du, ich wollte eigentlich früh nach Hause kommen, Ordnung schaffen und die vollendete Gastgeberin spielen, aber erst stand ich in der Schlange am Kopierer in der Bibliothek, und dann ist meine Uhr stehengeblieben – jedenfalls bin ich gerade erst heimgekommen.« Ruth wandte sich wieder dem Wok zu und rüttelte ihn so heftig hin und her, dass der Einsatz schepperte. »Und diese verdammten Zwiebeln bleiben an der nichthaftenden Oberfläche haften.«

Maria sah ihr zu, wie sie sich geschickt zwischen Herd und Tisch hin- und herbewegte und Steingutteller und Weingläser herbeischaffte. Aus dem Spülbecken holte sie ein Bündel nasser Zweige, stellte sie in eine leere Milchflasche und platzierte sie großartig mitten auf den Tisch. Maria wartete darauf, dass ein Tropfen Wasser von einer der rostfarbenen Blattspitzen auf die Holzfläche fallen würde.

Ruth ließ sich auf das Sofa sinken. Sie richtete den Blick auf ihre übergroße schwarze Armbanduhr und schaute dann wieder hoch. Ihre Augen waren wachsam und schokoladenbraun. »Typisch, ich reiße mir ein Bein aus, um alles zu zehn nach fertigzubekommen, und die Gnädige ist noch nicht da.«

»Übrigens, was ich fragen wollte, schreibt man es mit Y?«

»Schreibt man was mit Y?«

»Den Namen. Wie in Yale-Schloss.«

»Nein, nein mit J. Jael aus dem Buch der Richter. In der Bibel, weißt du? Entschuldige, ich sollte das nicht voraussetzen. Jedenfalls, diese Jael tötete den feindlichen Feldherrn, indem sie ihm mit dem Schmiedehammer einen Zeltpflock durch die Schläfe trieb, wenn ich mich recht entsinne.«

»Oh.« Nach einer kurzen Pause fragte Maria weiter: »Studiert sie auch?«

Ruths Ausatmen verwandelte sich in ein Gähnen, bevor sie antwortete. »Langfristig gesehen ja, obwohl sie jetzt gerade wahrscheinlich in der Stadt herumstreicht, lilafarbene Socken kauft und Cappuccino trinkt.« Sie lehnte sich in die Kissen zurück und rollte den Kopf hin und her.

»Macht sie das oft?«

»Alle paar Wochen. Manchmal sind es Schnürsenkel statt der Socken. Es sind ihre Hormone, weißt du?«

Sie fingen an zu kichern, als die Eingangstür aufflog und Schritte durch den Flur polterten.

Ruth öffnete den Mund in ihrem schmalen Gesicht. »Jaelo«, sang sie. »Komm her und unterhalte unseren Gast.«

Pause – dann schob sich ein blasses, sommersprossiges Gesicht durch den Perlenvorhang. Sehr groß, sehr rotes Haar. Ein beunruhigendes Lachen, als sie ihre Plastiktüten auf das Sofa schmiss, wobei sie die Brombeeren nur knapp verfehlte. »Hallo du, neue Person, ich hatte dich vollkommen vergessen. Maria, nicht wahr?«

»Ja, aber mit einem spitzen ›i‹ – Mar-i-a«, erklärte sie. »Eigentlich ist es nicht so wichtig, weil die meisten es ohnehin falsch aussprechen.« O Gott, sie hörte sich wirklich an wie siebzehn.

»Hast du dir das absichtlich so ausgesucht, damit es sich auf Paria reimt?«, fragte Jael, und ihr Stuhl scharrte über die nackten Fußbodendielen.

»Ähm, nein, eher nicht.« Los, kneif jetzt nicht. »Was bedeutet das eigentlich?«

Mit dem Schnürriemen ihres Stiefels beschäftigt, hielt Jael inne, den Fuß in der Luft. »Weißt du, genau kann ich dir das auch nicht sagen. Jemand, der irgendwie abweicht. Es ist eines dieser Wörter, mit denen man ständig um sich schmeißt, bis jemand fragt, was es heißt, und dann merkt man, dass man die ganze Zeit über Scheiße geredet hat.«

Maria räusperte sich.

»Ausgestoßener«, murmelte Ruth, als sie den Wok zum Tisch brachte, das Gesicht wegen des Dampfes abgewandt. »Der Paria befindet sich auf der untersten Stufe des indischen Kastensystems.«

»Und die Allwissende auf der zweituntersten.« Jael schob die Hand in einen Topfhandschuh, der wie ein Krokodil aussah, und machte einen Satz auf Ruth zu, die ihr jedoch geschickt auswich.

Die nächstbeste Sitzgelegenheit war von einem Fuß in einem roten Strumpf besetzt. »Tut mir leid, Maria, aber meine Größe zehn braucht einen eigenen Thron. Setz dich da hin, ans Kopfende des Tisches«, kommandierte Jael. »Aber lehn dich besser nicht zu weit zurück, sonst bricht der Stuhl auseinander.«

Sie setzte sich zurecht und probierte einen der Pilze.

»Kümmere dich einfach nicht um diese Frau«, sagte Ruth, rollte die Ärmel ihres Jeanshemdes herunter und reichte den Korb mit dem Knoblauchbrot herum. »Sie hat ihn im letzten Sommer selber kaputtgemacht, als wir ein paar Leute zum Essen hier hatten und es mitten in ihrem improvisierten Gitarrenvortrag mit ihr durchging.«

»Alle meine Gitarrenvorträge sind improvisiert«, sagte Jael in bekümmertem Ton. Sie zerrte den Korkenzieher aus der Flasche und beugte sich zu Maria vor.

Automatisch bedeckte diese das Glas mit der Hand. »Nicht für mich, danke.«

Jael ließ den Wein durch Marias Finger sickern.

Sie riss die Hand weg. Rote Tropfen spritzten auf den Tisch, einer davon verlief sich in einer Ritze auf der Holzfläche. »Ich habe gesagt, ich –«

»Ich habe gehört, was du gesagt hast.« Das bauchige Glas war zu zwei Dritteln gefüllt. »Aber du kannst Ruths Kochkünste nicht beleidigen, indem du Wasser dazu trinkst, und schon gar nicht das verseuchte Leitungswasser von Dublin.«

Maria leckte sich die Finger der Reihe nach ab, während sich das Gespräch anderen Dingen zuwandte. Der Wein schmeckte so vollmundig wie der in den überteuerten Flaschen, die ihr Dad hinten im Laden für gelegentlich auftauchende Dubliner aufbewahrte, die auf dem Weg in ihr Ferienhaus waren. Sie machten häufig im Ortszentrum Rast, um sich die Füße zu vertreten und den Kofferraum mit Ingwerkuchen und Feueranzündern vollzupacken. Wie viele Jahre würde es wohl dauern, bis sie auch so eine Fremde geworden war? Sie griff nach dem Glas und trank einen geräuschlosen Schluck. Drei Jahre College, vorausgesetzt, sie hatte Glück und bestand gleich alles im ersten Anlauf. Dann irgendein Job, auf den ihre Statistikkurse sie in keiner Weise vorbereitet haben würden. Oder weitermachen bis zur Magisterprüfung in Kunstgeschichte. Dann Arbeitslosengeld und Kindern helfen, Wandgemälde auf baufällige Hausmauern zu malen. An welchem Tag, in welchem Monat im Laufe der Jahre würde sie feststellen, dass sie eine Entwurzelte geworden war – ein kleiner Punkt innerhalb der sich ausbreitenden Stadtlandschaft? Ihr Dialekt wurde jetzt schon bröcklig. Der Abschiedsgruß für den Busfahrer an diesem Abend hatte Vokale enthalten, von deren Existenz sie bis vor kurzem überhaupt nichts gewusst hatte.

Da war etwas hinter Ruths sich essend bewegenden Kopf, das auf der Fensterscheibe schimmerte. Es sah aus wie ein Falke – oder ein Riesenschmetterling? Maria wollte die Diskussion nicht unterbrechen, in der es um die Zukunft oder Zukunftslosigkeit der irischen Sprache ging. Sie konnte sich die Fensterscheibe bei Tageslicht einmal genauer ansehen. Falls sie je bei Tageslicht hier wäre. Falls sie nicht noch heute Nacht den Zug nach Hause nähme und am Montag anfinge, im Laden die Kartoffeln zu sortieren. In dem kleinen Ort wussten die Leute wenigstens, wie man den Namen des anderen aussprach.

Als Maria sich den letzten Bissen des kälter werdenden Essens in den Mund geschoben hatte, prahlte Jael gerade mit ihrer zwanzig Jahre langen Erfahrung in Sachen gute Weine.

»Demnach hat man dir wohl schon als Baby Wein eingeflößt«, sagte Maria.

Jael machte große Augen und wandte sich an Ruth. »Soll das etwa heißen, dass du sie nicht gewarnt hast?«

Ruth starrte mit abwesendem Blick auf den Kühlschrank. »Ich wusste, dass ich die Bohnensprossen vergessen würde. Entschuldigung, vor was gewarnt?«

»Davor, dass wir alte Schachteln sind. Die von der üblen Sorte, die sich unter dem Euphemismus ›reife Studentinnen‹ verbergen.« Jael hob eine ihrer Locken hoch und deutete auf unsichtbare Krähenfüße um ihre Augen herum. »Deine entzückende Gastgeberin dort ist vierundzwanzig, und ich bin neunundzwanzig, auch wenn es mir schwerfällt, das zuzugeben.«

»Das kann doch wohl nicht sein.« Marias Augen wanderten von einer zur anderen. Sie trank noch einen Schluck Wein. »Keine von euch beiden sieht danach aus. Das heißt, du siehst nicht gerade jung aus, aber auch nicht wie fast schon dreißig.«

Jael stieß ein gackerndes Gelächter aus, wobei sie den letzten Pilz auf einer Gabel voll Broccoli balancierte. »Ich bewahre mir mein jugendliches Aussehen, indem ich nachts das Blut jungfräulicher Erstsemesterinnen trinke.«

»Du siehst viel älter aus als ich«, sagte Ruth nachdenklich. »Stimmt’s, Maria?«

»Ich ergreife keine Partei, ich bin hier nur zu Besuch.«

Ruth griff an Jael vorbei nach dem Wein. »Wenn ihre Haare nicht rot wären, sähe man das Grau viel deutlicher. Und dann solltest du erst mal die Zellulitis an ihren Hüften sehen.«

Jael machte ein wütendes Gesicht und schnipste mit einer Erbse nach ihr. Ruth flüchtete zum Abwaschbecken und ließ den Wasserkessel volllaufen.

»Und was ist mit dir?«

Maria zuckte zusammen. Sie war darin vertieft gewesen, mit der Gabel in dem verschütteten Wein Kreise auf dem Tisch zu ziehen. »Was möchtest du wissen?«

»Na, das Übliche«, sagte Jael, zog den ausgefransten bunten Pullover über den Kopf und warf ihn beiseite, wobei sie das Sofa knapp verfehlte. »Geburtsort, Studienfächer, Lebensdaten, schlechte Angewohnheiten, Ansichten über die Bedeutung des Lebens.«

Maria dachte nach. Die Gabel in ihrem Mund schmeckte nach Metall. »Ich lasse mich nicht gerne ausfragen«, sagte sie und lächelte ein wenig, um die Worte abzuschwächen.

War das Respekt in Jaels verschmitzten blauen Augen, oder wirkte sie eher amüsiert?

Sie schob den glasierten Kaffeebecher über den Tisch, um ihn sich aus der Kaffeekanne füllen zu lassen.

»Aber wie sollen wir denn dann herausfinden«, fuhr Jael fort, »ob du die notwendigen Voraussetzungen für eine gute Mitbewohnerin mitbringst?«

»Du musst raten.«

Ihre Mutter hätte ihr eines auf die Finger gegeben für derart schlechte Manieren, aber ihre Mutter war mehr als hundert Meilen entfernt. Und zu Hause gab es auch keine Kaffeesahne. Sie nahm das Kännchen aus Ruths ausgestreckter Hand entgegen. Ruths Blick ruhte auf ihr. »Sag uns zumindest eines: Wieso hast du auf unseren Aushang geantwortet? Ich könnte mir vorstellen, dass du Freunde von zu Hause hier hast, die mit dir an die Uni gekommen sind.«

»Oh, habe ich auch. Das heißt Schulfreunde, keine richtigen Freunde. Die meisten studieren Wirtschafts- oder Agrarwissenschaften. Sie sind nett und eigentlich ganz in Ordnung«, fügte sie unbehaglich hinzu. »Es ist nur so, dass ich nicht mehr so tun will, als wäre ich genauso nett.«

Ruth nickte. »Ich hatte früher auch Freunde, die ich lediglich als nett hätte bezeichnen können. Dafür ist das Leben zu kurz.«

»Außerdem«, fuhr Maria fort und trank einen großen Schluck von dem heißen Kaffee, »kann ich mir genau vorstellen, wie es wäre, wenn ich mir die Wohnung mit Schulfreundinnen teilen würde. Briefmarken ausborgen, BH-Größen vergleichen und so.«

Jael hustete so heftig, dass sie ihren Kaffeebecher absetzen musste. »So was gab es zu meiner Zeit noch nicht. Wir haben damals Stützkorsetts getragen.«

»Oh. Und außerdem«, sagte Maria und wandte sich wieder Ruth zu, »ist mir euer Aushang wegen dem ›Bigotterie unerwünscht‹ aufgefallen.«

Jael kicherte, über ihren Becher gebeugt. Maria hatte keine Ahnung warum.

»Das war meine Idee«, murmelte Ruth. »Es macht die Dinge einfacher.«

»Es war auffallend«, versicherte ihr Maria.

Ein neuerliches Prusten von Jael.

Hatte sie irgendwas Dummes gesagt? Merkte man ihr wieder an, wie jung sie noch war? Sie setzte schnell hinzu: »Ich war mal drei Wochen lang in der Gaeltacht in Mayo, um Irisch zu lernen, wo zwei Mädel für die Apartheid waren. Ich glaube nicht, dass ich es in einer Wohnung aushalten könnte, in der nicht alle grundsätzlich liberal sind.«

»Du wirst noch merken, dass wir Dublinerinnen im Großen und Ganzen sehr liberal sind«, sagte Jael und schob sich die unbändigen Locken aus der Stirn. »Leben, Freiheit und das Streben nach Guinness-Seligkeit.«

»Ich bin hier die Einzige, die aus Dublin ist«, sagte Ruth.

»Ah, Kildare ist nur ein County weit entfernt. Außerdem habe ich die Atmosphäre dieser Metropole schon seit geraumer Weile in mich aufgesogen. Ich bin jedenfalls genauso eine Dublinerin wie du aus deinem snobistischen Dubliner Süden.« Jael duckte sich, um dem Geschirrtuch zu entgehen. »Hör zu, warum zeigen wir dem Landmädchen hier nicht einfach mal unser entzückendes Domizil?«

Im Dämmerlicht des Flures erhaschte Maria einen Blick auf schwarzweiße Plakate mit Stadtlandschaften. Irgendetwas streifte an ihrem Ohr vorbei. Sie griff mit einer Hand danach und entdeckte einen über ihr hängenden Spinnenfarn. Die Spitzen fühlten sich scharf an. Bei ihr zu Hause hatten sie keine Pflanzen, ihr Dad meinte, dass er davon Heuschnupfen bekäme.

»Das Zimmer ist ein bisschen kahl, fürchte ich.« Ruths Stimme hallte durch den schmalen Flur. Als das Licht anging, blinzelte Maria und registrierte Wände in einem hellen Orangeton und feuerrot gestreifte Vorhänge.

»Wenn du die Farbe zu grauenhaft findest … ich meine, wir hatten schon immer mal vor, das Zimmer zu streichen.«

»Sie ist sehr auffällig«, sagte Maria bedächtig.

»Ruthie, Babe!«, wurde von irgendwoher gerufen. »Ich springe rasch runter in den Schnapsladen. Hast du zufällig einen Zehner?«

Ruth kramte in den Taschen ihrer Jeans und ging hinaus. Maria testete das Bett vorsichtig mit der Handfläche. Die nussfarbene Kommode wirkte altersschwach. Als sie die oberste Schublade aufzog, hielt sie plötzlich den schmiedeeisernen Griff in der Hand. Sie steckte ihn hastig wieder in die Halterung zurück und setzte sich auf den Bettrand.

Die Stimmen sickerten über den Flur zu ihr herüber. Sie überlegte, ob sie sich die Ohren zuhalten sollte, aber das wäre kindisch gewesen. Sie konzentrierte sich auf den alten Kalender, der an einem Nagel neben ihr an der Wand hing. Irland – Königreich des Meeres stand darauf. Auf dem Oktoberbild war ein Taschenkrebs abgebildet, der ihr mit einem Stück Seegras aufgeregt Zeichen zu geben schien.

»Jetzt ist sie weg.« Das war Jael, die Stimme rau.

Maria hielt den Atem an.

»Tatsächlich?«

»Ihr Flug ging heute Morgen um elf. Vielleicht hat sie ihn verpasst, aber das halte ich eher für unwahrscheinlich.«

»Gut.« Ruth wieder, zurückhaltend. »Ich hoffe, sie findet dann auch einen Job. In Dublin hatte sie ja kaum eine Chance.«

Jaels Stimme wurde wieder laut, als sie die Treppe hinunterpolterte. »Bis dann, meine Damen. Bleibt anständig.«

Durch das nackt wirkende Fenster strömte kalte Luft herein. Maria zog die Ärmel ihres Pullis bis über die Finger und stützte sich auf die Fensterbank. Ihr Atem bildete einen schimmernden Kondenskreis. Sie berührte die kühle Fläche mit dem kleinen Finger und malte ein kleines »m« in die Mitte. Als sie Schritte auf dem Flur hörte, hob sie die Hand, um das Zeichen wegzuwischen, doch dann griff sie stattdessen nach den Vorhängen und zog sie zu. Das Zimmer wirkte jetzt sicherer, aber auch kleiner. »Konnte nichts sehen außer Dächern«, erklärte sie Ruth.

»Ja, aber dieses Zimmer geht nach Westen – am späten Nachmittag ist es grandios. Komm, ich zeige dir den Rest.«

Es würde seltsam sein, so viele Treppen hoch zu wohnen, ohne Garten, in den man hinausspazieren konnte. Elegantes wie Schäbiges lebten in dieser Wohnung Seite an Seite. Sie verrenkte den Hals, um den Stuck um die nackte Glühbirne an der Decke zu begutachten.

»Georgianisch«, erklärte Ruth. »Großartiges Oberlicht über der Eingangstür, hast du es gesehen? Drei Stockwerke dieses Gebäudes sind in den Fünfzigern in Büros umgewandelt worden, aber das Dachgeschoss hatte einen zu ungewöhnlichen Schnitt und kam nur als Wohnung in Frage. Im Winter beschissen zu heizen, aber ich liebe diese hohen Decken. Sie erheben den Geist, findest du nicht?«

Maria nickte hingerissen. Die höchste Decke, erinnerte sie sich, unter der sie jemals geschlafen hatte, war die in Onkel Malachys übelriechender Scheune, und zwar in jener Nacht, als man sie versehentlich ausgesperrt hatte. Sie hatte keinen Stein werfen wollen, um Mam nicht aufzuwecken, die nach der Operation immer noch schwach gewesen war. »Wer ist denn unter uns?«

»Es ist unwahrscheinlich, dass du ihnen je begegnest, sie benutzen den Vordereingang. Ein Vermessungsunternehmen, ein Optiker und ein Büro der Pfadfinderinnen. Im Souterrain ist noch etwas, das sich als Haarklinik ausgibt, aber wir haben den Verdacht, dass es sich um ein Bordell handelt. Gibt es in deinem Heimatort auch ein Bordell, Maria?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete sie nach einem Moment der Verunsicherung. »Ich habe zwar mein ganzes Leben dort zugebracht, aber ich habe keine Ahnung. Es existieren Gerüchte über den protzigen Wagen vor Mrs. Keoghs Haus, aber ich wette, das ist nur wegen ihrer roten Haare.«

Ruth lachte verhalten. »Das muss ich Jael erzählen.«

Das Badezimmer war mit weißen Kacheln ausgestattet, sauber, aber hier und da waren die Kacheln gesprungen. Ruth öffnete den Wäscheschrank und rückte eines der gefalteten Handtücher zurecht. Als sie sich umdrehte, wirkte ihr Gesicht in dem kalten Neonlicht müde.

»Ich sollte lieber aufrichtig sein, Maria. Es könnte dir hier etwas abgeschieden vorkommen.«

»Abgeschieden? Inwiefern?«

Eine unbehagliche Pause. »Kommt drauf an, was du suchst.« Ruth beugte sich vor, um eine leere Shampooflasche aus der Wanne zu fischen. »Ich zum Beispiel bin nicht so furchtbar gesellig; ich mache meine Sachen an der Uni, Diskussionsrunden und so, aber wenn der Tag zu Ende ist, rolle ich mich am liebsten zusammen, lese ein Buch und trinke eine Tasse Tee.«

»Ich auch.«

»Tatsächlich?« Ruths Mund wurde weicher. »Du könntest etwas finden, das näher bei der Uni liegt, mit einer jüngeren Truppe, für das gleiche Geld. Andererseits kann das hier auch eine Art Zuhause sein. An guten Tagen.«

»Ich finde es sehr nett«, sagte Maria.

»Wirklich? Es hängt alles davon ab, wie … Womit befasst du dich, Maria?«

»Kunst und Mathematik.«

Die Hände wedelten ihre Antwort beiseite. »Nein, ich meine, was machst du gerne?«

Sie saß auf dem Rand der Badewanne und ließ die Frage im Raum stehen. Ihr Blick fiel auf eine Meerjungfrau aus Keramik, in deren Busen alte Zahnbürsten steckten.

»Ich weiß, es ist total abgeschmackt«, sagte Ruth. »Ich habe alles versucht, aber Jael ist eben ein sturer Skorpion. Angeblich hat es für sie Erinnerungswert, weil ein alter Freund aus Dänemark es ihr geschenkt hat. Ich glaube allerdings, dass sie es nur behält, um mich zu ärgern.«

Maria zog den blonden Scheitel mit dem Finger nach. »Warum hast du sie denn noch nicht aus Versehen von der Fensterbank gestoßen?«

»Daran habe ich noch nie gedacht.« Ruths Gesicht zeigte einen gewissen Respekt. »Ich bin nicht sicher, ob ich es fertigbrächte. Was wäre, wenn es einem Passanten auf den Kopf fallen würde? Wenn du hier einziehst, dann schaffe ich es vielleicht.«

Maria fiel ein, dass sie sich noch beweisen musste. »Zu deiner Frage von vorhin – ich kann gar nicht wirklich sagen, was ich gern mache.«

»Ach, vergiss es – du magst ja keine Fragen.«

»Nein, das ist es nicht.« Ihre Finger blieben auf der kühlen Keramikfigur liegen. »Es ist bloß so, dass ich noch nie woanders gewohnt habe als zu Hause, und deshalb weiß ich nicht, wie das ist. Zu Hause zeichne ich und sehe mir Dokumentarfilme an, über Tiere in freier Wildbahn und so. Ich sitze rum und quatsche mit meiner Mam, während sie kocht, und ich passe auf, dass meine Brüder keine zerbrechlichen Gegenstände in die Finger kriegen.«

»So jemanden braucht man in jedem Haushalt.« Ruths Lächeln verschwand, als sie das Licht ausknipste. »Und das hier ist unser Zimmer.« Sie öffnete die Tür zu einem größeren dunklen Schlafzimmer, in dem etwas Rotes an der Wand hing. »Es liegt nach Norden, deshalb halten wir uns hier nicht viel auf.«

»Aber ihr habt ja noch nicht einmal richtige Betten!«, rief Maria. »Könntet ihr den Vermieter denn nicht fragen –«

»Wir mögen diesen Futon, wirklich. Für Jaels Rücken ist er bestens, und er bietet viel Platz.«

»Es kommt mir ein bisschen unfair vor, dass die, die hier neu einzieht, ein eigenes Zimmer bekommt.«

»Ach, mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Ruth und beugte sich vor, um eine Ecke der Bettdecke glattzuzupfen. »Wir sind mittlerweile aneinander gewöhnt. Ich habe Jael beigebracht, nicht zu schnarchen.«

Am Ende ihrer Runde durch die Wohnung bemerkte Maria eine Motte, die gegen die Decke flatterte. Sie schaute nach oben und entdeckte eine Dachluke. »Kann man auf das Dach gehen? Der Blick über Dublin ist bestimmt großartig.«

»Ehrlich gesagt, ich habe es noch nie versucht.«

»Schade«, sagte Maria und bereute ihren Überschwang.

»Aber ich werde den Vermieter fragen«, setzte Ruth hinzu und stieß eine störrische Tür vor einem Stapel Decken zu. »Obwohl uns dieser geldgierige Kerl bestimmt gleich einen Fünfer auf die Miete draufschlägt für ›die Benutzung der Dachterrasse‹.« Ihre Finger glitten zum Lichtschalter, und dann standen sie im Dunkeln.

Maria rührte sich nicht. Kleinanzeigen – damit lockten Psychopathen die Opfer in ihre Wohnungen.

»Sieh mal«, sagte Ruth.

»Was denn?«

»Da oben. Haben deine Augen sich schon an die Dunkelheit gewöhnt?« Ruths Finger deuteten direkt auf die Dachluke. »Das da müssen die Sieben Schwestern sein.«

»Ich hätte nie geglaubt, dass man in Dublin Sterne sieht. Ich meine, bei dem Smog und so.« Sie schaute mit offenem Mund nach oben.

Die Wohnungstür flog auf.

»Was für Spielchen treibt ihr denn da im Dunkeln?«, fragte Jael, als sie ihr über den Flur entgegenkamen, um ihr die aufplatzenden Tüten abzunehmen. »Hey«, fuhr sie fort, »irgendeine gute Fee hat mir die neueste Ausgabe von Her auf die Treppe gelegt, und darin sind zwanzig Superseiten mit Dessous. Ich habe allerdings so einen Verdacht«, fuhr sie fort und wedelte mit einer Weinflasche vor Ruths Nase herum.

»Sie gehört mir.« Marias Gesicht brannte. »Sie muss mir runtergefallen sein, ohne dass ich es gemerkt habe.«

»Oh, wie schade.«

»Nein, nein, behalt sie ruhig. Ich habe sie schon gelesen. Im Bus«, beharrte sie. »Apropos, ich muss jetzt gehen, sonst verständigt meine Tante die Polizei.«

Nachdem sie sich verabschiedet hatte, knipsten sie das Licht im Treppenhaus für sie an. Sie würden anrufen. Maria würde auf sich aufpassen. Als sie auf dem untersten Treppenabsatz angekommen war, hörte sie, wie eine von beiden anfing, einen Schmachtfetzen aus den Fünfzigern zu summen, einen von denen, die einem hinterher nicht mehr aus dem Kopf gingen.

Maria tat so, als würde sie den Burschen mit dem Motorradhelm, der vor der Telefonzelle herumlungerte, sich die Hände rieb und im Licht der Straßenlaterne auf die Armbanduhr blickte, gar nicht sehen.

»Ja, sie geben mir bis Ende der Woche Bescheid. Ich hoffe es, Mam. Ich glaube, es war ein Plus für mich, dass ich nicht rauche. – Die Miete ist gar nicht so heftig. Wenn ich zu dem Stipendium noch einen Job bekomme, dann klappt das prima. – Zentralheizung und einen Kamin. – Ich habe nicht in den Kühlschrank geschaut. Hätte ich das tun sollen? – Ach, Mam, es ist sehr zivilisiert … Nein, keine verwahrloste Bruchbude. Jetzt reg dich nicht weiter auf. – Okay, ich meine nicht aufregen, sondern Sorgen machen. Mach dir keine Sorgen. – Ja, ich esse ordentlich. Thelma macht alles mit Sahnesoße. – Mam, sie hat mich ausdrücklich gebeten, sie so zu nennen, dann fühlt sie sich jünger. – Ja, sie polstert noch immer Möbel auf. – In Ordnung. Gute Nacht. Und vielen Dank für das R-Gespräch. Grüße Dad und die Jungs. Behüt dich Gott.«

Sie stieß die Glastür der Telefonzelle weit auf und kam mit einem hastigen »Tut mir leid, dass Sie warten mussten« herausgeflitzt. Als sie die Hälfte der Straße zurückgelegt hatte, die Hände wärmesuchend in ihrem Dufflecoat vergraben, fiel ihr ein, dass ihr Füllfederhalter noch auf dem Telefonbuch lag, und sie spurtete zurück.

Der Helmtyp war jetzt mitten in einer lebhaften Unterhaltung über den Hörer gebeugt. Maria klopfte schüchtern gegen die Glasscheibe und kassierte einen wütenden Blick.

»Entschuldigung«, formte sie lautlos mit den Lippen. »Füller.« Sie machte eine Schreibbewegung mit der Hand, dann wies sie auf die Ablage. Dunkle Augen starrten sie durch das Glas hindurch an.

»Schon gut«, bedeutete sie ihm lautlos weiter und wedelte mit den Händen. Sie drehte sich um und ging mit rotem Kopf auf die Straße zurück.

Die Tür der Telefonzelle flog krachend auf. »Was? Was ist los?«

»Nichts, nichts«, rief sie, ihre Stimme klang zittrig.

»He, Lady, komm zurück, ich bin fertig mit Telefonieren.« Er senkte die Stimme, als sie wieder näherkam. »Ich war wohl ziemlich unhöflich. Ich hatte es eilig.«

»Es ist nur wegen meinem Füller«, sagte Maria und räusperte sich. »Ich glaube, ich habe ihn auf der Ablage liegengelassen.«

Er hielt ihn ihr hin. Sie nahm ihn aus seiner Hand. Von nahem betrachtet, war der Typ mager und kaum älter als sie selbst.

»Tut mir leid, dass ich die Tür nicht aufgemacht habe, aber du hättest ja auch ein Messer dabeihaben können oder so.«

Sie starrte ihn an.

»Okay, du siehst nicht gerade aus wie jemand, der einen überfällt«, gab er zu, nahm den Helm ab und strich sich mit einer grobknochigen Hand durch den Haarschopf. »Aber in Brooklyn riskiert man nichts.«

»Kommst du wirklich aus New York?« Sie hörte ihre eigene Stimme, die auf einer verlassenen Straße mit einem Unbekannten sprach. »Entschuldige, dass ich dich gestört habe. Gute Nacht.« Sie marschierte davon und erlaubte ihm auf diese Weise nicht mehr als ein Kopfnicken.

Als sie geborgen auf dem Oberdeck des Busses saß, der sich nach Dun Laoghaire zurückschlängelte, entkrampfte sie die Schultern und lud das Gewicht des langen Tages ab. Zwanzig Minuten zum Träumen, jetzt, wo die hellerleuchteten Ränder der Stadt flackernd in die schwarzen Straßen der Vororte mündeten. Die knorrigen Äste überhängender Rosskastanienbäume schlugen gegen die Fensterscheiben und rissen sie immer wieder in die Gegenwart zurück. Auf dem Glas konnte sie die ersten Regenspritzer schimmern sehen.

Das Haus ihrer Tante war das letzte in einer Sackgasse mit dicken Heckensträuchern. Maria verschaffte sich geräuschlos Einlass und war schon halb die Treppe hoch, als ihr die Ohne-Schuhe-Vorschrift einfiel. Verdammt und zugenäht, wer hatte sich bloß magnolienfarbigen Teppichbelag ausgedacht? Sie zerrte gerade den zweiten Mokassin vom Fuß, als die Küchentür aufging.

»Willkommen daheim. Trinkst du eine Tasse Kakao mit mir?«

»Klar«, sagte Maria und stopfte die Schuhe in die Manteltaschen. Sie tappte die Treppe wieder hinunter und betrat die blitzblanke Küche. »Könnte ich auch ein Glas Wasser haben?«

Thelma zog ihren beigefarbenen Satinschlafrock am Hals zusammen und lächelte angesichts des ängstlich beflissenen Tons. »Ich glaube, das lässt sich machen.«

»Tut mir leid, dass ich so spät komme.«

»Oh, daran habe ich mich bei Alexandra gewöhnt. Sie war immer weg bis fünf in der Früh. Das Studentenleben hat die Vagabundin in ihr zum Vorschein gebracht.«

»Wo ist sie jetzt gerade noch mal?«, fragte Maria höflich und schnitt um ein Haar eine Grimasse, als sie von dem Leitungswasser trank.

»Bukarest. Zumindest kam ihre letzte Postkarte von dort. Amüsier dich, solange du noch jung bist, sage ich immer, sonst tut es dir später leid.«

Maria drehte das Glas in der Hand und beobachtete, wie das Wasser weiße Lichtovale einfing.

Thelma nahm einen kleinen Schluck Kakao, ohne dass sich eine Spur davon auf ihren Lippen zeigte. »Ich habe immer zu ihr gesagt, ›Liebling, triff deine eigenen Entscheidungen – ich werde sie respektieren‹. Ganz besonders während der schlimmen Phase, nachdem ihr Vater von uns gegangen war, dachte ich, sie sollte das wissen.«

Maria nickte und griff nach ihrem Kakao. Plötzlich spürte sie jeden Muskel einzeln.

»Wie ist es denn so bei euch zu Hause – gerätst du oft aneinander mit Caitríona? Streit wegen Jungs?«

Maria presste die Lippen aufeinander. »Mam und ich kommen eigentlich gut miteinander aus.«

»Du nennst sie doch nicht immer noch Mam, oder? Das hört sich an wie in den Vierzigern.« Thelma löffelte den letzten Rest Kakao aus dem Becher.

»Ihr ist es lieber so.«

»Ich verstehe.« Eine nachdenkliche Pause. »Caitríona war nie der Familienrebell.«

»Wie geht’s mit dem Hocker voran?«, fragte Maria, ehe sie unhöflich werden konnte. Sie neigte den Kopf, um den Kakaodampf einzuatmen.

»Sehr gut. Die Schelllackpolitur ist fertig, und morgen fange ich mit dem Sitz an. Er ist für das Wohnzimmer meines Zahnarztes, er nimmt ihn als Zahlung für die abgebrochene Krone von meinem Backenzahn.« Thelmas Gesicht wirkte geradezu mädchenhaft vor Zufriedenheit. »Möchtest du ihn gerne sehen?«

Den Backenzahn oder den Hocker?, überlegte Maria und spürte, wie das schlechte Gewissen sie in die eine und ihre Müdigkeit sie in die andere Richtung zog. »Morgen früh gerne.«

»Gute Nacht dann. In deinem Bett liegt eine Wärmflasche.«

Maria beobachtete das Knäuel Gliedmaßen, das sich zur Einfassung des Sees vorkämpfte. Um sie herum fläzten sich Studentinnen und Studenten auf den Betonstufen, die weißen Gesichter der Herbstsonne zugewandt. Erst bei dem dritten Schrei der Frau in der Mitte des Knäuels begannen die Leute aufzusehen. »Das sind wieder die Ingenieure«, sagte eine träge Stimme dicht hinter Maria. »Es heißt, dass sie den letztjährigen Rekord von zehn Frauen im See bis zum Ende der Einführungswoche übertreffen wollen.«

»Wenigstens scheint dieses Jahr die Sonne«, bemerkte ein anderer.

Maria konnte die Frau jetzt sehen. Sie strebte in die andere Richtung und trat mit den Füßen um sich, machte vergebliche Versuche, ihren sich hochbauschenden pfirsichfarbenen Rock zwischen den Knien festzuklemmen, während ein Dutzend Typen sie mit dem Kopf voran die Stufen hinunterschleppten. Hier und da hörte man einen der Zuschauer kichern. Nach einem spitzen Schrei und heftigem Fußgezappel kam ein Bein frei, die Sandale fiel auf die Erde, und vier Hände fingen das Fußgelenk wieder ein. »Schwingen, schwingen.« Sie schwangen sie zwei Mal über dem Wasser hin und her, wobei der Singsang die Schreie der Frau übertönte, und dann schlug der Körper mit einem Klatschen auf.

Fast im gleichen Augenblick tauchte ein glänzender schwarzhaariger Kopf wieder über dem Betonrand auf, tropfnass und lachend, nach jemandem rufend, der beim Herausklettern helfen sollte. Maria sammelte ihre Sachen ein, um zu gehen. Oben auf den Treppenstufen wandte sie sich noch einmal um und schaute wieder hin, bis einer der Studenten die Sandale einsammelte und ein anderer die Frau in seinen Labormantel hüllte.

Als sie blindlings die dichtbesetzten Stufen hochlief, rannte sie gegen eine harte Schulter.

»Wir sollten aufhören, uns auf diese Weise zu treffen.«

Einen Moment lang fiel es ihr schwer, das Gesicht einzuordnen, dann überkam sie ein Gefühl der Verlegenheit, als sie sich an den Burschen aus New York erinnerte. »Entschuldige, hallo, tut mir leid.«

»Und ich heiße Galway. Hast du das Ritual mitangesehen? Die Hexentaufe.« Er wies mit dem Kopf zum Wasser hin.

»Das ist keine Hexe – das ist eine blöde Kuh«, entgegnete Maria bissiger, als sie beabsichtigt hatte.

Er zog eine buschige Augenbraue in die Höhe. »Kennst du sie?«

»Sie hat gelacht, verdammt noch mal. Wie konnte sie sich von denen in diese ölige, schlammige Brühe werfen lassen und dann auch noch lachen?«

»Womöglich hatte sie keine große Wahl. Wenn sie vier Jahre lang mit denen zusammen studieren will, wird sie keinen Wert darauf legen, als Spielverderberin zu gelten.«

»Ich finde es krank.«

»Natürlich ist es krank. Ich dachte, das versteht sich von selbst.« Galway rückte sich den verblichenen Rucksack auf den Schultern zurecht. »Kindischer Machoscheiß. Deshalb bin ich zu Hause auch nie einer Verbindung beigetreten. Hab nie begriffen, was so aufregend daran sein sollte, in Boxershorts rückwärts über Dachfirste zu laufen.«

Sie entspannte sich und lächelte, als sie sich gemeinsam auf den Weg machten und auf die langgezogenen grauen Gebäude zuschlenderten. »Hast du Lust auf … Ich meine, ich wollte gerade eine Tasse Tee trinken gehen.«

Das ist jetzt das vierte Mal heute Abend, dachte Maria und biss die Zähne zusammen, als sie den Song wiedererkannte. Es folgte ein begeistertes Kreischen, und eine weitere Kette mit Tänzern fädelte sich in die Menge ein. Sie überflog die geröteten Gesichter. Nuala, ihre Freundin aus dem letzten Schuljahr, hätte sie alle als ›verschwitzte Prolls‹ bezeichnet, oder als ›die Kicherclique‹.

Es wäre eigentlich ganz praktisch, wenn sie die anderen Erstsemester einfach verachten würde, immerhin könnte sie sich dann die Mühe sparen, sie kennenzulernen und stattdessen in Thelmas Wohnung zurückkehren und die Morgenausgabe der Sonntagszeitung lesen. Leider war es aber auch so, dass ihr die eine Hälfte der Leute intelligenter vorkam als sie selbst, und die andere Hälfte, fand sie, sah besser aus.

Jemand versetzte ihr einen schmerzhaften Stoß zwischen die Schulterblätter. Sie drehte sich um und sah Yvonnes rosafarbene Fingernägel. »Stehst du schon lange an? Besorg mir eine Wodka-Cola, wo du schon dabei bist. Versuch’s bei dem Barmann mit dem Ohrring – er ist süß.«

Maria lehnte sich gegen die Wand, die kondensierte Feuchtigkeit sickerte durch ihren dünnen Ärmel. Sie trat erschrocken wieder zurück. »Amüsierst du dich gut?«, fragte sie.

»Na klar.«

Darauf fiel ihr keine Antwort ein.

»Ich wette, jetzt bist du froh, dass ich dich überredet habe mitzukommen.«

Sie zwängten sich in eine Lücke an der Bar. Lager und Stout vermischten sich auf dem Holz zu blassglänzenden Bierpfützen.

»Die Haremshose wirkt echt scharf an dir.«

»Ich finde, es sieht aus, als hätte ich O-Beine.« Sie registrierte Yvonnes Blick. »Entschuldigung, ich meine, ich bin dir dankbar, dass du sie mir geliehen hast. Ich habe nur nicht gesehen, wie viel Goldlitze dran ist, und jetzt komme ich mir vor wie aus dem Zirkus entlaufen.«

»Hm-hm, deshalb habe ich sie auch nie angezogen … Aber du bist schlank genug, du kannst so was tragen«, setzte Yvonne hastig hinzu.

»Du siehst hinreißend aus«, sagte Maria und unterdrückte ein Gähnen.

»Rosa hat mich schon immer gut zur Geltung gebracht«, pflichtete Yvonne ihr bei. »Obwohl mir beim Lambada eben um ein Haar alles rausgerutscht wäre. Diesem Typ, Pete, sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen.«

Endlich nahm der Barmann Marias Winken wahr und beeilte sich mit den Drinks.

»Erzähl mal, hast du schon eine Wohnung gefunden?«

»Ich habe ein bisschen rumtelefoniert und ein fieses Loch besichtigt. Eigentlich hätte ich von der ersten Wohnung schon Ende letzter Woche was hören sollen.«

Yvonnes Aufmerksamkeit wanderte von ihr weg. Die Hand auf Hüfthöhe wies sie diskret in eine bestimmte Richtung. »Das ist die Frau, die sie in den See geworfen haben – war das nicht irre? Sie sieht aus, als hätte sie immer noch eine Gänsehaut.«

Um keine Antwort geben zu müssen, hob Maria ihr Bier mit der cremigen Schaumkrone an die Lippen. »Jedenfalls, wenn das mit der Wohnung nicht klappt, dann sehe ich mir Montag noch ein paar andere an.«

»Tu das. Sag mal«, die blassblauen Augen kehrten zu ihr zurück, »hat dich schon jemand aufgefordert?«

Maria überlegte, ob sie lügen sollte, brachte es aber nicht über sich. »Ich bin mit einem pickligen Theologiestudenten zu einem Remix aus den Fünfzigern rumgehüpft und hab mir dabei einen gewaltigen Stoß in die Rippen eingefangen.«

»Pech.«

»Es war kein Verlust. Der Typ hat nur davon geredet, wie viel Punkte er bei der Aufnahmeprüfung gehabt hat.«

Yvonne strich glättend über ihren Rock. »Irgendwo musst du anfangen, Maria.«

»Aber nicht mit dem.«

Sie stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Das Problem ist, dass deine Ansprüche zu hoch sind.«

»Das sagt meine Mutter auch.«

Aber Yvonne war schon dem Winken eines Typen mit Kläppchenkragen gefolgt und hatte sich ein paar Schritte entfernt.

Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fiel Maria auf, dass ihre Mutter das nur ein einziges Mal gesagt hatte. Damals musste sie so um die neun Jahre gewesen sein. Man hatte ihr erlaubt, länger aufzubleiben, um den Schlagerwettbewerb der Eurovision mitanzusehen. Sie hatte fortwährend Bemerkungen darüber fallenlassen, wie eklig die Männer aussähen mit entweder zu großen Ohren oder zu vielen Haaren auf der Brust. Mam hatte angemerkt, dass Maria als alte Jungfer enden würde, wenn sie bei den Männern so wählerisch sei und ihr keiner gefalle. Eine Ehe beinhalte immer Nehmen und Geben und zu einem beträchtlichen Teil sogar Aufgeben. Maria hatte daraufhin Polygamie als Lösung vorgeschlagen, von der sie im Geschichtsbuch in einem kurzen Passus über »Unsere Stammesvorfahren« gelesen hatte, aber ihre Mutter war wohl zu katholisch, um das witzig zu finden. Als ihr Dad sie später nach oben ins Bett gebracht hatte, hatte er ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen darüber machen – sie würde eben die Karrierefrau in der Familie sein. Sie hatte gelacht und einen zusammengerollten Socken nach ihm geworfen, als er das Licht ausknipste.

Im Dunkeln hatte sie die Vorhänge aufgezogen und die Ellbogen auf die kalte Fensterbank gestützt. Sie zählte die Lichter des kleinen Ortes, der sich um ihr Haus schmiegte, und stellte fest, dass alle Frauen, die sie kannte, Ehefrauen und Mütter waren. Außer den jungen Frauen, die auf die Uni zusteuerten, und der Bibliothekarin mit dem Heuschnupfen und einige von den Lehrerinnen. Und natürlich die verrückte Nelly, die auf den Stufen des Rathauses saß und sich die Knöchel kratzte. In der Nacht hatte Maria sich tief in ihr Bett gekuschelt und sich die Decke über den Kopf gezogen und nicht einschlafen können vor lauter Sorge, wie es ihr später einmal ergehen würde.

Viel weiter war sie mit dieser Frage in der Zwischenzeit auch nicht gediehen, dachte sie, als sie sich einen Weg durch das Gedränge zu einem leeren Stuhl am Fenster bahnte. Mittlerweile wurden langsame Stücke gespielt, ohne dass es ihr besonders aufgefallen war. Bei der Coverversion eines melancholischen Stücks aus den Sechzigern schoben die Paare nur zentimeterweise über die Tanzfläche. Maria lehnte sich auf dem wackligen Plastikstuhl zurück und wandte den Kopf zum Fenster. Sie folgte den Kreisen, den die Lichter um die Campusgebäude zogen, bis die Musik und die Stimmen im Hintergrund verschwammen. Sie stellte sich vor, wie sie sich in die Lüfte erhob und flog, wie sie über den See glitt und an Höhe gewann, während sie auf die Stadt zusauste. Schwarze Nachtluft zwischen den Beinen, blinkende Bürofenster, an denen sie vorbeischoss.

Yvonne ließ sich schwer auf den Stuhl neben ihr fallen. Dann schoss sie wieder hoch, fasste an ihre Hinterbacken und beroch ihre Finger. »Verdammt noch mal, ich hab mich in eine Ciderpfütze gesetzt!«

Maria klopfte auf die Fensterbank neben sich, aber Yvonne ließ sich auf dem Fußboden nieder und stützte den Kopf auf ein rosafarbenes Satinknie. Ihre Locken fingen an sich aufzulösen.

»Amüsierst du dich immer noch gut?«

»Ja. Es sind nur Krämpfe.« Yvonnes Stimme klang hart.

»Du Ärmste. Willst du ein Aspirin?«

»Besser nicht, mit den drei Wodka zusammen würde mich das umhauen.«

Maria überlegte, sich hinunterzubeugen und den gesenkten Kopf zu streicheln, aber dann ließ sie es lieber sein.

Für die Dauer von zwei Songs saßen sie schweigend nebeneinander, dann fragte Yvonne: »Wo ist denn dieser magere Typ, mit dem du so nett in der Mensaschlange zusammengestanden hast?«

»Galway ist nicht hier, und er ist nicht mein Typ.«

»Grauenhafter Name – Gary – irgendwie dürftig.«

Maria hob die Stimme über den Geräuschpegel der Musik. »Nein – Galway, wie die Grafschaft. Ami-Nostalgie.«

»Noch schlimmer.«

»Es ist nicht seine Schuld«, wandte Maria ein und legte die schmerzenden Füße auf eine Bank, die mit Zigarettenasche bestäubt war. »Offensichtlich war seine Großmutter die Leiterin des Postamtes in Oughterard, bis sie 1934 ausgewandert ist. Sie hat Galway zugesetzt, dass er sein drittes Studienjahr hier verbringt, anglo-irisches Drama studiert und zu seinem Ursprung zurückfindet.«

»Vielleicht findet er deinen Ursprung, wenn er schon dabei ist«, antwortete Yvonne mechanisch. »Und wieso ist er heute Abend nicht hier?«

»Er betrachtet das hier als infantile Paarungsrituale, und außerdem kann er es sich nicht leisten.«

Yvonne reckte sich und stemmte sich auf die Stöckelschuhe hoch. »Das ist Madonna. Komm, lass uns weitermachen.«

»Mir geht es hier prima.«

Yvonnes Augen wurden hart. »Ich weiß, dass es nicht leicht ist, bei hundert Dezibel Freunde zu finden, aber wir müssen es versuchen.«

»Ich rede doch nach den Seminaren mit den Leuten.«

Yvonne wartete, die Hände stützend in den Rücken gestemmt. »Du machst es dir auf lange Sicht nur schwerer, Maria.«

»Jaja, schon gut. Hör auf zu nörgeln.«

Sie zwängten sich in die Menge.

Das kleine »m« war noch da, ein schwacher Abdruck auf der Fensterscheibe.

»Ich überlasse dich jetzt – nun, zu was immer man Leute ihren Schlafzimmern überlässt.«

Maria wandte sich vom Fenster ab und grinste breit. »Ich bin ohnehin reif fürs Bett. Meine ganzen weltlichen Besitztümer die Treppe hochzuwuchten hat mich geschafft.«

Ruth blieb noch an der Tür stehen. »Bist du auch sicher, dass du nichts mehr brauchst … eine Nagelbürste vielleicht oder so?«

»Da ist nichts zu bürsten«, sagte Maria und hielt ihr die kurzgeschnittenen Nägel zur Begutachtung hin. »Ich fühle mich super, mach dir wegen mir keine Sorgen.« Sie legte die letzten der ordentlich zusammengerollten Socken hinten in die Schublade, schob die Schublade ruckelnd zu und bückte sich, um den Koffer unters Bett zu schieben. Als sie sich aufrichtete, sah sie, dass Ruth immer noch dastand, die Hand auf dem Türgriff, ihre Miene beinahe ängstlich besorgt.

»Ich bin wirklich froh, dass ihr mich genommen habt.« Behalt den zwanglosen Ton bei, setz dich auf den gewebten braunen Bettüberwurf. »Ich hatte es fast schon aufgegeben, auf euren Anruf zu warten.«

»Ich weiß, es tut mir leid«, sagte Ruth schnell. »Es gab noch ein paar andere Interessentinnen, und wir fanden, wir sollten noch abwarten, bloß um sicherzugehen.«

Wie – sichergehen?

»Träum süß, Maria.« Ruths leichte Schritte verhallten im Flur.

In der ersten Nacht an einem fremden Ort schlief sie nie. Die Wohnung war warm und roch immer noch ein bisschen nach Knoblauch. Sie streckte sich in dem knarrenden Bett aus und entdeckte Gesichter auf den Feuchtigkeitsflecken an der Decke. Dieses da war mit Sicherheit ihr Vater mit den buschigen Augenbrauen und dem spitzen Kinn. Die beiden formlosen Kleckse in der Ecke könnten ihre Brüder sein, ihre Gesichtszüge veränderten sich noch zu schnell, um schon fest ausgeprägt zu sein. Und wer war die Frau mit dem einen weitaufgerissenen Auge und den ins Gesicht hängenden Haaren?

Ehe sie sich selbst Angst einjagen konnte, steckte Maria die Nase unter die Bettdecke. Die sanften Stoffrippen der Decke hatten nichts mit Einbildung zu tun. Sie strich mit den Fingern darüber, zählte die Rillen. Sie war eine Riesin und tastete über eine Landschaft voller Straßen.

Dann fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, sich die Zähne zu putzen. Sie gähnte, kramte nach ihrem Toilettenbeutel auf der Kommode und ging in Richtung Badezimmer. Irgendwo auf dem Weg über den pechschwarzen Flur wanderte sie in die falsche Richtung. Ihre Hand berührte den Perlenvorhang. Sie wollte gerade den Rückzug antreten, als sie vom Kamin her leise Stimmen hörte. Sie zuckte zurück, aber ihre Füße weigerten sich kehrtzumachen.

Als sie ungefähr sechs Jahre alt war, hatte Maria eine Phase der Unsicherheit durchlebt. Wenn sie jetzt die Augen schloss, sah sie sich als Kind in einem zerknitterten Baumwollschlafanzug die Treppe hinunterschleichen, bis vor die Tür des Wohnzimmers, an die sie das Ohr presste, während ihre Eltern beim Abendessen über irgendwelche Alltagsdinge sprachen. Sie wartete immer, ob sie über sie reden, sie heimlich loben oder rügen würden, aber das geschah nie. Dann wurde ihr kalt, und sie ging auf Zehenspitzen zurück ins Bett. Nach und nach hatte sie die Angewohnheit wieder aufgegeben. Aber gelegentlich, in Nächten wie dieser hier, ergriff die alte Neugier wieder von ihr Besitz. Ihre Füße wurden taub, wie sie da im Flur stand und mit der Nase beinahe an die Perlenschnüre stieß. Nur eine halbe Minute, schwor sie sich.

Ruths Stimme war die weichere. »Ja, aber sie ist erst siebzehn.«

Maria schloss die Augen.

»Das sind Altersvorurteile«, kommentierte Jael zufrieden. »Sie hat Witz und ist mir tausendmal lieber als diese humorlose Sozialwissenschaftlerin.«

»Darum geht es nicht. Ich glaube auch, dass es schön ist, sie hierzuhaben.«

»Und wo liegt dann dein Problem?«

»Es ist nicht mein Problem, es ist unser Problem.« Den Worten haftete ein verletzter Unterton an. »Heute Abend, als wir ihre Koffer hochgeschleppt haben, ist mir der Gedanke gekommen, dass sie es vielleicht noch nicht kapiert hat.«

Maria lauschte angestrengt, um alles zu verstehen. Ihr Ohr lag dicht an den Perlenschnüren.

Nach einer Pause die träge Stimme. »Ist das so wichtig?«

»Ich finde schon. Ich mache mir Sorgen, dass der Anzeigentext zu subtil war.«

Jael lachte leise. »Ist das deine Vorstellung von subtil, Schatz?«

Darauf folgte ein Satz, der zu leise war, als dass Maria ihn hätte verstehen können. Der Vorhang bewegte sich sachte im Luftzug. Ob ein Funke aus dem Kamin bis zu dem Perlenvorhang springen und sie beleuchten konnte? Sie rührte sich nicht vom Fleck.

Ruth wieder, angespannt. »Alles, was ich sagen will, ist, dass wir keinen weiteren dramatischen Abgang mehr wollen, oder? Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, dass wir dieses Mal ehrlich sind.«

»Es gibt ehrlich und es gibt offensichtlich und langweilig. Ich finde, du solltest dem Mädel eine Chance geben«, fuhr Jael fort. Klang die Stimme lauter, bewegte sie sich auf den Vorhang zu?

Maria drehte sich blitzschnell um. Ihre Füße trugen sie lautlos über den Flur und in ihr Zimmer. Sie drückte die Klinke behutsam ins Schloss, ehe sie unter die Decke kroch. Verwirrt starrte sie auf die Zimmerdecke und überlegte, was um alles in der Welt sie nicht kapiert hatte. Das Einzige, was ihr dabei einfiel, war ein Drogenring. Sie warf sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.

Als Maria in Dublin die Liebe fand

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