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Paris

BIST DU IMMER NOCH UNTER DER WOCHE IN PARIS?

JA, DAS FORSCHUNGSSTIPENDIUM GEHT NOCH BIS DEZEMBER. ICH HOFFE AUF EINE VERLÄNGERUNG. GERADE SITZE ICH IM KELLER DES INSTITUTS, WÄHREND DRAUßEN DIE SONNE SCHEINT UND ICH LIEBER IM JARDIN DU LUXEMBOURG WÄRE.

Simon klang nicht gerade erfreut darüber, dass er arbeiten musste, anstatt den Sommer zu genießen.

ICH FAHRE IN ZWEI WOCHEN VOM VERLAG AUS ZU EINER TAGUNG ÜBER WESTEURO-PÄISCHE LITERATUR NACH PARIS. GEHEN WIR MAL WAS ESSEN, WENN ICH DA BIN?

Ellys Finger fingen beim Tippen plötzlich an zu zittern und ihr Herz schlug schneller als sonst. Seit wann machte sie eine Geschäftsreise nervös? Vielleicht, weil von ihrem Schulfranzösisch nur noch einige spärliche Grundkenntnisse übrig geblieben waren und sie sich ganz und gar nicht sicher war, ob sie überhaupt mit den anderen Teilnehmern der Tagung würde kommunizieren können. Eigentlich verunsicherte sie schon der Gedanke, dass die Vorträge überwiegend in Englisch sein würden. Ihre Englischkenntnisse waren zwar mehr als gut, aber würden diese für den Besuch einer Fachkonferenz reichen? Die Liste der Teilnehmer wies leider eine große Zahl an französischen Gästen auf. Sie hoffte inständig, dass sich nur wenige Kommunikationsmöglichkeiten ergeben würden. Und wenn doch, dass ihre Kollegin Zoé vom französischen Tochterunternehmen die Unterhaltung an sich reißen würde.

Ellys Tochter riss sie abrupt aus ihren Gedanken. „Was machst du da?“

Vor Schreck nahm Elly die Füße vom Tisch, brachte sich in eine aufrechte Position und klappte den Laptop zu, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Wahrscheinlich lief sie auch noch rot an, was Emily zum Glück noch nicht bemerkte.

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich bald ein paar Tage verreise und du mit Papa allein bist. Dafür habe ich noch was nachgeschaut.“ Emily kannte Simon doch. Wieso machte sie jetzt so ein Geheimnis aus ihrem Chat mit ihm?

Sie brauchte dringend noch etwas zum Anziehen für die Reise. Ein neues Abendkleid wäre auch nicht schlecht. Bei Mariano’s war gerade ZwanzigProzent-Aktion. Sie könnte morgen nach der Arbeit schnell vorbei. Emily würde sowieso von Leonie, ihrer Babysitterin, abgeholt werden.

„Mami!“ Ihre Tochter musste sie wiederholt aus ihren Gedanken reißen.

„Ja?“

„Ich will auch verreisen.“ Emily sah sie fordernd mit ihren großen blauen Kulleraugen an.

„Nein, Schatz, das geht nicht. Du wirst ganz viel mit Papa und Leonie spielen. Wir fahren aber dieses Jahr noch ans Meer zum Baden. Alle zusammen. Dann bauen wir wieder eine Sandburg.“

„Eine ganz große“, jubelte Ellys kleiner blonder Schatz. Sie fragte sich immer wieder, woher sie diese Haarfarbe nur hatte. Ihr Vater hatte kohlrabenschwarzes Haar und braune Augen.

„He, Mami“, zupfte Emily sie ungeduldig am Pullover. „Kommst du mit raus?“

„Ja, klar.“ Sie kehrte in die Realität zurück und widmete sich ihren mütterlichen Spielpflichten.

Nachdem sie ein paarmal Emily den Ball zugeworfen und ihn zweimal aus Nachbars Garten geholt hatte, waren ihre Gedanken bereits zurück in ihrem Kleiderschrank. Jeans und T-Shirt würden reichen, um sich im allgemeinen Touristenrummel zu bewegen. Sie glaubte jedoch kaum, dass sie nach mehreren Stunden auf der Tagung noch Lust auf Kultur haben würde. Sosehr sie sich freute, Paris wiederzusehen, fragte sie sich, warum diese verdammte Tagung nicht in Deutschland sein konnte. Ihr graute davor, mit den vorhandenen Sprachkenntnissen zu versagen. Die Chefetage würde einen Bericht erwarten und Elly glaubte kaum, dass Zoé diesen schreiben würde. Als eine andere Kollegin aus der Redaktion für Literatur aus dem westeuropäischen Raum gefragt hatte, ob Elly sie vertreten würde, hatte sie spontan Ja gesagt. Nun fragte sie sich ernsthaft, wie blöd sie in dem Moment gewesen war. Sie hatte nur Paris gehört und überhaupt nicht daran gedacht, dass es gewisse Probleme geben könnte mit ihren „Grundkenntnissen“. Was hatte sie, auf Politik und Geschichte spezialisiert, dort zu suchen? Außerdem konnte sie Zoé, die sie einmal bei einer Weihnachtsfeier in Stuttgart kennengelernt hatte, gar nicht leiden.

Ihr Hosenanzug war veraltet. Sie musste sich dringend einen neuen zulegen. Und ein Kleid für das Abendessen am Ende der Tagung und für das mit Simon. Ihr fiel ein, dass sie nachher unbedingt noch einmal an den Laptop musste, um Simon den plötzlichen Kontaktabbruch zu erklären. Dann hörte sie hinter sich das Gartentor quietschen und erkannte in den Augen ihrer Tochter, dass ihr Mann nach Hause gekommen war. Stefan sah an ihr vorbei und begrüßte Emily überschwänglich. Elly warf den Ball etwas zu hart nach ihm und ging wortlos nach drinnen an ihren Computer.

LISTEN: The Piano Guys Just the Way You Are

Elly betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden. Das neue kleine Schwarze stand ihr richtig gut. Die Pumps waren hoch, aber bequem genug, um den ganzen Abend darin laufen zu können. Ein bisschen Make-up, die braunen Locken mit Haarspray gebändigt. Nun noch das Tuch und die Handtasche. Das Handy steckte sie ausgeschaltet hinein. Sie eilte die Treppen hinab, hinaus aus dem Hotel und weiter hinunter zur Metro. Ausstieg Louvre.

Als Elly den Innenhof des Museums betrat, stand Simon auf der in den Boden ragenden Glaspyramide. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und blickte in die Tiefe wie Robert Langdon. Ob der Sarkophag Maria Magdalenas wirklich da unten lag? Elly glaubte es nicht – sicher hatte mittlerweile auch schon jemand nachgesehen und an Verschwörungstheorien à la Dan Brown glaubte sie schon gar nicht –, aber beschwören hätte sie es trotzdem nicht wollen. Sie fand es schön, wenn es im Leben noch ein paar Mysterien gab, Dinge, die man nicht erklären, die vielleicht doch sein konnten. Ein bisschen Hoffnung, dass es mehr gab, als man tatsächlich sah. Geheimnisse, die die Geschichte nicht preisgab. Mehr als die schnöde Realität.

Ein bisschen mehr war eigentlich schon jener Augenblick. Niemand außer ihnen beiden war hier. Nur sie und die ehrwürdigen Mauern neben den Pyramiden aus Glas und Stahl. Keine Menschenseele tummelte sich an diesem Abend an einem der sonst meistbesuchten Orte von Paris.

Elly näherte sich Simon. „Ich hoffe, du fällst jetzt nicht noch auf die Knie wie der Professor!“

Simon drehte sich um und lachte. Er wusste sofort, von wem sie sprach, obwohl er Ellys Vorliebe für The Da Vinci Code – Sakrileg keineswegs teilte und ihr nach dem gemeinsamen Kinobesuch sofort sämtliche im Film aufgestellten Behauptungen widerlegt hatte. „Nein, meine Religiosität hält sich in Grenzen, wie du weißt.“

„Bis zu jenem Tag war Professor Langdon auch ein Zweifler. Man weiß ja nie.“

Sie umarmten sich.

„Gut siehst du aus“, sagte Simon bewundernd, indem er Ellys rechte Hand nahm, sie in die Luft hob und ihr zu verstehen gab, sich einmal um sich selbst zu drehen. Sie wurde rot und war froh, dass die Dunkelheit es verbarg.

„Du aber auch.“ Es war ungewohnt, Simon in Anzug und Hemd zu sehen. „Fordert das Forschungsinstitut Schlips und Kragen?“

Das Pariser Forschungsinstitut für mitteleuropäische Geschichte hatte weltweit einen sehr guten Ruf und war eine der begehrtesten Einrichtungen für Praktika, Stipendiat oder Forschungsstelle eines Historikers. Elly selbst hatte sich nie dafür beworben, da ihr früh klargeworden war, dass sie das wissenschaftliche Arbeiten nie hauptberuflich würde betreiben wollen.

„Nein.“ Simon lächelte verschwörerisch. „Nur für dich.“

Sie wurde kurz verlegen.

„Was hast du geplant? Sag nicht, dass wir in die Oper gehen.“

„Nein.“

Damit machten sie sich auf den Weg.

So wortkarg und geheimnisvoll kannte sie Simon gar nicht. „Nein? Alles nein heute? Wo gehen wir hin?“

Simon verriet nichts. Stattdessen erzählte er vom Absturz des Computersystems im Institut, plauderte über seinen Doktoranten an der Universität Basel und fragte nach der Tagung.

Elly erzählte ihm, dass sie zwar der Eröffnungsrede und den beiden Vorträgen hatte folgen können, aber die meisten Teilnehmer sich in den Pausen dann doch auf Französisch oder Spanisch unterhalten hätten. Sie hatte wenig verstanden und in Gesprächsrunden meist nur wissend gelächelt. Dabei hatte sie inständig gehofft, ihre Zustimmung nicht zu den abstrusesten Meinungsäußerungen gegeben zu haben. Beim Mittagessen hatte Zoé ihr vorgeschwärmt, wie viel sie bereits an Kontaktdaten ausgetauscht hatte.

„Schlechter Tag also?“

„Ja. Aber ich habe zurück zum Hotel einen Umweg über den Montmartre gemacht. Dann ging es mir wieder besser. Die schönen Bilder und die Aussicht haben mich für den miesen Start der Woche entschädigt.“

„Die Aussicht mag nicht schlecht sein, aber ich habe heute eine noch schönere für dich.“ Mit diesen Worten blieb Simon stehen und blickte nach oben.

Sie standen vor dem Tour Montparnasse. Ihr Begleiter hielt ihr die Tür auf. Während die Erinnerungen in ihr aufflackerten, gingen sie zum Fahrstuhl.

„Etage?“, fragte sie mit dem Finger über der Tastatur schwebend.

„Sechsundfünfzigste, bitte.“

Der Fahrstuhl trug sie beide in wenigen Sekunden weit über die Dächer von Paris. Von der sechsundfünfzigsten bis zur neunundfünfzigsten Etage mussten sie die Treppe nehmen. Anschließend bot sich ihnen eine Aussicht wunderbarer als noch zwölf Jahre zuvor. Elly lehnte sich an das Geländer und vor ihr breitete sich ein Meer aus Lichtern aus. Der Eiffelturm glitzerte und funkelte. Der Lärm der Straße drang nur noch gedämpft bis hierherauf. Wo waren heute nur all die Touristen geblieben? Nur ein paar vereinzelte Personen hatten sich auf die Terrasse verirrt.

Es schien eine warme Julinacht zu werden. Selbst hier oben wehte nur ein laues Lüftchen. Elly sog die Luft ein und schloss für einen Moment die Augen. Die Anstrengung des Tages fiel von ihr ab. Der Stress der letzten Wochen verschwand.

„Kommst du noch oft hierher?“ Elly konnte sich erinnern, dass Simon einmal erwähnt hatte, dass er während seiner Studienzeit an der Sorbonne gerne ein Glas Champagner mit guter Aussicht genossen hatte.

„Nicht bei den Eintrittspreisen. Da wird das Glas Champagner ungenießbar.“

„Und heute?“ Sie schaute aus dem Augenwinkel zu Simon.

Dieser lächelte. „Ich muss gestehen, dass ich die Karten von einem Kollegen habe. Seine neue Freundin arbeitet im Restaurant. Und ich fand es eine schöne Gelegenheit, da wir damals auch hier oben waren.“

Damals war es der letzte Abend ihrer Studienreise gewesen. Wehmütig hatten sie alle am Geländer gestanden und sich von Paris verabschiedet. Die Erschöpfung nach dem relativ vollen Programm der Reise war ihnen anzusehen gewesen. Sie waren geschafft, aber die Stadt hatte sie so in ihren Bann gezogen, dass keiner so recht am nächsten Morgen nach Hause hatte fahren wollen. Anja und Elly hatten im folgenden Semester Abschlussprüfungen erwartet. Gern wären sie diesem Gedanken noch eine Weile entflohen. Doch was kam danach? Für Anja hatte bereits festgestanden, dass sie promovieren würde. Elly hingegen hatte gerne ihre Redakteurstätigkeit, der sie bei der Uni-Gazette nachgegangen war, fortsetzen wollen. Allerdings nicht bei einer Tageszeitung, sondern in einem Fachverlag. Doch die Aussichten, dort einen Job zu bekommen, waren gering gewesen. Vor allem hatte sie nicht damit gerechnet, dass es sie in den Süden der Republik verschlagen würde.

Was sie wohl in der kommenden Woche noch erwarten würde? Werde ich am Ende wieder ein wenig traurig hier stehen?, dachte sie und seufzte.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, legte Simon ihr seinen Arm um die Schultern und flüsterte ihr ins Ohr: „Die Woche fängt erst an. Lass uns etwas essen.“

Elly spürte seinen Atem an ihrer Wange und bekam eine leichte Gänsehaut. Seine warmen Hände lagen auf ihren Schultern, während er sie zum Aufzug dirigierte.

„Wohin gehen wir?“

„Ins Ciel.“

„Was? So schick?“ Sie konnte es kaum glauben. Das Ciel lag im sechsundfünfzigsten Stock und war berühmt für seine Köstlichkeiten inklusive atemberaubenden Ausblicks.

„Wenn du schon einmal zu Besuch bist, für dich nur das Beste.“

Elly schlang einen Arm um Simons Bauch und drückte ihn kurz. Dabei fühlte sie sich plötzlich unheimlich wohl. Sie machte sich keine Sorgen mehr über die kommenden Tage.

Simon hatte sogar einen Fensterplatz reserviert. Mit Blick auf den Eiffelturm. Der Mann machte sie sprachlos. Was konnte er erst Gina bieten, wenn er sich für sie schon so ins Zeug legte? Warum eigentlich?

In akzentfreiem Französisch bestellte er eine Flasche Wein und für sie ein Soufflé de chèvre. Sie schaute Simon erstaunt an, weil er nicht nur genau die Sorte Wein aussuchte, die sie am liebsten mochte, sondern sich auch zu erinnern schien, dass sie eine Schwäche für Ziegenkäse hatte. Der Mann wollte sie echt verwöhnen.

Ihr fiel auf, dass sich in seinem dunklen, leicht gewellten Haar schon so einige graue Strähnen befanden. Und sie musste feststellen, dass diese Tatsache Männer wirklich noch attraktiver machte. Sie lächelte vor sich hin.

„Was gibt es zu lachen?“ Simon schaute sie an.

Elly merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Je röter sie wurde, desto interessierter schaute ihr Gegenüber. Sein amüsierter Blick über den Rand seiner Brille hinweg machte es nicht besser.

„Sollte ich nicht wissen, über was du an mir lachst?“

Sie räusperte sich. „Ich finde es lustig, dass du schon graue Haare bekommst.“

„Das findest du lustig? Ich finde es erschreckend.“ Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Das erklärt aber nicht deine Röte.“

Herrgott, Deern, fluchte sie innerlich. Musst du dir deine Gedanken auch immer ansehen lassen!

Laut sagte sie, ohne Simon anzusehen: „Ich habe überlegt, dass Männer im Alter mit grauen Haaren scheinbar wirklich attraktiver werden.“ Themenwechsel. „Kommst du mit deiner Forschung voran? Hast du die Urkunde gefunden, von der du letztens erzählt hast?“

LISTEN: The Piano Guys Cant Help Falling in Love

Simon war sichtlich irritiert. „Äh, nein, ja, also, ich weiß jetzt zumindest, dass sie nicht in Paris liegt, sondern in einem Privatarchiv in der Provence. Wie sie dahin gekommen ist, kann ich noch nicht sagen.“

Ihm schien Ellys neues Thema nicht zu gefallen. „Was macht dein Italienisch?“

„Gute Frage, nächste Frage, bitte“, antwortete sie völlig uninteressiert, konnte dabei aber nicht völlig ernst bleiben. Denn irgendwie war es schon peinlich, dass sie nach zwei Jahren immer noch bei Lektion drei war.

„Lektion drei?“

„Ja. Ich bin nun mal nicht so ein Genie wie du“, gab sie schmollend zurück. Die Tatsache, dass Simon neben Französisch und Italienisch fließend Latein sprach, gab ihr immer noch Rätsel auf. Sein verhandlungssicheres Englisch hatte sie dabei bereits unter „selbstverständlich“ abgelegt.

„Soll ich dir per Fernkurs helfen?“

Diese Vorstellung gefiel ihr sehr. „Sehr gerne.“ Warum Simon und nicht seine italienischstämmige Frau, hinterfragte sie nicht.

Dann kam ihr Essen. Während Elly sich das Soufflé auf der Zunge zergehen ließ, schaute sie aus dem Fenster über die Dächer von Paris. Sie fragte sich, warum sie so lange nicht hier gewesen war. Der Urlaub in der Normandie war nichts dagegen gewesen. Sie liebte das Meer und die raue Seeluft. Doch diese Stadt mit ihrer Mischung aus historischen Gebäuden und moderner Architektur, aus Geschäftigkeit und Laisser-faire berührte sie.

Cant help falling in love. An dem Flügel, der mitten im Raum auf einem Podest stand, hatte ein junger Mann Platz genommen und begleitete ihre Gedanken mit seinen Melodien. So viel Kitsch brachte sie beinahe zum Weinen. Doch konnte man in Paris überhaupt genug davon bekommen?

„Besser als Oper?“, riss Simon sie aus ihren Träumen.

„Ja, ganz bestimmt.“

Simon ging gerne ins Theater und seit er Gina kannte, auch regelmäßig in die Oper. Ersteres mochte Elly ebenfalls recht gern, doch Opernaufführungen blieben ihr fremd. Sie hatte es in Hamburg mehrmals versucht, doch den Zugang nie wirklich gefunden. Was höchstwahrscheinlich daran lag, dass sie beim Thema Kunst und Kultur in gewisser Hinsicht altmodisch war. Ihr stellten sich bei der Vorstellung, Papageno mit E-Gitarre über die Bühne rennen zu sehen, die Nackenhaare auf. Simon hingegen konnte sich durchaus für die meist modernen Inszenierungen alter Klassiker begeistern.

„La Bohème wird gerade gespielt.“ Simon sah sie herausfordernd an.

„Puccini würde sich im Grabe herumdrehen?“, fragte sie, die Antwort ahnend.

Simon senkte den Kopf und stöhnte leicht. „Das kannst du gar nicht wissen. Ich glaube, es würde ihn umhauen.“ Er verteidigte sich lebhaft.

„Eben“, grinste sie.

„Ach, du Kulturbanausin! Du solltest es dir ansehen, bevor du ein Urteil fällst. Lass uns hingehen!“

„Nee.“ Elly stützte die Ellenbogen auf den Tisch, verschränkte die Hände und legte ihr Kinn darauf. Dann schaute sie ihn mit ihrem schönsten Lächeln und klimpernden Wimpern an.

Simon musste wieder lachen. „Es ist doch zum Verrücktwerden mit dir.“ Er schüttelte den Kopf und schaute erneut über den Rand seiner Brille hinweg.

„Siehst du eigentlich durch deine Gläser nichts?“ Sie hatte eindeutig schon zu viel Wein.

„Da biete ich dir das hier“, er holte weit mit den Armen aus und gab sich beleidigt, „und du wirst frech.“

„Du bist ein schlechter Schauspieler“, sagte sie trocken. „Ich sehe dir ganz deutlich an, dass du kaum ernst bleiben kannst.“

„Deine Unschuldsmiene zeugt auch nicht gerade von solch hoher Kunst.“

LISTEN: The Piano Guys (Jon Schmidt) All of Me

Als sie beide losprusteten, kam der Kellner und brachte zwei Gläser Champagner. Der Pianist gab gerade All of me von Jon Schmidt zum Besten. Elly sah einen der anderen Kellner, wie er zum Klavier hastete und dem jungen Mann zu verstehen gab, dass er ein bisschen weniger in die Tasten hauen sollte.

„Schade, ich mag das Lied.“

Simon erhob sein Glas. „Auf Paris.“

„Auf Paris und den wunderbaren Abend.“

Elly beobachtete Simon, wie er das Glas an die Lippen setzte, und erinnerte sich daran, dass sie diese Lippen schon einmal geküsst hatte. Vor langer Zeit.

Der Heimweg von ihrer Geburtstagsparty auf der Alster hatte sie durch die Colonnaden geführt, wo Simon plötzlich zwischen zwei Rundbögen ihre Hand genommen hatte und stehen geblieben war. Elly hatte ihn erstaunt angesehen. Er hatte seine Brille abgenommen, gesagt, was für ein schöner Abend das gewesen war, und sie geküsst. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Sie hatte die Augen geschlossen, seine Hand gedrückt und seine weichen Lippen auf den ihren gespürt. Bis eine Gruppe grölender Jugendlicher aufgetaucht war. Sie waren erschrocken auseinandergefahren. Simon hatte ein „Entschuldigung“ gemurmelt und sie nach Hause gebracht.

Als sie sich am Tag darauf in der Mensa getroffen hatten, waren sie beide etwas verlegen gewesen. Simon hatte ganz gegen seine Art unsicher mit dem Fuß Kreise auf dem Boden gezogen, war sich durch das Haar gefahren und hatte zur Decke geschaut, als er sagte: „Tut mir leid wegen gestern. Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“

Elly hatte ihm mit den Händen in den Hosentaschen gegenübergestanden und ebenso wenig gewagt, ihn direkt anzusehen. „Schon gut. Wir haben alle eindeutig zu viel getrunken.“

Nach einigen peinlichen Schweigesekunden hatten sie sich jeder ein Tablett genommen.

Erst jetzt merkte sie, wie wundervoll der Kuss sich angefühlt hatte. Jede Sekunde davon hätte sie noch heute beschreiben können. Er war so völlig unerwartet gekommen und hatte sich doch so vertraut angefühlt. Warum, konnte sie nicht erklären. Damals war irgendwann der Gedanke aufgekommen, doch nur der Trostpreis des Abends gewesen zu sein, was dem Kuss einen negativen Beigeschmack verliehen hatte. Gina war nicht da gewesen und Anja hatte Simon ignoriert oder zumindest ihm ihre Aufmerksamkeit entzogen.

„Woran denkst du?“

„Nichts. Ich habe der Musik gelauscht.“ Elly faltete hastig mit gesenktem Kopf die Serviette auf ihrem Schoß zusammen, da sie merkte, wie ihr das Blut erneut in die Wangen geschossen war. Sie hatten nie wieder über den Kuss geredet.

„Wollen wir gehen?“

„Ja.“

„Wirklich?“

Nein, eigentlich wollte Elly dem Pianisten noch ein wenig lauschen. Sie liebte den Klang eines Klaviers, konnte sich regelrecht in der Musik verlieren. Stundenlang hätte sie ihm zuhören können, ohne das wahrzunehmen, was um sie herum geschah.

„Ich bin wegen dir hier, nicht wegen dem Klavier. Auch wenn es schwerfällt“, lächelte sie. „Komm.“

Sie standen auf, Simon nahm galant ihr Tuch und hängte es ihr um die Schultern. Seinen Arm ließ er gleich darauf liegen. Es fühlte sich ganz selbstverständlich an und tat ihr fast leid, als er ihn im Aufzug wieder sinken ließ. Vor dem Eingang des Tour Montparnasse schaute sie ein letztes Mal empor.

„Schade“, seufzte sie.

„Ach, Deern“, sagte Simon. Elly konnte sich nicht mehr daran erinnern, seit wann er sie so nannte, aber sie hatte sich von jeher geschmeichelt gefühlt, da er nur sie so bezeichnete. Er legte den Arm wieder um ihre Schultern und drückte sie kurz an sich. Ihr wurde flau im Magen. Sie fing an, sich zu fragen, ob ihr in den letzten Stunden etwas Wesentliches entgangen war. Was passierte hier?

„Wenn du so gerne die Aussicht genießt, habe ich noch eine andere Idee. Metro oder laufen?“

„Metro“, sagte sie unsicher.

LISTEN: Giovanni Allevi Loving You

Elly ahnte ihr Ziel, als sie in die M6 stiegen. Place du Trocadéro, der beste Platz für ein Foto.

Oder auch nicht, dachte sie zwanzig Minuten später. Sie stiegen bereits an der Station Bir-Hakeim aus und gingen direkt auf den Eiffelturm zu. Sie fragte nicht mehr. Sie ließ sich führen. Wenn Simons Ideen für den weiteren Abend ebenso grandios waren wie bisher, konnte es nur wundervoll werden. Dieser ganze Abend besaß einen Zauber, den sie kaum zu beschreiben vermochte. Sie wagte es kaum zu denken und verscheuchte den Gedanken auch gleich wieder, aber die Romantik in der Luft entsprach nicht der Art von Verabredung, die es hätte werden sollen.

Sie setzten sich auf eine Bank und genossen eine Aussicht ganz anderer Art – nach oben. Der Eiffelturm leuchtete fast über ihnen. Elly musste den Kopf in den Nacken legen, um die Spitze zu erkennen. Es glitzerte und funkelte und sie versuchte vergeblich, all die Lichter zu zählen. Als hätten sie ihren eigenen, ganz besonderen Nachthimmel voller Sterne, die aufblinkten, erloschen und erneut für sie strahlten. Wäre plötzlich eine Sternschnuppe vorbeigeflogen, hätte sie sich die Ewigkeit für diesen Moment gewünscht. Nichts erschien mehr wichtig, nur das Hier und Jetzt. Diese Bank, diese Nacht mit einem wie Diamanten funkelnden Firmament. Und Simons Schulter, an die sie ihren Kopf legte.

Simon beendete irgendwann die gefühlte Ewigkeit und führte sie Richtung Metro. Als er seinen Arm von ihren Schultern nehmen wollte, griff sie nach seiner Hand und hielt sie fest. Er streichelte ihre Schulter und gab ihr einen Kuss auf ihr Haar. Kein Wort hatten sie gesprochen, seit sie am Eiffelturm angekommen waren.

Sie stiegen einmal um. Den Rest des Weges gingen sie eingehakt zu Fuß, ein jeder in seine Gedanken vertieft. Elly bemerkte, dass Simon sie manchmal von der Seite ansah, getraute sich aber nicht, den Kopf zu wenden. Einerseits fragte sie sich, warum er das tat. Andererseits wollte sie die Frage nicht beantworten, weil sie tief in sich drin ein Glücksgefühl verspürte, welches sie nicht deuten konnte, das sie nur genießen und vor allem nicht durch Nachdenken zerstören wollte.

In den kleinen Straßen brannte in manchem Fenster noch Licht. Zu hören war im Hintergrund nur der allgemeine Lärm der Großstadt. Dann bogen sie in eine lange Allee ein, gesäumt von sehr alten Lindenbäumen, die bestimmt bereits eine Menge Menschen unter ihrem Dach hatten wandeln sehen. Auch solch einsame Nachtwandler wie sie beide. Wenn Elly nach oben schaute, konnte sie zwischen dem Blätterdach nur Schwarz erkennen. Es machte sie ein wenig traurig, dass sie ihren persönlichen Sternenhimmel hatte verlassen müssen. Sie nahm sich vor, ihn sich noch einmal anzusehen, bevor sie abreiste. Vielleicht würde Simon sie ja begleiten?

Als sie sich einem Haus näherten, vor dem ein kleiner Springbrunnen vor sich hinplätscherte, wurde Simon langsamer. Während Elly schlagartig bewusst wurde, dass das nicht ihr Hotel war. Sie ließ Simon los und drehte sich zu ihm. Sie wollte etwas sagen, doch sie wusste plötzlich nicht mehr was.

Simon schaute sie nur an. Dann nahm er ihre Hände in die seinen, beugte sich herunter und küsste sie. Sie wehrte sich nicht. Sie schloss die Augen und erwiderte den Kuss seiner weichen Lippen, an die sie sich so gut erinnern konnte und die sich besser anfühlten als einst in den Colonnaden. Ihr wurde heiß und Tausende Schmetterlinge begannen, in ihrem Körper einen wilden Tanz aufzuführen. Ihre Knie wurden weich und gaben ein wenig nach. Da legte Simon seine Arme um ihre Taille, zog sie zu sich heran, während sie ihre Arme um seinen Hals schlang. Sie strich durch seine Nackenhaare und drückte sich noch enger an ihn. Sie wollte ihm nahe sein. Ganz nah.

Irgendwann löste er sich von ihr, um sie wortlos an der Hand zum Hauseingang zu führen. Dort küsste er sie wieder. Ihre Zungen spielten miteinander und Elly spürte, dass Simon nach mehr verlangte. Und sie war bereit, es ihm zu geben. Willig folgte sie ihm die Treppe hinauf.

Die Wohnungstür schloss sich hinter ihnen. Elly ließ ihr Tuch und ihre Handtasche fallen. Sie lehnte sich gegen die Tür und gab sich erneut Simons Lippen hin. Sie wanderten ihren Hals hinunter zu ihren Schultern, ihrem Schlüsselbein entlang. Sie schloss die Augen und ein Seufzer entrann ihrer Kehle. Simons Hände öffneten langsam den Reißverschluss ihres Kleides. Ihr lief ein heißer Schauer den Rücken hinab. Ein Kribbeln breitete sich auf ihrer Haut aus, als er mit seinen Fingerspitzen dem Verlauf ihrer Wirbelsäule hinabfolgte. Das kleine Schwarze sank zu Boden. Sie nahm Simon die Brille von der Nase, löste seine Krawatte und öffnete sein Hemd. Ihre Hände wanderten über seine Brust. Das Mondlicht, das durch das hohe Fenster drang, warf einen anmutigen Schein auf Simons trainierten Oberkörper, wo sich die Muskeln abzeichneten. Sie wollte mehr davon, sie wollte mit ihren Händen über jede einzelne Faser seines Körpers fahren. Sie spürte deutlich Simons Erregung und öffnete seinen Gürtel. Er hob sie hoch und drängte sich an sie.

LISTEN: Constantino Carrara Angels

Elly schlang ihre Arme enger um ihren Körper und legte den Kopf zur Seite. Sein Hemd roch noch nach vergangener Nacht. Ein Duft, den sie nicht vergessen würde. Sein herbes Aftershave, ein bisschen vom Champagner und ein bisschen von ihr selbst. Sie trat noch näher ans geöffnete Fenster und atmete tief die schwere, laute und in diesem Moment so wundervolle Luft von Paris ein. Dann ging sie zurück zum Bett und kroch in Simons Arm.

„Was nun?“

Elly schaute zu ihm auf und sah Ratlosigkeit, fast Verzweiflung in seinen Augen, die an die Decke starrten. Jegliche Leidenschaft der vergangenen Nacht war daraus gewichen.

Sie wandte ihren Blick wieder aus dem Fenster gen Himmel. Er war strahlend blau. Nur ab und zu zog eine kleine Wolke ihre Bahn. Der Tag würde heiß werden.

„Am Freitag fährst du nach einer arbeitsreichen Woche wieder nach Hause nach Basel. Und ich fahre nach einer interessanten Tagung wieder zurück nach Stuttgart. Paris bleibt in Paris.“

Elly verdrängte jeden weiteren Gedanken, schlüpfte aus dem Bett, sprang unter die Dusche, spülte provisorisch mit Zahnpasta und zog sich wieder ihr Abendkleid über. Als sie zurückkehrte, stand Simon mit einem Laken um die Hüften am Fenster und beobachtete gedankenverloren den Verkehr unten auf der Straße. Unsicher strich sie ihm über den nackten Rücken und hauchte einen Kuss auf seine Schulter. Dabei spürte sie wieder das erregende Kribbeln auf ihrer Haut, das Verlangen, ihn zurück ins Bett zu ziehen und da weiterzumachen, wo sie wenige Stunden zuvor aufgehört hatten. Doch sie musste gehen. Sie sammelte ihre Pumps und das Tuch auf, verließ die Wohnung und eilte zur Metro.

Im Hotel angekommen, zog sie sich um und griff zum Telefon. Sie schaute auf die Uhr. Neun Uhr. Wöchentliches Meeting. Er würde nicht rangehen. Sie wählte mechanisch Stefans Nummer, sprach auf die Mailbox, dass ihr Akku leer sei und sie das Ladekabel zu Hause vergessen hätte. Die Tagung sei äußerst turbulent und sie habe viel zu tun. Er solle die Woche mit Emily genießen und ihr einen lieben Kuss von ihr geben. Danach dachte sie kurz daran, dass das Kabel noch im Büro lag. Als sie am Montag gegangen war, hatte sie es gesehen und liegen gelassen.

Sie griff nach dem Zimmerschlüssel und hastete zwei Straßen weiter zur Tagung. Zoé war schon da und rümpfte die Nase, um ihr Missfallen über Ellys Verspätung auszudrücken. Elly war froh, dass sie die kleine Französin nur noch heute den ganzen Tag ertragen musste. Morgen war nur noch eine Veranstaltung, an der sie teilnehmen musste. Das große Diner am Abend würde sie schwänzen, Kontakte knüpfen und netzwerken hin oder her.

Als Elly am Nachmittag das Gebäude verließ, hatte sie das Gefühl, vor eine unsichtbare Wand zu laufen. Drinnen hatte die Klimaanlage ihnen einen angenehmen Tag beschert. Hier draußen waren es bestimmt fünfunddreißig Grad. Im Schatten. Sie sehnte sich nach ihrem luftigen Abendkleid. Dieser Hosenanzug war eindeutig für diese Temperaturen ungeeignet.

Aber apropos Abendkleid! Auf der anderen Straßenseite stand Simon. Er lehnte in Jeans und T-Shirt lässig am Stamm eines großen Baumes, ein Bein angewinkelt abgestützt, die Sonnenbrille auf der Nase, und wartete auf sie.

Den Gedanken an letzte Nacht hatte sie den ganzen Morgen verdrängt, denn die kleinste Erinnerung verursachte in ihr ein wohliges „O mein Gott“. Sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Tagung gerichtet.

LISTEN: Dietmar Steinhauer Autumn Leaves

Und nun stand Simon einfach so vor dem Tagungszentrum. Elly wurde noch heißer. Sie strich sich die Bluse glatt, überquerte die Straße und suchte nach einem Anzeichen dafür, was er dachte, was in ihm im Moment vorging. Weder lächelte er noch verrieten seine Gesichtszüge Verärgerung oder jene Ratlosigkeit von heute Morgen. Seine Sonnenbrille war zu dunkel, um seine Augen zu sehen. Was stand in ihnen geschrieben? Sie spürte seinen Blick auf sich. Doch da es ihr verwehrt war, ihn zu deuten, begann sie sich unwohl zu fühlen. Simon sagte nichts und sie wagte nicht, etwas zu fragen. Sie hatte nur eine Chance herauszufinden, welchen Schluss er aus der vergangenen Nacht gezogen hatte. Langsam näherte sie sich seinem Gesicht, roch sein berauschendes Aftershave und küsste ihn. Seine Bartstoppeln piksten.

Sie spürte, wie er seine Lippen öffnete und sie die ihren suchten. Sie vergaß die Welt rundherum und schmiegte sich an ihn. Endlich nahm er auch seine Sonnenbrille ab und schaute sie mit unglaublich lieben Augen an.

Dann nahm er Ellys Hand und führte sie zurück in seine kleine Wohnung mit den spärlichen Küchenmöbeln, dem antiquierten Kühlschrank und einem durchgesessenen Sofa. Neben dem Schreibtisch standen ein alter Schaukelstuhl und nicht weit davon das Bett, dessen durchgelegene Stahlfedern bei jeder Bewegung quietschten. Die zerwühlten Laken zeugten von der vergangenen Nacht.

Elly lehnte im Türrahmen ohne Tür und träumte vor sich hin, während ihr Blick über die blauen Wände des Schlaf-Arbeits-Zimmers wanderte. Sie mochte die fast raumhohen, gardinenlosen Fenster mit den dunkelblauen, schweren Vorhängen. Und das Regal, dessen Bretter vom Gewicht der zahllosen Geschichtsbücher durchhingen. Die hintersten schienen ihre letzte Begegnung mit dem Staubtuch schon vor langer Zeit gehabt zu haben.

Simon kam mit einem Glas Wein zu ihr. Nachdem sie einen Schluck genommen hatte, nahm er ihr das Glas wieder aus der Hand und stellte es auf den Boden. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah sie lange an. Sein Blick war weich und voller Sehnsucht. Elly fühlte sich begehrt wie schon lange nicht mehr. Wenn sie ehrlich war, hatte noch kein Mann sie auf diese Weise angesehen, die ihr das Gefühl gab, die schönste und wundervollste Frau auf Erden zu sein. Seine Lippen waren den ihren so nah, dass sie sie fast spüren konnte. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch verlangten so sehr nach ihnen, dass Elly zu zittern begann. Als Simon Erbarmen zeigte und sie endlich küsste, schloss sie nicht die Augen, sondern betrachtete die kleinen Fältchen um seine Augen, die dunklen Augenbrauen und die grauen Strähnen in seinem Haar. Sie fuhr mit den Händen hindurch, zog ihn ganz nah an sich und ließ sich abermals hochheben und zum Bett tragen.

„Hast du Hunger?“

Elly rollte sich auf die Seite und schaute Simon an. „Ja, und wie. Aber ich brauche vorher unbedingt etwas anderes zum Anziehen aus meinem Koffer.“

Simon schlüpfte aus dem Bett und Elly schaute dem nackten Mann hinterher, der am Schreibtisch kurz innehielt, auf sein Handy tippte, schaute, noch einmal tippte und durch die Küche ins Bad verschwand. Sie räkelte sich bei dem Gedanken daran, dass dieser Mann gerade noch neben ihr gelegen und sie ihn hatte berühren dürfen. Irgendwo klopfte jedoch ihr Unterbewusstsein an und dämpfte ihre Behaglichkeit. Ob er nach einem Anruf aus Basel geschaut hatte? Um diesem und weiteren, ähnlichen Gedanken zu entfliehen, stand Elly ebenfalls auf und suchte Simons Gesellschaft unter der Dusche.

In dem kleinen, urigen Restaurant, in das Simon sie entführte, war sie schon einmal gewesen. Vor zwölf Jahren. Heute hatte sie allerdings ihre lang ersehnte digitale Spiegelreflexkamera dabei. Der einzige Haken an der Geschichte war, dass Simon ein sehr eigenwilliges Model war. Es schien keine Grimasse zu geben, die er nicht ziehen konnte. Elly fiel es schwer, die Kamera vor Lachen ruhig zu halten. Doch jedes Mal, wenn sie die Kamera hob und durch das Objektiv schaute, konnte sie, bevor er wieder Faxen machte, einen kurzen Blick auf den Simon erhaschen, der er war.

Er war ein Mann, zu dem sie aufsah, dessen Intellekt sie bewunderte. Der Freund war seltsamerweise auch immer der Dozent geblieben, egal, wie vertraut sie sich in den ganzen Jahren geworden waren. Aber sie schätzte ebenso seine ruhige und besonnene Art, sein Leben erfolgreich zu gestalten und trotzdem eine Familie zu gründen, für die er neben der Karriere genug Zeit fand. Und sie liebte an ihm, dass er wusste, wie man das Leben genoss. Seit gestern bekam sie ein bisschen davon ab.

Ein erneuter Blick durch die Kamera verriet ihr, dass Simon sie wieder einmal beim Träumen ertappt hatte.

„Eine Kugel Eis auf den Champs-Élysées, Deern, dass du in Gedanken schon wieder im blauen Zimmer bist.“

Elly ließ die Kamera sinken und schaute Simon mit offenem Mund und puterrotem Gesicht an. Auch wenn seine Vermutung nicht ganz der Wahrheit entsprach, konnte sie einen gewissen Wunsch, sich wieder dorthin zu begeben, nicht leugnen. „Die Hamburger Deern hing anständigen Tagträumen hinterher“, erwiderte sie gespielt beleidigt. „Außerdem würde ich an die Dusche denken, wenn schon.“ Elly schielte verschmitzt zu ihrem Gegenüber.

„Okay, touché. Ich spendiere das Eis“, lachte Simon.

In der Prachtstraße von Paris hatten sich seit ihrer Studienreise die Preise für eine Kugel Eis verdoppelt. Gut, dass sie das nicht von ihrem Lektorengehalt abziehen musste. Es reichte schon, dass die Pauschale vom Verlag nicht alle Kosten der Reise abdeckte.

Nach zweimal Lecken stellten Elly und Simon fest, dass das Eis keinen Cent hätte kosten dürfen. Es schmeckte nach Himbeeraroma und alter Schokolade.

Elly hakte sich bei Simon unter und schlenderte mit ihm Richtung Eiffelturm. „Was machen wir morgen?“

„Wann ist dein Tag zu Ende?“

„Um elf. Für mich ist morgen nur ein Vortrag interessant.“

„Dann habe ich eine Idee.“

Elly gefiel es, wenn Simon eine Idee hatte.

Am nächsten Nachmittag ließ sie sich ganz nach Klischee mit Baguette und Camembert verwöhnen, den Kopf an eine starke, männliche Schulter gelehnt, Simons Lippen an ihrem Ohr.

„Wusstest du, dass Monsieur La Fontaine eine Schwäche für Mademoiselle Meriot hat?“

Elly schaute erstaunt zu Simon empor. „Echt? Geschmäcker sind verschieden. Aber sie? Warum entwickelt er keine Schwäche für eine seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen?“

„Die sind dreißig Jahre jünger!“

„Oder Praktikantinnen?“, antwortete sie und kuschelte sich noch weiter an Simon heran.

„Vierzig Jahre! Nein, das will ich mir gar nicht vorstellen, er war mein Doktorvater. Außerdem ist Monsieur La Fontaine kein Mann dieser Art.“

„Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Oder hast du Angst, dass er ein Auge auf mich geworfen hat?“, grinste Elly provokant.

Dafür erntete sie ein heftiges Kitzeln, welches sie aufjaulen ließ und kurzzeitig verstörte Blicke der anderen Parkbesucher auf sie beide lenkte.

Simon hatte sie am Mittag ins Forschungsinstitut mitgenommen. Sie hatte sich schon daran gewöhnt, vorher nichts verraten zu bekommen. Noch am Eingang hatte sie Giselle Meriot kennengelernt. Mittleren Alters, streng zu einem Dutt gebundene Haare, ein ebenso strenger Gesichtsausdruck. Sie trug einen grauen Bleistiftrock und eine weiße Bluse. Der Albtraum einer Französischlehrerin, schoss es Elly durch den Kopf. Ihre eigene war zwar nicht wesentlich liebenswerter gewesen, doch dreißig Zentimeter kleiner und damit weniger Furcht einflößend.

„Bonjour, Mademoiselle, darf ich Ihnen eine alte Freundin von der Uni vorstellen?“

Elly schüttelte dem Fräulein die Hand.

„Guten Morgen, Simon, Monsieur La Fontaine ist in der Bibliothek. Darf ich fragen, ob Sie mein Exposé bereits durchgehen konnten?“

Elly erfuhr, dass das Fräulein promovierte Expertin für frühmittelalterliche Geschichte von Paris war und in Hamburg studiert hatte. Gut, jetzt hatte sie Gänsehaut – vor Respekt. Sie war also nicht die altjungfräuliche Französischlehrerin, sondern eine hochintelligente Kollegin von Simon.

„Ich habe angefangen. Aber mein Besuch diese Woche verlangt etwas Aufmerksamkeit. Ich bitte um Nachsicht.“

Das Fräulein brachte, begleitet von einem leichten Seufzer, ein „Bon“ hervor, drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand. Simon zuckte mit den Schultern und ging weiter. Elly sah, dass er sein Handy in der linken hinteren Hosentasche hatte. Er sollte natürlich erreichbar sein, sagte sie sich. Er machte hier schließlich nicht mit ihr Urlaub, sondern musste arbeiten, während sie auf der Tagung war. Außerdem könnten jederzeit Gina oder die Jungs anrufen. Elly fühlte einen Stich im Herzen und war froh, im gleichen Moment abgelenkt zu werden.

An Monsieur La Fontaine konnte sie sich erinnern, als sie ihn sah. Er hatte sich kaum verändert. Seine Brille baumelte an einer Kette um seinen Hals und wenn sie sich nicht irrte, trug er damals das gleiche karierte Hemd und dieselbe graue Strickjacke. Beim Besuch während ihrer Studienreise hatte er auf einer der Leitern gestanden, in verschiedenen Büchern geblättert und immer wieder missmutig zu ihnen heruntergeblickt. Es schien ihm nicht besonders gefallen zu haben, dass Simon sein Seminar in diesen heiligen Hallen herumführte. Ganz unverständlich war es nicht gewesen. Ihre Mitreisenden waren nach Sainte-Chapelle und Montmartre nicht mehr wirklich aufnahmefähig gewesen und unwilliges Gemurmel hatte Simons Führung begleitet. Ellys Hoffnung bestand nun darin, dass der Professor sich nicht mehr an sie im Speziellen erinnerte und Simon vor allem auch kein Wort darüber verlor.

Er tat es nicht. Er begrüßte den Professor freundlich und stellte sie wiederholt als alte Studienfreundin vor, die heute historische Bücher verlegte. Damit war ihr der Professor wohlgesonnen und lud sie beide auf einen Kaffee ein. Elly war erleichtert, sich mit Monsieur in einer Mischung aus Deutsch und Englisch verständigen zu können.

Er fragte sie interessiert über ihre Arbeit aus und lobte Simon in den höchsten Tönen. Und irgendwie machte sie das stolz, weil sie sich als Teil des Ganzen fühlte und der Mann, dem sie seit zwei Tagen so nah war, so viel Anerkennung genoss.

Mit diesem guten Gefühl ließ sie sich jetzt genüsslich mit französischem Käse füttern und sich anschließend zu einem Spaziergang überreden.

Sie stiegen an dem Pont Neuf die Stufen zum Seine-Ufer hinab, dorthin, wo jeden Sommer künstliche Strände aufgeschüttet wurden. Simon nahm wie selbstverständlich ihre Hand und sie schlenderten barfuß über den weichen Sand, der Elly zwischen all den Steinmauern und dem Beton irgendwie fehl am Platz erschien.

Sie trug ein blaues Sommerkleid mit Spaghettiträgern, das sie neben dem kleinen Schwarzen bei Mariano’s erstanden hatte. Eigentlich lag ihr nicht viel an Sonnenbräune, aber ein bisschen Farbe konnte nicht schaden. Außerdem animierte es Simon, ihr immer mal wieder über die nackten Schultern zu streicheln. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch flogen dabei Loopings und konzentrierten sich merkwürdigerweise in ihrer Körpermitte.

Als sie am gegenüberliegenden Ufer einige Boote entdeckte, blieb sie stehen und hob die Hand, in der ihre Schuhe baumelten, um sich gegen das Blenden der Sonne abzuschirmen. Beim Anblick der kleinen Motorjachten überkam sie Sehnsucht nach der Stille und der Freiheit auf dem Meer. Ihr letzter Segeltörn war lange her.

„Wann warst du das letzte Mal segeln?“

„Vor Jahren mit meinem Vater“, log Elly. Das letzte Mal war sie mit Gina und Simon auf der Alster unterwegs gewesen.

Simon stützte sich neben sie auf das Geländer. „Kannst du es noch?“

„Das ist wie Fahrrad fahren. Das verlernt man nicht. Aber mir fehlt die Erfahrung mit einer richtig großen Jacht, die man mit mehreren Leuten segeln muss. Das würde ich gerne mal ausprobieren. Allerdings ist solch ein Schiff Mangelware im Segelklub meines Vaters.“

Hinter ihr wurde Elly sich plötzlich einer Schimpftirade auf Französisch gewahr, die scheinbar ihr galt. Sie drehte sich herum und sah einen Herrn im Liegestuhl heftig in ihre Richtung mit den Armen gestikulieren. Er wiederholte sein Anliegen mehrmals. Elly schaute Hilfe suchend zu Simon, weil sie kein Wort verstand. Dieser lächelte den aufgebrachten Sonnenanbeter freundlich an, sagte etwas in seiner Sprache, aus dem Elly nur eine Entschuldigung heraushörte. Gleichzeitig nahm Simon wieder ihre Hand und zog sie vorwärts. Sie schaute sich kurz zu dem Herrn um und murmelte: „Au revoir.“

Nachdem sie einige Meter gegangen waren, lehnte sich ihr Retter mit dem Rücken zum Fluss an das Geländer und zog Elly an sich. „Du hast ihm die Aussicht versperrt und Schatten gespendet. Das fand er nicht lustig.“

Elly rollte mit den Augen. „Was für eine Aussicht? Aus der Liegeposition konnte er doch nur noch den Himmel sehen! Außerdem ist zu viel Sonne ungesund. Er sollte mir dankbar sein“, empörte sie sich.

Um Simons Mundwinkel zuckte es.

„Lachst du etwa über mich?“ Sie schob seine Sonnenbrille nach oben und sah in seinen Augen, dass er sich über sie amüsierte.

Daraufhin glitten ihre Hände von seiner Hüfte nach oben und begannen, ihn zu kitzeln. Er ergriff sie und hielt sie fest.

„Das sind unfaire Mittel.“

„Dann lach gefälligst nicht über mich“, gab sie zurück.

„Ich lache nicht über dich. Ich lache dich an.“ Sein Mund war so dicht vor ihrem, dass sie seine Wärme spürte. Doch so leicht gab sie nicht auf.

„Noch so ein weiser Spruch, und ich kitzle dich gleich noch viel mehr. Hier vor allen Leuten.“ Sie wollte sich befreien, musste jedoch zugeben, dass sie gegen Simons starke Männerhände machtlos war. Vielleicht schaffte sie es ja mit einer anderen Taktik. Sie sah ihm tief in die Augen, hörte auf, gegen ihn anzukämpfen, und ließ ihre Arme locker hängen. Dann lehnte sie sich an ihn. Als ihre Nasenspitzen sich trafen, hauchte sie ihm einen Kuss auf seine Lippen. Abgelenkt von ihrem Mund lockerte sich sein Griff um ihre Handgelenke. In dem Moment entzog sie ihm ihre Hände mit einem schnellen Ruck – doch unterschätze nie das Reaktionsvermögen deines Dozenten, schoss es ihr durch den Kopf. Simon hatte blitzschnell seine Arme nach oben gerissen und sie nun ganz um Elly inklusive ihrer Arme geschlossen. Eng an sich gezogen zwang er sie, den angefangenen Kuss zu beenden.

„Ich habe nicht über dich gelacht, sondern fand, dass du aufgebracht sehr niedlich aussahst.“

„Niedlich? Mal abgesehen davon, dass ich bitte nie wieder als niedlich befunden werden möchte, klingt das Wort aus deinem Mund seltsam.“ Simon schaute sie fragend an.

„Du warst für mich nie so ein Niedlich-Mensch.“

„Was ist denn ein Niedlich-Mensch?“

„Jemand, der für so kitschige Dinge und Worte nicht viel übrig hat. Das passt irgendwie ganz und gar nicht in meine Vorstellung von dir.“

„So, so. Kitschig passt also nicht in deine Vorstellung von mir. Jetzt bin ich aber ein bisschen beleidigt. War dein erster Abend in Paris denn gar nicht kitschig-romantisch?“

Elly lächelte verlegen. „Nein“, sagte sie sanft. „Er war atemberaubend. Du warst atemberaubend. Verbringen wir unseren letzten Abend bei dir?“

LISTEN: Constantino Carrara Angels

Nachdem sie im TGV ihren Sitzplatz gefunden hatte, wuchtete Elly ihren Koffer auf die Ablage darüber, quetschte sich an dem Herrn auf dem Gangplatz vorbei und sank in ihren samtroten Fenstersessel. Der Bahnsteig hatte sich schlagartig geleert. Aus den Lautsprechern drang eine viel zu laute, knisternde, rauschende Ansage und der Zug setzte sich in Bewegung. Nach Hause. Der Gedanke daran verwehrte sich ihr noch.

Vor ihrem inneren Auge ließ sie die letzten Tage Revue passieren. Mit jedem Kilometer rückte das Geschehene immer mehr in eine scheinbar andere Welt, die sie festhalten wollte, in die sie tiefer eintauchen wollte, die sie nicht mehr verlassen wollte. Jede Sekunde der Zeit mit Simon spürte sie auf ihrer Haut, in ihrem Herzen, jedoch unendlich weit weg. Sie lächelte vor sich hin, fühlte sich so wohl und glücklich wie schon lange nicht mehr. Und hätte heulen können. Unfähig, sagen zu können, ob vor Freude, Traurigkeit oder ob aufgrund dessen, dass ihr Bewusstsein langsam realisierte, was passiert war.

Die Landschaft rauschte vorbei. Häuser, Städte und Bahnhöfe zogen vorüber. Wo sie waren? Sie wusste es nicht. Sie sah nur Simons Gesicht vor sich, wie er unsicher an der Kreuzung in die andere Richtung abgebogen war.

Sie waren von seiner Wohnung aus gemeinsam aufgebrochen, bis sie zur Metro hinuntermusste und er den Weg Richtung Institut eingeschlagen hatte. An ihren Weg zum Hotel und zum Bahnhof konnte Elly sich nur schwach erinnern. Tränen waren ununterbrochen über ihr Gesicht gelaufen und ihre Gedanken nur bei Simon gewesen. Die Schönheit von Paris war an diesem Tag nicht mehr in ihr Bewusstsein vorgedrungen.

Er sollte jetzt in einem Kolloquium sitzen. Hatte er es abgesagt? Nahm er teil, um sich abzulenken? Oder war es töricht zu denken, sein Leben würde aufgrund dessen, was zwischen ihnen gewesen war, durcheinandergeraten? Nein, denn nichts war seit Dienstag wie zuvor.

Bis heute Morgen hatten sie es aus unerfindlichen Gründen geschafft, dass Paris Paris geblieben war, und alles andere ausgeblendet. Erst als sie vor ihrem Kaffee gesessen hatten, war die Nähe der anderen Welt, ihrer beiden Welten, wieder spürbar geworden.

Die Sonne kitzelte sie an der Nase. Elly sah nichts außer weiten Feldern und Wiesen. Und mittendrin ein einziger Baum. Wie war er dorthin gekommen? War er einmal Teil eines Waldes? Hat ihn jemand aus Mitleid stehen lassen? Vielleicht hatte er für seinen Besitzer eine besondere Bedeutung? Elly erinnerte er an einen Lindenbaum in Paris. Wenn sie die Augen schloss, hatte sie das Gefühl, noch immer in seinem Schatten zu stehen und Simons Körper zu spüren.

„Nächster Halt Stuttgart Hauptbahnhof“, erklang es aus den Lautsprechern.

Stefans Auto stand vorm Haus. Warum war er schon zu Hause? Ein Empfangskomitee war nicht gerade das, was Elly jetzt gebrauchen konnte. Während sie die Haustür öffnete, sagte sie sich immer wieder: Paris bleibt in Paris. Paris bleibt in Paris.

Sie fand ihren Mann in der Küche. Aus dem Ofen stieg ihr der Geruch von schmackhaftem Fleisch in die Nase. Stefan stand an der Arbeitsplatte und zerkleinerte Tomaten. In ihrem Kopf lief ihr Mantra auf Hochtouren: Paris bleibt in Paris.

Als sie neben ihn trat, drehte er sich zu ihr und gab ihr unerwartet einen Kuss zur Begrüßung. Es fühlte sich seltsam an.

„Alles okay bei dir?“

„Ja, ich bin nur ziemlich erledigt“, gab sie zurück.

„Schade. Emily ist mit Leonie unterwegs.“ Stefan legte ihr den Arm um die Hüfte und zog sie zu sich. „Es dauert noch ein bisschen, bis sie wiederkommen. Und du hast mir gefehlt.“

Elly gelang ein Lächeln, obwohl sie das Gefühl hatte, dass es etwas schief geraten war. Paris bleibt in Paris, Paris bleibt in Paris, Paris bleibt in Paris, arbeitete es in ihrem Kopf.

Sie erwiderte Stefans Kuss zögerlich. Es war ihr unangenehm, seine Lippen auf ihren zu spüren. Sie schmeckten anders und fühlten sich anders an als jene, die sie in den vergangenen Tagen begehrt hatte. Sie lenkte Stefans Mund stattdessen an ihren Hals und ließ sich von ihm das T-Shirt über den Kopf streifen. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, sich vorzustellen, dass es Simon war, der ihren Körper liebkoste. Doch es gelang ihr nicht. Es fühlte sich nicht an wie er, es war nicht so leidenschaftlich wie er und vor allem nicht darauf ausgerichtet, sie glücklich zu machen. Allerdings war es neu, mit Stefan Sex auf dem Küchentisch zu haben – überhaupt mal wieder mit ihm Sex zu haben, war schon ungewöhnlich –, was das Ganze ein wenig aufregender machte als bisher.

LISTEN: Sunrise Avenue Hollywood Hills

Steffi kam mit einem neuen Cocktail mit Orangenscheibe und Schirmchen zurück. „Du stehst doch auf den Geschmack von Rum, nicht wahr?“ Mit verschwörerischem Blick reichte sie Elly das Glas.

Diese nippte und befand den Cocktail für köstlich. Zufrieden und entspannt legte sie ihre Füße auf das Balkongeländer, während ihr Blick über Hamburg-Eppendorf schweifte. Es war eine gute Idee gewesen, Steffi zu besuchen.

Was die Zeit an der Uni betraf, konnte Elly sich eigentlich nur an Spaß und Party im Zusammenhang mit ihr erinnern. Und Männer. Anja gehörte auch in diese Erinnerungen hinein, wenn auch mit ihr Spaß haben nicht bedingungslos war wie mit Steffi. Anja blamierte sich nie, trank nie über den Durst hinweg, tanzte nie auf Tischen und ließ sich nur auf Spiele ein, bei denen sie nicht verlor. Und sie hatte sich nur mit Menschen umgeben, die ihr auf der Karriereleiter behilflich sein konnten. Was Steffi und sie sicher nicht waren, aber mit der einen konnte Anja feiern und mit der anderen reden und sich bei ihr ausheulen. Für die Karriere waren ab einem bestimmten Zeitpunkt Simon und später Alexander zuständig gewesen.

Als hätte sie Ellys Gedanken gelesen, meinte Steffi plötzlich, dass sie alte Bilder sortiert und sie in rosa Tüll auf ihrem alten Küchentisch ausgekramt hatte.

„Oje, die schlimmste Party aller Zeiten!“ Elly lachte laut und wurde sicher auch gehörig rot, denn sie konnte sich nur vage an jenen Abend erinnern. Die Tatsache, dass sie sich gänzlich danebenbenommen hatte, war allerdings hängen geblieben.

„Simon hat deine Interpretation von Schwanensee aber scheinbar sehr amüsiert“, schmunzelte Steffi.

Elly fuhr von ihrem Stuhl hoch. „Wie bitte? Der war doch gar nicht da!“ Verflucht.

„Ich glaube mich zu erinnern, dass er ziemlich spät noch kam. Es waren so viele Leute da. Na, jedenfalls erkennt man ihn lächelnd im Hintergrund auf einem der Bilder.“

Elly setzte sich, legte ihre Füße wieder hoch und nahm einen tiefen Zug durch den Strohhalm. „Mein Gott, zum Glück gab es damals noch kein Facebook oder dergleichen“, stöhnte sie.

Steffi nahm ebenfalls einen Schluck von ihrem Cocktail. „Hör bloß auf, die würden mir sofort den Job kündigen, wenn sie die Fotos sehen würden. Aber wieso warst du gerade so entsetzt? Simon hat doch jeden Mist mitgemacht, da war uns nie was peinlich. Anja wollte Eindruck machen, nicht du.“ Nach einer Denkpause setzte sie hinzu: „Vielleicht hätte sie sogar mal mit ihm geschlafen, wenn er mit uns nicht immer so wild gefeiert hätte. Nein gesagt hätte er bestimmt nicht.“

„Nein, das glaube ich nicht. Sie brauchte ihn allein für ihren Lebenslauf.“ „Ach, sind wir heute wieder nett. Wahrscheinlich ist er gar nicht gut im Bett. So gern, wie ich ihn habe, aber bei so viel Intelligenz ist das bestimmt auf der Strecke geblieben. Wäre ja sonst der absolute Traummann.“ Steffi lachte beschwipst. Sie musste es wissen. Elly war überzeugt, dass ihre Freundin mehr als ausreichend Erfahrungen gesammelt hatte.

Elly schaute zum strahlend blauen Himmel empor. „Nein, das ist keineswegs auf der Strecke geblieben.“

„Meinst du wirklich?“

Elly betrachtete ihre Füße und sagte leicht dahin: „Ich meine nicht, ich weiß es. Er ist göttlich im Bett.“

Neben ihr war es schlagartig still geworden. Steffi saß mit offenem Mund, ihr Glas in der Hand, da und starrte sie entgeistert an.

„Das hast du gehört, oder? Das hat Gina gesagt. Du hast nicht selbst mit ihm geschlafen“, stotterte Steffi mit einem Hauch von Vorahnung in der Stimme.

„Doch. Und es war himmlisch.“

Steffi schaute immer ungläubiger drein. „Wann?“

„Vor ein paar Wochen.“

„Vor ein paar Wochen? Nicht nach deiner Geburtstagsparty damals? Die im Klubhaus? Simon hat dich nach Hause gebracht. Ich dachte immer … Ich meine, hätte ja sein können … Steffis Hoffnung darauf, dass es schon lange her war, war deutlich herauszuhören. Sie war ganz bleich im Gesicht. „Ihr ward am nächsten Tag ein bisschen schweigsam miteinander.“

„Nein. Meinst du nicht, dass ich dir davon erzählt hätte? Damals hat er mich nur geküsst. Daher das seltsame Verhalten.“ Elly fühlte sich gut und amüsiert.

„Er hat dich geküsst? Hättest du mir das nicht erzählen können?“ Steffi bestand nur noch aus Entsetzen.

„Es ist passiert, als ich in Paris war“, ergänzte Elly.

Erst nach Minuten registrierte sie wieder eine Bewegung neben sich. Steffi stand auf, nahm ihre beiden Gläser mit nach drinnen und kam kurze Zeit später mit der puren Rumflasche und zwei kleineren Gläschen zurück. Sie ließ sich in ihren Stuhl fallen, legte ihre Füße ebenfalls auf das Balkongeländer, schenkte ihnen beiden ein und prostete Elly zu.

„Mann, mit den Neuigkeiten habe ich heute nicht gerechnet.“ Steffi schaute sie an, schüttelte den Kopf und lachte. Sonst nichts. Keine bohrenden Fragen, keine Vorwürfe. Elly wusste, dass ihrer Freundin ihre Gefühle keineswegs egal waren. Sie würde sich Gedanken um sie machen. Aber sie würde Elly die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden, wann sie ihr was erzählte.

Sie beobachteten gemeinsam den spätsommerlichen Sonnenuntergang und ließen noch einige Geschichten aus ihrer Studienzeit Revue passieren.

Zu späterer Stunde schaute Elly sich die Fotos von damals an. Sie erkannte Simon auf dem besagten Bild. Er schien sie intensiv zu beobachten und lächelte. Er belächelte sie aber nicht. Wäre es nicht sie selbst gewesen, die er beobachtet hatte, hätte sie es als ein verliebtes, bewunderndes Lächeln bezeichnet. Doch das konnte nicht sein. Er war zur selben Zeit bereits mit Gina verlobt gewesen.

Ein anderes Bild zeigte sie vier, Simon, Anja, Steffi und Elly, vor einem kleinen Café in Ottensen. Sie saßen auf einer Bank, jeder mit einer Tasse heißer Schokolade in der Hand, und lachten in die Kamera. Ein Abzug davon hing sowohl bei Steffi im Wohnzimmer als auch bei Elly.

„Hast du oder Alex was von Anja gehört?“

„Nein. Alex bereut die Beziehung immer noch, weil sie ihn benutzt hat, um an die Forschungsstelle in Rom ranzukommen. Ich will gar nicht wissen, was sie jetzt macht. Ich habe mal ihre Mitbewohnerin getroffen, aber das ist schon ewig her. Du? Hat Simon was erzählt?“ An der Geschichte mit Steffis Bruder und Rom war letztlich auch die Freundschaft zwischen Anja, Steffi, Simon und ihr zerbrochen.

„Nein, wir haben seit Jahren nicht über sie gesprochen. Ich glaube auch nicht, dass er noch Kontakt hat.“ Elly machte eine Pause. „Hör mal, du musst mir schwören, dass du niemandem erzählst, was zwischen Simon und mir passiert ist“, sagte sie eindringlich. „Auch Simon gegenüber darfst du keine Andeutung machen. Keine einzige! Verstehst du? Das darf nie jemand erfahren!“

„Natürlich nicht, das weißt du doch.“ Steffi zögerte. „Werdet ihr euch wiedersehen? Ist es mehr als nur Sex?“

Würden sie sich wiedersehen? Ja, das würden sie. An ihrer Freundschaft hatte sich nichts geändert. Doch würde es außerdem ein Wiedersehen wie in Paris geben? „Ich weiß es nicht, Steffi. Ich weiß es nicht. Ich denke aber nicht“, antwortete Elly leise und zum ersten Mal etwas nachdenklich. „Paris bleibt in Paris.“

Steffi füllte ihre beiden Gläser wieder auf. Damit war dann auch ganz sicher, dass Elly die Nacht auf Steffis Sofa verbringen würde. Sie schrieb ihrem Vater eine kurze Nachricht, dass sie heute nicht mehr kommen, dafür aber mit ihm frühstücken würde.

LISTEN: Linkin‘ Park Numb

Nach dem Frühstück mit viel Kaffee gegen ihren Kater staute Elly sich aus Hamburg heraus und konnte auf der A7 endlich etwas Gas geben. Nächste Ausfahrt Verden. Die Fahrt zu ihrer Schwiegermutter linderte Ellys Kopfschmerzen nicht, sondern verstärkte das Pochen in ihren Schläfen deutlich. Mit jedem Kilometer stieg ihre Anspannung. Sie machte sich darauf gefasst, die Missbilligung darüber, den vergangenen Tag mit einer Freundin anstatt mit ihrem Mann und ihrer Tochter bei ihr verbracht zu haben, über sich ergehen zu lassen.

Seit vier Jahren gab Elly ihr Bestes. Völlig unvoreingenommen, nur mit den besten Absichten im Gepäck gegenüber der Mutter ihres Freundes, war sie zum ersten Mal zu Rosemarie gefahren. Seitdem hatte sie bei jedem Besuch diese Absichten wieder eingepackt und weitergehofft. Jedes verdammte Mal. Immer wieder musste sie sich subtile Bemerkungen über ihr Aussehen, ihren Job, ihr Verhalten als Ehefrau oder ihre Freunde anhören. Nicht zu vergessen der verachtende Blick nebenher.

Elly parkte ihr Auto am Zaun und sah ihre Schwiegermutter schon in der Tür stehen. Sie war zu spät. Rosemarie würde es nicht versäumen, sie auf ihre Verfehlung hinzuweisen. Am Ende des Tages würde sie wie jedes Mal völlig fertig auf dem Sofa liegen und morgen krankmachen. Sie konnte bereits von hier aus Rosemaries erhobene Nase und den missbilligenden Blick erkennen. Und doch stieg sie aus und ging ihr lächelnd entgegen. Sie ignorierte, wie Stefans Mutter verstohlen, aber deutlich, auf die Uhr sah, und umarmte sie mit einem zu großen „Hallo“.

Rosemarie fragte sie, wie die Fahrt gewesen war, doch verlor sie kein Wort über gestern. Keine Frage, wie es war, ob sie sich amüsiert hatte, oder nach ihrem Vater. Stefan würde jetzt sagen, dass das nicht so gemeint gewesen wäre. Das mache sie nicht mit Absicht.

Sie führte Elly durch die Diele in den extravaganten Wintergarten.

„Anne“, rief Elly erstaunt und vielleicht nicht ganz mit der beabsichtigten Freude. Stefans jüngere Schwester hatte ihr gerade heute noch gefehlt. Das Abbild ihrer Mutter, nur noch ein wenig geschickter in ihrer Durchtriebenheit. Elly gab ihr die Hand, küsste kurz ihren Mann, während Emily ihr schon am Bein hing. Sie setzte sich und nahm sie auf den Schoß.

„Wir können gleich nach nebenan. Das Essen ist schon eine Weile fertig.“

Ja, lasst die Spiele beginnen, dachte Elly bitter. Sie stand sofort wieder auf und folgte tief durchatmend den anderen ins Esszimmer.

„Schön, dass du es doch noch geschafft hast“, lächelte Anne süffisant.

Sollte das ihr ganzes Leben lang so weitergehen? Sie verlangte nicht, dass ihre Schwägerin ihre beste Freundin wurde. Aber konnten sie nicht wenigstens respektvoll wie erwachsene Menschen miteinander umgehen? War das wirklich zu viel verlangt?

„Der Verkehr in Hamburg war wieder tierisch“, antwortete Elly brav.

„Das glaube ich dir.“ Überzeugend klang das nicht. „Gut, dass du Stefan und Emily abholst. Sonst hätten sie mit dem Zug fahren müssen. Wie lang fährt man da noch mal?“

„Nicht länger als mit dem Auto. Zumindest direkt von Hamburg aus“, sagte Stefan, ohne die Spitze bemerkt zu haben.

„Warum sollten sie mit dem Zug fahren, wenn wir zusammen hergekommen sind und es auf dem Weg liegt?“ Elly rechtfertigte sich für etwas, was es gar nicht erforderte. Aber sie wollte sich nicht einfach unterstellen lassen, sich zum Abholen ihrer Familie widerwillig durchgerungen zu haben.

„Ich meine ja nur. Die Zugfahrt wäre eine Möglichkeit gewesen“, setzte Anne hinterher.

Das hätte dir gefallen, dachte Elly sarkastisch. Dann hättest du noch einen Grund mehr gehabt, mich zu kritisieren.

Stefan schnitt seiner Tochter unbeeindruckt das Fleisch.

„Wann wollt ihr weiter?“, wandte sich Rosemarie an ihren Sohn.

„Nach dem Essen“, sagte Elly, bevor Stefan antworten konnte. Er schaute verdutzt, nickte dann aber.

„Könnt ihr nicht bis zum Kaffee bleiben? Wir sehen euch so selten.“

Ich euch Gott sei Dank auch, setzte Elly in Gedanken hinzu. Aussprechen tat sie nur ein Nein, das keinen Widerspruch duldete.

Für einen Moment herrschte angespannte Ruhe. Es war ihr ein absolutes Rätsel, warum Emily so gerne hier war. Zu Anfang hatte Elly panische Angst gehabt, nach ein paar Tagen Verden ein absolut traumatisiertes Kind zurückzubekommen. Doch weder trug ihre Tochter einen Schaden davon noch war sie gegen sie aufgehetzt worden. Das erste Mal war Elly ein nervliches Wrack gewesen und wie eine Verrückte durch die Wohnung ihres Vaters getigert. Als sie Emily am nächsten Tag abgeholt hatte, hätte sie am liebsten geheult vor Erleichterung. Auch diesmal war es mehr als schön zu sehen, dass es ihrer Tochter gut ging und sie selbst als einziger Störfaktor im Haus betrachtet wurde.

Elly startete einen Versuch zu einer normalen Konversation. „Die Tagung in Paris war sehr interessant. Nicht immer einfach mit der Sprache, aber die Themen waren gut.“

Sie hätte es ahnen sollen. „Du warst kein Jahr im Ausland wie ich, nicht wahr?“, fragte Anne.

„Nein, ich …“, wollte Elly antworten, musste aber nicht zum ersten Mal feststellen, dass Anne nur eine rhetorische Frage gestellt hatte.

„Das Jahr damals hat mir richtig weitergeholfen. Ich habe auf unseren Tagungen gar keine Probleme.“

Elly wollte anmerken, dass sie vom Französischen gesprochen hatte, bei dem Anne ihr Jahr in England auch nichts genützt hätte, ließ es jedoch. Die Feindseligkeit im Raum hatte sie schon zu sehr niedergedrückt. Sie registrierte, wie das Thema bei Annes Arbeit gelandet war, ohne auch nur eine Rückfrage zu Paris bekommen zu haben.

Als das Essen endlich beendet war, ging Elly mit Emily nach oben und packte die Sachen ihrer Tochter. Stefan kam nach und brachte seine und ihre Taschen inklusive Kuschelkissen mit dem Abbild von Prinzessin Elsa und Knuddelschneemann Olaf ins Auto. Nach einer verkrampften Verabschiedung fuhren sie endlich wieder gen Heimat. Elly lehnte den Kopf an die Scheibe und schloss für einen Moment die Augen.

„Du hättest ruhig etwas mehr erzählen können. Anne ist extra wegen dir gekommen“, warf ihr Stefan plötzlich vor.

Elly schaute über ihre Schulter und sah, dass Emily schon eingeschlafen war. „Wegen mir? Das glaubst du doch selber nicht“, reagierte sie gereizt.

„Doch. Sie …“

„Sag jetzt nicht, sie mag mich und ich würde mir ihre Feindseligkeit nur einbilden! Wehe!“, unterbrach sie ihren Mann. „Sie ist ganz allein aufgrund deines Besuchs zu deiner Mutter gefahren. Und das weißt du ganz genau.“ Ihr Ton war scharf. Sie hätte schreien können, nahm sich aber wegen Emily zusammen.

Stefan stöhnte nur und sagte ab jetzt nichts mehr. Wie immer. Seine Mutter und seine Schwester waren sein persönliches Heiligtum. Was Elly auch sagte, es endete im Streit. Lange hatte sie darum gekämpft, dass es anders würde. Viele Tränen hatte sie dabei vergossen. Doch Stefan hatte eine Mauer der Ignoranz gegenüber jeglicher Form der Kritik an seiner Familie aufgebaut, die Elly nicht in der Lage schien durchbrechen zu können. Irgendwann hatte sie aufgegeben. Sie hatte allerdings nicht aufgehört, sich jede Schikane zu Herzen zu nehmen und sich verletzen zu lassen. Ihren Ehemann interessierten ihre Gefühle nicht. Er hatte nie gefragt und fragte auch heute nicht.

Paris bleibt in Paris

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