Читать книгу Für mein Leben seh ich kunterbunt (wenn ich nur erst den Durchblick hab) - Emma Flint - Страница 7

Feuerwerk und Wunderkerzen!!!

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Heute fängt ein neues Jahr an – und ein neues Tagebuch! Es hat einen Regenbogenglitzereinband und ich hab es gestern von meinem Bruder Kai zum 13. Geburtstag geschenkt bekommen.

Ich bin nämlich ein Silvesterkind. (Weswegen ich auch so eine Rakete bin, sagt Papa immer. Ich lass das mal so stehen. Besser Rakete als Knallerbse!) Jedenfalls: Das neue Jahr wird total super.

1. Nächste Woche fahren wir auf Klassenfahrt!

Eine Woche Berlin!!! Das wird megacool!

2. Fee und ich sind in unserer Wunsch-AG gelandet. Fast wie ein Sechser im Lotto! Bisher haben wir immer nur unsere zweite Wahl bekommen (Zirkus. Schulgarten. Kettenreaktions-AG. Schnarch!)

Aber im zweiten Halbjahr: Antistress-AG! Chillen in der Schule und Noten dafür bekommen! Fast so gut wie Gratiseis!!!

3. Nach den Ferien hab ich keinen Schulhofdienst mehr! (Musste im Dezember in jeder Pause mit vergammelten Gummihandschuhen Müll aufsammeln und Kaugummis vom Boden abkratzen. Laut Schulleiterin eine »erzieherische Maßnahme«. Laut Ella Schrader – also mir – reine Schikane, um Schüler der Lächerlichkeit preiszugeben. Da könnte man mich genauso gut in einem Schandkorb* über den Schuleingang hängen.)


Ein neues Jahr beginnt natürlich mit guten Vorsätzen. Das Beste dabei ist: Ich brauch gar keine neuen guten Vorsätze, ich hab noch welche von letztem Jahr übrig (haha). Hier also Ella Schraders Liste von guten Vorsätzen fürs neue Jahr:

1. Keine Katastrophen mehr produzieren.

Das war’s auch schon. (Wird schwer genug.) Man soll sich ja nicht mit total unrealistischen Vorsätzen das Leben schwer machen. Wie zum Beispiel einen Slam-Dunk schaffen (ich bin 1,66 m groß) oder eine Drei in Mathe schaffen (Mathe – ist das das Fach, für das man ein Lineal braucht?) oder Geige lernen und in einem Sinfonieorchester groß rauskommen (wie meine Cousinen Helga und Hannelore, die zu ihrer Geburt nicht nur diese merkwürdigen Namen bekommen haben, sondern auch Wiegen in Violinenform – ehrlich wahr!).

Zurück zu meinen guten Vorsätzen. Kai bezweifelt natürlich, dass ich das schaffe. Als er mir mein Tagebuch gestern überreicht hat, hat er nämlich gesagt: »Hier, Hamsterbacke, da hast du ein neues Buch der schlechten Ideen.« Dann hat er gelacht und ich hab überlegt, ob ich ihm meinen Schokocupcake mit der Schokocreme und den Schokostreuseln ins Gesicht drücken soll. Aber das war mir dann doch zu gemein. Der arme Cupcake kann ja nichts dafür, dass mein Bruder so ein Affenhirn ist!!! Und voll übertreibt, wenn er mein Tagebuch Book of bad ideas nennt.


Wirklich, ich habe überwiegend super Ideen! Ich sag nur: Schleudersockenweitwurf. (Ein Kniestrumpf wird mit massig nassen Socken ausgestopft, man hält ihn am ausgestreckten Arm fest und dreht sich um die eigene Achse, bis einem schwindelig ist, und dann lässt man die Schleudersocke los und guckt, wo sie reinkracht! Macht voll Spaß! (Sogar Kai, der es ansonsten mit Sport nicht so hat.) Mit meiner Schleudersockenidee hab ich sogar unseren Berg aus Einzelsocken abgetragen, die sich bei uns schneller vermehren als Fruchtfliegen, wie Mama immer sagt. Sie war richtig froh über meinen genialen Einfall. Jedenfalls bis wir mit der Schleudersocke ihren Lieblingsblumentopf von der Terrasse gefegt haben.

Dann noch eine weiterer brillanter Einfall: Zimmerminigolf (mit dem Golfschläger vom Sperrmüll und einem Parcour aus leeren Pringle-Dosen). Dabei ist sogar nichts kaputt gegangen (die Delle in der Fußleiste war schon lange vorher da, auch wenn Papa das nicht glauben wollte und den Golfschläger einkassiert hat)! Und der Marshmallow-Contest war ja wohl auch super. Kai hat hinterher nur gemeckert, weil ich gewonnen hab. (Einundzwanzig große Marshmallows auf einmal im Mund! Kai hat bei lächerlichen sechzehn abgekackt, dabei ist er ein Jahr älter als ich. Ha, nimm das, du Affenhirn!)

Gut, die Sache mit dem Notausgangsschild ist definitiv eine doofe Idee gewesen, aber die hatte Kai ausgeheckt. Er meinte … Oh, Mama ruft. Mittagessen! Schreibe gleich weiter.

* Vogelkäfig, in den man im Mittelalter Leute eingesperrt und auf dem Marktplatz aufgehängt hat. Damit auch jeder mitbekommt, was für ein gemeiner Schurke** man ist!

** Ist Schurke nicht ein tolles Wort? Es ist lustig und reimt sich auf Gurke. Was nicht viele Wörter von sich behaupten können.***

*** Falls ich ein wenig verrückt klinge – keine Sorge. Das ist normal. Muahahahmuahaha.

Freitag, 1. Januar, 15.38 Uhr

Bei einem neuen Tagebuch macht es immer besonders Spaß reinzuschreiben, finde ich. Da gibt man sich auch noch voll die Mühe mit Schönschrift und so. Am Ende vom Tagebuch wird das bei mir dann gerne mal einsilbiges Krickelkrakel. Aber jetzt am Anfang schreibe ich höchst ausführlich und in bester Handschrift, wie ich mich tatsächlich leider selbst zum Affen gemacht habe.

Und alles nur, weil Kai im November die tolle Idee hatte, dass wir unserem großen Bruder Sascha zu seinem 17. Geburtstag ein Notausgangsschild aus unserer Schule schenken sollten. Weil er ja bald Abi macht und so. Ich wollte erst nicht, aber Kai meinte, das wäre ein super Geschenk, originell und von besonderer Bedeutung und dazu noch umsonst!

Er hatte mich also richtig schön angestiftet und mir dann großzügig die Ausführung überlassen. Weil er meinte, ich könnte so was besser. Was auch stimmte, weil man dafür auf einen Heizkörper steigen musste. (Eine sehr gefährliche Sache für einen Jungen, für den es schon eine Herausforderung ist, auf einem Stuhl zu sitzen, ohne runterzufallen.) Also war ich auf die Heizung gestiegen und hatte mich langgemacht. Ich hatte es gerade geschafft, die grün-weiße Kunststoffabdeckung von der Halterung zu ziehen, sodass nur noch die nackte Glühbirne über der Tür neben den Kunsträumen vor sich hin leuchtete.

»Ha!«, jubelte ich und wollte das Notausgangsschild an Kai reichen, aber anstatt meines Bruders stand da auf einmal Herr Komarow, unser Hausmeister. Der ist auch unter besten Umständen niemals gut gelaunt, aber diesmal hat er mich angestarrt, als wäre ich eine Kakerlake, die ihm den letzten Krümel Zucker klauen will.

Ich bin vor Schreck von der Heizung runtergesprungen, hab mich im totalen Agentenmodus abgerollt* und dabei das Notausgangsschild hochgehalten. »Ich hab es gerettet!«, rief ich übermütig, aber Herr Komarow fand das leider kein bisschen heldenhaft. Und Frau Sandorff, unsere Schuldirektorin, auch nicht. Meine Eltern mussten antanzen und obwohl ich natürlich gesagt hab, dass ich nur mal den Aufbau eines beleuchteten Notausgangsschilds untersuchen wollte, hieß es, dass das Konsequenzen haben müsste und es eine »erzieherische Maßnahme« für mich geben sollte.

»Das ist nicht nötig«, hab ich schnell gesagt, »ich hab schon eingesehen, dass das blöd war.« Aber es hat nichts genutzt.

Ergebnis: Fünf Wochen lang Schulhofknecht!!!

Danke, Kai, danke! (Als Entschädigung dafür habe ich mit ihm ausgemacht, dass ich ein Jahr lang aus jeder Tüte saure Gummidinos alle blauen und roten bekomme, und er muss die grünen und gelben nehmen. Fee meinte, das wäre lächerlich und Kai voll billig weggekommen, aber davon versteht meine beste Freundin leider nichts. Sie mag nämlich keine Süßigkeiten – bis auf Schokoerdnüsse und Oreos. Ich hab sie trotzdem sehr lieb!)


* Hab ich gelernt, als ich mal eine Zeit lang mit einer Freundin aus der Grundschule Agententraining gemacht hab. Das bestand aus: Beschatten. Von einer Mauer springen und abrollen. Spionage mit dem Fernglas. Haben wir so lange gemacht, bis wir den Opa aus dem Nachbarhaus durchs Fenster in seiner schlabberigen Unterhose gesehen haben. Uargh …

Donnerstag, 7. Januar, 18.09 Uhr

Konnte die ganze Woche nicht schreiben wegen der Vorbereitung auf die Klassenfahrt! Die bestand vor allem daraus, dass Mama mir ungefähr acht Millionen Mal gesagt hat, dass ich mich gut benehmen muss, weil ich ja quasi auf Bewährung bin und die Lehrer mich total auf dem Kieker haben. Weswegen sie nicht zögern würden, mich beim kleinsten Vergehen nach Hause zu schicken! Schluck! Das darf natürlich nicht passieren. Hm, vielleicht ist mein guter Vorsatz fürs neue Jahr etwas zu ungenau …

Hiermit verkünde ich hoch und heilig DIE ZEHN GEBOTE NACH ELLA für die Klassenfahrt nach Berlin:

1.Ich benehme mich bestens.

2.Ich mache nichts kaputt.

3.Ich flitsche keine Papierkügelchen. Und keine Erbsen. Und keine Gummis. Auch nicht auf Lehrer.

4.Ich halte mich bei nervigen Mitschülern mit Kommentaren zurück, auch wenn sie es voll drauf anlegen.

5.Ich beleidige auch nicht die BlingBlingQueens, selbst wenn sie es noch so verdient haben!

6.Ich quatsche nicht dazwischen, wenn ein Lehrer was sagt.

7.Wenn einer der Jungs mit irgendwas wirft, werfe ich nicht zurück.

8.Ich laufe nicht

nachts durch die Jugendherberge und spiele Gespenst.

9.Ich nehme nicht mal den Gummifingerkuli mit, den Sascha mir geschenkt hat, obwohl er in Glitzertürkis schreibt und einfach der weltbeste Tagebuchstift ist. Der hat nämlich nicht nur eine tolle Schreibfarbe, sondern sieht echt aus wie ein abgeschnittener Finger. Sogar mit ein bisschen Blut dran. Und wenn man das nicht weiß, kann man sich schon mal ein bisschen erschrecken! Muahahamuahaha!

10. Ich kotze nicht im Bus. (Was ich eh nicht mache, aber mir fiel nichts Besseres für die Zehn ein. Und »Die neun Gebote nach Ella« hört sich blöd an.)

Bin so aufgeregt! Morgen früh geht’s los!


Freitag, 8. Januar, 5.38 Uhr

So früh, dass ich noch nicht denken kann. Und kalt. Kalt auch. Im Auto sind die Scheiben beschlagen. Brrrrr. So, am Parkplatz angekommen. Da steht unser Bus. Mama lässt mich raus.

Freitag, 8. Januar, 6.27 Uhr

Sind losgefahren! Sitzen im Bus! Bisher keine Katastrophen zu vermelden. War aber haarscharf. Beinahe hätte ich direkt hinter Herrn Potthoff sitzen müssen. Sechs Stunden Fahrt mit Aussicht auf die glänzende Halbglatze von unserem Lehrer, von der einzelne Haare wie Antennen abstehen – da können gute Vorsätze schon mal ins Wanken kommen.

Aber der Reihe nach.

Nachdem mich Mama am Parkplatz rausgelassen hat, bin ich sofort zu meinen Freundinnen Jule und Shirin hin, die schon total aufgeregt waren. Na ja, Jule und Shirin sind eigentlich immer total aufgeregt, selbst wenn wir nur die Sitzordnung neu auslosen oder in Sport die dicke Matte rausholen. Wobei Letzteres wirklich ein guter Grund ist, aufgeregt zu sein. Dicke Matte in Sport bedeutet meistens Spaß. (Für mich auf jeden Fall. Jule und Shirin bibbern dagegen ängstlich, weil sie befürchten, sie müssten sich an Seilen über die Matte schwingen wie »Tarzan, der gerade zwölf Big Macs und sieben Schokomilkshakes verdrückt hat« oder wie ein »Klammeraffe, der seine einzige Kernkompetenz vergessen hat: das Klammern«. Ich lach mich immer scheckig bei Jules und Shirins Sprüchen über sportliche Herausforderungen! Aber gut, ich schweife ab. Ich sag ja, am Anfang eines Tagebuchs hab ich noch die Motivation, sehr ausführlich zu sein.)

Auch eben vor der Abfahrt waren Jule und Shirin schon wieder in ihrem Element, das da heißt: Quatsch labern. Jule meinte, dass diese Klassenfahrt alles verändern würde. »Das Universum hat Großes mit uns vor. Ich weiß es, Mädels!«, hat sie mit ihrer dramatischen Stimme gesagt. Jule betätigt sich gerne mal als Orakel und sieht passend dazu auch ein bisschen verrückt aus: Sie hat eine Vorliebe für schrille Klamotten und bunte Haare. Heute hat sie zum Beispiel rosafarbene Kunststrähnen in ihren Zopf geflochten!

»Das Universum könnte mir mal einen Kaffee bringen«, hab ich nur gemeint und gegähnt. »Mag ich zwar nicht, macht mich aber vielleicht wach.«

Mama hat es heute Morgen gerade noch rechtzeitig geschafft, mich aus dem Bett zu zerren. An frisurentechnische Verrenkungen denke ich bei meinen feinen hellblonden Haaren sowieso nicht, aber so früh schon mal gar nicht. Meine Frisur bestand dementsprechend aus einer roten Bommelmütze, die ich mir im Vorbeigehen von der Garderobe geschnappt hatte. (Wobei ich irgendwie danebengegriffen hab, wollte eigentlich meine schwarze NY-Beanie aufziehen. Egal. Hauptsache, Knautschfrisur verdeckt.)

»Und dann Berlin!«, hat Jule gehaucht und ihr Atem stieg in weißen Wolken auf. »Das ist so aufregend. So hip! Die Welthauptstadt der Mode und der Trends!« Sie breitete in ihrem bunten Mustermixmantel die Arme aus. »Wir werden Berlin erobern!«, rief sie dann noch in den stockfinsteren Morgenhimmel.

»Jule«, stöhnte ich angesichts von so viel Aktivität am frühen Morgen. »Du sollst doch nicht immer so viele Energydrinks trinken.«

Sie hat aber nur gekichert und mit Shirin angefangen zu planen, wo sie überall shoppen gehen wollen. Dabei ist mir plötzlich aufgefallen, dass auch Shirin ziemlich aufgebrezelt war, so richtig geschminkt und frisiert, und ihre pinke Jacke sah verdächtig neu aus. Und dann ich daneben in meinem alten Parka mit dem zotteligen Kunstfellkragen. Er ist mir an den Ärmeln schon ein bisschen zu kurz und hat ein etwas abgewetztes schwarz-grünes Camouflage-Tarnmuster.

»Du könntest auch mal eine neue Jacke gebrauchen«, hat Jule auf einmal gesagt. »Shirin und ich beraten dich gerne.«

Aber das hab ich gleich dankend abgelehnt. Ich brauch doch keine Modeberatung! Mein Parka ist super. »Er ist schön und praktisch«, hab ich zu Jule und Shirin gesagt und wollte ihnen gerade erklären, wie gemütlich und kuschelig warm er ist und dass seine Taschen so groß sind, dass man immer interessante Dinge darin findet. Aber da antwortete Jule schon: »Klar, du bist bestens angezogen. Wenn wir zum Beispiel auf Fuchsjagd gehen.«

»Oder Verstecken im Wald spielen«, hat Shirin eingeworfen.

»Oder du Bekanntschaft mit einem Waschbär schließen möchtest«, machte Jule weiter, »dann kannst du dich ziemlich nah ranschleich…«

Ich war wirklich froh, dass in dem Moment der Bus seine Türen aufmachte und das Gedränge um die besten Sitzplätze losging. Das einzig Blöde war, dass Fee noch nicht da war. (Die aber zum Glück jetzt neben mir sitzt und gerade eine Packung Tortillachips aufreißt. Das finde ich mit am besten an Klassenfahrten: den Proviant!)

Freitag, 8. Januar, 7.03 Uhr

Hab gerade Tortillachips (Paprika) gefrühstückt und bin gestärkt weiterzuschreiben. Die Busfahrt einer Klassenfahrt ist auch schon immer ein richtiges Ereign

Mist, mit fettigen Chipsfingern sollte man keinen Kuli halten. Aber Fee hat wie immer ungefähr siebentausend Einwegdesinfektionstücher eingepackt – ihre Mutter ist erklärter Fan von allem, was Bazillen ausmerzt. Unglaublich übrigens, wie orange die werden, wenn man sich damit die Pfoten nach Paprika-Tortillachips abwischt!

Okay, jetzt noch mal von vorne. Die Bustüren haben sich also vorhin geöffnet und ich hab noch überlegt, wie ich am schnellsten reinstürmen und eine Bank frei halten sollte. Aber da donnerte etwas in meine Kniekehle und ich wäre fast weggeknickt. Saras dämlicher Rollkoffer!

»Entschuldigung, dass du mich angerempelt hast«, hab ich ihr hinterhergerufen, aber das war ihr natürlich völlig schnuppe. Rücksichtnahme ist ein Fremdwort für die Queen der BlingBlingQueens. Sara hat einfach alle aus dem Weg gerollert und ist mit ihrem Koffer (Leopardenmuster!) zur Bustür gestöckelt. Einen weiteren Koffer in Schrankgröße (!) hatte sie schon ins Gepäckfach legen lassen. Echt, was hatte die denn bitte alles dabei? Einen eigenen Stylisten?


Ihr folgten Romy, Kim und Leyla, die anderen BlingBlingQueens, die es wie immer für selbstverständlich hielten, zuerst in den Bus steigen zu dürfen. Jule und Shirin schoben sich mit dem Pulk dahinter zur Bustür. Ich wollte ihnen gerade hinterher, da sah ich Fee über den Parkplatz rennen. Ich hoffte jedenfalls, dass sie es war. Im funzeligen Licht der Straßenlaterne hätte man sie auch für Frankensteins Monster halten können, weil sie so schief lief und ein Bein nachzog wegen der schweren Tasche, die bei jedem Schritt gegen ihre Oberschenkel baumelte. Aber es war natürlich Fee, meine Fee, die ihrem Motto Besser spät als nie wieder mal alle Ehre machte.

»Hi«, schnaufte sie. »Hast du uns einen Platz frei gehalten?«

»Na klar«, sagte ich und deutete auf das Gepäckfach, in dem der Busfahrer gerade letzte Sortierungsarbeiten machte. »Wir sitzen ganz bequem da unten.«

»Ha. Ha.« Sie gab ihre Tasche dem leicht entnervten Mann, der nämlich gerade die Klappe vom Gepäckraum schließen wollte. »Los, jetzt aber rein.«

»Sind eh nur noch die Loserplätze frei«, sagte ich, weil wir die Letzten waren, die einstiegen.

»Du weißt doch: Wo wir sitzen, ist immer vorne«, gab Fee zurück.

»Vorne sind ja die Loserplätze.«

»Steig ein, Ella, sonst reiß ich dir deine komische Zipfelmütze vom Kopf.«

»Selber«, sagte ich und da fiel mir ihre Mütze auf, die kein bisschen komisch war, sondern eine Baskenmütze in Cremeweiß, die sie schief auf dem Kopf sitzen hatte, was mega aussah und super zu ihren schwarzen Haaren passte. Na toll. Auch meine beste Freundin hatte also beschlossen, die Klassenfahrt zu einem Fashion-Event zu machen, und ich sah aus wie ein Gartenzwerg, der mit einem Waschbär befreundet sein wollte.


Freitag, 8. Januar, 8.34 Uhr

Sind inzwischen schon hinter Dortmund. Und hab gerade vor lauter Verwirrung über Fees seltsames Verhalten ein kleines Nickerchen gemacht. Bin immer noch nicht dahintergekommen, was sie da eben mit dem Lipgloss gemacht hat. Oder besser warum!

Es ist ein bisschen Ruhe eingekehrt im Bus – bis auf die letzte Reihe, die die Chaosjungs in Beschlag genommen haben, natürlich. Die Sitzordnung im Bus spiegelt bekanntermaßen eins zu eins die Hackordnung der Klasse wider und die Formel ist ganz einfach: Je weiter hinten, desto cooler. Deswegen war ich vorhin auch ein bisschen nervös, als Fee und ich als letzte den Bus enterten. Schnell den Überblick verschafft: In der ersten Reihe hinter dem Busfahrer die Sensibelchen mit dem empfindlichen Magen, die sich schon vor der Abfahrt an eine Kotztüte klammern (Hassan und Maurice). In der zweiten Reihe die Lehrer (Herr Potthoff und Frau Hinterkausen). In ihrer Nähe tummeln sich normalerweise die Schleimer, die keine Gelegenheit auslassen, ihr gesammeltes Wissen über den Ort der Klassenfahrt loszuwerden. Aber da Maurice in der ersten Reihe schon damit beschäftigt war, sich nicht zu übergeben, war klar, dass Reihe drei auf jeden Fall frei sein würde. Denn alle haben auch diesmal versucht, so weit wie möglich nach hinten zu kommen, weg von den Lehrern und hin zum Epizentrum der Coolness (oder was man dafür hält).

Zuerst hatte ich also befürchtet, dass uns nur die Sitze hinter dem Potthoff blieben, und er schien das ebenfalls zu erwarten, denn er starrte mich megagrimmig an (wie ich fand). Umso erleichterter war ich, dass Jule uns von der hinteren Mitte des Busses winkte. Sie hatte uns eine Reihe frei gehalten! Nice!

Ich hab mich also im Mittelgang entlanggeschoben, als Kim von hinten loskreischte: »Verzieh dich hier, Max!«

Tumult im BlingBling-Abteil! Die BlingBlingQueens hatten die vier vorletzten Reihen belegt, natürlich jede einen Doppelplatz, weil ihre Schminkkoffer auch standesgemäß sitzen mussten. (Hab ich schon erwähnt, wie beknackt ich die BlingBlingQueens finde? Falls nicht, hole ich es hier nach: Die BBQs sind megabeknackt.)

Der arme Max hatte doch tatsächlich versucht, sich neben Kim zu setzen und sich damit in der Sitzordnung falsch einsortiert, aber komplett. Und dann auch noch bei Kim! Ich meine – klar, bei Kim. Max ist hoffnungslos verliebt in sie und holt sich in der Schule gefühlt jeden Tag eine Abfuhr. Dieser Junge ist echt maximal leidensfähig. Und so wenig lernfähig! Keine Ahnung, ob er so verliebt ist, dass er nicht mehr klar denken kann, oder ob er nicht klar denken kann und sich deswegen überhaupt erst in Kim verliebt hat. Letzteres ist ja meine Theorie.

»Ey, wie blöd muss man eigentlich sein, um sich zu verlieben?«, habe ich daher vorhin Fee zugeflüstert, als wir Platz genommen hatten und Max hinterherschauten, der wie ein geprügelter Hund durch den Bus schlich und dem nichts anderes übrig blieb als Reihe drei mit Aussicht auf die spiegelnde potthoffsche Halbglatze.

Und hier ist es dann, wie gesagt, seltsam geworden: Fee hat nämlich nicht geantwortet und als ich zu ihr geguckt habe, hat sie etwas total Merkwürdiges gemacht!!!! Sie hat Lipgloss aufgetragen! Und zwar kirschfarbenen Lipgloss! Morgens um noch nicht mal acht Uhr!!!! Durchsichtiger Lipgloss, okay. Vielleicht auch noch einer in Peach. Aber knallige Kirsche um diese Uhrzeit, wo wir eine Ewigkeit im Bus gammeln würden? Als ich Fee gefragt hab, was das soll, meinte sie nur, der wäre neu.

Das hab ich irgendwie nicht kapiert. »Ja und?«

»Ich probier halt gerne neue Sachen aus. Willst du auch?«

Wollte ich natürlich nicht. Aber die Limo, die Fee mir aus ihrer Tasche gereicht hat, die will ich! DUUUUUURST!!!!

Schreibe gleich weiter, muss nach den ganzen Chips eben kurz was trinken.

Freitag, 8. Januar, 9.31 Uhr


Ich vermelde: Fees Verhalten wird immer merkwürdiger! Und beinahe wäre hier eine FANTASTROPHE passiert. Hab eine Limofontäne ausgelöst, und zwar vom Feinsten! Ich wollte so ganz cool die Flasche aufdrehen, da hat es voll gezischt und sie ist ans Fenster und bis an die Decke gespritzt. Uargh. (Jetzt weiß ich auch, warum es vor Abfahrt hieß, wir dürften während der Fahrt keine kohlensäurehaltigen Getränke außer Wasser trinken. Ich hab das für Quatsch gehalten. Für eine sinnlose Maßnahme, bloß um den Spaß im Bus auf ein Minimum zu reduzieren! Typisch Lehrer halt. Wer konnte ahnen, dass sie sich dabei was gedacht hatten!!!!)

Ich hab schnell die Hand auf die Flaschenöffnung gehalten, aber die Limo schien das nur noch mehr anzustacheln. Es sprudelte und sprudelte (weswegen ich jetzt einen nassen und klebrigen Jackenärmel hab). Hab mich natürlich nicht getraut, nach vorne zu unseren Lehrern zu gucken. »Hat er was gemerkt?«, hab ich Fee atemlos gefragt. Aber sie meinte, dass der Potthoff reglos auf seinem Platz sitzt. (Ihre eigene Flasche ging übrigens mit einem harmlosen Zisch auf. Kein bisschen Spritzgefahr! Wie ist das möglich, wo sie doch in derselben Tasche gewesen ist? Meine war eine richtige Aggroflasche. Über mir und an der Fensterscheibe kleben immer noch orangene Tropfen. Und der Boden hat auch eine Limoglasur!)


»Glück gehabt«, hab ich gesagt und einen großen Schluck (von dem kümmerlichen Rest) getrunken. »Der Potthoff hätte mich sonst glatt wegen Fantalismus verhaftet.«

Fee runzelte die Stirn.

»Vandalismus mit Fanta. Fantalismus«, habe ich ihr meinen Wortwitz erklärt, weil sie überhaupt nicht gelacht hat. »Fast so gut wie Fantastrophe.«

»Deine Wortspiele waren auch schon mal lustiger«, sagte Fee, weil sie meine genialen Wortkreationen in brenzligen Situationen ja schon kennt. Und ich vollendete wie immer den Satz mit: »… aber niemals origineller!«

Dann hab ich jede Menge Desinfektionstücher aus der Packung gerissen und versucht, meine Hände zu entkleben und unauffällig die Limotropfen von der Decke und dem Fenster zu wischen. Damit meine Hampelei nicht so auffiel, drehte sich Fee nach hinten und kniete sich auf ihren Sitz. So wirkten wir beide ein bisschen hyperaktiv. (Auffälligkeit in ausreichender Menge kehrt sich in Unauffälligkeit um. Relativitätstheorie nach Ella Schrader.)

Ich hatte natürlich erwartet, dass Fee sich mit Jule und Shirin unterhält, die hinter uns sitzen. Aber das hat sie nicht. Sie hat schon wieder was total Merkwürdiges getan! Sie … oh. Pinkelpause.

Freitag, 8. Januar, 10.21 Uhr

Wahnsinn, wie lang das dauert, bis alle wieder da sind und auf ihren Plätzen sitzen. Die BlingBlingQueens lassen sich besonders viel Zeit, während ich natürlich schon auf meinem Platz sitze, abfahrbereit. Wie man sich eben verhält, wenn man als absolute Musterschülerin rüberkommen will. Eben war ich auch voll streberhaft, aber hat es mir was genützt? Nö. Nicht die Bohne!

Auf der Raststätte sind vorhin alle in den Verkaufsraum geströmt, als hätten sie noch nie einen Shop von innen gesehen. Oder als wäre das der tollste Laden der Welt. Dabei gab es nur quietschbunte Plüschtiere mit riesigen Glupschaugen, Zeitschriften, lustige Klingelschilder und natürlich jede Menge Süßigkeiten und Kaffee. Ich aufs Klo. Vor der Schranke herrschte Gedränge! Offensichtlich hatte keiner Kleingeld für den Eintritt. Einer von den Jungs (natürlich Luke) sprang drüber, die anderen blockierten den Eingang, sodass andere Reisende nicht durchkonnten.

Als der Potthoff kam, hat er natürlich ziemlich rumgeblökt, wir sollten uns benehmen und den Weg frei machen. Da hatte ich meinen Streberauftritt! Ich mein Kleingeld gezückt (70 Cent, abgezählt, Mamas Planung!), gesittet zur Schranke, Münzen eingeworfen, durchgegangen. Dem Potthoff einen komplizenhaften Blick zugeworfen (wir beide, wir sind hier doch die Einzigen, die wissen, wie es läuft), aber er hat überhaupt nicht reagiert, sondern die Mitarbeiterin der Raststätte durchgelassen, die dann die Schranke einfach geöffnet hat, sodass alle umsonst pinkeln gehen konnten!

Tss! Da sieht man es mal: Kaum benimmt man sich vorbildlich, ist es auch wieder falsch!

Da kommt Fee endlich. Hab sie eben aus den Augen verloren. Jetzt schiebt sie sich durch den Gang im Bus auf mich zu und strahlt. Hm. Eine Pinkelpause auf einer ranzigen Raststätte ist kein Anlass für derart gute Laune. Entweder sie hat gerade The Falcon and the Wintersoldier getroffen oder eine lebenslange Versorgung mit Oreo-Keksen gewonnen. Oder mit ihr stimmt wirklich was nicht. Weiß nur noch nicht, was.

Freitag, 8. Januar, 11.19 Uhr

Jetzt weiß ich es! Es ist ihr Kichern! Fee kichert andauernd!

Dabei ist Fee eigentlich überhaupt kein Kichertyp. Schwarzer Humor, ja. Dreckige Witze, ja. (Und dann die passende Lache dazu.) Aber Kichern? Nein!

Heute allerdings kichert sie und wackelt dazu mit dem Kopf, sodass ihre schwarzen glatten Haare unter der Baskenmütze seidig hin und her schwingen. Vorhin, als sie sich nach hinten gedreht hatte, hat sie auch total gekichert und die Haare geschwungen. Und jetzt liest sie WhatsApp-Nachrichten und kichert wieder. Erst der Lipgloss und nun das! Muss sofort rauskriegen, was los ist!

Freitag, 8. Januar, 12.37 Uhr


Da tritt mich doch ein Gnu!

Fee ist verliebt!


Obwohl wir uns geschworen hatten, uns niemals zu verlieben! Na ja. Vielleicht nicht geschworen, aber irgendwie waren wir uns total einig gewesen, dass wir mit dem ganzen Verknallgeschäft nichts zu tun haben wollen. Ich hab zwar sonst keinen Durchblick, aber eines weiß ich: Mit Verlieben ist nicht zu spaßen! Denn wenn man auf einmal Interesse an Jungs hat, wird es plötzlich enorm wichtig, dass sie auch Interesse an einem selbst haben. Und da sich bisher keiner für uns interessiert hat, ist es doch viel sicherer, ebenfalls kein Interesse an ihnen zu haben, weil uns dann nicht interessiert, ob sie sich für uns interessieren. Was eines beweist: Kaum geht es um das Thema Liebe, wird alles kompliziert. Und jetzt ist Fee also verknallt. In Paul.

Sie wollte erst nicht mit der Sprache rausrücken. Hab das aber mit detektivischem Spürsinn rausgefunden! Gestatten, Ella Schrader, Meisterdetektivin. Nennt mich Sherlock.

Als wir nach der Raststätte weitergefahren sind, hab ich sie ganz unauffällig gefragt, ob es ihr gut geht.

»Aber klar. Und wie!«

Sofort fiel der Meisterdetektivin (mir) auf: Ihre Stimme klang anders. Viel höher als sonst. So als ob Perlen in ein Glas fallen.

»Ich frag nur, weil du so komisch drauf bist. Hast du wieder Clown mit Brausepulver gefrühstückt?«

Sie ging überhaupt nicht auf meinen Scherz ein. »Ich freu mich einfach so auf die Klassenfahrt. Freust du dich nicht auch?« Klickerklickerklack, machten die Perlen. Sie kicherte wieder und wischte auf ihrem Handy rum.

Zeit für einen detektivischen Test.

»Ich werde uns für das Referat über die Geometrie des Brandenburger Tors eintragen«, habe ich so vor mich hin fabuliert. Die normale Fee hätte sofort losgeprustet, dass ich ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte, wir sollten uns gefälligst ein Laberthema aussuchen, je schwammiger, desto besser.

»Wie du willst«, hat sie aber nur geantwortet!

»Oder vielleicht nehmen wir auch die Krawattensammlung vom Potthoff als Thema.« Der hat nämlich eine Vorliebe für scheußliche Katzenkrawatten (und er riecht auch irgendwie nach Katzenfutter).

»Okay.« Fee lächelte abwesend. Dann hat sie mir ihr Handy unter die Nase gehalten. »Guck mal hier!«

Ein Hund im Pandakostüm auf einem Surfbrett.

»Pandastisch«, sagte ich unbeeindruckt. (Ich hab bei Tik-Tok schon ungefähr sieben Trilliarden Hunde im Pandakostüm gesehen. Sie tanzen, sie machen Handstand, sie spielen Klavier. Irgendwann übernehmen sie die Weltherrschaft.)

»Ist es auch«, sagte Fee, ohne jede Ironie. »Und guck mal hier.«

Ein Katzenbaby, das auf einer Gans reitet.

»Wer schickt dir denn so was?«

Paul schickte ihr so was, wie Ella Schrader, Meisterdetektivin, nun herausfand. Paul und Fee schickten sich gegenseitig lustige Clips. Was an sich nicht schlimm gewesen wäre, schließlich texte ich auch ab und zu mit Severin aus unserer Klasse (der war im ersten Halbjahr mit mir in derselben AG). Aber Fee schlussfolgert irgendwie daraus, dass Paul auch ansonsten total lustig wäre und supernett.

Da habe ich kurz drüber nachdenken müssen. Paul gehört zur coolen Clique von Jungs, in der auch Luke, Tarik, Roman und Severin sind – bei Shirin, Jule, Fee und mir besser bekannt als die Chaostruppe. Sie lassen den Unterricht gelangweilt über sich ergehen, hocken in der Pause auf den Bänken neben der Tischtennisplatte und zeichnen sich ansonsten durch dumme Sprüche aus und dadurch, im Sportunterricht möglichst viel Schaden mit Bällen anzurichten. Nichts, was einen beeindrucken könnte. Ich überlegte, ob ich von Paul schon mal irgendwas Nettes gehört hatte. Mir ist nur eingefallen, dass er immer interessante Ausreden auf Lager hat, wenn er zu spät kommt. (Der Bus hatte einen Platten. Bauarbeiter haben die Straße vor unserem Haus aufgerissen und ich musste einen Riesenumweg gehen. Mein Meerschweinchen hat Junge bekommen.)

Einmal hat er in Musik was auf der Trompete vorgespielt. Und ein andermal hat er ein fliegendes Schwein an die Tafel gemalt (oder war es ein Eichhörnchen mit Kringelschwanz?). Und einmal hat er Maurice’ Stuhl umgetreten. Als der drauf saß.

Mehr wusste ich nicht von Paul. Und Fee ja auch nicht! Aber jetzt scrollte sie sich durch den Klassenchat und las mir vor, was Paul im letzten halben Jahr an Nachrichten dort abgelassen hatte, und obwohl es saulangweilige Kommentare waren Hey, yo / Geht gar nicht / Hat einer Bio kapiert? kicherte Fee, als ob es das Lustigste seit Rick & Morty* wäre. Sie hatte offensichtlich einen großen Teil ihrer Intelligenz eingebüßt und schien darüber aber ziemlich glücklich zu sein.

Und da ahnte Meisterdetektivin Ella Schrader auf einmal, was los war! Ich hab einen leichten Anfall von Schnappatmung bekommen und sie geradeheraus gefragt, ob sie etwa in Paul verknallt ist.

Sie hat gesagt: »Ja. Ich glaub schon.« Und wieder gekichert. »Ist das irre, oder was?«

Aber so was von!!!!


* Nicht, dass ich die ganze Serie gesehen hab. (Meine Eltern sind der komischen Meinung, Serien ab 16 sollten auch nur Leute ab 16 gucken.) Hab nur mal aus Versehen den Trailer geguckt. Und ein paar Ausschnitte auf YouTube. Und vielleicht auch mal eine ganze Folge bei Jule, deren Eltern nicht so Kontrollfreaks sind, die eine Kindersicherung für nötig halten.

Freitag, 8. Januar, 13.21 Uhr

Wir fahren durch Berlin! Riesenstraßen, große Häuser. Alle drücken sich die Nasen an den Fenstern platt. Nur Fee guckt sich bescheuerte Tierclips an und gluckst vor sich hin. Ich musste ihr eben hoch und heilig schwören, dass ich niemandem von ihren Gefühlen für Paul erzähle. Was ich selbstverständlich niemals tun würde.

Freitag, 8. Januar, 13.52 Uhr

Wir sind da!! Der Bus biegt auf dem Parkplatz der Jugendherberge in Berlin-Ostkreuz ein. Die Hinterkausen schiebt sich durch den Mittelgang, um alle anzuweisen, sitzen zubleiben, bis sich die Türen öffnen. Vor unserer Sitzreihe hat ihr Schuh ein knarzendes Geräusch gemacht und sie ist sogar kurz hängen geblieben. Ich habe ganz schnell mein bestes Unschuldslammgesicht aufgesetzt, als hätte ich keine Ahnung, warum der Boden da so doll klebt. Die Hinterkausen hat mich prüfend gemustert und hatte eigentlich etwas sagen wollen – aber in dem Moment gab es hinten Tumult.

Die BBQs sind mit ihren Monsterschminkkoffern schon Richtung Ausgang gestöckelt und die Hinterkausen hat versucht, sie zurückzuscheuchen. Aber dann sind plötzlich auch die anderen aufgesprungen und haben ihr Zeug aus den Gepäckfächern gerissen. Luke, dieser Horst, hat seinen Rucksack auf Tariks Kopf fallen lassen und die beiden haben einen Ringkampf angefangen. Da hatte die Hinterkausen dann wirklich was zu meckern. Gut so!

Ich hab gerade noch erleichtert aufgeatmet, da hab ich gesehen, dass Fee zu Paul starrt und ihre dunkelbraunen Augen einen verträumten Schleier bekommen. Als ob ein Filter draufgelegt wäre. Es hätte mich nicht gewundert, wenn rosa Herzchen über ihrem Kopf herumgeflogen wären.

Dann fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare, setzte ihre Mütze auf, wieder ab, wieder auf und wieder ab und strich sich noch mal durch die Haare. Als sie erneut Anstalten machte, die Mütze aufzuziehen, hab ich sie ihr aus der Hand geschnappt und in meine Jackentasche gestopft. Die Merkwürdigkeiten gehen aber weiter! »Wir warten auf Paul«, verkündete Fee und

Freitag, 8. Januar, 14.48 Uhr


Jetzt sind wir in unserem Zimmer! Vorhin musste ich blitzartig aufhören mit Tagebuchschreiben, weil sich die Türen öffneten und ich mir sicher war, dass Fee sich total auffällig an Pauls Fersen heften würde. Da hätte sie sich gleich ein Schild umhängen können mit Du bist mein Schwarm. Ich hab sie einfach in den Gang geschoben (sanft, aber bestimmt) und gesagt: »Raus mit uns! Ich brauche dringend frische Luft.« (Und du erst recht, aber das hab ich nicht dazu gesagt.)

Die beste Nachricht des Tages: Jule, Shirin, Fee und ich haben ein Viererzimmer mit zwei Etagenbetten, einem Tisch und vier Stühlen und ein eigenes Badezimmer! So cool!!!!

Freitag, 8. Januar, 15.23 Uhr

Gleich treffen wir uns für den ersten Rundgang durch Berlin. Muss nur ganz schnell das Wichtigste notieren. Jule und Shirin wissen es schon! Also, das mit Paul. Sie haben es einfach so rausgefunden. (Anscheinend muss man doch keine Meisterdetektivin dafür sein.)

Wir hatten gerade die Betten verteilt (Jule und ich oben, Shirin und Fee unten), da hat Jule Fee von Kopf bis Fuß gemustert und plötzlich gesagt: »Fee, ich seh es dir an, du bist verknallt.«

»Das hab ich auch schon gedacht!«, hat Shirin gerufen und mit Jule abgeklatscht.

»Waaaasss?« Fees Honigkuchenpferdgrinsen ist für einen Moment verschwunden, nur der Glanz auf ihren Wangen blieb. »Aber …«


Jule schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Kirschfarbener Lipgloss, manisches Haareschütteln, Grinsen, verträumter Blick – also, wer ist es?«

»Ja, wer, Fee, wer?«, echote Shirin.

Für einen Moment hab ich noch gedacht, Fee würde versuchen, es zu leugnen, aber dann ist es schon aus ihr herausgeplatzt, dass es Paul wäre und wie cool er wäre und auch so gut aussehend und was er für tolle Haare hätte. (Ich finde ja, dass seine blonden zurückgegelten Haare aussehen wie die von einem verwöhnten Grafen, der seinem Diener die silberne Servierglocke an den Kopf wirft, wenn das Omelett darunter einen Tick zu kalt geworden ist. Aber was weiß ich schon, wo ich ja nicht in ihn verknallt bin!)

Jule und Shirin schienen sofort begeistert von Fees Wahl.

»Kriegsrat!« Jule hat sich an den Tisch gesetzt und als wir ihrem Beispiel gefolgt waren, hat sie bedeutungsschwer mit dem Kopf genickt. »Dann bekommt Fee also als Erste von uns einen Exfreund.«

»Wie, Exfreund?«, hab ich verwirrt gefragt. »Geht es nicht darum, erst mal einen Freund zu haben?«

Auch Fee hat etwas irritiert gewirkt, aber Jule hat abgewunken. »Mädels, es ist völlig egal, ob wir einen Freund haben oder nicht.«

Shirin hat dazu genickt und warnend geguckt. »Beziehungen sind schwierig! Meine Schwestern … puh! Was für ein Stress mit den Jungs!«

»Ein Exfreund dagegen macht keine Schwierigkeiten«, hat Jule erklärt.

»Ein Exfreund hat nur Vorteile«, hat Shirin ihr beigepflichtet. »Du musst nicht mehr drüber nachdenken, ob du ihm gefällst.«

»Oder wie du es schaffst, ihn zu beeindrucken, ohne dich zu blamieren.«

»Oder ob du ihm gegenüber vielleicht Schwachsinn gelabert hast.«

»Oder ob du ihn angegrinst hast mit Mohnkörnern zwischen den Zähnen.«

»Mohnkörner?«, hat Fee alarmiert gefragt.

»War ja nur ein Beispiel.« Jule hat mit den Achseln gezuckt. »Auf jeden Fall ist ein Exfreund das Beste, was einem passieren kann, weil damit ist man … tadaa … offizielles Mitglied im Club der Coolen.«

»Man könnte ihn auch Club der emotional Fortgeschrittenen nennen«, hat Shirin erklärt (weil Fee und ich sie wohl ziemlich ratlos angeguckt haben müssen), »aber das klingt irgendwie uncool.«

»Deswegen sagen wir Club der Coolen«, hat Jule wiederholt.

»Und seid ihr im Club der Coolen?«, hat Fee wissen wollen.

Jule darauf: »Noch nicht. Aber bald.«

»Ganz bald bestimmt.« Shirin hat sehnsuchtsvoll geseufzt.

»Aber wie bekommt man einen Exfreund?«, hat Fee gefragt.

Tja, da sind unsere beiden Beziehungsexpertinnen auch ratlos gewesen. Was mich ein bisschen beruhigt hat. Schließlich bin ich nicht nach Berlin gekommen, um mich mit irgendwelchen bekloppten Liebesstorys rumzuschlagen, sondern um Spaß zu haben. Der Club der Coolen kann mich mal!

Montag, 11. Januar, 8.32 Uhr


Klassenfahrt ist super. Berlin ist super. Hab mich bisher an alle meine Gebote gehalten und sogar noch nichts kaputt gemacht. Was auch daran liegt, dass das Geschirr in der Jugendherberge wahrscheinlich aus Betonporzellan ist oder so. Jedenfalls hat die Tasse nicht mal einen Sprung bekommen, als sie mir hingefallen ist. Glück gehabt!

Nur Fee spinnt. Hab alle Hände voll zu tun, damit sie sich nicht blamiert! Wenn ich sie nicht wegzerre, starrt sie Paul an wie das achte Weltwunder. Wenn ich sie nicht festhalte, klebt sie sich an seine Fersen. Wirklich, sie braucht sich keine Sorgen machen, dass ich was über ihre Gefühle verraten könnte – das kriegt sie ganz allein hin! Richtig unterhalten kann man sich auch nicht mehr mit ihr. Es ist, als ob alle anderen Gesprächsthemen außer Paul aus ihrem Gehirn weggelöscht wurden. Einmal die Resettaste drücken und neu booten, bitte!

Heute Morgen kurz nach dem Aufstehen (!) hat sie mir mal wieder Pauls gesammelte Wundertaten erzählt. Wie süß Paul geguckt hat, als wir gestern im Reichstag waren, und was für einen witzigen Scherz er in der Glaskuppel gemacht hat (»Wenn wir noch weiter im Kreis laufen, krieg ich Kreislaufprobleme«) und dass er den ganzen Weg zur Bahn neben ihr gegangen ist, jedenfalls fast. (In Wirklichkeit ist er zwischen Tarik und Luke gegangen und Fee ist ihm einmal in die Hacken getreten, worauf er sich zu ihr umgedreht und gesagt hat: »Hey, Fee! Pass doch auf!« Und sie Paul angelächelt hat und gesagt: »Ich pass ja auf dich auf!«)

Ich glaube, ihre linke Gehirnhälfte funktioniert nicht mehr richtig (oder die rechte, was weiß ich), weil sie voller Hormone ist. Auf jeden Fall muss ich den Notfallmodus aktivieren und ab jetzt für uns beide das Denken übernehmen.

Dienstag, 12. Januar, 22.19 Uhr

Eigentlich bin ich ja gut im Denken, weil ich jede Menge denke, den ganzen lieben langen Tag und oft auch nachts. Nur leider ist das mit den Ergebnissen meiner Denkprozesse so eine Sache. (Was ich mir eigentlich hätte denken können – so oft, wie ich den Satz »Was hast du dir bloß dabei gedacht?« schon gehört hab!)

Jedenfalls hatte ich eine Idee. Und ich will hier betonen – weil ein gewisses Affenhirn ja der Meinung ist, ich hätte nur schlechte Ideen: Die Idee war gut! Vielleicht sogar sehr gut. Nur die Ausführung war leider schlecht grottig suboptimal. Und das Endergebnis total subsubsuboptimal.

Es fing damit an, dass Fee mir heute wieder die Ohren vollgesülzt hat über Paul und wie cool er geht (!), mit so einem »Federn in den Knien«, was vielleicht von seinen sensationellen Sneakern kommt, die sie sich auch zu Weihnachten wünschen würde. (Obwohl es Basketballschuhe sind und Fee mit Basketball so viel zu tun hat wie ein Goldfisch mit Sonnenbaden!)

Während ich noch überlegt hab, wie Fee wohl aussieht, wenn sie beim Gehen mit den Knien federt, hat sie ohne Unterbrechung weitergelabert und ich hab ein mildes Lächeln aufgesetzt. Das war nicht besonders schwer, weil ich dabei Studentenfutter in mich reingestopft hab. Aufmerksam geworden bin ich erst wieder, als sie auf einmal schwärmte: »Hast du gesehen, wie cool er heute in sein Brötchen gebissen hat? Auch die Papiertüte hat er so cool zusammengeknüllt.«

Da konnte ich nicht anders, als mal kurz die Augen zu verdrehen. Also wirklich! Fehlt nicht viel, dann sammelt sie seinen Müll auf und klebt ihn in ihr Poesiealbum!!

Das ist doch nicht normal, oder? Das kann einfach nicht normal sein, wenn man sich verliebt! Jedenfalls dachte ich in dem Moment: So geht es nicht weiter.

Bisher hab ich nur versucht zu verhindern, dass Fee in direkten Kontakt mit Paul tritt, weil sie irgendwie nicht in der richtigen Verfassung dafür ist und ich nicht will, dass ihre eingeschränkte Hirnfunktion sie als liebesverrückte Verehrerin outen würde. Und wenn er sie dann abblitzen lassen würde, würde Fee im Liebeskummer versinken und sich der Lächerlichkeit preisgeben. Und dafür ist eine Klassenfahrt ja nun wirklich zu schade. Wenn er aber ihre Gefühle erwidern würde, würde er sowieso irgendwann auf sie zukommen – egal, wie bekloppt sie sich verhielt. So lautete die Theorie von Dr. Ella Schrader, Beziehungsexpertin. (Ha. Ha.)

In der Praxis ist Paul nur leider kein bisschen auf Fee zugekommen, dabei sind wir schon fünf Tage hier.* Paul kommentiert zwar ab und zu die Clips, die Fee ihm schickt, mit irgendwelchen Emojis, aber mehr nicht. Übrigens analysieren dann Fee, Jule und Shirin stundenlang seine Emojis, was er denn damit gemeint haben könnte und in welcher Phase der Beziehungsanbahnung Fee mit Paul jetzt steht. Nach dem Abendessen heute hat er dann einen Emoji von einem Küken im Sternchenregen geschickt. Fee ist aber felsenfest davon überzeugt, dass es Herzchen sind und dass das Zeichen wäre, dass er sie auch mögen würde.


Ich finde, Fee verstrickt sich langsam ein bisschen zu sehr in dieses Verknalltsein. Zeit für etwas Realität, hab ich gedacht. Als wir also eben in unserem Zimmer hockten, hab ich Fee den Rat gegeben, doch mal mit Paul zu sprechen. Bisschen Small Talk zwischen zwei Klassenkameraden, um zu sehen, wie er reagiert.

»Sprechen ist nichts Schlimmes«, habe ich ihr Mut gemacht. »Eine Unterhaltung ist was ganz Normales, selbst mit einem Jungen, mit dem man nicht zur Gruppenarbeit eingeteilt wurde.«

»Das sagst du so einfach!«, hat Fee richtig verzweifelt gerufen. »Dir macht es ja nichts aus, mit Jungs zu reden!«

»Wieso auch? Jungs sind auch nur Menschen.«

»Ha!«, hat Fee gesagt, als hätte ich behauptet, Krokodile wären hübsche Vögel. »Aber wie soll ich das machen?«

»Einfach den Mund auf- und zumachen, wenn du ihm gegenüberstehst. Wenn du nur dein Kinn runterklappst und ihn anstarrst wie eine leckere Schokotorte, kann es nämlich sein, dass er ganz schnell die Flucht ergreift.«

»Aber was soll ich denn zu ihm sagen? Wie soll ich ihn ansprechen?«

»Wie wäre es mit ›Hallo‹?«

»Oh, das ist gut«, hat Fee gemurmelt und mich dabei angesehen, als hätte ich ihr gerade eine wahnsinnige Erleuchtung beschert. »›Hallo‹ ist gut. Und dann?«

Ich hab gesagt, uns würde schon was einfallen, und sie entschlossen vom Bett hochgezogen, um mit ihr die Jungs zu besuchen.


Jule und Shirin haben die Luft angehalten, als sie das mitbekommen haben. »Viel Glück«, hat Jule noch aufgeregt gehaucht, als wir die Tür hinter uns zugezogen haben.

Und dann … hat das Unglück seinen Lauf genommen. (Meine Karriere als Beziehungsexpertin ist schon wieder offiziell beendet!)

* Die sich sogar noch länger anfühlen, weil wir so viel gesehen haben und jeden Tag ungefähr tausend Kilometer durch die Stadt latschen!

Dienstag, 12. Januar, 22.54 Uhr

Musste gerade eine Pause machen. Im Bett Tagebuch zu schreiben, erfordert nämlich einiges an Können. Wenn man auf dem Bauch liegt, muss man seinen Arm aufstützen und kann ihn nicht richtig bewegen, weswegen das irgendwann krampfig wird. Auf dem Rücken funktioniert der Kuli nach Kurzem nicht mehr, weil man ihn ja nach oben hält. Deswegen musste ich mich gerade rumwälzen … nun also weiter:

Fee und ich haben uns in der Jugendherberge auf die Suche nach den Jungs gemacht. Sie waren nicht im Aufenthaltsraum. Sie waren auch nicht auf ihrem Zimmer. Denn, war ja leider klar: Sie waren im BlingBling-Zimmer, dem Partyhotspot der Klassenfahrt, wo wir natürlich niemals hin eingeladen werden. Wir haben den Lärm schon durch die Tür gehört. Musik, Stimmen, Gelächter.

»Wir locken die Jungs nach draußen, wo wir in Ruhe mit ihnen reden können«, habe ich gesagt. Fee hat genickt und ich habe schon die Hand gehoben, um gegen die Tür zu klopfen, da hat Fee gejapst: »Warte! Wie locken wir sie raus?«

»Wir fragen, ob sie eine Runde Tischkicker spielen wollen«, ist mir spontan eingefallen und wollte gerade klopfen, da kiekste Fee: »Ich kann kein Tischkicker.«

Ich hab geflüstert, dass das doch egal wäre, aber Fee meinte, dass die Jungs dann denken, wir wären bescheuert, dass wir mit ihnen Tischkicker spielen wollen, wenn sie das gar nicht kann.

Dabei interessiert doch niemanden, ob Fee das kann oder nicht! Deswegen meinte ich zu ihr, dass wir sie einfach erst mal in den Aufenthaltsraum bekommen müssen. Aber Fee wollte noch weiter überlegen, da wurde plötzlich die Tür aufgerissen und Romy stand vor uns.

»Ich sag ja: Es ist nicht der Potthoff, der hier vor der Tür rumlungert«, hat sie hinter sich ins Zimmer gerufen. Romy ist übrigens einmal sitzen geblieben und schon fünfzehn und neben ihrer rauchigen Stimme hat sie noch ein weiteres Markenzeichen: ihr Dekolleté. Dank ihrem engen violetten Top schwappte es uns quasi über die Türschwelle entgegen.

»Huch«, habe ich gemacht und bin sogar ein Stück zurückgetaumelt. Romy hat ausgesehen wie eine richtige Frau! Oder wie eine Lehrerin! Mit so was rechnet man doch nicht, wenn man auf der Suche nach seinen Mitschülern ist. Deswegen hat es mir für einen Moment die Sprache verschlagen und während Romy an ihrem Ausschnitt gezupft und sich so in die Tür gestellt hat, dass wir nicht ins Zimmer gucken konnten, hat Sara von hinten gerufen: »Wer ist da?«

»Nur zwei graue Mäuse, die sich verlaufen haben«, hat Romy geantwortet und uns fies angegrinst.

Ich hab mich geräuspert und zurückgegeben: »Lieber graue Maus als gar keinen Verstand.« Hab dabei sehr freundlich gelächelt und Romy hat verwirrt die Stirn gerunzelt.

Ich hab ihr geraten, dass sie da mal schön drüber nachdenken soll, was das bedeuten könnte, und gemeint: »In der Zwischenzeit kannst du mal einen der Jungs rausschicken.«

Fee hat neben mir aufgeregt nach Luft gejapst.

Romy kniff die Augen zusammen und wollte wissen, warum.

»Ich wollte fragen, ob einer Lust hat …«, hab ich angefangen, aber weiter kam ich nicht, denn da ist Sara hinter Romy aufgetaucht und hat uns die Tür vor der Nase zugeknallt! »Wir kaufen nichts«, hat sie noch eiskalt gesagt.

»Ich hasse diese dummen Kühe«, hat sich Fee auf dem Rückweg aufgeregt und dass die BBQs so tun würden, als gehörten die Jungs ihnen.

Zurück auf dem Zimmer haben Jule und Shirin sich gerade gegenseitig die Haare geflochten. (Hab übrigens echt nicht gewusst, dass das ein so zeitintensives Hobby ist!) Jule wollte natürlich sofort wissen, wie es gelaufen ist, und ich hab gesagt, wir wären nicht an Romys Dekolleté vorbeigekommen.

Jules nickte wissend. »Die Chinesische Mauer ist nichts dagegen.«

»Ich hab die Lösung«, hat Fee da plötzlich gerufen. »Wir brauchen Push-up-BHs!«

»Wieso wir?«, habe ich verwirrt gefragt, weil ich nicht vorhatte, irgendwem mit meinem (nicht vorhandenen) Dekolleté den Weg zu versperren. Aber Fee ist überhaupt nicht auf meine Frage eingegangen, sondern hat bestimmt, dass wir morgen bei unserer Shoppingtour (wir haben den Vormittag frei, erst mittags treffen wir uns in Hohenschönhausen) Dessous kaufen gehen. Ich hab noch den Mund aufgeklappt, um zu widersprechen, aber Fee hat mich sofort zum Schweigen gebracht. »Bababababappp«, hat sie gemacht und dann gesagt: »Wir haben es erst so gemacht, wie du vorgeschlagen hast. Und jetzt machen wir es so, wie ich vorschlage.«

Dagegen kann ich ja schlecht was sagen, oder? So ist nun mal das Gesetz der Freundinnen.

Mittwoch, 13. Januar, 9.19 Uhr


AARGH! Katastrophenalarm am Morgen! Obwohl ich mich strikt an meine Zehn Gebote gehalten hab! Aber was kann ich dafür, dass es heute zum ersten Mal Schokoflakes gab? Wir wollen gleich los, daher nur schnell zwei Neuigkeiten:

1. Das Gesetz der Freundinnen ist Mist. Jedenfalls, wenn eine der beiden Freundinnen verknallt ist und ihre Gehirnströme von einem Jungen namens Paul regiert werden. Ich muss gleich Unterwäsche shoppen gehen! Das ist auf der Liste der Dinge, die ich auf einer Klassenfahrt machen will, ungefähr auf Platz 72, gleich hinter Küchendienst.

2. Beim Frühstück ist eine klitzekleine Katastrophe passiert und ich fürchte, ich hab die BlingBlingQueens ein bisschen gegen mich aufgebracht. (Nein, es war keine Rache für gestern, echt nicht!)

Wir sind heute Morgen in den Frühstücksraum rein und zum Büfett, wo man sich Brötchen und Wurst und Marmelade und Saft holen kann. Das Beste aber ist eine ganze Wand mit Plexiglasbehältern mit verschiedenen Müslis und Frühstücksflocken, die vorne eine Klappe haben, aus der das Müsli rausrieselt in deine Schüssel. Man kann sich total irre Kombinationen zusammenstellen und am Ende Milch aus einem großen Edelstahlbehälter zapfen. Supercool!

Fee und ich also zur Müsliwand. Dabei hat sie mir gesagt, dass sie meinen Rat befolgen und Paul heute ansprechen würde.

»Gut«, hab ich gesagt und mir die erste Ladung Müsli (Nuss) in die Schüssel gefüllt. Ich hab mich an der Wand vorgearbeitet (Cornflakes, Früchtemüsli, Knuspermüsli, Honigpops), bis meine Schüssel schon ziemlich voll war. Dann hab ich entdeckt, dass (zum ersten Mal, seit wir hier sind) Schokoflakes in dem letzten Behälter waren. Yummy! Die mussten natürlich auch in die Schale. Dann noch Milch und fertig ist das perfekte Frühstück. Dachte ich.

Ich hab also schön gezapft. Fee hat aufgeregt neben mir gegluckst. (Ihr Paul-Glucksen. Erkenne ich mittlerweile sofort!) Aus dem Augenwinkel hab ich ihn auf sie zukommen sehen und nur für einen Moment nicht aufgepasst. Was man sich nicht leisten darf bei Schokoflakes. Die sind tricky, weil sie schwimmen und in rasender Geschwindigkeit mit der Milch nach oben steigen. Im letzten Moment hab ich die Milch abgedreht, bevor alles überlaufen konnte, und die Schokoflakes schwammen wie kleine Boote auf einem See und ragten fast über den Schüsselrand. Als Müsliprofi hätte ich es bestimmt trotzdem geschafft, die Schüssel unfallfrei zu meinem Platz zu balancieren, aber da hat Fee entschlossen verkündet: »Ich frag Paul, ob er eine Runde Kicktischer spielen will. Äh. Tischkicher. Äh. Tickerkisch!«

»Fee, nein«, hab ich gerufen und mich umgedreht und da hat mich Sara angerempelt (sie behauptet, ich hätte sie angerempelt) und eine Welle Schokoflakemilch schwappte direkt in den weiten Schaft von Saras Wildlederstiefeln hinein.

Sie hat sofort losgekreischt: »Meine Uggs! Das ist Lammfell! Du hast meine Uggs ruiniert!«

»Sorry, war keine Schwappsicht«, hörte ich mich sagen, woraufhin sie mich nur finster angestarrt hat.

Ich hab ihr erklärt: »Keine Absicht zu schwappen, Schwappsicht«, was leider die Sache nicht besser gemacht hat.

Sie hat weiter rumgeschrien, dass ich total unverschämt wäre und ihr die Reinigung bezahlen müsste. Das Ende vom Lied war, dass der Potthoff angestürmt kam und mich gezwungen hat, Saras bescheuerten Schuh sauber zu machen. Was total einfach war. Einmal mit einem feuchten Tuch drüber, fertig. Schlimm war, dass Sara auf ihrem Stuhl thronte, die Beine übereinandergeschlagen, und ich ihr wie eine Dienerin den Schuh reichen musste. Sie beäugte ihn voll kritisch, schnupperte dran und ich konnte nicht anders. »Der Käsegeruch war schon drin«, hab ich, ohne nachzudenken, gesagt.

Sara hat sich nur ein wütendes »Hau ab!« abgerungen und währenddessen haben sie und ihre doofen Freundinnen mich mit ihren Blicken durchbohrt.

Und meine Schokoflakes?? Die sind in der Zwischenzeit weich wie nasse Lappen geworden und ungenießbar gewesen. Das einzig Gute war, dass ich Fee mit meiner Attacke auf Saras Schuh davon abgehalten habe, sich vor Paul zum Affen zu machen. Immerhin!

Mittwoch, 13. Januar, 10.24 Uhr

Sitzen in der Bahn zum Alexanderplatz. Musste mich gerade mal aus der Unterhaltung ausklinken und hab mir mein Tagebuch geschnappt. Fee, Shirin und Jule sind voll im Shoppingfieber! Und Fee hat mich eben total bearbeitet, dass ich mir auch endlich neue Unterwäsche zulegen soll.

»Wozu?«, hab ich gefragt und Fee meinte, ich müsste die Slips mit den Minions und der Eiskönigin drauf endlich hinter mir lassen, dabei passen die mir noch (na ja, die meisten jedenfalls). »Verstehst du, das sind Kinderschlüppis!«, hat Fee verkündet und gemeint, dass ich mich mit dem Tragen von Kinderschlüppis weigern würde, erwachsen zu werden. »Und solange du dich weigerst, erwachsen zu werden, kannst du dich auch nicht verlieben«, schloss sie ihr Schlüpferplädoyer.


»Aha. Äußerst interessant, Frau Professor Besserwisser-Chang«, hab ich erwidert. »Schon mal daran gedacht, dass ich mich vielleicht überhaupt nicht verlieben will?«

Da haben Jule, Shirin und Fee mich angestarrt, als würden mir auf einmal pinke Elefantenohren wachsen. Also, echt! Was gehen die meine Unterhosen an? Ich kann doch wohl anziehen, was ich will. Und mich verlieben (oder nicht), wie ich will. Ich weiß eh nicht, was daran so toll sein soll, wenn man dabei doch (wie man sieht) einen großen Teil seiner Hirnfunktion verliert!

Was die Sache mit den Unterhosen angeht … okay. Mama hat mir sogar schon mal Geld dafür gegeben. Aber dann war ich mit Kai in der Stadt und als wir bei Mediamarkt waren, waren wir uns einig, dass ich unbedingt das neue GTA haben musste. (Kai wusste nichts von meinem Unterhosenauftrag. Geht Brüder ja wohl auch gar nichts an!)

So. Und natürlich kaufe ich demnächst neue, wenn ich wieder Taschengeld dafür hab. Aber ich lass mich doch nicht drängen – vor allem nicht mit so einem bescheuerten Argument wie das von Fee. Wenn ich mir neue Slips kaufe, dann bestimmt nicht, damit ich mich verliebe! Auch wenn Fee das gerne hätte.

Sie hat eben gemeint, es wäre lustiger, wenn ich auch verknallt wäre. »Lieber nicht, weil dann würden wir ja beide durchdrehen«, hab ich erwidert und Fee hat begeistert genickt und gesagt: »Eben.«

Mittwoch, 13. Januar, 11.39 Uhr

AAAAHHH! Sitze in einer Umkleide in der DESSOUSABTEILUNG im Kaufhaus am Alexanderplatz und habe ein kleines Problem. Ich traue mich kaum, es zu sagen, aber es hat was mit … tattataaaaa … Unterwäsche zu tun!

Und jetzt ist Fee schon weg und Jule und Shirin ebenfalls. Und die blöde Verkäuferin, die sich vorhin noch so aufgedrängt hat, um uns beknackte Maximizer-BHs anzudrehen, ist auch nicht mehr aufgetaucht. Dafür schwirren draußen die BlingBlingQueens rum, weswegen ich gefangen bin. Verdammt!

Dabei war es erst sogar ganz lustig. Die Unterwäscheabteilung hier ist riesig und es gibt auch normale Sachen wie Unterhemden und Pyjamas. Aber daran war Fee nicht interessiert, sondern hat uns zielstrebig in die Richtung einer Schaufensterpuppe geführt, die mit einem Haufen schwarzer Bänder umwickelt war, die zusammen eine Art sinnlosen Badeanzug ergaben.

»Dessous-Designer scheint jedenfalls kein Lehrberuf zu sein«, habe ich geschlussfolgert, aber Jule meinte, das wäre ein Mieder von … keine Ahnung, aber sie sagte das so, als müsste ich die Marke kennen.

Um uns herum waren auf einmal nur noch winzige Tangas in Spitze, irgendwelche seltsamen Teile mit Strapsen und Schleifen und jede Menge BHs von knallrot bis durchsichtig, die laut der Schilder wahlweise Schalen-, Bügel-, Balconette- oder Push-up-BHs hießen.* Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie diese komischen Fetzen an echten Leuten aussahen!

Und dann ist auch noch eine Verkäuferin auf uns zugesteuert. Sie hatte dunkelrotes Haar mit hellroten Strähnen, ungefähr ein Kilo Schminke im Gesicht inklusive schwarz verklebter Wimpern, an denen man vermutlich Wäsche aufhängen konnte. Sie hat uns geschickt den Weg abgeschnitten, erdbeerfarben gelächelt und behauptet, sie wolle uns helfen. Ich wollte sie abwimmeln, aber Fee ist anderer Ansicht gewesen und hat ihr erzählt, dass wir Jungs aufreißen wollen und was sie uns da empfehlen könnte.

Ein bisschen Zurückhaltung, hätte ich beinahe laut gesagt, aber die Verkäuferin hat sofort verständnisvoll gegrinst, als wäre es total normal, dass Teenager Dessous kauften, um Jungs aufzureißen.

Sie ist jedenfalls sofort ganz eifrig geworden. Auf ihrem Namensschild stand übrigens Denise.

»Unsere Konkurrenz hat ein Dekolleté wie die Chinesische Mauer«, hat Fee hinzugefügt und daraufhin hat Denise uns prüfend gemustert, besonders in der Brustregion, und verkündet, dass Maximizer am besten wären. »Zwei BH-Größen mehr, einfach so, zack!«

Ich habe voll lachen müssen und erwartet, dass Fee zur Vernunft kommt, aber sie hat einfach nur gesagt: »Das klingt gut.«

Kurz darauf hat Denise Fee mit einer Auswahl an Schalen-Bügel-Balconette-Push-ups in eine Umkleidekabine geschickt und während Jule und Shirin eine Abteilung weiter gegangen sind, wo es total schöne Sportsachen gab (Hoodies und Fleecejacken und Mützen ohne Bommel), hab ich bei Fee die Stellung gehalten. Weil: Beste-Freundinnen-Pflicht, selbst bei der BH-Anprobe!

»Und jetzt zu dir«, hat Denise sich plötzlich mir zugewandt und mich unternehmungslustig gemustert.

Ich hab sie abgewehrt von wegen, dass ich nichts bräuchte, aber da flötete Fee von innen: »Natürlich braucht sie was! Und zwar dringend! BHs und Unterhosen!«

Und schon schwirrte Denise ab, bevor ich protestieren konnte. Fee raschelte mit ihren Klamotten und hat dann auf einmal in überraschtem Tonfall gerufen: »Aber hallo, Paul!« Sie hat den Vorhang aufgerissen, obwohl sie so jeder sofort sehen konnte – aber bevor ich sie darauf hinweisen konnte, habe ich ihren neu gebauten Busenbalkon entdeckt und mir blieb das Wort im Hals stecken.

»Ist das krass oder ist das krass?«

»Das ist krass«, habe ich geantwortet und war ehrlich beeindruckt über die Wirkung.

»Ja, wir Franzosen sind halt die Erfinder der Dessous!«, hat Fee geprahlt und den Vorhang wieder zugerissen. Fees Vater ist Franzose und extrem gechillt. Fees Mutter ist Koreanerin und superstreng. Die beiden sind geschieden und Fees Vater wohnt wieder in Frankreich, zur Erleichterung von Mrs Chang, die hofft, dass er von dort weniger schlechten Einfluss auf Fee hat. Mrs Chang versucht nämlich alles, um ihrer Tochter die von ihrem Vater geerbten »Gendefekte« (so Mrs Chang) wie Leichtsinn, Vergnügungssucht und Ehrgeizmangel auszutreiben. (Bisher ohne Erfolg.)

»Damit kriege ich Paul, ich spüre das«, hat sich Fee gefreut, während sie sich wieder hinter dem Vorhang umzog.


Obwohl ich ein halbes Jahr jünger bin als Fee (und die jüngste in der Klasse, weil mit fünf eingeschult!), habe ich es dann noch mal mit Vernunft probiert … dass ich mich ja wirklich nicht einmischen will, weil ich ja auch keine Ahnung habe, aber dass ich es total peinlich finde, einen Jungen mit einem Maximizer rumkriegen zu wollen. Weil Paul sie ja entweder mag, so wie sie ist, oder eben nicht.*

Aber Fee war nicht überzeugt. Im Gegenteil. »Das ist ja der Trick«, hat sie geschwärmt. »So ein Push-up-BH stärkt dich von außen und von innen. Wie der Ginsengtee von meiner Mutter. Man denkt, er ist einfach nur ein Durstlöscher, dabei ist er Power fürs Immunsystem.«

»Ich dachte, du hasst den Ginsengtee.«

»Siehst du«, sagte Fee in ihrer verdrehten Verliebtheitslogik, »nicht alles, was guttut, muss einem auch schmecken. Deswegen rate ich dir: Kauf dir einen Push-up! Damit fühlt man sich sofort anders. Mutiger! Und sexy.« Weil der Vorhang zwischen uns war, konnte sie nicht sehen, wie ich ein Kotzgesicht gemacht habe. Als sie wieder bekleidet aus der Umkleide rauskam, meinte sie: »Ich sag dir, das ist wie eine geheime Superkraft.«


»Push-up-Woman rettet die Welt«, hab ich gewitzelt, aber Fee hat nur gelächelt. »Du weißt doch, jede Superheldin hat eine Gehilfin.« Fee hat mir feierlich die Hand auf die Schulter gelegt und verkündet: »Ella, hiermit ernenne ich dich offiziell zu Wing-Girl.«

Ich hab die Augen zusammengekniffen. »Und was macht Wing-Girl? Holt sie Push-up-Woman nach einem Einsatz ihre Chicken Wings, oder was?«

»Das auch«, hat Fee würdevoll erklärt. »Aber vorher assistiert sie mir, wenn ich Paul aufreiße.« Dann sagte Fee, sie hätte da so interessante Klebe-BHs gesehen, und ist abgezischt, Raketenantrieb, mindestens. Ich wusste echt nicht, was ich davon halten soll. Oder ob mir ihre neue Superpower gefiel.

Plötzlich hat Jule aufgeregt von der Sportabteilung herübergewunken. Ich dachte erst, sie hätte ein Superschnäppchen entdeckt, aber Shirin schaute verzückt Richtung Rolltreppe und dann hörte ich Luke schreien: »Alter, ich seh ganz viele Ständer!«

Da kam die Chaostruppe, Luke, Paul, Tarik und Roman, und sie haben sich nicht mehr eingekriegt über die bunte Reizwäsche. Es ist doch zum Nasepopeln! Gestern hatten wir sie händeringend gesucht, jetzt tauchten sie hier auf. Ausgerechnet als Denise auf mich zusteuerte, mit einem Packen schleifenverzierter BHs und winziger Tangas in der Hand. Megapeinlich!

Schnell bin ich in der Umkleide verschwunden. Ein Arm folgte mir. »Hier, für dich.« Denise hat mit Kleiderbügeln gewedelt, an denen satinschimmernde Fummel hingen, und gefragt, ob sie mir beim Anziehen helfen soll.


Ich habe sofort »NEEEIIINNN!« gerufen und Denise meinte, ich solle Bescheid sagen, wenn ich Hilfe brauche. Ich hab die Sachen an den Haken gehängt und mich auf die schmale Bank gehockt. Draußen haben Fee, Jule und Shirin lautstark mit den Jungs gelabert, was sofort den Drang in mir auslöste, Fee zu beschützen. Was, wenn sie wieder Unsinn redete?

Ich wollte mir gerade Fees Tasche schnappen und den Superkraft-BH einfach hier hängen lassen – aber dann kam Fee ganz aufgeregt zur Umkleide, hat den Kopf durch den Vorhang gesteckt und atemlos erzählt, dass die Jungs gefragt hätten, ob wir zu Mäckes mitkommen würden. Dabei haben ihre Augen geglänzt. Ansonsten hat sie einen erstaunlich zurechnungsfähigen Eindruck gemacht. Sie hat sich ihre Jacke und die Tasche vom Haken gegriffen, wobei ihr Blick auf den Wunder-BH gefallen ist.

»Mist. Den muss ich ja noch bezahlen. Aber ich kann Paul nicht sagen, er soll warten, bis ich bezahlt hab. Was, wenn die schon gehen?« Sie hat nervös nach Luft geschnappt und die Stirn in Falten gelegt. »Kannst du das vielleicht machen und nachkommen? Bitte, bitte?«

Ich hab kurz gezögert. Aber dann hat sie »Wing-Girl?« hinterhergeschoben und ich hab die rosigen Wangen und den Glanz in ihren Augen gesehen und deswegen konnte ich gar nicht anders, als Ja sagen. Ich meine, sie ist meine beste Freundin! Ich würde ihr immer helfen, selbst wenn ich nicht Wing-Girl wäre. Ich hab also genickt und sie hat mich total happy bei den Schultern gepackt, die Augen aufgerissen und ganz ungläubig staunend gesagt: »Siehst du, Ella, es funktioniert. Sogar schon, wenn ich den BH nicht trage!«


»It’s magic!«, hab ich verblüfft gerufen, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

Wir sind jedenfalls für halb eins an der Weltzeituhr verabredet (falls ich sie beim Mäckes verpasse), damit wir zusammen zu der Gedenkstätte nach Hohenschönhausen fahren.

Leider hatte ich dann in der Umkleide eine Idee, die ausnahmsweise wirklich schlecht war.

* Sich Namen für BHs auszudenken, scheint auf jeden Fall ein Lehrberuf zu sein. Ich meine, wie kommt man sonst auf so was?

* Ich fand mich auf einmal selbst voll erwachsen und hab mich fast ein bisschen weise gefühlt. (Für ein paar Minuten jedenfalls. Dann hat der Wahnsinn wieder zugeschlagen. Muahahamuahaha!)

Mittwoch, 13. Januar, 11.59 Uhr

Hilfe, ich sitze hier fest! Wie lange wollen die BBQs denn noch da draußen rumlungern? Wir müssen um 13.30 Uhr am ehemaligen Stasigefängnis in Hohenschönhausen sein! Um halb eins bin ich mit Fee an der Tramhaltestelle am Alexanderplatz verabredet. Aber ich kann hier nicht raus!

Als Fee, Shirin und Jule weg waren, hab ich eigentlich auch sofort losgewollt, aber dann hab ich gemerkt, dass ich zum ersten Mal seit Tagen ein paar Minuten alleine war. Auf Klassenfahrt sind dauernd Leute um einen rum, die einen belabern, und man kann nie gechillt seinen Gedanken nachhängen. Man ist auch nie unbeobachtet und kann nicht einfach mal den Pulli samt Unterhemd hochschieben und die Arme seitlich an den Körper legen und die Ellenbogen zusammenschieben, um im Spiegel zu prüfen, wie viel Dekolleté man mit diesem Quetschverfahren eigentlich zustande bringt. Maximizer in Eigenproduktion, sozusagen.

Bei mir ist das nicht viel, das ist mal sicher. Aber vielleicht ein Millimeter mehr als noch vor ein paar Wochen? Da ist mein Blick auf den BH gefallen, den Denise für mich ausgesucht hat. Er ist nicht mit bunter Spitze aufgemotzt wie der von Fee, sondern aus schwarzem Satin und hat auch so ein Gelkissen drin. Und da bin ich neugierig geworden: Fühlt man sich wirklich anders, wenn man so ein Teil anhat? Würde ich auch eine Superkraft spüren wie Fee? Und da hab ich beschlossen, den BH einfach mal anzuprobieren. Schließlich hatte ich noch Zeit bis zum Treffen an der Bahn.

Ich hab mich also ausgezogen und den BH an. Die Gelkissen haben sich erst voll kalt angefühlt. Und echt – es sah total seltsam aus, so ausgepolstert an dieser Stelle. Kam mir unnatürlich vor. (Wie wenn man sich ein Kissen unter den Pulli schiebt und auf einmal eine Riesenwampe vor sich herträgt!) Besonders seltsam war auch die wirklich spezielle Kombi mit meiner Unterhose, die aus dem weiten Hosenbund rausragte (ich mag keine Gürtel). Ich hab die Jeans aufgeknöpft und musste dann ein bisschen lachen. Das sah wirklich zum Schreien aus: ein Satin-Wonderbra zu einer Olaf-Bux. (Auf dem Schlüpfer ist Olaf, der Schneemann aus der Eiskönigin, wie er auf einer Blumenwiese tanzt. Allerdings kann man die Blumenwiese gar nicht mehr richtig erkennen, so verwaschen sind die Farben, und einer von Olafs Armen ist auch schon weg.)


Und da fiel es mir auch auf: Ich musste wirklich mal neue haben! Aus Spaß habe ich den Daumen in das Unterhosengummi gesteckt und es ordentlich gedehnt, um es flitschen zu lassen. Und schon kam es zur Katastrophe, warum ich jetzt hier festsitze! Denn auf einmal hat es verdächtig geknirscht. Und als ich das Gummi wieder losgelassen habe, ist es nicht etwa zurück in seine ursprüngliche Position geschnellt, sondern hing ausgeleiert runter. Aaaaah!

Wenn ich sie nicht festhalte, rutscht sie sofort nach unten. Meine Olaf-Bux ist an Altersschwäche gestorben! Kurz habe ich gedacht, wie kacke das jetzt ist, aber dann wurde mir klar: Es gibt keinen besseren Ort, wo einem die Unterhose kaputtflitschen kann, als die Unterwäscheabteilung. Schließlich sitze ich ja hier an der Quelle.

Die Unterhosen, die mir Denise gebracht hat, sind allerdings lächerlich: Das sind so Teile, die hinten nur einen Faden haben, der in der Poritze hängt. Wer trägt denn so was?

Ich hab schnell den blöden Satin-BH ausgezogen und meine alten Klamotten an. Dann wollte ich Denise rufen, damit sie mir irgendeinen normalen Slip bringt. Ich hab den Kopf aus dem Vorhang gesteckt und hab sie auch gesehen. Aber leider war sie gerade in einem Beratungsgespräch – mit den BlingBlingQueens! Warum hängt heute eigentlich meine ganze Klasse hier in der Dessousabteilung ab?

Mittwoch, 13. Januar, 12.09 Uhr

Noch einundzwanzig Minuten bis zum Treffen. Die BBQs nehmen Denise immer noch in Beschlag. Auf gar keinen Fall werde ich mich vor denen blamieren, indem ich um Hilfe rufe. Ich muss mir selbst helfen. Es findet sich immer eine Lösung, sagt Mama immer.

Haa!! Bin gerade in meiner Jackentasche fündig geworden! Ich bin gerettet! (Wahrscheinlich.)

Mittwoch, 13. Januar, 13.20 Uhr

Sitze in der Bahn nach Hohenschönhausen. ENDLICH. Was soll ich sagen? Dieser Tag ist verhext. Oder ich bin einfach nur durch Zufall andauernd zur falschen Zeit am falschen Ort!*

Ich hatte vorhin in der Umkleide mit Pflastern, die ich in meinem Parka gefunden hatte, gerade die Olaf-Bux an meinen Bauch und die Hüfte angeklebt und war ziemlich stolz auf meinen Erfindungsreichtum, da hat eine streng glotzende Frau den Vorhang aufgerissen. »Hey«, hab ich gesagt, »hier ist besetzt.«

»Ja, Frollein, und zwar schon für viel zu lange. Was machst du dadrin?« Sie hat voll misstrauisch den Blick durch die Umkleide schweifen lassen und den ganzen Packen Kleiderbügel mit den Dessous vom Haken an sich gerissen. »So viele darf man hier gar nicht mit reinnehmen«, hat sie gebellt und auf ein Schild gezeigt, auf dem stand, dass nur drei Teile für die Anprobe erlaubt sind.

»Die sind schon drin gewesen«, hab ich gesagt, was ja auch stimmte, weil Fee vor mir Sachen anprobiert hat.

Das hat die Frau überhaupt nicht interessiert. »So, rauskommen«, hat sie mich angeschnauzt und einen Sicherheitsmetalldetektor gezückt, wie die Leute am Flughafen einen haben.

Es war die Ladendetektivin, die ernsthaft gedacht hat, ich würde was von ihren hässlichen Klamotten stehlen! Echt! Ich hätte das ja lustig gefunden, aber leider haben die doofen BBQs gesehen, wie ich von oben bis unten und samt Rucksack abgescannt worden bin. Die haben sich natürlich kaputtgelacht. Als klar war, dass ich natürlich nichts geklaut hatte, waren die BBQs schon weg.

Ich bin dann auch raus, die Rolltreppe runter und über den Alexanderplatz gesaust. Es war kurz nach halb, als ich an der Weltzeituhr angekommen bin. Ich hab noch ungefähr zehn Minuten auf Fee gewartet, weil ich sie nicht erreichen konnte und gedacht hab, sie hat sich wahrscheinlich mit den Jungs verquatscht und die Zeit vergessen. (Wo sie ja sonst auch immer zu spät kommt!)

Doch sie war schon weg! Hab irgendwann endlich von ihr die Nachricht bekommen, dass sie bereits losgefahren sind! Aber als ich zur Haltestelle gehen wollte, hat es auf einmal von Polizei und Rettungswagen gewimmelt und die Bahnstation war abgesperrt. Ich musste einen Riesenumweg laufen zur nächsten Bahnstation. Ich komme vermutlich ein bisschen zu spät. Immerhin hält meine geniale Pflasterkonstruktion.


* Übrigens: Wenn man das Wort »falsch« zehnmal hintereinander laut sagt, hört es sich auf einmal total ulkig an. Falsche Zeit, falscher Ort, falsches Wort, falsch, falsch, falsch, Flunsch, falsch, falsch. Vielleicht werde ich Zungenbrechererfinderin, wenn ich groß bin. Falsche Flaschen fallen falsch herum, falsch herum fallen falsche Flaschen. (Wird dann veröffentlicht in dem Standardwerk: Ella Schrader – Der Wahnsinn hat Methode.) Muahahamuahaha.

Mittwoch, 13. Januar, 14.59 Uhr

Geniale Pflasterkonstruktion hat leider nicht gehalten.

Bin kolossal zu spät gekommen.

Sitze in Einzelhaft.

Hab ich schon gesagt, dass dieser Tag verhext ist?

Mittwoch, 13. Januar, 18.42 Uhr

Es ist so viel passiert, dass ich kaum noch mitkomme mit Aufschreiben! Ich wurde eingekerkert und ausspioniert und kolossal blamiert hab ich mich auch. (Die gute Nachricht: Es hätte NOCH schlimmer kommen können! Und außerdem kommen die Jungs gleich in unser Zimmer. Weswegen Fee, Jule und Shirin in HELLER AUFREGUNG sind! Ich will fast sagen: PANIKMODUS!!!) Bevor hier die Party losgeht, muss ich also schnell mein Tagebuch auf den neusten Stand bringen.

Von der Bahnhalte in Hohenschönhausen sind es noch ungefähr zweihundert Meter bis zu dem ehemaligen Stasigefängnis, das heute eine Gedenkstätte ist. Zweihundert Meter – eigentlich ein Klacks. Wenn einem keine blöde Unterhose zwischen den Knien hängt und einen zu Trippelschritten zwingt!

Und dann hat auch noch der Potthoff hinter dem Zaun auf mich gewartet. »Wo waren Sie denn in Herrgottsnamen?«, fuhr er mich an, als ich keuchend angewackelt kam.

Potthoff spinnt generell. Er siezt jeden Schüler, egal, welchen Alters, trägt immer einen Anzug und seine berühmtberüchtigten Katzenkrawatten.*

»Die Bahn war ausgefallen«, hab ich mich hastig entschuldigt.

»Nun aber geschwind«, hat der Potthoff griesgrämig gesagt, weil die Führung schon begonnen hatte. Er ist mit Riesenschritten in das Gebäude hineingeeilt und ich bin hinterhergestelzt. Wir sind durch etliche deprimierende Gänge gelaufen, vorbei an Zellen und Befragungsräumen.

Fee hat mich sofort zu sich gezogen, als wir bei den anderen angekommen waren, und gefragt, wo ich denn geblieben wäre. Ich darauf nur: »Frag nicht«, und habe dann schnell meinen Mund gehalten, weil Potthoff mir schon wieder biestige Blicke zuwarf.

Eine ehemalige Stasigefangene, die uns durch das Gebäude geführt hat, redete gerade über Foltermethoden und Isolationshaft. Von der anderen Seite der Gruppe hat Sara zu mir rübergeglotzt, stieß Leyla in die Seite und die beiden haben gekichert, was natürlich auf Romy und Kim übergegriffen hat.

»Was ist denn mit denen?«, wollte Fee wissen und ich versprach brummelig, ihr das alles nachher zu erzählen.

Plötzlich hieß es nämlich, ein Freiwilliger solle sich in eine Zelle sperren lassen, um zu erfahren, wie sich das anfühlt. Ich hab unbeteiligt auf den Boden geguckt, eine seit Jahren ausgefeilte Strategie, wenn Deppenjobs aller Art vergeben werden. Was aber diesmal nicht funktioniert hat. Der Potthoff hat seinen Wurstfinger auf mich gerichtet – war ja klar: »Ella, Sie werden das machen.«

»Nur ein paar Minuten«, versprach unsere Gefängnisführerin und hat mich in die Zelle geführt.

Als sie die Tür vor mir aufgezogen hat, hat plötzlich Sara laut gerufen: »Genau, steckt die Ladendiebin in den Knast!« Und dann fies gelacht.

»Ich bin unschuldig!«, habe ich mit dramatischer Stimme geschrien, aber da ist schon die Tür mit metallischem Scheppern hinter mir ins Schloss gefallen. Es war eine winzige Kammer mit Pritsche, Klo, Tisch, Waschbecken. Ich hab auf meine Uhr geguckt und da die Gefängnisführerin ja ein paar Minuten Einzelhaft verordnet hatte, kramte ich erneut in meiner Parkatasche und fand eine Kordel, die ich neulich aus Versehen aus der Kapuze von meinem Pulli rausgezogen hatte. Hm, hab ich gedacht, und: Das könnte gehen.

Schnell hab ich meinen Pulli hochgeschoben und da habe ich gesehen, dass zwar die Pflaster auf der Haut gehalten hatten, aber leider nicht an der Unterhose. Ich hab die Olaf-Bux hochgezerrt, die Kordel wie einen Gürtel darumgebunden und den Bund des Olaf-Schlüppis einmal darin eingewickelt. Alte Säge! Wir haben mal einen Film in Bio gesehen, wo es um Eingeborene im Urwald ging. Deren Klamotten sahen ungefähr genauso aus wie das hier. Aber besser als nichts. Ich hab noch schnell die nutzlosen Pflaster abgerissen (AUA!) und war gerade dabei, alles zu vertuschen, da ging die Tür auf.


Mizzi aus meiner Klasse kam rein. Ich hab meinen Pulli zurechtgezupft, aber sie guckte mich zum Glück eh nicht an, sondern ist zum Fenster gestapft, Blick aufs Handy, und hat es nach oben gehalten. »Und wo soll jetzt hier Empfang sein?«, hat sie gemotzt. »Kein Netz. Kein WLAN. Was ist das für eine Drecksbude?«

»Äh, ein ehemaliges Gefängnis?«

Mizzi hat heftig genickt. »Tja-ha! Und was für ein Horrorknast, so ohne Internet.« Jetzt erst hat sie mich angeschaut, wobei sie entnervt ihre karamellfarbenen Haare geschüttelt hat, die ihr wie immer in Wellen auf ihre Schulter fielen. (Ohne ihren Lockenstab fährt Mizzi McLennon nirgendwohin, das hatte ich schon auf der Skifreizeit in der Siebten mitbekommen.)

»Ich hasse diese Klassenfahrt. Du nicht auch? Ich wäre so gerne bei meinem Freund. Siehst du, das ist er.« Dann zeigte sie mir das Foto von einem Jungen neben einem Pferd. Dann noch ein Bild von Junge und Pferd. Und noch eines. »Ich hab ihm schon vor einer Ewigkeit geschrieben und er hat noch nicht geantwortet.« Sie hat geseufzt und schmollend die Unterlippe vorgeschoben.

»Kann er das denn überhaupt? Ich meine, ein Smartphone bedienen … mit Hufen«, hab ich sie gefragt.

Mizzi hat erst gestutzt, dann laut gelacht. »Du bist witzig, Schrader, echt.«

Ich musste auch grinsen, aber mehr vor Erleichterung, weil sie meine kleine Unterhosenreparatur nicht bemerkt hatte. Gut gelaunt habe ich noch einen Witz hinterhergeschoben, nämlich: »Was macht ein Kuh-Orchester?«


Mizzi hat gespannt von ihrem Handy aufgeguckt und ich so: »Muuuuhsik.«

Mizzi hat gelacht und plötzlich gemeint: »Weißt du eigentlich, dass es hier einen Türspion gibt, durch den man in die Zelle reingucken kann?«

»Was?«, habe ich etwas dümmlich mit so kieksiger Stimme gefragt, weil wenn das stimmte, dann O MEIN GOTT.

»Na klar, man kann von draußen alles sehen, was einer hier drin macht«, hat Mizzi bestätigt.

Mein Herz hat angefangen zu bummern. Ich hatte mir gerade einen Lendenschurz gebastelt und vielleicht hatte es die ganze Klasse mitbekommen!? (Titanic-Moment! Der Eisberg taucht auf! Direkt vor dem Bug!!!)

»Haben … welche … also … haben sie mich gesehen?«, hab ich stammelnd rausgebracht.

»Weiß nicht.« Mizzi war jetzt wieder ganz abgelenkt von ihrem Handy.

»Mizzi!«, hab ich entsetzt gerufen und hätte sie am liebsten an den Schultern geschüttelt. »Hat da jemand durchgeguckt, als ich hier drin war?«

Sie zuckte nur mit den Achseln und sagte: »Kann sein.« (Aaah!!)

»Aber wer?« Meine Stimme hat in der Zelle richtig schrill geklungen wie eine Alarmsirene. In dem Moment wurde die Tür aufgeschoben und Mizzi ist sofort nach draußen.

»Da war auch kein Empfang«, hat sie den Potthoff angemotzt, der nur an ihr vorbei- und mich angestarrt hat. Die Gefängnisführerin starrte mich auch an. Fee glotzte entsetzt (so kam es mir vor). Die BBQs kicherten. Der Rest der Klasse blieb stumm.

»Und, wie war es?«, hat die Führerin gefragt, ihre Stimme klang frostig.

»Un… äh … uncool?«, hab ich gerade noch rausbekommen, weil ich nur darauf gewartet habe, dass die eisigen Fluten mich in die Tiefe ziehen und ich im kalten Grab des Ozeans der Blamagen versinken würde.*


Der Potthoff hat richtig die Augen verdreht und dann losgezetert von wegen, uncool – ob das wirklich allen Ernstes meine Erleuchtung wäre nach dem Aufenthalt in einer Gefängniszelle.

»Das war nicht uncool, das war total der Horror, Herr Potthoff«, ist mir Mizzi zu Hilfe gekommen und hat erklärt, dass es dadrinnen nicht mal Internet gäbe.

»Genau. Lieber Einzelhaft als Funkloch«, hat Luke von weiter hinten geblökt. Gelächter, dumme Sprüche aus dem Publikum.

Die Gefängnisführerin hat irgendwie ganz geknickt geguckt und der Potthoff hat mich (nicht Mizzi mit ihrem Funkloch!) dann noch mal richtig angefahren: »Mehr haben Sie nicht an Erkenntnissen gewonnen, Ella?« Der Rest der Klasse hat da schon nicht mehr richtig zugehört, auch Fee gab mir keine Warnzeichen, dass ich mich gerade unterhosenmäßig vor allen blamiert hätte … Und auf einmal wurde mir klar, dass Mizzi einfach nur geplappert hatte!! Niemand hatte durch den Türspion gespannt und mich beim Lendenschurzbasteln beobachtet. Ich hatte es von der sinkenden Titanic aufs Rettungsboot geschafft, ich würde überleben!

Eine Welle der kolossalen Erleichterung erfasste mich. »Doch, es war auch sehr deprimihihihihihihierend«, platzte es da aus mir heraus und ich wollte es wirklich verhindern, aber ich musste plötzlich total kichern, einfach weil ich so froh war, dass niemand was mitbekommen hat.

»Ich fasse es nicht!«, hat der Potthoff losgeschrien und sein weißer Schnauzbart hat vor Wut gezittert, als er meinte, da versucht er, seinen Schülern eine der wichtigsten deutschen Epochen nahezubringen, um uns zu politisch aufgeklärten Verteidigern der Demokratie zu machen, während wir das alles nur als Witz empfinden würden. Und dann schob er hinterher: »Wegen Leuten wie Ihnen, Ella, wird sich die Geschichte eines Tages wiederholen.«

Und bevor ich auch nur einen vernünftigen Ton rausgebracht hatte, dass er das alles ganz falsch verstanden hatte und ich das alles hier natürlich überhaupt nicht lustig fand, trat Maurice, die olle Nacktschnecke*, vor: »Nach so einem kurzen Aufenthalt in einer Zelle kann man nur erahnen, wie es den Insassen dieses Gefängnisses damals ergangen sein muss. Die Isolationshaft wird erst durch ihre Dauer zu einem Folterinstrument. Die psychischen und physiologischen Folgen sind …« Er hat bestimmt zwei Minuten rumreferiert und ich hab heftig dazu genickt, um Potthoff klarzumachen, dass ich das am liebsten mindestens genauso gesagt hätte.

* Heute waren darauf zwei mittelalterlich gekleidete Katzen, die sich zankten und von denen eine in einer Rakete aus Holz steckte. Katzenkrawattendesigner muss echt ein lustiger Beruf sein, weil einem da anscheinend niemand Vorschriften macht. Und guten Geschmack muss man auch nicht haben!

* Das knallt rein, was? Voll kitschig! Aber: Je kitschiger der Tagebucheintrag, desto schlimmer der Tag! (Behauptet zumindest Ella Schrader, Biografin von Hobby.)

* Der zieht eine echte Schleimspur hinter sich her, wenn er mit Lehrern redet! Er bietet ihnen sogar von seinem Pausenbrot an! Ist das zu fassen?

Mittwoch, 13. Januar, 19.14 Uhr

Musste kurze Schreibpause machen, weil meine Freundinnen kurz vorm Durchdrehen sind. Weil sie so mit Flechten und Schminken beschäftigt sind, hat Jule mich zur Knabberbüfett-Beauftragten ernannt und ich musste gefühlt 78 Tüten Chips aufreißen. Weil ich mein Amt ernst nehme, hab ich natürlich geprüft, ob wir den Jungs diese komischen Geschmacksrichtungen (Zwiebel, Speck, Barbecue) überhaupt anbieten können. Da wurde Jule sauer und meinte, ich sollte nicht schon alles wegfuttern. Meinen Einwand, dass wir mit dieser Menge an Chips eine Woche lang die ganze Klasse ernähren könnten, ließ sie nicht gelten. Ich solle die Finger davon lassen, hat sie mich ermahnt, also hab ich mein Amt als Knabberbüfettbeauftragte hingeschmissen und bleibe lieber nur Partyprotokollführerin.

Fee ist total aufgeregt. Sie meint, sie hätte sich heute mit Paul unterhalten. »Ich war total normal dabei, Ella, echt, ich konnte auf einmal ganz normal mit ihm sprechen, so als wäre ich ein normaler Mensch!«, hat Fee mir ungefähr achthundert Mal erzählt. Gratuliere, Fee! Klingt echt normal!)

Sie hat sogar verkraftet, dass ich den blöden Super-BH im Kaufhaus zurücklassen musste. Sie meint, seine Kraft wäre schon beim Anprobieren auf sie übergegangen. (Wirklich total normal, Fee!)

Obwohl ich nicht an die magischen Kräfte von gepolsterten BHs glaube, hat sie es jedenfalls irgendwie gemanagt, dass die Jungs heute Abend zu uns kommen. Was Fee auf die Idee gebracht hat, eine Schminktechnik auszuprobieren, die sich Contouring nennt. Angeblich bekommt man davon schmalere Wangen. (Keine Ahnung, wozu das gut sein soll.) Erst hat sie sich hellbraune und weiße und dunkelbraune Striche ins Gesicht gemalt wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, dann hat sie wild daran rumgewischt und sich eine Wolke Rouge auf die Wangen gepinselt. Gerade ist sie aus dem Bad gekommen. Sie lächelt wie verrückt. Glaub ich jedenfalls. Vielleicht ist es aber auch nur aufgemalt.

Mittwoch, 13. Januar, 19.29 Uhr

Konnte mich gerade noch wehren!! Jule und Fee wollten sich grad an meinem Gesicht zu schaffen machen. Mit Lippenstift ist mir Jule auf den Pelz gerückt und hat gemeint, ich müsste mehr aus mir machen, wenn ich den Jungs auffallen wollte.

WILL ICH NICHT. FALL GEKLÄRT!

Zum Glück ist Jule dann etwas anderes eingefallen, was sie dekorieren kann, nämlich unser Zimmer. »Es muss einfach subtil gemütlich sein«, hat sie gemeint und die Doppelstockbetten, den Tisch und die zwei Stühle begutachtet. Dazu hat sie ihre Theorie verkündet: Die Jungs bleiben länger, wenn wir es schön machen. Und je länger sie bleiben, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich einer von ihnen in uns verliebt.*

Jedenfalls hat Jule die Bettpfosten mit Halstüchern umwickelt. Sieht behämmert aus. Aber ich sag lieber nichts mehr, weil ihr dann vielleicht wieder einfällt, dass sie mich doch auch noch dekorieren will.

Dann hatte sie offenbar eine Art Erleuchtung und wollte auch noch das Licht ändern, weil (wieder so eine Jule-Theorie) mit gedimmtem Licht alles hübscher wird, besonders wir.**

Jetzt steht sie auf dem Tisch, um an der Deckenlampe rumzufummeln. Es ist ein vierflammiger Drehstrahler. »Ich schraube einfach zwei Glühbirnen raus«, sagt sie tatendurstig. »Die Formel ist ganz einfach: Halb so hell gleich doppelt so schön. Mattiert den Teint besser als jeder Puder.«

Da musste ich aber doch mal eingreifen und was sagen, weil das in der Lampe nämlich fest verbaute LEDs waren, die man nicht einfach rausschrauben kann***, weswegen sie es besser lassen sollte. Aber Jule wollte nichts davon wissen und meinte, besonders mir würde es guttun, wenn das Licht schummerig wäre, wo ich jede kosmetische Verbesserung meines Aussehens ablehne. Shirin fand das auch und hat Jule von unten angefeuert, die Strahler Richtung Decke zu biegen.

»Gute Idee«, hat Jule noch gerufen. Und: »Indirektes Licht ist … huch.«

* Nein, ich kommentiere das nicht. Halte mich voll an Gebot Nummer 4: Ich halte mich mit Kommentaren zurück, auch wenn meine Mitschüler es voll drauf anlegen!!

** Ich sag nichts dazu. Keinen Mucks mache ich!

*** Und das ist keine Theorie, sondern ein Fakt. Papa arbeitet in einem Lampengeschäft.

Mittwoch, 13. Januar, 19.46 Uhr

Zum Glück bin ich staatlich geprüfte Reparaturexpertin und dank jahrelanger Missgeschicke geschult im Umgang mit Superkleber und Klebeband. Und gerade hatte ich einen Notfalleinsatz!

»Das ist ja wohl voll das Billoteil«, hat Jule gemault, während sie vom Tisch runtergestiegen ist, auf den nach dem Knacks ein greller Lichtkegel gefallen ist. Sah so richtig nach Verhörstyle aus. Einer der Strahler baumelte nur noch an seinem Kabel von der Decke wie der gebrochene Flügel eines Vogels.

Ich sofort gedacht: Mein Einsatz! Lassen Sie mich durch, ich bin Kaputtprofi!

Aus meinem Rucksack hab ich mein Notfallset herausgekramt (Panzertape, durchsichtiges Klebeband, Superkleber, Schmutzradierer, Tipp-Ex – alles in meinem alten Hello-Kitty-Schlampermäppchen) und mich an die Arbeit gemacht: zuerst den gebrochenen Lampenhalter mit dem durchsichtigen Klebeband umwickelt. Das würde keinem auffallen, wenn man nicht genau hinguckte. Trotzdem haben wir gerade beschlossen, wir lassen das Deckenlicht sicherheitshalber aus.

Leider empfindet aber Jule, Chief Commander of Schönheitsatmosphäre, unsere vier funzeligen Leselampen über den Betten als zu düster. Sie hat das so ausgedrückt: »Da haben wir null Glow, das geht überhaupt nicht!«* Und deswegen überlegen die drei gerade, wie wir das hinkriegen.

Oh, hab eine Nachricht bekommen. Von Sara! Sie will im Aufenthaltsraum mit mir sprechen. Jetzt! Das kann nichts Gutes bedeuten! Fee kommt mit. Shirin und Jule besorgen derweil Schüsseln für das Knabberzeug. (In den Chipstüten rumkramen ist nicht nur unhygienisch, wie Jule meinte, sondern macht auch gar nichts her, dekorationstechnisch. Dagegen habe ich ausnahmsweise mal keine Einwände!) Um acht kommen die Jungs – jetzt also schnell!

* Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte, mit dem NICHTKOMMENTIEREN von seltsamen Theorien.

Mittwoch, 13. Januar, 20.01 Uhr

Das Treffen mit den BBQs war seltsam. Sara saß so ganz entspannt auf dem Sofa im Aufenthaltsraum, Kim neben ihr.

»Was gibt’s?«, hab ich sie gefragt und mich auf alles gefasst gemacht.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir nicht mehr böse bin«, hat Sara gesagt und mich voll gnädig angelächelt.

»Ich dir auch nicht«, hab ich erwidert und da hat ihr Mund ein bisschen gezuckt, als ob ihr meine Antwort nicht passt. Aber dann hat sie mir die Faust zum Check hingehalten und mir »Peace« angeboten. Da hab ich natürlich mitgemacht. Ich meine, ich hab null Interesse an Zoff. Auch nicht mit diesen Tussis!

»Dann einen schönen Abend noch. Und viel Spaß mit den Jungs«, hat Sara uns hinterhergeflötet und Kim hat dazu freundlich gelächelt.

Fee und ich haben einen leicht verwirrten Blick ausgetauscht und sind dann schnell wieder zu uns ins Zimmer. Irgendwas an der Sache kommt mir seltsam vor. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.

Immerhin hat Fee auf dem Weg zurück eine gute Idee gehabt, um unser Beleuchtungsproblem zu lösen. Im Vorraum vom Aufenthaltsraum stand eine unbenutzte Stehlampe. Wir haben schnell gecheckt, ob sie funktioniert – und sie mitgenommen. Jule ist begeistert – zumindest nachdem sie ein orangefarbenes Tuch darübergeworfen hatte, weil das Licht sonst »einen Tick zu kalt und unvorteilhaft« ist. Oh, ich höre die Jungs! Sie sind im Anmarsch!!!

Mittwoch, 13. Januar, 21.05 Uhr

Katastrophenlogbuch von Ella Schrader

SOS!


Der Eisberg hat uns getroffen. Das Schiff liegt schief. Eisige Fluten des Ozeans, macht euch bereit, uns zu verschlingen! (Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt!)

Der doofe Potthoff findet, wir hätten noch Glück gehabt. Damit meint er aber nur, dass morgen ja sowieso die ganze Klasse nach Hause fährt.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

Erst war unser größtes Problem, lässige Posen zu finden, in denen wir die Jungs begrüßen würden. (Mein persönliches Problem war es eigentlich nicht. Aber wenn drei aufgescheuchte Hühner um dich herum im Sekundentakt die Beinstellungen und Sitzpositionen wechseln und ihre Haare werfen, dann wird es ganz schnell dein Problem!)

Jule, Shirin und Fee haben dabei laut überlegt, wie sie mit den Jungs reden würden (»interessant und lustig!« – Fee) und wie sie ihnen dazu tief in die Augen schauen würden (»verführerisch und tiefgründig!« – Jule). Und dass wir später vielleicht eine Kissenschlacht machen (Shirins Vorschlag), weil spätestens dann der Bann gebrochen wäre und der Zauber des Verliebens um sich greifen würde. (Oder so ähnlich, hab nicht richtig hingehört.)

Jedenfalls: Fee hat auf ihrem Bett gesessen und sich für gestreckte überschlagene Beine entschieden, was sie vorteilhaft lang erscheinen ließ, wie sie meinte. Sie hat natürlich darauf gehofft, dass Paul sich neben sie setzen würde, was im unteren Etagenbett besonders gut käme (»weil es hier so höhlenartig kuschelig ist« – Fee). Sowieso wussten meine Freundinnen irgendwie schon genauestens Bescheid, was alles an diesem super geplanten Abend passieren würde.

Nur damit, dass alles nach einer Viertelstunde vorbei sein würde, damit hat niemand gerechnet. Hier der genaue Ablauf der 15-Minuten-Party am 13. Januar im Zimmer 403 in der Jugendherberge Berlin-Ostkreuz, die als kürzeste Party aller Zeiten in die Geschichte der Partys eingehen wird.

20.07

Die Jungs kommen. Da meine Freundinnen in ihren lässigen Posen verkrampft sind, mache ich auf. Tarik, Luke, Roman und Paul stürmen rein. Severin fehlt.

Luke schnappt sich mein Kuschelmonster vom Bett und macht damit Frau Hinterkausen nach. »Oh, Paul«, ruft Luke mit hoher Stimme und wackelt mit dem Kuschelmonster. »Ich friere ja so, wenn ich dich in deinem dünnen T-Shirt sehe. Soll ich dich ein bisschen wärmen?«

»Geh weg, Alter!«, ruft Paul lachend, reißt Fees Kissen unter ihrem Arm weg und wirft es nach Luke. Luke fängt es mit links auf und macht die Windmühle (wirbelt das Kissen am ausgestreckten Arm herum, ähnlich wie beim Schleudersockenweitwurf). Die frisch getapte Deckenlampe kriegt was ab. Luke lässt das Kissen mitten im Schleudern los, verfehlt Paul um ein paar Meter und trifft Fee, die gerade ihre Überkreuzte-Beine-Position überprüft, voll im Gesicht.

20.08

Die Deckenlampe hält. Fee lacht auf, nachdem sie sich vom Schrecken erholt hat. Die Kissenschlacht geht los! Sie beugt sich vor und will das Kissen auf Paul werfen, holt seitlich Schwung und bemerkt beim Loslassen den riesigen Makeup-Fleck auf dem Bezug. Sie will das Kissen noch festhalten, aber es rutscht ihr aus der Hand und plumpst auf den Boden, mit der braun verschmierten Seite nach oben. (Zu Risiken und Nebenwirkungen von Gesichtscontouring fragen Sie Ihre beste Freundin.)

20.09

Kurze Schrecksekunde. Fee starrt auf das besudelte Kissen, als ob sie sich in Luft auflösen wollte. Tarik johlt: »Habt ihr etwa kein Klopapier, dass ihr die Kissen benutzen müsst?«

Die Jungs grölen. Fees Gesicht ist wie versteinert. Ich denke: Die Rache ist mein! Ich schnappe mir das Kissen und donnere es Richtung Tarik, der sich duckt. Das Kissen fegt eine Plastikschüssel Knabberbällchen (Speckgeschmack) vom Tisch, die wie Murmeln über den Boden kullern.

20.10

Knabberbällchenschlacht. Fee verschwindet im Bad.

20.13

Es klopft an der Tür. Potthoff kommt rein. Alle erstarren. Auch Luke, der bei Roman im Schwitzkasten hängt. Potthoff lässt sich nicht mal durch Shirins (sonst bei Lehrern megaerfolgreichen) Dackelblick abwimmeln.

20.14

Potthoff knipst die Deckenlampe an. Der kaputte Strahler hat einen Knick. Gleich wird Potthoff die Klebebandreparatur bemerken. Er muss sie sehen! Sie ist so auffällig wie ein Leuchtturm bei Nacht!

20.15

Tarik und Roman verdrücken sich. Jule und Shirin fegen die Knabberbällchen auf. Potthoff geht zu meinem Bett. Was will er denn da? Auf einmal zieht er eine halb volle Flasche Wein hinter meinem Kissen hervor.

»Die gehört mir nicht«, rufe ich verblüfft. (Spitzenreiter der All-time-favourite-Ausreden, direkt hinter Das war ich nicht!.)

Aber Potthoff sieht den Beweis durch den Fundort erbracht. »Ihr Bett, Ihre Verantwortung«, erwidert er, als wäre es das internationale Gesetz der Jugendherberge. »Ella, das hätte ich nun wahrlich nicht von Ihnen erwartet.«

»Ich auch nicht«, sage ich und dann schreit Shirin auf, weil das Tuch über der Lampe anfängt zu qualmen. Offensichtlich ist darin keine LED, sondern eine altmodische Glühbirne, die sehr heiß wird. Ich reiße das Tuch runter und schlage die Glut mit Fees verschmiertem Kissen k. o.

20.18

Auch Luke und Paul verziehen sich. »Geile Party«, murmelt Luke beim Rausgehen.

20.19

Der Potthoff will einen Strafzettel schreiben oder so. Jedenfalls will er sich was in sein schwarzes Notizbuch notieren, hat aber keinen Stift. Ich versuche, Punkte gutzumachen, und greife in meine Parkatasche. Da ist immer ein Kuli drin. Ich reiche ihn ihm. Es ist der blutige Finger, den ich anscheinend doch mitgenommen hab.

20.21

Potthoff ist weg. Mein Stift auch. Seinen entgeisterten Blick, als er den Fingerkuli gesehen hat, werde ich nie vergessen. Er hat ihn sofort einkassiert und ich kann nie wieder in Glitzertürkis in mein Tagebuch schreiben!!

20.22

Fee kommt aus dem Bad und sieht wieder aus wie Fee. Die Klebebandkonstruktion der Deckenlampe gibt nach, der Strahler knickt weg. »Kriegsrat!«, ruft Jule.

Mittwoch, 13. Januar, 21.08 Uhr

Eben bei der Partynachbesprechung habe ich gesagt, dass das jetzt vielleicht nicht ganz so gut gelaufen wäre, es aber hätte schlimmer kommen können. Als ich das gesagt hatte, haben mich meine drei Freundinnen angestarrt, als würde ich auf einmal Chinesisch sprechen. (Sind halt Katastrophenanfänger.)

»Du hast dem Potthoff einen blutigen Finger in die Hand gedrückt«, hat Shirin mich erinnert.

»Aber er war doch nicht echt!«

»Und du wurdest mit Wein erwischt!«, warf Jule ein.

»Der war nicht von mir.«

»Und es hat gebrannt!« Shirin hat auf die Stehlampe gedeutet.

»Ein bisschen gequalmt.«

»Und die Lampe ist kaputt.« Jule hat nach oben geschielt.

»Hat keiner gemerkt.«

»Noch nicht«, hat Shirin da losgejammert.

»Und die Jungs sind einfach abgehauen«, hat Jule geschmollt.

»Aber sie fanden, es war eine gute Party. Und das Beste ist«, meinte ich und hab mir eine Handvoll Zwiebelringe geschnappt, »es ist noch jede Menge Knabberzeug übrig.«

»Das stimmt«, hat Shirin gesagt und griff auch zu. »Wir haben noch Knabberzeug.« Kauend zeigte sie auf eine der anderen Schüsseln. »Gib mir mal die Chips.«

»Ihr habt alle leicht reden!!«, hat Fee da auf einmal geschrien. »Ihr habt ja auch keinen Make-up-Fleck auf das Kissen geschmiert, der an benutztes Klopapier erinnert! Und dann auch noch vor Paul.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ich kann nie wieder dieses Zimmer verlassen!«

Da haben wir natürlich betroffen geguckt. Fee tut uns allen total leid! Ich hab ihr über den Arm gestreichelt und auch Jule hat versucht, sie zu trösten.

»Wir fahren ja morgen nach Hause.«

Fee fing an zu heulen. »Ich kann doch nicht im Bus zurückfahren! Ich fahre mit der Bahn alleine nach Hause. Ich will keinen mehr sehen, nie wieder!« Eine Weile ist außer ihrem Schluchzen und dem Knuspern der Chips nichts zu hören gewesen.

Ich hab fieberhaft überlegt, womit ich sie aufheitern könnte. Das beste Heilmittel gegen Peinlichkeitsschmerzen ist bekanntlich eine andere peinliche Story. Das wirkt wie ein Gegengift. Gestatten, Dr. Ella Schrader, führende Expertin der Blamagenmedizin.* Aber Fee würde ich schon aufheitern, hab ich gedacht, und so hab ich ihnen erzählt, wie ich mit rutschender Unterhose durch Berlin gelaufen war und mir einen Lendenschurz gebastelt und kurz Panik bekommen hatte, dass mich dabei die ganze Klasse beobachtet hatte.

»Siehst du, Fee«, hat Shirin gesagt und musste dabei immer wieder kichern. »Jedem passiert mal was Peinliches!«

»Aber Ellas Unterhosenstory hat ja keiner mitbekommen«, hat Fee widersprochen und gemeint, dass das deswegen nicht gilt.

* Nur schade, dass man sich diese Medizin nicht selbst verabreichen kann, sonst könnte ich mich mit meinen eigenen peinlichen Storys immer selbst kurieren.

Für mein Leben seh ich kunterbunt (wenn ich nur erst den Durchblick hab)

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