Читать книгу Julies Leben - Emmanuel Carrère - Страница 5
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ОглавлениеDarcy Padilla ist eine brünette, schöne, willensstarke Frau, und als ich bei unserem ersten Treffen aus dieser selbstgewissen Schönheit und der Leichtigkeit, mit der sie ihren Platz in der Welt einnimmt, voreilig schloss, sie käme aus einem wohlhabenden Milieu, musste sie laut lachen. »Was würdest du sagen?«, fragte sie ihren Freund Andy. »Proletin oder Kleinbürgerin? Working class or lower middle class?« »Let’s say lower lower middle class.« Wenn Klein-, dann Kleinstbürgerin. Ihr Vater hat mexikanische Wurzeln und war Sozialarbeiter, ihre Mutter verteilte in einem Krankenhaus das Essen. In den kleinen Ortschaften im Hinterland von Kalifornien, in denen Darcy und ihr Bruder aufwuchsen, waren die beiden immer die Latinos, die kleinen chicanos – und außerdem die Klassenbesten. Katholische Schule, Leistungskult, feste Prinzipien: Als Darcy mit zehn Jahren Klassensprecherin werden wollte, mokierte sich ihr Vater über ihre Parole »Wählt Darcy Padilla«. »Du kannst was Besseres werden, meine Kleine, aber wenn du schon bei der Politik gelandet bist, sag ich dir eins: Es gibt zwei Arten von Politikern. Die, die Versprechungen machen und sie nicht halten, und die, die sich Versprechen verkneifen, wenn sie sich nicht sicher sind, sie auch halten zu können. Such dir aus, zu welchem Lager du gehörst.« Als Steven ihr das Versprechen abringen wollte, ihm beim Sterben die Hand zu halten, erinnerte sie sich daran. Ihre große Tat als Klassensprecherin, denn natürlich wurde sie gewählt, war dann die Herausgabe eines Jahrbuchs, für das sie die Fotos schoss. Und von dem Tag an, da sie eine kleine Kompaktkamera in den Händen hielt, wusste sie, was sie in ihrem Leben machen wollte – und blieb dabei. Ich überspringe ihre – hervorragenden – Leistungen im Studium und ihre kleinen Jobs und Praktika und erwähne nur, dass sie mit zwanzig eines bei der New York Times absolvierte und daraufhin das Angebot bekam, übernommen zu werden. Sie lehnte trotz der Versuchung von Sicherheit ab, denn ein Vollzeitjob hätte ihr nicht mehr erlaubt, das zu machen, was sie machen wollte und wie sie es wollte. Die erste Reportage, die sie dann verkaufte, drehte sich um eine Obdachlose, die in Pappkartons am Rand eines Busbahnhofs lebte. Danach fotografierte sie Straßenkinder in Guatemala, eine Zufluchtsstätte für wohnungslose Frauen, dann Aidskranke im Gefängnis. Ihr Thema ist die Armut: Wenn man sie losschicken würde, um über den Geburtstag eines russischen Oligarchen in Courchevel zu berichten, brächte sie es wohl fertig, mit Fotos von zahnlosen Menschen zurückzukommen, die auf der Straße torkelnd allein vor sich hin reden oder hinter den Skiliften Klebstoff schnüffeln. Auf und an ihrer Seite glaubt sie sein zu müssen, doch sie zieht auch klare Grenzen. Aus ihrer Kindheit kennt sie Armut aus nächster Nähe, denn Mister Padilla, wie man ihren Vater respektvoll nannte, betreute an ihren verschiedenen Wohnorten sämtliche jugendlichen Junkies und Delinquenten, und sie hat keinerlei Drang, sich selbst in Gefahr zu bringen. Darcy ist keine Nan Goldin: Niemand in ihrem Freundeskreis ist an Aids gestorben, sie hat noch nie in ihrem Leben einen Joint geraucht, sie ist optimistisch, sportlich und achtet darauf, was sie isst, und ich glaube, nur weil sie so straight durch ihr eigenes Leben geht, kann sie sich kaputten Schicksalen wie dem von Julie so angemessen annehmen. Sie geht auf die Leute zu, fragt sich stets, was es hieße, in ihrer Haut zu stecken, und bleibt doch in ihrer eigenen. Wie mein Freund, der Richter Étienne Rigal, sagen würde – und das ist für ihn das größte Kompliment, das man einem Menschen machen kann –, sie weiß, wo sie steht.