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Die Anreise

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Elli und Monika


Elli steht am Rande der Schotterpiste, wo sie soeben ihr Auto geparkt hat, um die Aussicht zu genießen. Sie schaut weit über die Berge und das Tal, das sich zu ihren Füßen erstreckt. Dunkelgrüne, dicht bewaldete Hänge, nur ab und zu von einer hellgrünen Wiese oder sonnengelb blühenden Ginstersträuchern durchbrochen, reihen sich bis zum Horizont aneinander. Unberührt, fast märchenhaft liegt die Landschaft vor ihr, nur hier und da erahnt sie ein ziegelrotes Dach oder eine aus grauem Naturstein erbaute Mauer. Dazu dringt von Ferne ganz zart das Läuten von Kuh- oder Ziegenglocken an ihr Ohr.

Es ist ein zauberhaftes Bild, das sich Elli präsentiert, und der Anblick lässt sie vor Wonne erschauern. Doch was ihr Herz vor Glück fast zerspringen lässt, ist das, was sie genau gegenüber, auf der anderen Seite des Tals, erblickt. Dort ragt ein Plateau wie eine mächtige Hakennase aus dem Berg und dehnt sich mit nur leichtem Gefälle bis weit in den Süden aus. Oben auf dem Plateau steht, umrahmt von hohen Bäumen, eine Ansammlung von Häusern, deren graue und sandfarbene Fassaden warm vom Licht der spätnachmittäglichen Sonne angestrahlt werden. Dahinter fällt der Hang plötzlich steil ab und versinkt in dem undurchdringlichen Dickicht von Sträuchern, Gräsern und genügsamen kleinen Bäumen, die sich einen festen Halt auf dem unwegsamen Gelände erobert haben. Was für ein herrlicher Ort!

Elli erinnert sich noch gut an jenen Moment vor drei Jahren, als sich ihr dieser Anblick zum ersten Mal bot. Schon damals war sie zutiefst entzückt gewesen, nach der endlosen Fahrt über Serpentinen, an pittoresken, kleinen Dörfern und verlassenen, halb verfallenen Höfen vorbei, dieses Gut und damit das Ziel ihrer Reise in seiner ganzen einladenden Pracht vor sich zu sehen. Und heute ist es noch viel mehr als das! Heute ist es fast wie nach Hause zu kommen, obwohl sie vor drei Jahren nur eine einzige Woche hier verbracht hat. Aber jener kurze Urlaub gehört zu den intensivsten Erlebnissen ihres Lebens und hat sie verändert. Seit damals ist dieser Ort in Italien zu einem Sehnsuchtsort für sie geworden, an den sie sich oft zurückträumt, wenn die „wirkliche“ Welt, der graue Arbeitsalltag, allzu öde, frustrierend und nichtssagend erscheint.

Doch jetzt träumt sie nicht. In diesem Moment ist es Wirklichkeit: Sie ist wieder da!

Damals, als Elli zum ersten Mal hier am Rande der Schotterpiste stand und auf das Anwesen sah, wo sie ihren Urlaub verbringen würde, ahnte sie nicht, was sie erwartete. Sie erinnert sich, wie froh sie damals war, dem tristen Büroalltag zu entkommen. Sie weiß noch, wie sie auf der Fahrt nach Italien darüber nachdachte, dass sie kaum etwas in ihrer Heimatstadt hielt, wo sie jeden Tag von ihrer kleinen Wohnung in das Unternehmen fuhr, in dem sie arbeitete. Dabei erinnert sie sich sogar daran, wie sie damals davon träumte, dass ihr im Urlaub ein charmanter, am besten mit umfangreichen Gütern ausgestatteter Italiener begegnen möge, der sich unsterblich in sie verliebte!

Sie muss über sich selbst schmunzeln. Ja, damals konnte sie ihrem Leben nicht viel abgewinnen; deshalb träumte sie von einem Wunder, das sie aus der Einöde, in der sie sich gefangen sah, befreien würde.

Und wie ist es heute?

Elli seufzt. „Wenn ich ehrlich bin: nicht viel besser“, schießt es ihr durch den Kopf.

Doch schon im nächsten Moment will sie das so nicht stehen lassen. Natürlich hat sich etwas geändert! Es wäre ja furchtbar, wenn nicht! Schließlich sind seitdem drei Jahre vergangen und zumindest sie hat sich doch verändert! Sie ist selbstbewusster geworden und versteht viel besser als früher sich durchzusetzen und auf sich aufzupassen, damit sie nicht zu kurz kommt. Dieser persönliche Wandel hat ihr auch beruflich weitergeholfen und aus der Sachbearbeiterin eine Fachreferentin gemacht! Eine, die nun sogar in der beneidenswerten Situation steckt, sich zwischen zwei beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten entscheiden zu können. Das hätte sie damals nicht für möglich gehalten!

An diesen Chancen, die sich ihr heute bieten, ist sie auch nicht ganz unschuldig. Weil Elli befürchtete, in dem Unternehmen, in dem sie arbeitet, bis ans Ende ihrer Tage beruflich auf der Stelle zu treten, hatte sie sich in den letzten Monaten mehrfach bei anderen Firmen beworben. Bei einer hatte sie Glück und wurde zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, das sehr gut verlief. Sie verstand sich ausgezeichnet mit ihrem potenziellen Chef und der anwesenden Personalsachbearbeiterin. Auch beim fachlichen Teil des Gesprächs hatte sie den Eindruck, als würden ihre Qualifikationen und das, was die Stelle fordert, wunderbar zusammenpassen.

Wie es der Zufall so will, wurde ihr kurze Zeit nach dem Gespräch völlig überraschend eine Teamleiterstelle bei ihrem aktuellen Arbeitgeber angeboten. Und jetzt hat sie gestern auch noch die Zusage für den Job, auf den sie sich extern bewarb, erhalten! So gut lief es in der Vergangenheit selten für Elli und sie weiß, dass sie allen Grund hat zu jubeln! Jahrelang ging es in ihrem Leben bestenfalls schleppend voran und nun kann sie sich zwischen zwei attraktiven Jobalternativen entscheiden!

Doch genau diese Entscheidung fällt ihr überhaupt nicht leicht. Deshalb kam ihr der Urlaub gerade recht, der ihr eine einwöchige Bedenkzeit verschafft, ohne dass sie irgendwem ihre Gründe dafür erläutern muss. Nach dem Urlaub allerdings wird sie Farbe bekennen müssen und seltsamerweise tut sie sich damit viel schwerer, als sie es für möglich gehalten hätte. Natürlich ist so ein beruflicher Wechsel, und noch dazu einer, der sie möglicherweise in eine ihr unbekannte Firma führt, immer ein Risiko. Schließlich kann man nie wissen, was einen erwartet und ob man dem wirklich gewachsen ist! Doch viel irritierender ist die Tatsache, dass sich keine der beiden Optionen für sie so richtig gut anfühlt! Bislang hat sie geglaubt, sie würde in Begeisterungsstürme ausbrechen, sich vielleicht eine Kiste Champagner gönnen und mit ihren Freundinnen ein spontanes Fest feiern, wenn sie solche Chancen für einen beruflichen Aufstieg bekäme. Sie hatte geglaubt, dass sie vor Stolz platzen und alleine schon die lang vermisste Anerkennung ihrer Kompetenzen sie vor Glück fast zerspringen lassen würde. Doch nun muss sie sich beinahe zwingen, sich über ihren Erfolg zu freuen und in den gebotenen Perspektiven eine erstrebenswerte Zukunft zu sehen. Das kann Elli nicht verstehen! Was ist nur los mit ihr?

Sie schüttelt den Kopf, um die bedrückenden Gedanken zu vertreiben. Sie will jetzt nicht darüber nachgrübeln. Später vielleicht!

Außerdem gibt es ja auch noch ganz andere Dinge, die sich seit ihrem letzten Besuch hier in Italien getan haben, und die erfordern nun ihre ganze Konzentration!

Elli muss erneut schmunzeln. Sofort tritt ein sehr viel vergnügterer Ausdruck in ihr Gesicht. Sie erinnert sich daran, wie sie damals, bei ihrer Anreise, nicht nur verwegene Träume von charmanten Italienern hegte, sondern auch mit der sehr viel wahrscheinlicheren Aussicht liebäugelte, es könnten sich vielleicht ansprechende männliche Singles unter den Teilnehmern des Musikkurses befinden.

Aus dem Schmunzeln wird ein breites Grinsen.

Zugegeben: Der reich begüterte Italiener lief ihr damals nicht über den Weg, aber interessante Männer gab es. Genauer gesagt gab es eigentlich nur einen, und der hieß Josh.

Josh!

Sie beißt sich auf die Lippen, um ihr Grinsen wieder einzufangen. Josh, der große, schlanke Neuseeländer mit den blonden, immer etwas zerzausten Haaren und den strahlend smaragdgrünen Augen! Ihn fand sie rasend interessant und hat sich Hals über Kopf verliebt. Allerdings hatte sie damals angenommen, dass ihr Interesse einseitig wäre, da Josh viel mehr an der selbstsicheren und bildschönen Carola interessiert zu sein schien. Doch als sie sich am Ende der Woche bei der Abreise voneinander verabschiedeten, hatte Josh sie, Elli, geküsst – ein Umstand, den sie erst nach ein paar Tagen einigermaßen verkraftet hatte, wenigstens soweit, dass sie das Dauergrinsen, was sich nun schon wieder in ihrem Gesicht breitzumachen droht, einigermaßen in den Griff bekam.

Josh hatte im Anschluss an den Urlaub in Italien noch weitere Stätten in Europa besucht. Für eine einzige Woche in den italienischen Bergen hätte sich der Flug vom anderen Ende der Welt kaum gelohnt. Unter anderem war er auch nach Deutschland gereist, um seine Mutter zu besuchen, und bei der Gelegenheit hatten die beiden sich noch einmal gesehen.

Schon wieder setzt sich das Schmunzeln auf Ellis Gesicht durch, wenn sie daran zurückdenkt. Es war eine großartige Zeit gewesen! Josh und sie hatten kostbare Tage zusammen verbracht. Doch irgendwann musste er zurück nach Neuseeland. Obwohl Elli sehr verliebt und auch Josh augenscheinlich nicht ganz unempfänglich für ihre Reize war, kam eine Beziehung über diese Distanz hinweg natürlich nicht infrage! Das war auch nie ein Thema zwischen ihnen beiden gewesen. Elli hatte sehr wohl gespürt, dass Josh seine Unabhängigkeit schätzte. Daran hatte er keinen Zweifel gelassen und sie hatte das akzeptiert.

Umso mehr hat sie sich darüber gewundert, als er ihr vor drei Monaten schrieb, dass er wieder an diesem Ort in Italien sein würde, und zwar zur gleichen Zeit wie sie!

Elli hatte kurz zuvor in ihrem, aus ihrer Sicht leider nur sehr unregelmäßigen, E-Mail-Verkehr erwähnt, dass sie plante, sich gemeinsam mit Julie und Monika, die sie auch vor drei Jahren in Italien kennengelernt hatte, auf dem italienischen Gut zu treffen. Als Josh antwortete, dass er daraufhin ebenfalls den Kurs gebucht hatte, blieb Elli fast das Herz stehen! Josh würde nach Europa kommen? Nach Italien? Dorthin, wo sie auch sein würde?

Auch jetzt spürt Elli, wie ihr Herz schneller schlägt, als sie an den großen, blonden Mann denkt. In diesem Moment würde sie am liebsten sofort wieder ins Auto springen und die restliche Strecke über die Schotterpiste hinweg zum Gut jagen, um ihn endlich wiederzusehen, in seine unglaublich grünen Augen zu schauen und … ja was? Was würde sie tun?

Am allerliebsten würde sie über ihn herfallen und ihn überhaupt nicht mehr loslassen! Ihre Gefühle für Josh haben sich in der ganzen Zeit nicht geändert. Sie ist verliebt wie damals und sie weiß ganz genau, was sie will, nämlich ihn!

Bei diesem Gedanken spürt sie, wie ihr das Blut in den Kopf steigt und sie auf ihren Wangen, würde sie sich jetzt im Spiegel sehen können, bestimmt einen verräterischen Rosaton entdecken würde!

Zwar hatte Josh vor drei Jahren keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass eine Beziehung für ihn nicht infrage kam, und auch ihrer beider Austausch per E-Mail hatte nicht wirklich Anlass zur Hoffnung gegeben, dass sich das über die Zeit und die Entfernung hinweg plötzlich geändert haben könnte. Doch warum reist ein Mann dann die weite Strecke nach Europa, und zwar genau an den Ort in Italien, von dem er weiß, dass sie dort sein wird? Was hat ihn dazu veranlasst, diese Reise zu buchen? Das macht man doch nicht einfach so! Er muss doch einen guten Grund dafür haben! Oder hat er einfach nur genauso viel Sehnsucht wie sie nach diesem wunderschönen Anwesen, das dem Paradies, so wie Elli es sich vorstellt, so sehr gleicht?

Sie weiß es nicht und Josh ist auch kein Mensch, den man einfach so durchschaut. Wenn sie ehrlich ist, dann hat sie auch nach ihrer dreijährigen Bekanntschaft immer noch keine Ahnung, was in ihm vorgeht! Trotz seiner augenscheinlichen Sympathie für Elli, trotz der E-Mails, die sie sich in unregelmäßigen Abständen schreiben, trotz seinem Interesse an ihrem Leben, das er darin bekundet, weiß sie immer noch nichts darüber, was ihn tief in seinem Inneren bewegt und was er fühlt. Schon gar nicht für sie!

Elli hat nicht die geringste Ahnung, wie ihre erste Begegnung nach so langer Zeit ablaufen wird, und das macht ihr Angst. Hoffentlich vermasselt sie es nicht! Erneut schärft sie sich ein – wie schon in den letzten Tagen und Wochen, wenn sie das Problem des ersten Zusammentreffens zwischen Josh und ihr bewegte – dass vor allem eines nicht schaden kann: erst einmal Zurückhaltung zu zeigen und abzuwarten, was er tun wird. Sie hat sich fest vorgenommen, ihm auf gar keinen Fall hinterherzulaufen! Und deshalb wird sie jetzt auch versuchen, ihre Gefühle zu zügeln. Schaden kann es nicht! Solange sie nicht weiß, wie er zu ihr steht, ist es besser, sich nicht zu sehr auf ihn einzulassen, sonst ist der Schmerz der Enttäuschung am Ende umso größer!

Sie seufzt. Abzuwarten und sich vielleicht auch ein bisschen unnahbar zu geben, wird ihr schwer fallen. Sie ist nun mal ein Mensch, der seine Gefühle zeigt. Aber in diesem Fall ist Zurückhaltung selbstverständlich unerlässlich!

Elli streicht sich die langen dunkelbraunen Haare zurück, die ihr der laue Wind ins Gesicht weht. Dabei fällt ihr auf, dass ihre Haare vor drei Jahren noch kurz waren. Damals trug sie einen Pagenschnitt. Josh kennt sie also noch gar nicht mit langen Haaren. Ob es ihm auffallen wird? Ob er es mögen wird?

Sie muss über sich selbst den Kopf schütteln. Wenn sie schon so anfängt, dann kann es sehr, sehr schwer werden mit ihrer selbst auferlegten Zurückhaltung!

„Woran denkst du?“, fragt eine Stimme hinter ihr und reißt sie aus ihren Gedanken.

Monika ist von hinten herangetreten und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Elli fühlt sich ertappt.

„Nichts Besonderes“, antwortet sie ausweichend, entschließt sich dann aber doch zu einer näheren Erklärung, um nicht zu abweisend zu wirken. „Ich dachte zurück an damals, als wir das erste Mal hier waren.“

Monika nickt und schaut wie Elli hinüber zum Gut, das einladend in der Sonne liegt.

„Es ist fast so, als wäre man nie weg gewesen“, sagt sie leise und neben der Freude, wieder hier zu sein, schwingt auch ein bisschen Wehmut in ihrer Stimme mit.

Elli dreht sich um und blickt ihrer Freundin ins Gesicht, das auf einmal ganz weich geworden ist. Ein ungewohnter Anblick, denn normalerweise wirken die Züge der Anfang fünfzigjährigen Monika immer etwas streng, sehr diszipliniert und überhaupt nicht verträumt. Man sieht der großen, schlanken Frau mit den dunkelblonden, von einigen grauen Strähnen durchzogenen und zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebundenen Haaren an, dass sie es nicht immer leicht hatte und viel kämpfen musste. Außerdem findet Elli, dass ihr auch ins Gesicht geschrieben steht, wie hart sie gegen sich selbst ist und wie viel sie von sich erwartet.

Allerdings kann sich diese Disziplin auch auszahlen, wie Elli auf der Fahrt hierher erfuhr! Sie hatte Monika heute in aller Frühe vor ihrem schicken Haus in Süddeutschland abgeholt. Freudestrahlend waren sie sich in die Arme gefallen, nachdem sie sich so lange nicht gesehen hatten. Damals, vor drei Jahren, hatten sie sich in Italien kennengelernt und innerhalb dieser einen Woche Freundschaft geschlossen, obwohl ihre Lebenssituationen so völlig unterschiedlich waren. Die schlanke, hübsche, neununddreißigjährige Elli war und ist bis auf eher kürzere Beziehungen als Single unterwegs und verbringt ihr Leben hauptsächlich zwischen ihrer kleinen Wohnung und ihrer Arbeitsstelle. Das Leben der zweiundfünfzigjährigen Monika dagegen umfasste einen Halbtagsjob in der Stadtverwaltung, einen Mann, der ein gut verdienender Bankdirektor ist, zwei fast erwachsene Kinder, ein großes Haus und – wenn sie es nicht umgehen kann – auch noch ihre anspruchsvolle Mutter. Trotzdem haben beide sich auf Anhieb verstanden.

Auf der langen Fahrt von Deutschland bis hierher haben sie viel Zeit gehabt zu erzählen. Es vergingen kaum einmal fünf Minuten, in denen sie nicht aufeinander einredeten und sich über ihr Leben austauschten. Dabei hat Elli erfahren, dass Monika, seitdem sie vor drei Jahren unter Carlos, dem Gesangslehrer des italienischen Gutes, ihre fast schon phobische Abneigung gegen das Singen ablegte, jede freie Minute darauf verwendet, an ihrem Können zu feilen. Da Monika über ein beachtliches, nur bislang aus familiären Gründen völlig ungenutztes Talent verfügt, war es ihr nicht schwer gefallen, große Fortschritte zu machen. Bereits ein halbes Jahr, nachdem sie mit dem Gesangsunterricht begonnen hatte, empfahl ihre Lehrerin ihr einen Pianisten, der auf der Suche nach einer Sängerin war, die er mit seiner Kunst begleiten konnte. Obwohl Monika vor Angst fast starb, wie sie Elli berichtete, hatte sie sich dennoch ein Herz gefasst, ihn angerufen und eine Woche später vorgesungen. Dabei stellte sie fest, dass sie und der Pianist sich nicht nur menschlich sympathisch fanden, sondern auch musikalisch, denn beide lieben den Jazz. Wieder ein halbes Jahr später absolvierten sie bereits erfolgreich ihren ersten gemeinsamen Auftritt in einer Bar, die des Öfteren kleinen Formationen eine Bühne bietet, und kurz darauf hatte Monika es sogar gewagt, ihre Familie über ihr Tun in Kenntnis zu setzen, ihre Mutter natürlich ausgenommen! Dazu erklärte Monika mit einem sarkastischen Lächeln, dass sich ihre Erzeugerin sowieso nur für sich selbst interessiere und mit dieser Information bestenfalls gar nichts anzufangen wissen würde.

Insgeheim beglückwünschte Elli ihre Freundin zu diesem klugen Verzicht, weil sie annahm, dass Monikas Mutter versucht sein könnte, ihre Tochter mit gezielten Seitenhieben davon abzuhalten, in ihre musikalischen Fußstapfen zu treten. Elli hatte nicht vergessen, was Monika damals über die selbstvergessene und verletzende Kraft ihrer Mutter, einer ehemaligen Opernsängerin, erzählt hatte. Doch da ihre Freundin das mittlerweile selbst erkannt hatte, war es für Elli unnötig, es jetzt zu erwähnen.

Da Elli vor drei Jahren sehr viel Anteil an Monikas Geschichte genommen und ihr beigestanden hatte, war sie nun fast ein bisschen stolz auf ihren klitzekleinen Anteil daran, dass ihre Freundin ihre völlig unbegründete Furcht, vor Publikum zu singen, ablegen konnte. Begeistert hörte sie, dass Monikas Mann nun ihr glühendster Fan ist, seit er zum ersten Mal bei einem ihrer Auftritte als Zuhörer zugelassen worden war, nachdem er anfangs Zweifel gehegt hatte, was er von der neuen Leidenschaft seiner Frau halten sollte. Außerdem bewunderte Elli ihre Freundin sehr dafür, dass sie sich weder von ihrer Familie noch von eigenen Zweifeln oder anderen widrigen Umständen davon abhalten ließ, ihren Wunsch zu singen konsequent zu verfolgen. „Von so viel Mut und Biss kann ich mir eine Scheibe abschneiden“, dachte sie bei sich.

Erneut reißt Monikas Stimme Elli aus ihren Gedanken.

„Schau mal, da kommt jemand! So, wie das Auto bepackt ist, machen die vermutlich auch hier Urlaub!“

Als Elli sich umdreht, sieht sie einen weißen französischen Kleinwagen mit Dachgepäckträger in einer Staubwolke herannahen.


+


Matthias und Ulla


Missmutig starrt Ulla aus dem Fenster der Beifahrerseite. Schon seit Stunden fängt Matthias immer wieder an mit seinen begeisterten Schilderungen von dem Gut, das weit abgelegen, fern von jeder Zivilisation, irgendwo in den italienischen Bergen liegt. Schon lange, bevor sie sich heute früh, eigentlich noch mitten in der Nacht, auf den Weg machten, lag er ihr damit in den Ohren. Beinahe ununterbrochen erzählte er in den letzten Tagen von der idyllischen Landschaft, der großartigen Aussicht und dem romantischen Charme der alten Gebäude an diesem Ort, wo es weit und breit nichts anderes gäbe als eben dieses Anwesen, Berge, Wald, Wiesen und ab und zu ein paar Ziegen. Nicht einmal ein Netz sei dort zu bekommen – oder jedenfalls nur sehr, sehr selten.

Anfangs hatte Ulla das alles für maßlos übertrieben gehalten. Sie kennt ja ihren Matthias! Wenn es ihn gepackt hat, dann ist er kaum zu bremsen und schießt gerne mal über das Ziel hinaus. In seinen Schilderungen ist dann alles mindestens doppelt so groß und dreimal so sensationell, als es die Realität hergibt. Doch seit sie die Autobahn hinter sich gelassen haben, wirkt die Gegend tatsächlich immer abgeschiedener, werden die Berge immer höher und die Merkmale der Zivilisation immer seltener. Anfangs konnte man hier und da noch Kurorte und kleinere Städte erahnen, auf die die Schilder an der Schnellstraße hinwiesen. Doch mittlerweile, wo die Berge immer näher rücken, steiler werden und das kleine, vollbepackte Auto sich immer mühseliger die Steigungen hinaufquält, sind es bestenfalls noch winzige Dörfer, die sie auf ihrem Weg zu ihrem Urlaubsort passieren – sehr zum Pläsier ihres Freundes am Steuer und zu ihrem eigenen immer größer werdenden Unbehagen. Sollte es tatsächlich so schlimm kommen, wie Matthias sagte? Wird es wirklich weit und breit kein Café, kein Geschäft, keinen Kiosk, das heißt überhaupt gar kein Leben geben, außer ein paar Glocken tragenden Nutztieren und den Einsiedlern auf dem Gut mit ihren verrückten Gästen?

Entsetzlich! Warum um Himmels willen tut sie sich das an?

Ulla bereut mittlerweile, dass sie mitgekommen ist. Sie war von Anfang an nicht begeistert von der Idee, ihren Urlaub irgendwo weitab vom Schuss in der italienischen Pampa zu verbringen. Doch Matthias war so begeistert und schwärmte in den höchsten Tönen von der Musik, den Menschen und dem fantastischen Essen, dass sie irgendwann nachgab. Wenn er wirklich unbedingt an diesen Ort in Italien wollte, dann konnte es ganz verkehrt nicht sein. Dachte sie.

Im Laufe der Fahrt jedoch bauten sich Zweifel auf, ob sie mit dieser Einschätzung vielleicht falsch lag. Ganz sicher ist sie sich, als Matthias in weiter Ferne eine Ansammlung von alten Steinbauten inmitten von nichts als Wald und ein bisschen Wiese sieht und meint, dass es ganz ähnlich auch auf dem Gut aussähe.

Um Himmels willen! Er meint es ernst! Warum hat sie ihm bloß nicht geglaubt? Jetzt hat sie den Salat!

Die junge Frau fragt sich, wie sie eine ganze Woche in dieser Einöde durchhalten soll – ohne Shopping, ohne auszugehen, ja sogar ohne Fernseher und – wenn Matthias auch damit nicht übertrieben hat – dann auch noch ohne Internet! Keine Zerstreuung weit und breit! Nur Bäume und … Bäume! Und das ohne jeglichen Komfort, nur ausgestattet mit den überlebensnotwendigen Grundlagen wie fließendem Wasser und einem Dach über dem Kopf! Wen interessiert es, ob die Aussicht grandios ist oder die Zimmer aussehen wie aus einem Fotoband über die traditionelle italienische Lebensart auf dem Land? Was soll sie anfangen mit bunten Gemüseaufläufen aus eigener Ernte, mit intensiv duftenden Kräutern, mit knackigen Salaten frisch aus dem Garten oder mit Mozzarella und Parmesan von Höfen der Umgebung? Sie isst nun mal am liebsten Burger und Pommes oder paniertes Schnitzel und natürlich auch Pasta und Pizza. Aber doch nicht so einen Ökokram, der sich kein bisschen lecker, sondern einfach nur furchtbar gesund anhört! Sie will schließlich Urlaub machen und keine Kur! Und schon gar nicht will sie eine ganze Woche in einem Survival-Camp zubringen! Warum hat sie sich nur dazu überreden lassen mitzukommen?

„Da vorne beginnen die Serpentinen! Das wird fantastisch! Juppieeeeh!“

Matthias‘ begeisterten Ausruf quittiert seine Freundin mit einem genervten Augenrollen. Doch das kann er nicht sehen, denn er muss sich auf die Kurven der immer schmaler werdenden Straße, die an steilen, spärlich bewachsenen Felshängen vorbeiführt, konzentrieren.

Wo bringt er sie nur hin? Und warum machen sie keinen vernünftigen Urlaub, so wie ihre Freunde, ihre Bekannten und überhaupt jeder normale Mensch? Sie wäre so gerne nach Mallorca geflogen! Es hätte bestimmt günstige Pauschalangebote gegeben, die vermutlich sogar weniger kosteten, als sich am Hintern der Welt zu gruseln und zu allem Überfluss auch noch einen nervigen Musikkurs mitmachen zu müssen. Dazu hat sie definitiv keine Lust! Sie hat ihrem Freund auch gesagt, dass sie keine Gitarre spielen kann, und er hat ihr versprochen, dass sie das auch nicht muss! Allerdings hat er dann trotzdem zwei Gitarren eingepackt – eine für sie – vielleicht käme sie ja noch auf den Geschmack.

Dabei haben sie in diesem Auto sowieso kaum Platz! Sie hätte statt einer doofen Gitarre lieber noch ein paar Schuhe mehr mitgenommen! Aber Matthias hatte gemeint, etwas anderes als Turnschuhe oder maximal einfache Sandalen bräuchte sie nicht, weil man etwas anderes dort sowieso nicht tragen könne.

Als er das gesagt hatte, hatte sie die Augen verdreht und gedacht, dass er wirklich keine Ahnung von Frauen hatte, schon gar nicht von deren Schuhen und vor allem davon, was sie alles tragen können, wenn sie es wollen! Hätte sie ihn mal ernst genommen! Dann wäre ihr mit Sicherheit spätestens kurz vor Antritt der Reise noch eine Ausrede eingefallen, warum sie unbedingt zu Hause bleiben musste! Lieber gar keinen Urlaub als ein italienisches Dschungelcamp!

Aber eins ist mal klar: Wenn sie das hier überlebt, dann wird sie sich nie, nie, nie wieder breitschlagen lassen, bei seinen spinnerten Urlaubsplänen mitzumachen! Dann fährt sie eben alleine irgendwohin, wo es schön ist, wo Strand ist, wo Menschen sind und wo man auch mal Spaß haben kann!

Ulla seufzt. Sie weiß nur zu gut, dass sie sich so etwas gar nicht leisten kann. Wenn Matthias den Urlaub nicht bezahlen würde, dann müsste sie zu Hause bleiben. Bei diesem Gedanken verfinstert sich ihre Miene noch mehr, wenn das überhaupt möglich ist.

Matthias stupst sie in die Seite und zeigt durch die Frontscheibe auf ein schmales Tal, das sich vor ihnen öffnet und von schwindelerregend steilen Felshängen flankiert wird, die an ihren zerklüfteten Wänden nur ein paar wenigen, sehr genügsamen Nadelhölzern eine Heimat bieten können.

„Ist das nicht großartig?“ Er lacht aufgekratzt. „Hierher verirrt sich bestimmt nur selten ein Sonnenstrahl. Das sieht doch fast aus wie im Märchen, findest du nicht?“

Ulla brummt etwas, doch Matthias erwartet auch gar keine Antwort. Er ist so mit der Aussicht und seiner eigenen Begeisterung beschäftigt, dass er Ullas besorgniserregenden Stimmungsabsturz gar nicht realisiert. Ihr ist das nur recht: Schließlich ist die Sache jetzt auch nicht mehr zu ändern und sie hat gerade überhaupt keine Lust, mit einem völlig überdrehten Matthias darüber diskutieren zu müssen, warum das hier ganz toll sein soll und dass sie nur abwarten möge – sie würde schon sehen. Sie findet, sie hat bereits genug gesehen!

Resigniert blickt sie die Felswände hinauf. Warum kann sie nicht einmal Glück haben? Sie hat es doch nun wirklich nicht leicht in ihrem Leben. Als alleinerziehende Mutter muss sie zusehen, wie sie klarkommt. Es ist schwer genug, von dem wenigen Geld zu leben, das sie als Aushilfe an der Tanke, im Supermarkt oder, wenn sie mal ganz viel Glück hat, als Urlaubsvertretung in der Produktion verdient. Voll arbeiten kann sie sowieso nicht, weil ihr fünfjähriger Sohn sie noch viel zu sehr braucht. Er ist so ein wildes Kind! Eigentlich muss sie den ganzen Tag um ihn herum sein, weil er ständig etwas anstellt, in Wut- und Trotzanfällen herumschreit und Sachen durch die Gegend wirft. Vermutlich hat er das von seinem Vater!

Ullas Gesicht nimmt einen verächtlichen Ausdruck an. Leon! Wieso hatte sie sich damals nur mit ihm eingelassen? Ihre Mutter hatte sie gewarnt. „Pass auf, dass du von dem nicht schwanger wirst“, hatte sie ihr immer wieder gesagt. Und Ulla hatte das mit dem schwanger werden auch gar nicht vorgehabt. Doch dann hatte sie diese Magen- und Darm-Sache gehabt und sich übergeben müssen. Das war vermutlich der Grund gewesen, warum sie trotz Pille ihren Sohn bekommen hatte. Jedenfalls hatte ihr Frauenarzt das vermutet.

Ihre Mutter hatte ihr damals mit einer Abtreibung in den Ohren gelegen. Sie würde sich nur unglücklich machen, hatte sie geschimpft. Der Leon würde bestimmt nicht lange bleiben! Außerdem würde der ja selbst nur von der Hand in den Mund leben. Der könnte doch keine Familie versorgen!

Natürlich hatte sie nicht auf ihre Mutter gehört. Sie wollte einfach nicht hören. Sie wollte, dass es mit Leon klappte, dass er sie heiratete, ihnen eine gemeinsame Wohnung besorgte und sie sich in Ruhe um ihr Kind kümmern konnte!

Zunächst hatte Leon ihr das auch versprochen. Vielleicht nicht richtig versprochen, aber zumindest blieb er bei ihr, eine Zeit lang. Doch als man Ulla ihre Schwangerschaft immer mehr ansah, kam er seltener. Im Krankenhaus besuchte er sie dann nur noch einmal nach der Entbindung, dann war es aus. Er ließ sie einfach hängen und sie zog mit ihrem Kind bei ihrer Mutter ein. Die war überhaupt nicht glücklich mit der Situation und ständig musste Ulla mit ihr streiten, weil sie sich in ihre Angelegenheiten einmischte oder herumnölte, dass sie es ja gleich gesagt hätte und so weiter.

Aber ihre Mutter half ihr auch, Unterhalt von Leon einzuklagen und sich auch um weitere finanzielle Unterstützung zu kümmern, die Ulla als mittelloser, alleinerziehender Mutter zustand. Das hätte sie alleine nicht geschafft! Schließlich musste sie sich ja um das Kind kümmern!

Doch lange hielt Ulla es nicht bei ihrer Mutter aus. Zwar war die Situation insofern komfortabel, als Ulla sich erstens keine eigene Wohnung leisten konnte und zweitens ihre Mutter auf das Kind aufpasste, wenn sie ausgehen wollte. So konnte sie sich mit Freundinnen treffen, aber vor allem auch einen neuen Mann kennenlernen. Schließlich war das ihre einzige Chance, der beengten Wohnsituation bei ihrer Mutter zu entkommen!

Tatsächlich fand Ulla nach ein paar Monaten einen Kerl, bei dem sie einziehen konnte und der sogar Felix, ihren Sohn, leidlich akzeptierte. Aber lange ging das nicht gut. Also suchte sie sich den nächsten Mann, und so ging einer und ein anderer kam. Sie zog mal hierhin und mal dorthin und zwischendurch, wenn kein Partner da war, zurück zu ihrer Mutter. Weil ihr Kind klein war und selbst der mickrige Unterhalt durch den leiblichen Vater nur sehr unregelmäßig kam, wenn überhaupt, ging es nicht anders.

Bis Matthias sie eines Tages in einer Disco ansprach! Mit ihm hat sie endlich mal ein bisschen Glück gehabt! Endlich mal einer, der einen richtigen Job hat und der auch mit Felix zurechtkommt!

Als Ulla ihn kennenlernte, da wusste sie gleich, dass sie sich auf ihn verlassen kann. Obwohl Matthias damals schon vierunddreißig Jahre alt war, wirkte er dennoch wie ein lieber, etwas zu groß geratener Junge mit seinen fast eins neunzig, seinen kurzen blonden Haaren und der schwarzen Kunststoffbrille. Deshalb fasste Ulla von Anfang an Vertrauen zu ihm. Als er dann auch kein bisschen geschockt, ja eher sogar begeistert reagierte, als sie ihm von ihrem Kind erzählte, da war für sie klar: Mit dem zieht sie zusammen! Bei dem wird sie es gut haben – zumindest weitaus besser als bei ihrer ständig keifenden Mutter!

Das ist jetzt fast zwei Jahre her und eigentlich kann Ulla ganz zufrieden mit dem sein, wie sie es getroffen hat. Matthias geht arbeiten und wenn er zu Hause ist, dann spielt er auch gerne mit Felix. Gut … seine Arbeitszeiten sind etwas ungünstig, weil er als Koch fast immer abends arbeiten muss. Das ist natürlich blöd, wenn Ulla mit ihren Freundinnen ausgehen will! Aber dann springt von Zeit zu Zeit immer noch ihre Mutter ein, um Felix zu hüten – wie auch jetzt, wo Matthias und sie nach Italien fahren. Matthias hätte den Kleinen sogar mitgenommen, doch als Ulla erfuhr, dass ganz sicher kein „Kinderparadies“ oder irgendwelche Animateure in Italien auf sie warteten, wo sie den Kleinen abgeben konnte, fand sie es doch besser, ein paar Tage kinderfrei zu haben. Schließlich kümmerte sie sich fast den ganzen Tag um ihn, wenn er nicht vormittags im Kindergarten war oder sie ein paar Stunden irgendwo arbeiten konnte. Da käme sie auch mal gut eine Woche ohne ihn klar, dachte sie. Außerdem wusste sie, dass er es bei der Oma gut hatte. Die verwöhnte ihn mit Süßigkeiten und bei ihr durfte er den ganzen Tag fernsehen oder am Computer spielen, wenn er wollte.

Doch auch, wenn Ulla weiß, dass sie es mit Matthias auf jeden Fall besser getroffen hat als mit all seinen Vorgängern – sie hat sich mehr vom Leben erträumt! Mit seinem Gehalt kann auch Matthias keine großen Sprünge machen und es reicht gerade so für sie beide, denn ihr Verdienst und das bisschen Unterhalt für ihren Sohn Felix sind kaum mehr als ein Taschengeld. Davon allein könnte sie nicht leben! Gerade deshalb kann sie nicht verstehen, warum Matthias nicht ein bisschen ehrgeiziger ist! Er könnte bestimmt mehr verdienen, wenn er sich mehr anstrengte! Und warum muss er eigentlich Koch sein? Das ist zwar toll, wenn er mittags oder auch abends, wenn er zufällig zu Hause ist, etwas Leckeres zaubert – und das kann er wirklich gut! Ulla hat während ihrer Beziehung schon fünf Kilo zugenommen! Aber gerade am Abend könnte sie ihn gut daheim gebrauchen. Dann müsste sie nicht immer auf ihre Mutter zurückgreifen, damit die auf Felix aufpasst, wenn sie mal etwas unternehmen will. Ein ganz normaler Job wäre da für Matthias doch viel besser! Woanders könnte er sicher auch noch mehr verdienen!

Aber das kommt für Matthias nicht infrage. Deshalb müssen sie sich auch jeden Urlaub vom Mund absparen. Und was kriegt sie dafür? Einen Ausflug in die Wildnis! Ein Überlebenstraining in der Pampa! Da können sie sich einmal einen Urlaub leisten und ihrem Freund fällt nichts Besseres ein, als sich mit ihr in die Büsche zu schlagen! Sie wollte doch einfach nur mal ein bisschen Spaß haben und ein bisschen Komfort! Warum kann es ihr nicht einmal ein bisschen gut gehen?


Matthias ist hingerissen. Je näher sie ihrem Ziel kommen, diesem unglaublichen Ort in Italien, wo er einen so großartigen Urlaub verbracht und so wundervolle Menschen kennengelernt hat, umso aufgeregter wird er. Jetzt sind sie schon fast da! Sie müssen nur noch diese unendlich erscheinende Abfolge von schmalen Haarnadelkurven hinter sich bringen, die sich meistens bergauf und manchmal auch bergab schlängeln und von Zeit zu Zeit immer grandiosere Aussichten immer weiter ins Land freigeben. Da, schon wieder so eine Aussicht, bei der man am liebsten anhalten und aus dem Auto steigen möchte, um sie zu genießen! Doch das wäre leider lebensgefährlich, wenn ein nachfolgendes Auto sie vielleicht an dieser unübersichtlichen und sehr schmalen Stelle nicht rechtzeitig sähe!

Also fährt er weiter und eigentlich wünscht er sich ja auch nichts sehnlicher, als endlich anzukommen an diesem Ort, auf den er sich so gefreut hat! Auch auf die Menschen freut er sich, die ihm damals ans Herz gewachsen sind: Stefano, der eigentlich Stefan heißt und vor vielen Jahren seinen Job als Vertriebschef eines großen Unternehmens an den Nagel hängte, um in das Land zurückzukehren, aus dem seine Eltern ursprünglich nach Deutschland auswanderten, um dort zu arbeiten. Seine Frau Sandra, die begnadete Gitarristin, die sich nun voller Begeisterung um die zum Gut gehörende Landwirtschaft kümmert. Und natürlich Edith, Sandras Mutter, die, gesegnet mit dem Aussehen einer typisch italienischen Mama, den Kochlöffel schwingt und ihre Gäste mit ihrer vorzüglichen landestypischen Küche in Verzückung versetzt. Matthias freut sich auch auf Cosima und Don Carlos, der eigentlich Karl heißt, aber aussieht wie ein spanischer Flamencotänzer und deshalb diesen Spitznamen trägt. Carlos war früher Musicaldarsteller und gibt nun sein Können, ganz speziell sein gesangliches, an seine Schüler weiter. Seine Kollegin, die kleine, quirlige Cosima mit den langen roten Locken ergänzt Carlos‘ Gesangsunterricht durch intensive Einheiten an der Gitarre, wobei sie es immer wieder schafft, auch weniger versierte Gitarristen mit ein paar einfachen, aber effektvollen Schlag- und Zupftechniken an aufwändig anmutende Stücke heranzuführen und so in einer einzigen Woche beeindruckende Ergebnisse hervorzurufen.

Ganz besonders jedoch freut sich Matthias darüber, dass auch einige der anderen Gäste von damals wieder dort sein werden: die hübsche, hochgewachsene Elli mit den hellblauen Augen und dem dunkelbraunen Pagenschnitt, die schicke, durch ihre markanten Gesichtszüge immer etwas streng aussehende, aber herzensgute Monika und natürlich Julie, die Dritte im Bunde der drei Frauen, die er damals im Urlaub kennenlernte.

Bei dem Gedanken an Julie wird Matthias gleich noch etwas wärmer ums Herz. Die attraktive, manchmal etwas distanziert wirkende Schweizerin mit der braunen Lockenmähne und dem hübschen, breiten Lächeln findet er schon sehr faszinierend. Vielleicht liegt das an ihrer etwas spröden Art, die er heimlich bewundert, vielleicht aber auch an der Geschichte, die sie ihm – und nur ihm! – damals erzählte. Er hatte es wie eine Auszeichnung empfunden, dass sie sich ausgerechnet ihm anvertraute und Einblicke in ihr Leben schenkte, die sie sonst niemandem gewährte. Seit jenem Moment, den sie in der warmen Sonne auf einem Felsbrocken sitzend verbrachten, als sie ihm ihr Geheimnis anvertraute, das sie so lange schon quälte, fühlt er sich ihr besonders verbunden.

Seitdem ist viel Zeit vergangen und sie stehen nur sporadisch im E-Mail-Kontakt. Doch immerhin schrieb sie ihm vor ein paar Monaten, dass sie sich mit Elli und Monika wieder für eine Urlaubswoche in Italien verabredet hatte. Warum hätte sie ihm das schreiben sollen, wenn sie sich nicht vielleicht ausrechnete, ihn, Matthias, dadurch überreden zu können, auch dort hinzukommen? Zwar weiß sie von Ulla und … um Himmels willen, nein! Darum geht es doch gar nicht! Sie sind Freunde! Vielleicht auch … Seelenverwandte, weil sie Dinge voneinander wissen, die für andere ein Geheimnis bleiben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Das allein ist schon etwas ganz Besonderes, was es nur selten im Leben gibt. Aber alles andere ist natürlich völlig abwegig! Julie wohnt schließlich in der Schweiz und er in Deutschland. Mindestens 400 Kilometer liegen zwischen ihnen. Da kommt man nicht mal eben so auf einen Kaffee vorbei!

Wow! Dieses winzige Dorf, das sie gerade durchfahren! Als wäre hier in ferner, mystischer Vergangenheit die Zeit stehen geblieben! Eigentlich ist es nur eine Ansammlung von aus grauem Stein erbauten Häusern mit kleinen Fenstern, schiefen Holztüren, manche mit üppig blühenden Kästen und Blumenampeln geschmückt. Drei recht betagte Herren haben es sich auf einer kleinen Bank gemütlich gemacht und beäugen neugierig das Gefährt, das die oft geflickte Dorfstraße passiert, als würden solche Ereignisse wie dieses, dass Fremde sich hierher verirren, nur selten sein. Einer der Männer sitzt vornübergebeugt auf einen knorrigen Stock gestützt, der nächste hat einen hellbraunen Hund zu seinen Füßen, der entspannt alle Viere von sich streckt, und der dritte kaut vergnügt auf irgendetwas herum – vermutlich Tabak, denkt Matthias. Was für ein Bild! Richtige Originale! Die müsste man eigentlich fotografieren!

„Ist das nicht unglaublich? Und das ist alles echt! Hier wohnen richtige Menschen!“, ruft er begeistert.

Zur Antwort bekommt er nur ein kurzes „Hm“. Doch dafür hat er Verständnis. Schließlich sind sie heute sehr früh aufgebrochen und standen noch in Deutschland für mindestens eine Stunde im Stau. Auch die restliche Fahrt zog sich wegen der Mautstelle am Brenner und einer Baustelle auf der italienischen Autobahn mächtig in die Länge. Er ist sich sicher, dass Ulla einfach müde ist. Schließlich braucht sie auch sonst ihren Schlaf und ist unausstehlich, wenn sie zu wenig davon bekommt!

„Es wird ihr schon gefallen“, glaubt Matthias. „Wenn wir erst da sind, wird sie es lieben!“

Unbeirrt ob Ullas Einsilbigkeit passiert er das malerische Dorf und kämpft sich weiter die Straße hinauf. Die ist nun von einer asphaltierten Fahrbahn zu einer staubigen Schotterpiste geworden. Matthias meint sich zu erinnern, dass es jetzt nicht mehr weit sein kann. Gut, das hat er vorhin auch schon gedacht. Und davor auch, als sie diese besonders scharfe Kurve genommen haben, die auch das letzte Mal – daran erinnert sich – völlig überraschend vor ihnen auftauchte! Ja, diese Serpentinen ziehen sich in die Länge! War das vor drei Jahren auch schon so gewesen?

Langsam erwacht die Erinnerung, wie er damals mit Elli, die eine Mitfahrgelegenheit nach Italien anbot, anreiste, und wie sie vermuteten, sie wären falsch abgebogen, als sie auch nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie sich Kurve um Kurve die Berge hinaufgeschraubt hatten, immer noch nicht am Ziel waren.

Aber jetzt, wo sie auf der Schotterpiste sind – er weiß es ganz genau! – jetzt kann es nicht mehr weit sein! War da irgendwo, kurz bevor man das Gut erreichte, nicht diese Stelle mit dem grandiosen Ausblick? Wo man das Gut auf der gegenüberliegenden Seite des Tals sehen konnte wie auf einem Gemälde? Na klar! Da gab es ein kurzes Stück Straße, wo der ohnehin meist spärliche Bewuchs der Berghänge für ein paar Meter die Sicht freigab auf das Anwesen, das damals, nach der schier unendlich langen Fahrt von Deutschland bis hierher, in der spätnachmittäglichen Sonne vor ihnen lag wie ein wahr gewordener Traum! Dahinten muss die Stelle sein, vermutlich hinter dem nächsten Felsvorsprung! Nee, doch nicht. Aber gleich! Hinter der nächsten Kurve! Bestimmt!

Tatsächlich, da ist es! Leider steht dort schon ein Auto. Aber hey, an das erinnert er sich! Damit ist er vor drei Jahren nach Italien gereist! Das muss Elli sein! Sie hat also den alten Japaner noch? Und ist das neben ihr nicht Monika?

„Die Beiden kenne ich!“, jubelt Matthias und betätigt übermütig die Hupe.


„Das ist Matthias! Juhu!“, ruft Elli übermütig und winkt heftig. „Das neben ihm ist sicher seine Freundin!“

„Anzunehmen“, denkt Monika spöttisch und amüsiert sich über den jugendlichen Überschwang ihrer Begleiterin.

Ein bisschen beneidet sie Elli jedoch auch darum. Sie selbst fühlt sich für so viel Lebhaftigkeit zu alt, obwohl auch Monika sich ehrlich darüber freut, Matthias wiederzusehen. Schließlich ist er ein wirklich netter Kerl, wenn er damals auch etwas nervte mit seiner unreifen Art. Aber vielleicht hat er die nun abgelegt? Julie hatte Elli und ihr geschrieben, dass er seine Freundin mitbrächte, die ein Kind habe und der er wohl auch finanziell etwas unter die Arme greifen müsse – jedenfalls hatte Julie das aus den Mails, die sie von Matthias erhalten hatte, herausgelesen. Wenn er nun also Verantwortung für eine Frau und ein Kind trägt, dann ist er daran vermutlich gereift?

Sie würde sich darüber freuen. Vor allem deshalb, weil sie weiß, wie sehr sich Matthias damals eine eigene Familie wünschte. Vielleicht hat er nun bekommen, was er haben wollte?

Der kleine, unter der beachtlichen Staubschicht vermutlich weiße Wagen kommt kurz vor ihnen zum Stehen. Kaum, dass er einen Halt findet auf dem schmalen Seitenstreifen, ist Matthias schon mit einem Satz aus der Fahrertür gesprungen und stürmt auf die beiden Frauen zu. Elli hüpft ihm freudestrahlend entgegen und fällt ihm um den Hals. Dann dreht sie sich übermütig zu Monika um und ruft: „Schau mal! Er hat sich kein bisschen verändert! Sogar die Brille ist noch dieselbe!“

„Naja, ein bisschen zugelegt hat er um die Hüften“, ruft Monika nach einem kurzen Blick auf Matthias boshaft. Aber auch sie lacht und umarmt ihn herzlich, als Elli ihn loslässt. „Nichts für ungut“, sagt sie entschuldigend und grinst ihn frech an.

„Du hast ja recht“, antwortet der große Blonde gutmütig. „Seit ich in festen Händen bin, bin ich ruhiger geworden. Das kriegt natürlich auch meine Figur zu spüren! Das ist sie übrigens, meine Freundin!“

Er dreht sich zum Auto um, aus dessen Beifahrerseite eine kleine Person mit glatten, aschblonden, halblangen Haaren klettert und zögernd um die offene Tür herum auf die Gruppe zusteuert. Unverhohlen mustert Monika die Frau in dem hellgrauen T-Shirt und der engen, hellbeigefarbenen Stretchhose. „Oh je“, denkt sie, „eine Stilberatung könnte der jungen Frau nicht schaden!“ Sie findet, dass das Grau des T-Shirts sie noch farbloser erscheinen lässt, als sie sowieso schon ist, und die enge Hose recht unvorteilhaft den mächtigen Hintern betont, der fast deplatziert wirkt an der ansonsten schmalen, fast zerbrechlich wirkenden Person. „Jedenfalls ist damit schon mal klar, dass sich Matthias nicht wegen ihres Aussehens für sie entschieden hat“, überlegt Monika.

Im nächsten Moment erschrickt sie und findet sich furchtbar, über die junge Frau nur wegen ihres Äußeren so herablassend zu urteilen. Schnell bemüht sie sich, etwas Positives an Ullas Erscheinung zu finden. „Hm, das Gesicht ist eigentlich ganz niedlich, jetzt, wo sie ein schüchternes Lächeln wagt. Vermutlich könnte sie etwas aus sich machen, wenn sie sich Mühe gäbe. Doch irgendwie sieht sie nicht danach aus, als würde sie sich mit irgendetwas Mühe geben“, findet Monika.

Erneut haut sie sich innerlich auf die Finger und beschließt, sich jetzt wirklich zusammenzureißen. Lächelnd geht sie auf Ulla zu.

„Hallo, ich bin Monika. Nette Hose!“, meint sie freundlich.

Während sie das sagt, fällt ihr Blick auf die hinter der Frau stehende Elli, die sie entgeistert anstarrt, als könne sie unmöglich ernst meinen, was sie da gerade von sich gegeben hat. Oh je. Was redet sie nur für einen Blödsinn? Ist sie noch zu retten? Diese Hose? Nett? Sie scheint wirklich urlaubsreif zu sein! Naja, der Stress der letzten Zeit …

Mit einem energischen Kopfschütteln vertreibt sie die dunklen Gedanken, die sich gerade bei ihr niederlassen wollen. „Nicht jetzt“, denkt sie und lächelt noch ein wenig strahlender, um ihren Fauxpas wiedergutzumachen. Hoffentlich ist Ulla nicht empfindlich und denkt, sie wolle sich über sie lustig machen! Die Hose ist schließlich komplett unvorteilhaft! Selbst Elli, ihrer immer gutmütigen, manchmal fast ein bisschen naiven Freundin ist aufgefallen, dass sie das Beinkleid unmöglich schick finden kann. Hoffentlich hat es sonst niemand bemerkt!

Doch Matthias grinst nur vor lauter Stolz über seine Eroberung und Ulla dreht sich suchend zu ihm um, als ob sie von ihm erwarte, dass er ihr nun sagt, wie es weitergeht. Nein, die beiden scheinen nichts gemerkt zu haben!

Erleichtert nimmt Monika zur Kenntnis, dass Matthias seine Freundin nun an der Hand nimmt und an Ellis Auto vorbei zum Rand der kleinen Parkbucht führt, um ihr mit einer großartigen Geste die Aussicht über das Tal und ganz besonders natürlich das Gut zu zeigen, das vor ihnen auf dem Plateau in einigen hundert Metern Entfernung in der Sonne liegt.

„Das ist der Ort, an dem wir Urlaub machen werden“, schwärmt er großartig und beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der örtlichen Gegebenheiten. Er erklärt seiner Ulla, was das Haupthaus und was die Nebengebäude sind, wagt eine Vermutung darüber, wo sie wohl untergebracht sein werden, beschreibt schließlich die Sitzgruppe unter den mächtigen Platanen, wo sie sich zu den Mahlzeiten versammeln, und erklärt ihr, dass das Abschlusskonzert vermutlich wieder auf der beeindruckenden Aussichtsterrasse unterhalb des Essplatzes stattfinden wird.

Monika schüttelt kaum merklich den Kopf. Matthias scheint ganz in der Rolle des großen Welterklärers aufzugehen! Das hatte er schon damals an sich! Wie er so dasteht und in dozierendem Tonfall das Gut und die dortigen Gegebenheiten erläutert, wirkt er fast wie ein Lehrer, der seiner wenig bemittelten Schülerin erklärt, wie sich die Welt dreht. Erstaunlicherweise lässt Ulla das klaglos über sich ergehen und hört ihm einfach nur zu.

„Vermutlich sind das die Qualitäten, die Matthias an ihr schätzt, dass er stundenlange Vorträge halten und dabei das Gefühl haben darf, dass sich jemand dafür interessiert“, denkt Monika bissig. Dann schüttelt sie den Kopf. Geht das schon wieder los? Kann sie nicht einmal etwas Nettes denken?

Doch als Matthias damit beginnt, Ulla die sanitären Einrichtungen zu erklären, findet Monika, dass sie eingreifen sollte.

„Sag mal Matthias, findest du nicht, dass Ulla das alles vor Ort selbst viel besser entdecken kann?“

„Gute Idee“, pflichtet Elli ihr bei. „Ich will jetzt auch unbedingt ankommen!“

Damit drückt sie ihre Zigarette aus, die sie sich eben angezündet hat. Trotz Monikas ausdrücklicher Versicherung, dass es ihr nichts ausmache, wenn Elli im Auto rauche, hat diese sich nicht dazu überwinden können, ihre nichtrauchende Mitfahrerin mit Zigarettenqualm zu belästigen, wofür Monika ihr heimlich dankbar ist. Deshalb musste Elli eben dringend die Gelegenheit für ein Rauchopfer nutzen, was ihr einen mitfühlenden Blick ihrer Freundin einbringt.

„Also ich fahre jetzt los. Wer kommt mit?“, ruft Elli und reißt die Fahrertür ihres Autos auf.

„Halt! Nimm mich mit!“, schreit Monika lachend und läuft auf die Beifahrerseite zu.

Das ist auch das Stichwort für Matthias und Ulla, sich in Bewegung zu setzen.


„Tolle Hose“, murmelt Elli, als sie beide im Auto sitzen und das letzte kleine Stückchen Weg zum Gut im Konvoi mit Matthias und Ulla zurücklegen. Missbilligend schüttelt sie den Kopf.

„Ist mir so rausgerutscht“, gibt Monika zu.

Doch dann entdeckt sie ein Funkeln in Ellis Augen. Wie auf Kommando prusten beide los und können sich kaum wieder einkriegen! Monika merkt, wie sehr ihr diese Albernheiten gefehlt haben. Nun freut sie sich noch mehr auf diese Woche, in der sie mit Elli und Julie sicher noch manches Mal Gelegenheit haben wird, von Herzen zu lachen. Das wird ihr guttun und sie ablenken!

Herrlich! Endlich ist sie wieder da!


+


Carola und Maik


Der schlanke, attraktive Mann mit den kurzen dunklen Haaren ist bester Laune. Er sitzt am Steuer seines anthrazitfarbenen Kombis und freut sich auf den vor ihm liegenden Urlaub. Am liebsten würde er fröhlich vor sich hin pfeifen, doch dann würde er seine Frau wecken, der auf dem Beifahrersitz gerade die Augen zugefallen sind.

Prüfend wirft er einen Blick zur Seite, ob sie immer noch schläft. Dabei fällt ihm wieder einmal auf, wie hübsch sie ist: blonde lange Haare, ein ebenmäßiges Gesicht, eine schlanke, aber dennoch sehr weibliche Figur. Selbst jetzt, wo sie tief in Träumen versunken ist, wirkt sie perfekt, wie dahin gemalt oder drapiert für ein Werbefoto von einer schlafenden Schönheit, mit dem die Marketingabteilung des Autoherstellers den Reisekomfort des Kombis unterstreichen möchte.

Zufrieden schaut Maik wieder nach vorn auf die Straße. Auch wenn er manchmal daran zweifelte, wenn seine Ehe schwierige Momente erlebte: Er hat doch eine gute Wahl getroffen vor achtzehn Jahren! Carola war schon damals, als sie sich kennenlernten und sie gerade zweiundzwanzig Jahre alt war, eine bildschöne Frau, die bei vielen Männern Begehrlichkeiten weckte. Doch jetzt, mit vierzig, ist sie fast noch schöner und Maik muss zugeben, dass er mächtig stolz darauf ist, so eine Frau an seiner Seite zu haben!

Dabei ist er sich durchaus dessen bewusst, dass er mit seinen siebenundvierzig Jahren optisch ebenfalls eine Menge bietet. Er weiß genau um seine Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht, die mit den Jahren und auch mit den mittlerweile leicht ergrauten Schläfen noch größer geworden ist. Er hat sich gut gehalten, obwohl ihm die Arbeit als Dachdeckermeister und Geschäftsführer seines Betriebs kaum Zeit für Sport lässt. Da er jedoch handwerklich noch viel selbst macht, kann er das leidlich ausgleichen.

Fast hätte er jetzt doch angefangen zu pfeifen, als sein Blick auf die vorbeiziehende Landschaft fällt, die sonnenbeschienenen Hügel und die kleinen Dörfer, die sich an die Erhebungen schmiegen. Erst in letzter Sekunde kann er sich davon abhalten, seine Frau mit einer musikalischen Einlage zu wecken.

Ja, er freut sich wirklich auf diesen Urlaub. Vor drei Jahren waren sie schon einmal dort, auf dem Gut von Stefano und Sandra, haben den ganzen Tag lang Gitarre gespielt, gesungen und abends viel roten Landwein genossen. Es war wirklich schön gewesen!

Ob auch ein paar bekannte Gesichter unter den diesjährigen Teilnehmern des Musikkurses sein werden?

Er denkt zurück und überlegt, wer damals mit ihnen gemeinsam dort gewesen ist. Da hatte es diesen Schlagerfan gegeben, der mit seinem Pottschnitt auch schon so aussah wie aus den 70ern übrig geblieben! Maik grinst, als er an ihn denkt. Aber nett war er! Dann gab es da noch diesen großen blonden Kerl mit Brille, der etwas kindlich wirkte, und natürlich diesen Neuseeländer, mit dem sich Carola ständig unterhalten hatte. Auf den legt er ja gar keinen Wert! Aber warum soll ausgerechnet dieser Typ noch einmal den weiten Weg zu einem Musikkurs nach Italien antreten? Das ist wirklich unwahrscheinlich!

Ja und dann … Maik muss erneut grinsen … da gab es doch auch diese Friseurin mit den bunten Haaren. Sabrina hieß sie! Sabrina, ja, mit der hatte er sich gut verstanden. Das war ja auch eine Marke! Was aus der wohl geworden ist?

Er erinnert sich, dass diese Frau in ihrem Drang, zu jeder Zeit alle Welt mit ihrem Gesang zu unterhalten, nicht zu stoppen gewesen war. Doch er war gut mit ihr zurechtgekommen. Mit solchen Frauen kommt er immer prima klar!

Maik schaut zu seiner Angetrauten hinüber, die eben den Kopf zur Seite dreht. Ihre Augen sind immer noch geschlossen. „Sieht aus, als ob sie noch schläft“, stellt er fest.

Er erinnert sich, dass es damals, vor drei Jahren, um ihre Beziehung nicht allzu gut bestellt gewesen war. Schon auf der Anreise waren die Spannungen deutlich zu spüren gewesen und auf der Rückreise hatten sie sogar über die Scheidung gesprochen. Ein kurz entschlossener Abstecher an den Gardasee hatte das Schlimmste verhindert! Damals hatte sich eine Menge zwischen ihnen angesammelt. Sie hatten einige Tage gebraucht, um sich alles Mögliche an den Kopf zu werfen, wie Maik sich erinnert. Doch am Ende hatten sie beschlossen, es noch einmal miteinander zu versuchen.

Das war eine harte Zeit gewesen für ihre Beziehung. Obwohl – wirklich daran geglaubt, dass sie sich trennen würden, hatte er nicht. Sie waren ja auch damals schon sehr lange zusammen gewesen und hatten so viel durchgestanden! Außerdem ist Carola nicht der Typ für Kurzschlussreaktionen. Ab und zu regt sie sich ein bisschen auf, aber irgendwie finden sie dann doch wieder zueinander. So war es auch vor drei Jahren. Natürlich hatte es in den folgenden Wochen und Monaten immer wieder „Aussprachen“ gegeben, doch dann hatte Carola sich beruhigt. Mit der Zeit haben sie sich zusammengerauft und jetzt läuft es doch ganz gut!

Dieses Mal jedenfalls sind die Vorzeichen für den Urlaub ganz andere! Vermutlich sind sie auch einfach erwachsener geworden und haben solche Beziehungsgewitter nicht mehr nötig. Sie sind eben beide keine zwanzig mehr!

Viele Gelegenheiten für Auseinandersetzungen gibt es ja auch gar nicht, weil sie beide sehr in ihre Arbeit eingebunden sind. Maik hatte damals aus dem Urlaub den Entschluss mitgebracht, mit seinem Dachdeckerbetrieb noch einmal richtig durchzustarten und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Mittlerweile hat er viel Erfolg mit seinen Photovoltaik-Anlagen und er hatte sogar ein paar Leute einstellen müssen, um die Nachfrage befriedigen zu können.

Währenddessen bastelt Carola weiter an ihrer universitären Karriere. Als Professorin hat sie sich gut etabliert und ist eine gefragte Expertin auf ihrem Gebiet, sie hält Vorträge und wird um Expertisen gebeten. Sie kommt viel herum und ist natürlich oft außer Haus. Aber er will ihrer Karriere auch nicht im Wege stehen! Sie hat damals, am Gardasee, ziemlich deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, irgendwelche Kompromisse einzugehen oder berufliche Abstriche hinzunehmen. Und er – naja, toll findet er es immer noch nicht, dass sie ihren Beruf so in den Vordergrund stellt. Aber nun gut, da sie es unbedingt so will, lässt er es geschehen. Er hat sich mit ihren häufigen Abwesenheiten abgefunden und schließlich sogar akzeptiert, dass Carola eine Putzfrau eingestellt hat und das Essen häufiger aus der Tiefkühltruhe oder vom Bringdienst kommt, wenn sie keine Zeit und Lust hat zu kochen. Er hat sich sogar damit arrangiert, sich selbst zu versorgen, wenn sie abends Veranstaltungen hat, und die haben in den letzten Monaten sogar noch zugenommen, fällt ihm auf, als er jetzt darüber nachdenkt!

Glücklicherweise gibt es immer noch die Wirtschaft im Dorf und seine Mutter freut sich auch jedes Mal, wenn er vorbeikommt und sie ihn bekochen darf. Er kommt zurecht, auch wenn er manchmal neidisch auf seine Freunde schaut, deren Frauen neben bestenfalls einem Halbtagsjob abends immer zu Hause sind, um das Essen zu machen und Mann und Kinder zu versorgen.

Maik unterdrückt ein Seufzen. Es wäre ihm schon lieber, wenn seine Frau häuslicher wäre! Aber solange der Haushalt irgendwie erledigt wird – und wenn es mithilfe einer Putzfrau ist – kann er es verkraften. Er hat sich daran gewöhnt. „Irgendwas ist eben immer“, denkt er lakonisch. Wenn er sich dafür nicht ständig mit Carola streiten muss, weil sie findet, er könne ja mal dieses oder jenes selbst erledigen, soll es ihm recht sein.

Nun, jedenfalls ist er froh, dass die Situation zwischen ihnen heute viel entspannter ist als früher. Dafür kommt er seiner Frau gerne entgegen! Er hat ohne zu murren seine Sachen selbst gepackt und sogar dabei geholfen, das Auto zu beladen, obwohl er ja eigentlich noch dringend E-Mails checken musste. An diesen Ort in Italien verirrt sich das Netz nur selten! Da fand er seine Frau ein bisschen kleinlich, die demonstrativ mit ihrem Kaffee am Küchentisch sitzen blieb und einfach wartete, bis er fertig war, um dann mit ihm gemeinsam das Auto zu beladen. Da ist sie ein bisschen unentspannt! Als ob er nie etwas täte! Im letzten Monat hat er sogar einmal den Rasen gemäht, obwohl ihn Gartenarbeit nicht interessiert und er das auch immer gesagt hat! Aber gut, dafür ist jetzt wenigstens alles friedlich und er kann sich auf den Urlaub freuen!


+


Julie


Julie schlägt die Augen auf. Sie muss für einen Moment eingeschlafen sein. Dabei hatte sie sich doch nur kurz auf das Bett geschmissen, um mal eben die Matratze zu prüfen. Nun weiß sie jedenfalls, dass die großartig ist und sie hier wunderbar schlafen wird!

Sie sieht sich in der Kammer des Nebengebäudes um, die Stefano ihr als neues Zuhause für diese Woche zugewiesen hat. Ein wunderschönes Zimmer mit Blick auf den Hof vor dem Haupthaus, den sie durch das geöffnete Fenster sehen kann. Die hell geblümten Gardinen bauschen sich durch die leichte Brise, die herrlich würzige Luft zu ihr herüber weht. Was für ein wunderbarer Ort für ein kleines Nickerchen!

Wohlig reckt sich Julie auf der hellblau-orange-gestreiften Bettwäsche. Sie hat es wirklich gut getroffen! Die rustikale Holzdecke über ihr verbreitet zusammen mit den weiß und zart orangefarben gestrichenen Wänden eine fröhlich-warme Atmosphäre. Auf dem Holzboden zu ihren Füßen greift ein Flickenteppich den Orangeton der Wände auf und ergänzt ihn um rote, gelbe und blaue Streifen. Ein riesiger alter Schrank und ein kleines Regal in der Ecke bieten ausreichend Platz für ihre Habseligkeiten. Ein einfacher Tisch mit zwei ebensolchen Holzstühlen vor dem Fenster lädt dazu ein, es sich bei einer Tasse Tee gemütlich zu machen und hinauszusehen über den großen Platz bis zum Haupthaus und ein Stückchen daran vorbei in die Ferne, wo sich bis zum Horizont Berge aneinanderreihen, um sich ganz hinten in einem dunstigen Türkis zu verlieren. Ein Traum!

Obwohl das Bett sehr gemütlich ist und das laue Lüftchen auf angenehme Weise die Hitze des Tages vertreibt, hält Julie es nicht länger dort aus. Sie muss jetzt einfach hinaus und sich alles ansehen, das ganze Anwesen wiederentdecken, an das sie wohl öfter gedacht hat, als sie sich eingestehen mochte. Jetzt, wo sie wieder hier ist, spürt sie, wie ihr der Ort gefehlt hat, an dem es ihr einst so gut ging.

Endlich ist sie wieder da!

Sie springt aus dem Bett, schlüpft in ihre Schuhe, richtet eilig ihre hellblaue Jeans und das grüne T-Shirt, bürstet sich kurz die Haare und läuft durch den kleinen Flur hinaus auf den Hof.

Vor ihr richtet sich die sandfarben verputzte Fassade des Haupthauses auf mit dem beeindruckenden Portal aus zwei schweren, dunkelbraunen Türflügeln, gekrönt von einem halbrunden Oberlicht aus bunten Glasscheiben. Zu beiden Seiten der Tür sorgen zwei altertümlich verschnörkelte Laternen nachts für ein bisschen Helligkeit. Dort, in diesem Haus, hat sie bei ihrem ersten Aufenthalt links neben dem Eingang gewohnt – daran erinnert sie sich gut! Auch jenes Zimmer mit den hellblauen Wänden und dem alten rot, braun und schwarz gemusterten Perserteppich hat sie sehr genossen. Trotzdem findet sie es schön, nun eine andere Kammer auf dem Gut kennenlernen zu dürfen.

Julie läuft quer über den Platz zu einer kaum hüfthohen Mauer, die nur wenig Schutz vor dem dahinter liegenden, abschüssigen Gelände bietet. Der recht steil abfallende Hang ist – bis auf ein paar herausragende Felsen – von undurchdringlich erscheinendem Gestrüpp überwuchert, das sich scheinbar nur mit Mühe auf den kärglich mit Erde und Flechten bedeckten Felswänden halten kann. Aber von dort aus hat sie eine herrliche Aussicht über das Tal und die dicht bewaldeten Hänge, die nur ab und zu einen Blick auf ein paar ziegelrote Dächer oder aus grauem Stein erbaute Hausmauern freigeben. Die sonnengelben Tupfer von Ginsterbüschen komplettieren die Idylle, die sich vor ihr bis hin zum Horizont erstreckt.

Ein Ausblick, der fast nicht von dieser Welt zu sein scheint! Und dazu diese herrliche Ruhe!

Julie schließt für einen Moment die Augen und lauscht in die spätnachmittägliche Stille. Der weiche Wind bewegt ganz zart die Blätter einiger Bäume in der Umgebung, ein Brummer surrt an ihr vorbei und von Ferne vernimmt sie das melodische Klingen von Glocken, die auf das Vorhandensein einer Ziegen- oder Kuhherde schließen lassen.

In diesem Moment wird sie erobert von einem großen Glücksgefühl. Es breitet sich von ihrem Herzen aus und erfüllt sie schließlich ganz. Julie breitet ihre Arme aus, als würde sie auf diese Weise den Moment festhalten können. Sie öffnet ihre Augen und genießt die ganze Pracht dieses wunderbaren Ortes. Warum kann es nicht immer so sein? Warum kann die Welt nicht immer so schön sein, so friedlich und so herrlich sorglos? Warum ist es leider meistens anders?

Seufzend fährt sie sich durch ihre dichte, kastanienfarbene Lockenpracht und dreht sich langsam im Kreis, um ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie schaut über die große, sanft abfallende Wiese zu ihrer Linken, die ganz hinten von einer riesigen Eiche überschattet wird. Den Platz darunter mit den in einem Halbkreis aufgestellten Holzbänken erinnert sie gut: Meistens fand dort der Gitarrenunterricht statt. Noch ein Stückchen weiter links entdeckt sie im dichten Gras ein paar Felsbrocken. Auch dort hat sie gerne gesessen, um zu proben, alleine für sich oder mit den anderen. Von da aus hatte sie einen fantastischen Blick auf das Bergmassiv im Norden, dort wo die Straße – oder besser die Schotterpiste – entlangführt, auf der man dieses Anwesen erreicht.

Sie lächelt bei der Erinnerung an die Stunden, die sie mit ihren Mitstreitern dort verbracht hat. Was wohl aus ihnen geworden ist? Zumindest Elli und Monika wird sie gleich wiedersehen – und natürlich Matthias! Auf seine neue Freundin ist sie besonders gespannt, richtig neugierig sogar! Was er wohl für einen Frauengeschmack an den Tag legt? Sie denkt nach. Bislang konnte sie nicht wirklich ein System bei seiner Wahl erkennen: Damals war er erst von Elli sehr beeindruckt gewesen, bis er sich dann, nach diesem denkwürdigen Nachmittag, an dem sie sich auf einem der Felsen sitzend gegenseitig ihre tiefsten Geheimnisse anvertraut hatten, mehr für Julie zu interessieren schien. Allerdings war das rein platonisch gewesen! Damals hatte er Julie von Tine, seiner Exfreundin erzählt, und die wiederum schien seiner Beschreibung nach weder mit Elli noch mit ihr selbst irgendwelche Gemeinsamkeiten zu haben – weder vom Aussehen noch vom Charakter oder der Lebenssituation her!

Nun ja, es wird nicht mehr lange dauern, dann wird sie Ulla selbst kennenlernen. Bestimmt ist sie nett! Zu Matthias passt eigentlich nur eine nette Frau, so gutmütig, wie er selbst ist!

Julie beschließt, ihren Rundgang fortzusetzen. Bald schon werden die nächsten Gäste da sein und dann ist für eine Woche an so etwas wie Ruhe und Besinnung nicht zu denken!

Mit flotten Schritten eilt sie über den Platz, am Haupthaus vorbei und auf die Südseite des Gebäudes zu, wo unter zwei mächtigen Platanen ein einfacher langer Holztisch, Bänke und Stühle aufgebaut sind. Julie ist entzückt: Hier hat sich nichts verändert! Dieser Platz, wo sie die Mahlzeiten eingenommen haben, sieht noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hat! Sogar die ausrangierten, zu Blumentöpfen umfunktionierten Töpfe auf der Mauer am Rande der Essecke meint sie unverändert wiederzuerkennen. Und aus der Küche, hinter der nur einseitig geöffneten zweiflügeligen Holztür, vernimmt sie die vertrauten Klänge von eifrigen Handgriffen, die sicherlich das Abendessen vorbereiten. Kurz ist Julie versucht hineinzugehen und Edith und vielleicht auch Sandra zu begrüßen, die sie beide noch nicht gesehen hat. Aber dann entschließt sie sich, es sein zu lassen. Da drinnen wird man alle Hände voll zu tun haben, für die ganze Truppe zu kochen, und wenn sie dabei ständig von eintreffenden Gästen gestört werden, ist das vermutlich mehr lästig als angenehm!

Einen Moment noch bleibt Julie unschlüssig stehen, dann läuft sie am Tisch und den Bänken vorbei ein paar langgezogene, in den Fels gehauene breite Stufen hinab. Auf den Platz dort unten hat sie sich besonders gefreut!

Mit jedem Schritt, den sie sich abwärts bewegt, treten Bäume und Büsche an den Seiten zurück und geben den Blick frei auf eine Terrasse, die, im Halbrund angelegt, mit den weit in die Breite gezogenen Stufen anmutet wie ein Amphitheater. Jenseits der kleinen Mauer, die vor dem Abhang dahinter schützt, beginnt die Kulisse des Theaters, diese einzigartige, komplett unverstellte Aussicht über das Tal, das ganz weit in die fast unberührt scheinende Bergwelt hinausführt. Auf der großzügigen Terrasse angekommen hat man fast das Gefühl, allein auf einem hohen Berg zu stehen, die Welt zu seinen Füßen. Sich eine schönere Aussicht vorzustellen, erscheint fast unmöglich!

Unwillkürlich seufzt Julie tief auf vor Entzücken. Langsam schreitet sie über den Platz und lässt sich schließlich auf der Mauer nieder. Von diesem Blick in die Ferne hat sie oft geträumt und jetzt ist er Wirklichkeit!

Sie greift in ihre Hosentasche, zieht ein Päckchen und ein Feuerzeug hervor und steckt sich eine Zigarette an. Genüsslich inhaliert sie den Rauch und blickt in die Ferne. Dabei denkt sie zurück an den ersten Abend, damals vor drei Jahren, als sie auch hier auf der Aussichtsterrasse saß, ungefähr so wie jetzt. Es war bereits dunkel gewesen und von der oben liegenden Essecke war das fröhliche Geplauder und Gelächter der anderen bis zu ihr herunter gedrungen. Sie hatte allein hier unten gesessen und sich irgendwie ausgeschlossen gefühlt, obwohl sie das Alleinsein selbst gewählt hatte. Sie hatte gemeint, wegen ihrer dunklen Vergangenheit nicht zu denen gehören zu können, die ein „normales“ Leben lebten, eines, das nicht so verkorkst war wie ihres.

Ausgerechnet Matthias, dieser unreife Bengel, hatte ihr damals zu einer anderen Sicht auf die Dinge verholfen. Seitdem hat sich einiges geändert. Vor allem hat sie sich geändert! Sie ist offener geworden, vertraut sich manchmal sogar anderen Menschen an und sieht sich weniger als Außenseiter als früher. Dennoch: Über die schlechten Zeiten in ihrem Leben spricht sie immer noch mit niemandem. Matthias war und ist der Einzige, der Bescheid weiß. Es muss es auch keiner wissen. Es reicht, wenn sie selbst ihre Vergangenheit irgendwann verwinden kann.

Julie bläst stoßartig den Rauch ihrer Zigarette aus, fast ist es ein Stöhnen, was ihr unwillkürlich entgleitet.

Sie hatte wirklich gedacht, dass sie es verwunden hat, dass sie endlich in einer neuen Welt angekommen ist und ihre Vergangenheit nicht mehr zählt. Damals, kurz nach ihrem Urlaub, hatte sie es sogar fertig gebracht, das Grab ihrer Eltern zu besuchen. Sie hat versucht, sich posthum mit ihnen zu versöhnen – nicht um ihrer Eltern willen, denn die hatten nichts davon und zumindest ihrem Vater wäre es vermutlich auch ziemlich egal gewesen. Aber um ihrer selbst willen wollte sie mit ihrer Vergangenheit abschließen und sie hatte das Gefühl gehabt, dass dieser Besuch auf dem Friedhof dazugehörte. Ein paar Tage später hatte sie dann gemerkt, dass sie sich leichter fühlte, befreit, und dass sie nicht mehr so oft an das denken musste, was war und was sie getan hatte. Sie hatte geglaubt, sie sei über den Berg, sie hätte es geschafft, ihre Vergangenheit zu akzeptieren. Doch dann …

Sie fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Tränen steigen ihr in die Augen. Jetzt bloß nicht weinen! Wer weiß, wie lange sie hier alleine ist. Es geschieht ja immer im ungünstigsten Moment, dass plötzlich jemand um die Ecke kommt, und das wäre jetzt ein ganz blöder Einstieg in den Urlaub!

Julie versucht sich zu beruhigen und ihre Gefühle zurückzudrängen. Doch plötzlich ist alles wieder da. Plötzlich fühlt sie sich fast genauso wie vor drei Jahren, wie eine Außenseiterin, eine, die nicht dazu gehört. Doch dieses Mal ist der Grund nicht, dass sie etwas Schlimmes getan hat, sondern dass sie vielleicht etwas tun muss, was sie sich möglicherweise kaum verzeihen kann.

Sie schaudert. Sie weiß nicht, was sie tun soll, und sie kann mit niemandem darüber reden. Wer sollte sie verstehen? Außerdem fürchtet sie sich gewaltig davor, am Ende von irgendwem zu irgendetwas überredet zu werden, was sie am Ende bereut. Nein, diese Sache muss sie alleine durchstehen. Da kann ihr niemand helfen! Wie auch?

Kurze Zeit später drückt sie ihre Zigarette aus und zündet sich gleich darauf eine zweite an. Zur Beruhigung. Sie beschließt, dass sie an diese Sache keinen Gedanken mehr verschwenden wird – vorerst – wenn diese Zigarette zu Ende geraucht ist. Sie wird sich nichts anmerken lassen, einfach nur ihren Urlaub verbringen und am Ende der Woche wissen, was sie tun wird. Einfach so. Dann wird sie eine Entscheidung treffen, und zwar die, die sich für den Moment am besten anfühlt. Mehr kann sie nicht von sich erwarten. Doch bis dahin wird sie alles tun, um nicht mehr daran zu denken.

Nach ein paar Minuten fühlt Julie sich fast wieder im Gleichgewicht. Sie erhebt sich nach einem abschließenden Blick auf das Tal – was für ein wunderschöner Ort das hier doch ist! – dreht sich um und schlendert die Treppenstufen hinauf. Die Essecke unter den beiden Platanen liegt immer noch verlassen da, nur eine grau getigerte Katze hat es sich jetzt auf dem Mauervorsprung zwischen zwei gelb und weiß blühenden Gewächsen in ausrangierten Kochtöpfen bequem gemacht. Julie kann nicht widerstehen, ihr weiches Fell zu streicheln und damit das pelzige Tier bei seiner vorabendlichen Siesta zu stören. Doch nach einer kurzen Irritation der Katze darüber, dass jemand sie aus Morpheus‘ Armen reißt, lässt sie sich die leichte Nackenmassage dann doch gefallen und leckt Julie mit ihrer rauen Zunge kurz über die Hand.

Plötzlich hört Julie, dass sich in einiger Entfernung eine Tür öffnet. Neugierig hebt sie den Blick und lässt ihn über den großen Platz hinter dem Haupthaus gleiten, an dessen gegenüberliegender Seite ein zweistöckiger Turm steht, an den sich ein flacheres Gebäude schmiegt. Der Turm ist an zwei Seiten umgeben von einer gemütlichen Veranda, unter deren Dach sich eine kleine, unscheinbare Holztür befindet, die zum Musikraum führt. Aus dieser Tür tritt nun ein hochgewachsener, sehr schlanker Mann mit blonden, etwas struppigen Haaren, einem lässigen olivgrünen T-Shirt und ebensolchen dunkelgrauen kurzen Hosen zu groben, schon etwas ausgelatschten Schuhen. Julie kennt ihn und kann es kaum fassen: Das ist Josh! Wie um alles in der Welt kommt er hierher?

„Josh!“, ruft sie, lässt die Katze im Stich und läuft erfreut quer über den Platz auf ihn zu.

„Hi Julie!“, grüßt er lächelnd zurück und kommt ihr raschen Schrittes entgegen. „Schön, dich zu sehen!“

„Ich hätte nicht erwartet, dich hier wiederzutreffen. Bist du extra aus Neuseeland angereist?“

Julie ist überrascht. Natürlich – vor drei Jahren hatte er auch schon vom anderen Ende der Welt bis hierher finden müssen, sonst hätten sie sich nicht kennengelernt. Außerdem weiß sie, dass er familiäre Verbindungen nach Europa hat: Seine Mutter ist Deutsche und sie lebt – oder lebte zumindest damals – wieder in ihrer alten Heimat. Trotzdem erstaunt es sie, dass der Mann den weiten Weg noch einmal auf sich genommen hat, um an diesem abgelegenen Ort aufzuschlagen. Ob er den Urlaub auch dieses Mal mit einem Besuch bei seiner Mutter verbindet? Warum nicht? Vielleicht hat Josh ein weniger angespanntes Verhältnis zu seinen Eltern als sie es hatte. Es soll ja sogar Leute geben, die ihre eigenen Eltern mögen!

„So sieht das wohl aus“, grinst Josh. „Es ist ganz hübsch hier“, ergänzt er mit einem nonchalanten Lächeln.

Seltsam! Wenn es nicht der immer coole Josh wäre, dann hätte Julie sich jetzt einbilden können, dass er ein wenig verlegen wirkt. Doch verlegen zu sein, passt definitiv nicht zu Josh!

In diesem Moment spürt Julie, wie etwas weich an ihr Knie stupst. Sie schaut an sich herunter und sieht, dass ein großer braun-schwarz gefleckter Hund ihre Aufmerksamkeit sucht und vermutlich gekrault werden will.

„Lucky! Dich gibt es ja auch noch!“, ruft sie begeistert und beugt sich sofort zu dem Tier hinab, um ausgiebig das dicke Fell zu kraulen. Dabei umschmeichelt sie den Vierbeiner unermüdlich mit Komplimenten darüber, was für ein feiner Hund er sei und so ein lieber Kerl und vieles mehr.

Josh ist erleichtert. Er kennt es absolut nicht von sich, dass er verlegen wird. Aber er muss zugeben, dass genau das gerade passiert ist! Es ist ihm tatsächlich unangenehm, auf den Grund seines Hierseins angesprochen zu werden. Dabei ist doch gar nichts dabei, wenn er hier Urlaub macht. Warum soll er es nicht tun? Andere machen das schließlich auch!

Dennoch weiß er, dass das nicht ganz dasselbe ist. Er muss ehrlicherweise zugeben, dass er – so großartig dieser Ort in Italien auch ist – vermutlich nicht hier wäre, wenn Elli nicht angekündigt hätte, hierherzukommen. Aber selbst dann, wenn Elli ein Grund für seine Reise hierher ist, warum hat er das nicht einfach gesagt? Warum hat er Julie nicht ganz cool geantwortet: „Du wusstest vielleicht nicht, dass ich kommen würde, aber ich wusste, dass du hier sein würdest – von Elli.“ Was ist schon dabei? Sie haben sich hier kennengelernt und nun treffen sie sich wieder hier! So what?

Aber genau das konnte er eben nicht einfach sagen. Er hätte das Gefühl gehabt, etwas erklären zu müssen. Deshalb hat er geschwiegen und er ist dem Hofhund Lucky sehr, sehr dankbar dafür, dass dieser die Situation gerettet hat und Josh nicht in die Verlegenheit kam, irgendetwas erläutern zu müssen!

Dankbar schaut Josh zu dem Hund hinunter, der sich mittlerweile auf ein gemütliches Wellnessprogramm eingerichtet zu haben scheint und sich zu Julies Füßen austreckt, um ihre Zuwendungen in maximal entspannter Position genießen zu können.

Als Josh sich unbeobachtet fühlt, blickt er hoch, den Schotterweg entlang, der zwischen dem Haupthaus zur Linken und einer Schafwiese zu Rechten zum Parkplatz führt und von dort zu einer von Zypressen gesäumten Allee wird, die an Büschen, Gemüsebeeten und Stallungen vorbei nach ungefähr hundert Metern im Wald verschwindet. Von dort werden in nicht allzu ferner Zukunft Elli und auch die anderen Gäste mit ihren Autos anreisen.

Elli! Ein bisschen aufgeregt ist er schon, dass er sie gleich wiedersehen wird. Sie ist ihm nicht gleichgültig, keineswegs! Er mag sie, sehr sogar, wie er sich eingestehen muss. Die Zeit, die sie damals, nach der gemeinsamen Urlaubswoche hier, miteinander in Deutschland verbracht hatten, war wunderschön gewesen. Dennoch war für ihn immer klar gewesen, dass ihre Beziehung keine auf Dauer sein kann. Wie auch, wenn sein Lebensmittelpunkt in Neuseeland liegt und ihrer in Deutschland?

Doch warum ist er dann hier? Was will er von ihr und wie soll er sich ihr gegenüber verhalten?

Diese Frage stellt er sich, seit er die Reise gebucht hat. Bis heute hat er allerdings keine Antwort darauf gefunden. Sucht er vielleicht doch unbewusst nach einer festen Partnerin und will herausfinden, ob Elli das sein kann? Würde sie das überhaupt wollen?

Vermutlich schon, denkt er nach kurzem Überlegen. Er weiß nicht warum, aber er fühlt es, auch wenn sie das Thema natürlich niemals angeschnitten, sondern weiträumig umgangen haben – damals in Deutschland und natürlich erst recht in ihrem unverbindlichen E-Mail-Wechsel danach. Wie hätte eine Beziehung auch funktionieren sollen bei der Entfernung, die zwischen ihren beiden Welten liegt? Obwohl, wo ein Wille ist … ist da ein Wille?

Er merkt, wie eine altvertraute Anspannung in ihm hochkriecht, ein unangenehmes Gefühl, das ihm die Luft zum Atmen zu nehmen scheint und das immer dann auftaucht, wenn seine Gedanken sich in eine Richtung bewegen, die mit „fester Beziehung“ zu tun hat. Er fühlt sich plötzlich wie eingesperrt, auch wenn er längst ahnt, dass das nichts mit Elli zu tun hat, sondern mit ihm selbst.

Will er, dass das ewig so weitergeht? Will er sich immer wieder von irgendetwas abhalten lassen, sein Leben mit jemandem zu teilen? Ist die Unabhängigkeit, die er sucht, nicht nur ein anderes Wort für Einsamkeit? Will er so den Rest seines Lebens verbringen? Und falls nicht, wäre Elli dann nicht genau die Richtige?


Statt eine Antwort auf diese Frage zu finden, hört er von Ferne Motorengeräusche. Ein, nein zwei Autos nähern sich dem Gut. Ob sie in einem davon sitzt?

„Ich glaube, wir bekommen Gesellschaft!“

Julie horcht auf.

„Das könnten Elli und Monika sein! Oder Matthias! Die drei kommen nämlich auch!“, erklärt sie ihm.

Wieder spürt Josh Verlegenheit in sich hochsteigen, jetzt sogar noch mehr als vorhin. Er sollte ganz schnell etwas dazu sagen, dass er das alles sehr wohl weiß, nämlich von Elli. Er öffnet den Mund, um etwas Entsprechendes möglichst gelassen von sich zu geben, da läuft Julie schon los, ungeachtet des sehr enttäuschten Blickes aus zwei großen, dunklen Hundeaugen, die das weder verstehen noch gutheißen können.

Josh dagegen muss zugeben, dass er erleichtert ist. Er hat versucht, es ihr zu sagen – ehrlich!

Etwas langsamer folgt er der davoneilenden Julie, die schon fast am Haupthaus vorbei und auf dem Parkplatz angekommen ist. In diesem Moment taucht erst ein und dann noch ein weiteres Auto aus dem Wald auf, durch den der Weg vom Anwesen zur Schotterstraße führt. Tatsächlich: Am Steuer des ersten Wagens sitzt Elli. Sein Herz schlägt für einen kurzen Moment schneller, als er die Fahrerin erkennt. Ihre Haare sind länger geworden. Sie sieht … großartig aus!

Dann fällt sein Blick auf die Beifahrerin, die ihn verblüfft anstarrt: Es ist Monika.

In diesem Moment schießt Josh durch den Kopf, dass nicht nur er vermieden hat, Julie darüber aufzuklären, dass er sehr wohl weiß, dass Elli, Monika und Matthias hierher kommen werden. Auch Elli hat es augenscheinlich vermieden, ihren beiden Freundinnen gegenüber den Umstand zu erwähnen, dass Josh hier sein wird, und das, obwohl sie stundenlang mit Monika im selben Auto unterwegs war. Soso!


Monika kann es nicht fassen. Dass Julie hier sein würde, wusste sie. Aber Josh? Was macht der hier? Der kommt doch aus Neuseeland, wenn sie sich richtig erinnert? Unglaublich! Was für ein Zufall, dass er in genau derselben Kurswoche hier ist wie die drei Mädels und Matthias!

„Das gibt’s nicht! Schau dir an, wer da ist!“, sagt sie zu Elli gewandt.

„Unfassbar!“, murmelt diese und parkt ihr Auto sorgfältig neben Julies blauem Kastenwagen, der durch das weiße Kreuz auf rotem Grund am Nummernschild unverkennbar der Eidgenossin zuzuordnen ist.

„Das finde ich auch!“, gibt Monika zurück.

Dann stutzt sie. Urplötzlich tauchen Bilder vor ihrem inneren Auge auf, die sie fast vergessen hatte. Doch jetzt steht ihr alles so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Sie sieht die Szene von vor drei Jahren ablaufen, als sich alle voneinander verabschiedeten. Das war genau hier gewesen, auf diesem Parkplatz. Es war der Abreisetag und die Kursteilnehmer hatten sich vor dem Haupthaus versammelt, um ihre Autos zu beladen und sich Lebewohl zu sagen. Dabei sah sie Elli, wie sie neben ihrem Wagen stand und auf Matthias wartete, mit dem sie zurück nach Deutschland fahren wollte. Dann sie sah Josh, wie er sich Elli näherte. Zu dumm, dass Monika dann für einen Moment woanders hingesehen hatte! Doch als ihr Blick wieder in die Richtung der beiden fiel, sah sie, wie Josh Elli an sich zog und küsste – jedoch nicht nur auf die Wange, wie man es vielleicht in einigen Teilen der Welt und in einigen Kreisen zu tun pflegt, sondern auf den Mund! Das war definitiv keine unverbindliche Verabschiedung gewesen, wie man sie irgendwo anders praktizieren mochte – bestimmt auch nicht in Neuseeland. Das hatte mehr zu bedeuten!

Monika ist perplex. Sie schaut von Elli zu Josh und wieder zu Elli.

Ob es da etwas gibt, was ihre Freundin ihr nicht erzählt hat? Wie es wohl damals weitergegangen ist mit den beiden? Ist es überhaupt weitergegangen? Josh ist nie ein Thema gewesen in den E-Mails, die sie sich von Zeit zu Zeit schrieben. Hätte sie vielleicht mal nachfragen sollen?

Misstrauisch blickt sie nach links zur Fahrerin. Doch Elli springt bereits aus dem Auto, bevor Monika irgendetwas in ihrem Gesicht ablesen kann. Eilig steigt sie selbst aus dem Wagen und sieht, wie Julie und Elli sich um den Hals fallen. Wie gebannt behält sie Elli im Blick und wartet neugierig darauf, was sie als nächstes tun wird. Wie wird die Begrüßung mit Josh ausfallen?

Plötzlich tippt ihr jemand auf die Schulter.

„Die großartige Jazz-Diva ist wieder da! Monika! Wie ich mich freue, dich wiederzusehen!“

Überrascht dreht Monika sich um und steht dem Gutsherrn gegenüber, der sich unbemerkt genähert hat.

„Stefano! Was ist das schön, wieder hier zu sein! Ich bin so glücklich, dass das geklappt hat!“

Sie nehmen sich in den Arm und kurz danach ist auch Sandra, seine Frau, zur Stelle und umarmt Monika ebenfalls. Sofort müssen die wesentlichen Informationen darüber ausgetauscht werden, wie es allen geht und dass sie sich überhaupt nicht verändert haben, oder vielleicht doch – man sehe ja sogar noch viel jünger aus als früher!

Dann kommen Matthias und Ulla heran und so verliert Monika im allgemeinen Hallo Elli und Josh aus den Augen. Als sie schließlich selbst dem Neuseeländer gegenübersteht, ist Elli schon ganz woanders.

In diesem Moment biegt ein weiteres Auto auf den Parkplatz ein. Erst glaubt Monika, ihren Augen nicht zu trauen. Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus.

„Ja, ist das denn hier ein Klassentreffen?“, ruft sie begeistert. „Das sind ja Carola und Maik!“



Drei Jahre später

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