Читать книгу Ein Ort in Italien - Emmi Ruprecht - Страница 4

Die Anreise

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Elli und Matthias

Elli rast in ihrem alten japanischen Mittelklassewagen die A7 hinunter Richtung Süden. Vor ihr liegt ein Abenteuer und sie kann selbst jetzt noch nicht glauben, dass sie es wirklich in Angriff nimmt. Sie wird nach Italien fahren, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie wird an einem Ort, von dem sie vorher noch nie gehört hat, gemeinsam mit Menschen, die sie nicht kennt, eine Woche lang Musik machen. Darüber hinaus hat sie keine Ahnung, was sie erwartet.

Dabei ist Elli überhaupt nicht der Typ für Experimente. Normalerweise kann sie sich nur mit Mühe davon überzeugen, vertraute Bahnen zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren. Abenteuerlust ist das Letzte, was sie mit sich in Verbindung bringt! Deshalb fragt sie sich wieder einmal, was sie nur geritten hat, sich auf dieses Wagnis einzulassen. Sie allein im Nirgendwo! Unter wildfremden Menschen und ohne auch nur ein Wort Italienisch zu sprechen! Wer weiß, was ihr allein auf der Fahrt dorthin alles passieren wird?

Und eigentlich ist es sogar noch viel schlimmer. In der Nähe von Ulm wird jemand zusteigen. Ein wildfremder Mann, von dem sie bisher nicht mehr kennt als die E-Mail-Adresse und nicht mehr weiß, als dass er 33 Jahre alt ist, drei Jahre jünger als sie, und als Koch arbeitet.

Das ist doch hirnverbrannt! Sie nimmt einen ihr völlig unbekannten Mann in ihrem Auto mit? Ja, ist sie denn bescheuert? Wenn ihre sterblichen Überreste in ein paar Tagen, Wochen oder Monaten irgendwo, vielleicht kurz hinter der italienischen Grenze, gemeuchelt in einer Schlucht gefunden werden, dann wird die Polizei und später die Presse nur den Kopf schütteln über so viel Naivität einer nicht mehr ganz jungen Frau, die wissen sollte, dass man nun mal keine fremden Männer in seinem Auto mitnimmt!

Nervös steckt sie sich eine Zigarette an und nippt an ihrem Milchkaffee, den sie sich eben an der Raststätte geholt hat. Es ist noch sehr früh, erst kurz nach sechs an einem Samstagmorgen. Doch obwohl sie merkt, wie sehr sich die Aufregung auf ihren Brustkorb legt und sie Angst hat vor dem, was der Tag und vor allem die folgende Woche noch bringen wird, ist daneben auch eine Vorfreude spürbar. Es liegt etwas unendlich Verheißungsvolles über diesem frühen Sommermorgen, der wie aus dem Bilderbuch zu sein scheint. Die Landschaft zieht im intensiven Grün des beginnenden Sommers an ihr vorbei. Ab und zu flutet eine Woge von süßlich riechendem Raps ihr Auto und verdrängt den Nikotingeruch des Aschenbechers. Erinnerungen an frühere Urlaube als Kind, als Jugendliche, als junge Erwachsene, die auch mit einer Autofahrt in den Süden begannen, kommen und gehen und hinterlassen trotz all der Anspannung ein Wohlgefühl. Außerdem kann sie endlich draußen sein und den Sommer genießen, anstatt eine weitere Woche in miefigen, grauen Büroräumen zu verbringen!

Ein tiefer Seufzer des Entzückens löst sich, als sie unvermutet von einer Bergkuppe aus einen weiten Blick in die Landschaft erhält. Großartig! Was für ein Bild! Lange wird es nicht mehr dauern, dann werden die Alpen am Horizont auftauchen und sie wieder einmal mit ihrer gewaltigen Schönheit berauschen und in ihren Bann ziehen!

Elli beschließt, sich auf den Urlaub zu freuen und alle Bedenken beiseite zu schieben. Ihr Urlaubsort ist, zumindest den Fotos im Internet nach, wunderschön: ein weitläufiges Anwesen aus mehreren uralten Gebäuden, deren landestypische Fassaden entweder aus groben grauen Steinen bestehen oder klassisch sandfarben verputzt sind. Drum herum gibt es nur grüne Hügel, Weiden, Wälder, Weinberge und sonst gar nichts. Ein Traum!

Außerdem ist sie sehr stolz auf sich, weil sie sich dazu überwunden hat, diesen Urlaub zu buchen und somit die freie Woche nicht allein zu Hause auf ihrem Balkon zu verbringen. Sie wagt es sogar, an einen furchtbar abgelegenen Ort zu fahren, um dort mit Menschen zu musizieren, die sie nie vorher gesehen hat! Das findet sie ganz schön mutig. Beinahe verwegen! Ihre Freunde und Kollegen buchen bestenfalls eine All-inclusive-Reise in den Süden oder ein Ferienappartement an der Ostsee. Doch sie, Elli, fährt nach Italien! Allein! Zu einem Musik-Workshop! Das macht sonst keiner!

Sie seufzt. Eigentlich braucht sie keine solchen Urlaubsabenteuer. Eigentlich hätte auch ihr ein kuscheliges Feriendomizil an der See gereicht. Doch wenn man Single ist und auch sonst niemanden hat, mit dem man den Urlaub verbringen kann, dann ist jeder Platz, und sei er noch so romantisch, einfach nur einsam.

Wann wohl endlich ihr Traumprinz auftaucht?

Resigniert zuckt sie mit den Schultern und verzieht das Gesicht. Sie ist sechsunddreißig, und obwohl sie sich viel jugendliche Frische bewahrt hat und schlank und attraktiv ist, so weiß sie doch, dass die Zeit nicht stehen bleibt und auch an ihr nicht spurlos vorbeigeht. Warum wohl für sie der passende Mann noch nicht aufgetaucht ist? Oder hat sie einfach falsche Vorstellungen von einer Beziehung? Vielleicht muss man irgendwann aufwachen und feststellen, dass es die ganz große Liebe eben doch nur im Märchen gibt – genau wie die Traumprinzen?

Sie denkt an ihren letzten verflossenen Partner. Hätte sie Christian vielleicht doch nicht den Laufpass geben sollen? Er war doch eigentlich ganz vorzeigbar: Führungskraft, schickes Auto, benehmen konnte er sich auch …

Um Himmel Willen – niemals!

Ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken hinunter und sie schüttelt sich unwillkürlich. Sie war ja nicht mal richtig verliebt! Und den Rest ihres Lebens an der Seite eines Mannes zu verbringen, dessen Anwesenheit ihr schnell zu viel wird, mag sie sich nicht einmal vorstellen. Dann doch lieber allein bleiben!

Nach einer Weile trinkt sie den letzten Schluck Milchkaffee aus dem Pappbecher, der in dem Getränkehalter an ihrem Armaturenbrett hängt. Noch zehn Kilometer bis zum vereinbarten Treffpunkt. Dort wird der Dreiunddreißigjährige zusteigen, den sie nach Italien mitnehmen wird. Matthias heißt er. Ob das ein Traumprinz sein könnte? Ein bisschen jung ist er ja für sie. Aber vielleicht wirkt er reifer? Wenn er ansonsten ganz interessant ist, dann sind auch die drei Jahre kein Problem!

Viel konnte sie in dem kurzen E-Mail-Wechsel, in dessen Verlauf sie sich über die Mitfahrmöglichkeit austauschten, nicht über ihn herausfinden. Nur, dass er Koch ist, schrieb er von sich. Und Single. Aber das war ihr eigentlich schon wieder ein bisschen zu viel Information. Natürlich ist es schön, wenn sich an diesem entlegenen Ort in Italien ein paar Männer im passenden Alter einfinden, die nicht gebunden sind. Noch besser, wenn diese Männer auch so sind, dass man sich in sie verlieben kann. Ein Flirt könnte ihre Begeisterung für den Urlaub ganz gewaltig steigern! Aber wenn so etwas unaufgefordert mitgeteilt wird, dann wirkt es schnell nach einem verkrampften Kontaktanbahnungsversuch. Sowas geht sowieso immer schief! Sie ist lange genug auf dem Markt, um sich mit den Feinheiten der Partnersuche auszukennen.

Aber sie ist auch eine Romantikerin! Nur zu gerne stellt sie sich vor, dass in Italien das Glück ihres Lebens auf sie wartet: ein interessanter Mann, der sich unsterblich in sie verliebt! Vielleicht sogar ein Italiener, der dort bestens begütert auf einem umfangreichen Anwesen lebt? Sie würde unverzüglich ihre kärglichen Zelte in Deutschland abbrechen und auf ein romantisches italienisches Anwesen einheiraten. Es gäbe schlimmere Schicksale!

Elli muss über sich selbst den Kopf schütteln. Natürlich wird das alles so nicht passieren. Aber träumen darf sie doch wohl, oder? Wenn das wirkliche Leben so wenig inspirierend ist – oder besser gesagt reichlich frustrierend im Gegensatz zu dem, was sie sich früher einmal vorgestellt hat – dann muss sie doch von Träumen leben. Weswegen soll sie denn sonst morgens aufstehen, wenn nicht in der Hoffnung, dass da draußen irgendwo das ganz große Glück auf sie wartet? Und warum sollte das Schicksal gerade ihr ein Happy End vorenthalten, wenn es doch so viele Frauen gibt, die jemanden gefunden haben, mit dem sie ihr Leben teilen?

Ein Blick auf das Navi zeigt, dass es noch fünf Kilometer sind bis zum vereinbarten Treffpunkt. Die Aufregung steigt, denn je näher sie der Abfahrt kommt, desto stärker werden ihre Befürchtungen bezüglich ihres Beifahrers. Hoffentlich ist er nicht allzu unangenehm! Schließlich müssen sie neun, zehn oder sogar elf Stunden Fahrt miteinander aushalten!

Kurze Zeit später blinkt sie und verlässt die Autobahn. An der Ampel am Ende der Ausfahrt kann sie nach links oder nach rechts abbiegen. Sie wirft einen schnellen Blick auf die Anfahrtsbeschreibung: Erst links und dann nach ein paar hundert Metern auf der rechten Seite soll der Pendlerparkplatz sein, wo Matthias auf sie wartet.

Elli legt den Gang ein und biegt ab. Die Straße führt unter der Autobahn hindurch. Sie fährt langsam und konzentriert, um die Einfahrt nicht zu verpassen, doch eine langgezogene Kurve und der dichte Bewuchs am Straßenrand machen die Gegend nur schwer überschaubar. Wo soll hier ein Parkplatz sein? Da, endlich sieht sie tatsächlich ein blaues Hinweisschild mit einem weißen „P“ darauf.

Als sie auf den geschotterten Platz einbiegt, der zur Straße hin dicht von Büschen eingefasst ist, bemerkt sie mit einem leichten Unwohlsein, dass er fast leer ist. Kurz vor sieben an einem Samstagmorgen ist das vermutlich zu erwarten, denkt sie. Auf was hat sie sich da nur eingelassen? Und was soll sie tun, wenn der Mann, der bei ihr mitfahren will, nicht sympathisch aussieht? Ob sie einfach Gas gibt und weiterfährt? Aber wie soll sie das erklären, wenn Matthias dann doch irgendwann bei dem italienischen Gut auftaucht, wo sie beide ihren Urlaub gebucht haben?

„Keine gute Idee“, denkt Elli. Sie schluckt. „Dann muss ich da jetzt wohl durch.“

Ganz hinten, am anderen Ende des Platzes, rührt sich etwas. Ihre Ankunft scheint bemerkt worden zu sein. Aus einem kleinen roten Auto krabbelt jemand mit langen, dünnen Gliedern aus der weit aufgerissenen Tür der Beifahrerseite. Kurze Zeit später steht ein großer, dünner, blonder Mann mit hängenden Schultern und dicker Hornbrille neben dem Gefährt und öffnet die Tür zur hinteren Sitzbank. Von dort zieht er einen großen Seesack heraus und stellt ihn neben sich auf den Boden. Dann taucht er noch einmal tief ins Innere des Wagens ein und befördert einen schwarzen Gitarrenkoffer mit vielen Aufklebern darauf heraus. Er schlägt die Tür zu, klopft zum Abschied aufs Dach, ergreift seine Utensilien und läuft auf Ellis Auto zu, das sie ein paar Meter vor ihm zum Stehen bringt und den Motor abschaltet.

Elli entspannt sich, denn ein Blick auf ihren Mitfahrer wirkt sofort beruhigend. Attraktiv ist er mitnichten und Elli ist auch sofort klar, dass Matthias nicht der Typ ist, der in ihr Beuteschema passt. Sein rundliches Gesicht schaut zutraulich und freundlich und ist damit meilenweit entfernt von den markanten Gesichtszügen und dem geheimnisvollen, tiefen Blick, der Elli irritieren würde. Doch gleichzeitig kann sie mit diesem Mann, der aussieht wie ein gutmütiger, zu groß geratener Junge, der nur zu gerne Omas über die Straße hilft, auf gar keinen Fall einen gestörten Triebtäter oder brutalen Gewaltmenschen verbinden. Zumindest ihre Instinkte können das nicht. Und so ist sie zwar ein wenig enttäuscht, dass dieser Beifahrer bestimmt nicht ihr Urlaubsflirt werden wird, aber es beruhigt sie auch, dass ihre Mitfahrgelegenheit harmlos und sympathisch wirkt. Erleichtert steigt sie aus ihrem Wagen, um Matthias zu begrüßen.

Matthias ist überrascht: So hat er sich Elli nicht vorgestellt! In seiner Fantasie musste eine Frau, die alleine nach Italien in ein Musik-Camp fährt, etwas „Alternatives“ an sich haben: lange, ungepflegte Haare, nachlässig gekleidet mit Textilien in Knitter- oder Ausbeul-Optik, mindestens ein bisschen mollig und vor allem mit bequemen Sandalen oder Gesundheitsschuhen an den Füßen. Diese Frau, die aus dem alten japanischen Wagen steigt, ist das genaue Gegenteil: Groß, schlank, mit einer gut geschnittenen dunkelbraunen Pagenfrisur zu blauen Augen und sinnlich geschwungenen Lippen. Ihre langen Beine stecken in engen schwarzen Jeans und an ihren Füßen hat sie schmale schwarze Stiefel. Sie trägt eine kurzärmelige hellrote Bluse, die ihr sehr gut steht. Nein, bei dieser Erscheinung hätte er als Urlaubsziel vielleicht Rom, Florenz oder Mailand erwartet, aber nicht die Hügel der italienischen Pampa vermutet.

Lächelnd kommt die hübsche Frau auf ihn zu.

„Hi, ich bin Elli!“

„Tach, Matthias“, antwortet er.

„Kriegst du deine Sachen hier unter?“

Einladend öffnet sie die Tür hinter dem Beifahrersitz.

Sie scheint ganz freundlich zu sein, denkt er und ist erleichtert. Zwar musste er in seiner beruflichen Laufbahn schon mit den unterschiedlichsten Menschen an den unterschiedlichsten Orten klarkommen. Auch hat er besonders gegenüber dem weiblichen Geschlecht selten Probleme, sich unbefangen zu geben. Aber eine lange Fahrt an der Seite von jemandem, den man absolut nicht riechen kann, kann sich dennoch hinziehen.

Er wirft seine Sachen auf die Rückbank und steigt ein. Den Beifahrersitz schiebt er bis zum Anschlag nach hinten, um seine langen Beine unter dem Handschuhfach unterzubringen, dem sie dabei gefährlich nahe kommen.

„Ich hoffe, der Platz reicht aus?“, fragt Elli besorgt, als sie ihn beobachtet.

„Na klar doch!“, antwortet er und grinst sie zuversichtlich an.

„Na dann …“, sagt Elli und lässt den Motor an. Kurze Zeit später sind sie wieder auf der Autobahn.

Die beiden Italien-Reisenden finden schnell Gesprächsstoff. Sobald Elli sich in den Autobahnverkehr eingeordnet hat, kommen sie ins Plaudern und haben sich in kürzester Zeit darüber verständigt, dass sie beide noch nicht an diesem Ort in Italien gewesen sind, wo sie weitab von der nächsten größeren Stadt eine Woche lang Gitarre spielen und singen werden. Sie erzählen sich gegenseitig von ihren Erwartungen und malen sich den Ort das eine Mal in den schönsten Farben als Kleinod italienischer Lebensart aus, das andere Mal befürchten sie eine deprimierend heruntergekommene, baufällige Ruine am Hintern der Welt, mit feuchten Wänden und pappigen Spaghetti zum Abendessen. Schnell geraten sie ins Schwärmen, dann wieder schütteln sie sich angewidert – je nachdem, in welche Richtung ihre Fantasie sie treibt. Und als nach einiger Zeit, die wie im Fluge zu vergehen scheint, am Horizont die Alpen auftauchen, ist bei beiden die Vorfreude auf den Urlaub schon erheblich gewachsen und die Anspannung gewichen.

Matthias beginnt aus seinem Leben zu erzählen. Ein bisschen möchte er Elli auch damit beeindrucken, dass sein Job als Koch ihn in der Vergangenheit quer durch Deutschland in die verschiedensten Restaurants geführt hat und er zum Schluss sogar auf einem Kreuzfahrtschiff angeheuert hat. Leider, so berichtet er, ist dabei sein Gitarrenspiel reichlich zu kurz gekommen. Nun wolle er sich eine Woche lang den Luxus gönnen, intensiv wieder einzusteigen ins Sliden, Tappen und Picken, und ein paar neue Powerchords möchte er auch gerne lernen.

„Außerdem brauche ich wohl einfach eine Auszeit“, ergänzt Matthias und seine Stimme nimmt einen resignierten Klang an.

Elli schaut zu ihm hinüber. Das hört sich traurig an. Vielleicht Probleme im Job? Oder eine enttäuschte Liebe? Soll sie nachfragen, weshalb Matthias eine Auszeit nehmen will? Erwartet er das vielleicht? Oder ärgert er sich womöglich schon darüber, zu viel gesagt zu haben?

Doch bevor Elli sich noch darüber klar werden kann, ob ein Nachfragen unangemessen vertraulich erscheinen würde, senkt Matthias den Kopf und lässt seine Schultern noch weiter hängen, als sie es ohnehin schon tun.

„Ja, das war nicht leicht für mich, das letzte Jahr“, seufzt er und schaut aus dem Beifahrerfenster, wie um seine Emotionen zu verbergen. Nach einer kleinen Pause fährt er fort: „Fast wäre ich Papa geworden. Aber meine Freundin hat das Kind nicht bekommen wollen.“

Dann sagt er eine Weile lang nichts. Elli schweigt betroffen. Das hört sich furchtbar tragisch an!

„Ich wäre gerne Papa geworden“, ergänzt der junge Mann nach einem weiteren Moment der Stille traurig.

Elli schluckt. Sie weiß nicht, wie sie auf seine Worte reagieren soll. Das Gespräch ist jetzt sehr plötzlich sehr ernst geworden und ihr fällt keine angemessene Erwiderung ein. Was sagt man jemandem in so einer Situation? Es scheint Matthias sehr mitgenommen zu haben, dass seine Freundin ihr gemeinsames Kind abgetrieben hat. Aber „Herzliches Beileid“ ist vermutlich nicht passend?

„Das tut mir leid“, entscheidet sie sich nach einer Weile für eine neutrale Formulierung. Unsicher schaut sie zu ihm hinüber.

Oh je! Sie ist jetzt gar nicht darauf vorbereitet, mit irgendwelchen Schicksalsschlägen anderer Menschen umzugehen. Matthias tut ihr leid, wie er so traurig aus dem Fenster starrt. Doch was soll sie jetzt machen? Was kann man jemandem Tröstliches in so einer Situation sagen? Oder soll sie einfach nur schweigen?

Matthias nimmt ihr glücklicherweise die Entscheidung darüber ab, wie das Gespräch weitergehen soll. Er wirkt ganz dankbar dafür, jemanden zum Reden gefunden zu haben und sein Herz ausschütten zu können. Ellis Schweigen scheint er als Einladung dafür zu verstehen.

„Weißt du – ich bin ohne Vater groß geworden. Meine Mutter musste richtig hart arbeiten, um genug Geld für uns beide zu verdienen. Eigentlich bin ich mehr bei meiner Oma als bei meiner Mutter aufgewachsen. Sowas wie ein Familienleben kenne ich gar nicht.“

Er schüttelt den Kopf, als wolle er die traurigen Erinnerungen an die entbehrungsreichen Zeiten seiner Kindheit vertreiben, die vor seinem inneren Auge auftauchen.

„Mein Erzeuger hat sich kurz nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht. Doch nun hätte ich selbst ein Vater sein können.“

Noch einmal seufzt er schwer und scheint den Tränen nahe zu sein.

Elli hält den Atem an. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit – wie so oft, wenn sie unvermittelt zur Rettungsstation für jemanden wird, der sie ungefragt dazu auserkoren hat. Sie traut sich kaum sich zu rühren oder etwas zu sagen aus Angst, es könnte das Falsche sein. Fieberhaft überlegt sie, was sie tun soll. Einerseits fühlt sie sich dazu verpflichtet, ihren Mitfahrer zu trösten, doch andererseits fühlt sie sich auch ziemlich überfahren von der Situation. Um Himmels Willen – hoffentlich muss sie jetzt nicht den ganzen Urlaub lang Händchen halten und sich seine traurige Lebensgeschichte anhören! Sie kann sich doch so schlecht abgrenzen!

Schließlich gelingt es ihr, ihren Verstand einzuschalten.

„Alles Quatsch“, denkt sie resolut und versucht sich zu entspannen. „Ich bin doch nicht für ihn verantwortlich. Ich kenne ihn erst seit einer Stunde! Außerdem würde ich niemals auf die Idee kommen, jemand Wildfremdem eine so persönliche Geschichte wie die einer Abtreibung zu erzählen, um dann auch noch umfangreiche Lebenshilfe zu erwarten!"

Dieser Gedanke erleichtert sie zunächst. Doch gleich darauf droht wieder ihr schlechtes Gewissen die Oberhand zu gewinnen. Wie kann sie nur so herzlos sein? Das ist doch schlimm, was der arme Junge durchmacht! Da muss sie doch Mitleid haben!

Matthias scheint unterdessen von Ellis Unbehagen überhaupt nichts mitzubekommen und redet einfach weiter.

„Aber ich will das Geschehene auch gar nicht nur meiner Exfreundin anlasten“, unterbricht er Ellis inneres Zwiegespräch. „Wir waren beide vermutlich zu jung. Ich habe auch Fehler gemacht. Es ist blöd gelaufen.“

Er macht eine wegwerfende Handbewegung, wie um zu zeigen, dass es sich nicht lohnt, weiter über die Geschichte zu reden. Trotzdem scheint er sehr betroffen zu sein.

Unwillkürlich denkt Elli, dass es sicher viele Menschen gibt, die sich in weitaus jüngeren Jahren als in Matthias‘ Fall mit einer möglichen Elternschaft auseinandersetzen müssen. Aber vermutlich ist das eine sehr individuelle Sache, ob man sich zu jung fühlt oder nicht? Außerdem hat sie selbst keine Kinder, kann also auch nicht mitreden. Trotzdem fühlt sie sich verpflichtet zu sagen: „Nein, nein, mach‘ dir bloß keine Vorwürfe.“

Unsicher schaut sie zu ihrem Begleiter hinüber. Hat sie jetzt das Richtige gesagt? Oder wird er diese Bemerkung unangemessen finden?

Doch Matthias sieht sie dankbar an: „Danke. Du bist echt klasse! Entschuldige, dass ich dich so mit meinem Schicksal überfallen habe. Es kam gerade über mich. Manchmal erwischt mich die Geschichte voll“, meint er mit einem tapferen Lächeln.

„Na klar, kein Problem“, murmelt Elli erleichtert.

Zumindest scheint ihr Mitfahrer jetzt nicht von ihr zu erwarten, dass sie seine Probleme löst. Trotzdem überlegt sie fieberhaft, wie sie die bedrückende Stimmung wieder entspannen kann, die so plötzlich die Urlaubsfreude vom Anfang vertrieben hat. Außerdem – und bei dem Gedanken kommt sie sich richtig herzlos vor – beginnt gleich der Teil der Reise, auf den sie sich ganz besonders gefreut hat: die Fahrt durch die Alpen! Diesen Reiseabschnitt möchte sie genießen! Das fällt allerdings schwer, wenn neben ihr jemand vor sich hin leidet. Also wäre es gut, die Stimmung zu verbessern. Nur wie?

Nach kurzer Zeit taucht am Straßenrand ein Schild mit einem Hinweis auf eine Raststätte auf, die auch Vignetten für Österreich verkauft.

„Ich denke, die Gelegenheit sollten wir nutzen“, sagt Elli erleichtert in der Hoffnung, damit das Thema wechseln zu können. Sie weist auf das Schild. „Vielleicht holen wir uns auch gleich noch einen Kaffee?“

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Monika

Monika steht in ihrem großzügigen Bad vor dem modernen Waschtisch aus dunklem Holz mit dem weißen Keramikbecken darauf. Sie schaut in den riesigen, mit Mosaiksteinen eingefassten Spiegel dahinter. Gerade eben noch war sie dabei, die letzten Utensilien, die sie für die Reise braucht, in ihr edles Beautycase aus dunkelbraunem Leder zu versenken. Doch dann fiel ihr Blick zufällig in den Spiegel, und nun kann sie sich nicht losreißen von dem Bild, was sich ihr bietet: Eine Frau von fast 50 Jahren mit ausgeprägten Gesichtszügen – „herb“ wie ihre Mutter dazu auf ihre charmant uncharmante Art sagt – schaut ihr entgegen. Ihre aschblonden, von einigen wenigen grauen Strähnen durchzogenen Haare hat sie streng zu einem praktischen Zopf zurückgebunden. Der Ärger der letzten Monate, den sie fast immer fleißig hinuntergeschluckt hat, zeigt sich in ihrem Gesicht und lässt ihre markanten Gesichtszüge maskenhaft versteinert wirken.

Sie schaut sich an und ist erschrocken über das, was sie sieht. Ist sie das wirklich? Diese verhärmt aussehende Frau mit der steilen Stirnfalte und den missbilligend zusammengezogenen Lippen? Wo sind die Leichtigkeit und die Lebensfreude geblieben, die doch auch einmal da waren? Sie waren doch einmal da? Oder täuscht sie ihre Erinnerung an frühere Jahre? Malt sie die Vergangenheit in zu fröhlichen Farben?

"Ein bisschen vielleicht schon", muss Monika sich eingestehen, denn wirklich einfach war ihr Leben nie. Jedenfalls erinnert sie sich gerade nicht an unbeschwerte Zeiten. Oder ist auch das eine Fehleinschätzung, die von ihrer momentanen Unzufriedenheit herrührt?

Ob sie einfach undankbar ist? Schließlich geht es ihr sehr gut!

Sie betrachtet im Spiegel das moderne, geschmackvolle Ambiente ihres vor anderthalb Jahren renovierten Bades. Die Familie eines Bankdirektors kann sich solche Extras leisten, ohne auf irgendetwas anderes verzichten zu müssen – nicht mal auf die Ein-Zimmer-Eigentumswohnung ihres Sohnes, der seit einem Jahr studiert, oder das Auto ihrer Tochter, welches sie zur bestandenen Führerscheinprüfung bekommen hat. Wobei es „nur“ ein gebrauchter Kleinwagen ist. Aber ein sehr schicker und nicht so ein klappriger Verkehrstod, wie sie ihn sich damals mit zwanzig Jahren mühsam zusammengespart hat.

Was will sie mehr? In ihrem Leben hat sie einiges erreicht: Sie hat zwei wohlgeratene Kinder großgezogen. Sie hat den Aufstieg ihres Mannes gefördert, ihm stets den Rücken frei gehalten, ihn ermutigt und bei gesellschaftlichen Anlässen unterstützt, sodass er seine Karriere gradlinig bis zu seiner jetzigen Position ausbauen konnte. Sie hat derweil das Haus zu einem wahren Schmuckstück ausgestaltet, das gesamte Familienleben perfekt organisiert und nebenbei noch ihren Halbtagsjob in der Stadtverwaltung ordentlich gemeistert. Sie kann stolz auf sich sein. Oder?

Misstrauisch sieht sie in den Spiegel. Stolz sieht sie nicht aus. Eher starr. Leblos. Warum?

Sie muss sich beeilen. In einer Viertelstunde soll das Taxi da sein, das sie zum Flughafen bringt. Was wollte sie noch unbedingt einpacken? Ach ja, das Mückenspray und die Migränetabletten. Die ganz unbedingt! Wenn ihr Urlaubsort in Italien wirklich so weit weg vom Schuss ist, wie es in dem Artikel beschrieben wurde, den sie darüber las, dann würde sie sich nicht einfach Tabletten in der nächsten Apotheke besorgen können und die Woche vermutlich kaum überleben!

Eilig rafft sie ihre Sachen zusammen und trägt sie in das riesige, im Kolonialstil eingerichtete Schlafzimmer mit den bis zum Boden reichenden Fenstern, wo ihre schicke dunkelbraune Lederreisetasche schon fast fertig gepackt auf sie wartet. Mit etwas Gewalt schafft sie es, ihr Beautycase auch noch darin zu versenken. Nur knapp gelingt es ihr, den Reißverschluss zu schließen. Mit Mühe trägt sie das sperrige Gerät durch den Flur und die Treppe hinunter in die großzügige Küche mit der rasend schicken Kochinsel unter einer mächtigen polierten Dunstabzugshaube. Das Ding hat vor vier Jahren ein Vermögen gekostet und der Einbau jede Menge Nerven. Ihre Nerven. Ihr Mann hat kaum bemerkt, dass die Küche komplett erneuert wurde. Dabei war es eine offensichtliche Verbesserung, weil die alte nicht nur seit jeher unpraktisch war, sondern auch ein Gerät nach dem anderen den Geist aufgab.

„Aber wie hätte er die Veränderung auch feststellen sollen? Er hält sich ja kaum in diesem Raum auf", denkt sie ironisch.

Sie stutzt. Moment mal! Ist sie jetzt auch zu einer dieser Frauen geworden, die sie nie sein wollte? Die sich darüber aufregen, dass sich der Mann im Haushalt so wenig einbringt, und die diesen Umstand pausenlos beklagen? Es ist eben so: Ihr Mann verdient das Geld – jedenfalls den Hauptteil des Familieneinkommens. Ein solch luxuriöses Leben, wie sie es führen, ist mit ihrem Gehalt als Verwaltungsangestellte undenkbar. Während Volker, ihr Mann, also die finanzielle Grundlage schafft, sorgt Monika für alles, was ihr gemeinsames Leben sonst noch ausmacht: Haushalt, Familie, Freunde und sämtliche Unternehmungen, die in der spärlichen Freizeit gerade so Platz finden. So wurde es zu Beginn ihrer Ehe unausgesprochen vereinbart und so wird es seitdem gelebt. Was ist schlimm daran?

„Dass ihn alles andere nicht interessiert. Dass ihn nichts interessiert, solange die Familie irgendwie funktioniert und er sich bitte, bitte, bitte um keinerlei private Probleme kümmern muss“, schießt es ihr durch den Kopf. Schmerzlich wird ihr einmal wieder bewusst, wie unglaublich leer ihrer beider Zusammenleben geworden ist.

Vermutlich war das auch der Grund dafür, dass sie ihrem Mann unlängst eröffnet hat, dass sie wieder ganztags arbeiten will, nachdem die Kinder nun mehr oder weniger aus dem Haus sind. Nele hat gerade Abitur gemacht und Felix ist sowieso nur noch am Wochenende da – wenn überhaupt – und ansonsten froh über sein selbstständiges Studentenleben in der eigenen Bude. Deshalb hat sie damit gerechnet, dass Volker ihre Idee gar nicht schlecht finden würde. Was sollte er auch dagegen haben? Er ist sowieso fast nie vor zwanzig Uhr zu Hause und würde es gar nicht bemerken, wenn sie nun auch die Nachmittage in der Stadtverwaltung zubrächte. Also konnte ihr Plan doch nur seine Zustimmung finden, hat sie gedacht.

Doch kaum hat sie ihm davon erzählt, da war die Sache irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Vielleicht hat ihr Mann gar nicht vorgehabt, ihr Steine in den Weg zu legen oder ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Vielleicht hat er nur wieder einmal überhaupt nicht richtig zugehört und schon gar nicht realisiert, dass es einfach mal um sie, seine Frau, ging. Und genau diese Ignoranz ihr gegenüber hat sie auf die Palme gebracht!

Volker hat den Fehler gemacht, Monika darauf hinzuweisen, dass ihre Mutter bereits angekündigt hatte, die Unterstützung ihrer Tochter zu benötigen. Sie plante nämlich, ihr Haus zu verkaufen und in eine weniger große Wohnung umzuziehen. Um das zu bewerkstelligen, muss jedoch der gesamte Haushalt durchforstet und entschieden werden, welche Stücke mit in die neue Wohnung kommen sollen, welche nicht und was mit dem Rest passieren soll. Monikas Mutter hatte sie bereits gebeten, ihr dabei zur Hand zu gehen. Ob sie denn dann wirklich Zeit hätte, ganztags zu arbeiten, wenn sie sich um den Hausverkauf und den Umzug ihrer Mutter kümmern müsse, hat Volker gefragt. Da hat Monika Rot gesehen. Von jetzt auf gleich war sie implodiert. Sie hat ihren Mann hasserfüllt angestarrt, der sich schon wieder hinter seinem Tablet verschanzt hat, ohne dem Ganzen weiter Aufmerksamkeit zu schenken. Ohnmächtig vor Wut, aber wortlos, weil sie schon lange eingesehen hatte, dass Diskussionen nichts brachten, hat sie ihre Stiefel angezogen und war aus dem Haus gerannt, um sich bei einem Spaziergang wieder zu fangen.

Ihre Mutter!

Oh ja, ihre Mutter kann locker einen ganzen Stall von Bediensteten beschäftigen. Das hat sie auch zeitlebens getan! Schon in Monikas Kindheit hatte sich der Alltag ihres Vaters, ihrer Schwester und ihr eigener ausschließlich nach dem Rhythmus, den Befindlichkeiten und den Launen ihrer Mutter ausgerichtet. Auch heute noch wird jeder, absolut jeder, der nicht schnell genug das Weite sucht, von der mittlerweile älteren Dame und ihren Ansprüchen vereinnahmt.

Ihre Mutter war Opernsängerin gewesen – eine recht gute und angesehene obendrein. Ihr Vater, Gott hab‘ ihn selig, hatte sie vergöttert. Dieser unselige Umstand der Anbetung durch ihren Vater sowie der angeborene Narzissmus ihrer Mutter in Kombination mit der sensiblen Künstlerin, die sie vorgab zu sein oder vielleicht auch wirklich war, sorgte dafür, dass sich alles im Hause der Familie um ihre Bedürfnisse drehte. Ihre Mutter brauchte absolute Einkehr vor ihren Auftritten, um sich zu konzentrieren und in ihre Rolle einzufühlen. Sie brauchte Ruhe nach ihren Auftritten, weil diese sie emotional sehr erschöpften. Und auch zwischendurch mussten sich alle Familienmitglieder im Haus auf Zehenspitzen fortbewegen, weil ihre Mutter von den meisten Proben in höchster Erregung nach Hause zurückkam. Dann war wieder irgendetwas ganz Furchtbares vorgefallen, was ihre sensible Künstlerseele in Aufruhr versetzt hatte: Mal war es ein zu harter Anschlag des Pianisten gewesen, mal ein vermeintlich kritischer Blick des Intendanten, dann ein falscher Ton ihres Partners beim Duett – der Möglichkeiten gab es unendlich viele. Darüber hinaus hagelte es ununterbrochen Anweisungen, wie um ihre Mutter herum zu verfahren sei: „Jetzt nicht, Kinder, ich brauche Ruhe“, „Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt leise spielen? Ich muss mich konzentrieren“, „Wer hat das Fenster aufgemacht? Soll ich die Tosca heiser singen?“, „Monika, machst du mir bitte einen Tee, Liebes? Ich habe solch ein Kopfweh“, „Ich habe ganz vergessen, dass heute der Dirigent mit seiner Frau zum Essen vorbeikommt, und jetzt muss ich zur Probe. Monika, könntest du bitte …“ und so weiter und so fort. All das und noch viel mehr Dinge, die ihre Mutter betrafen, mussten im Familienleben berücksichtigt werden. Etwas anders zählte nicht, ja es gab gar nichts anderes.

Als Monika erwachsen wurde, gelang es ihr nur mit Mühe, sich der allumfassenden Präsenz und Bedürftigkeit ihrer Mutter zu entziehen. Um ihren Eltern keinerlei Gelegenheit zu geben, sie mit finanzieller Abhängigkeit an sich zu binden, hatte Monika nicht studiert, wie sie es gerne getan hätte, sondern eine Ausbildung in einem großen Industrieunternehmen begonnen, wo sie schon in der Lehre relativ gut verdiente. Solange sie noch zu Hause wohnte, legte sie das Geld sorgfältig zurück und sparte, wo sie nur konnte. Als dann die Lehrzeit fast überstanden war und sie ihre Finanzen bis zum Beginn einer fest zugesagten Anstellung gesichert hatte, suchte sie sich zügig eine Wohnung. Wohlweislich informierte sie ihre Eltern erst kurz vor ihrem Auszug über das Vorhaben und den bereits unterzeichneten Mietvertrag. Alles andere wäre grob fahrlässig gewesen! Ihre Mutter schätzte es nicht, wenn sie auf gewohnte Bequemlichkeiten verzichten musste, und hätte sicher und vermutlich auch erfolgreich interveniert.

Von dem Moment ihres Auszugs an hatte Monika alles vermieden, was sie wieder in riskante Nähe zu ihrem Elternhaus gebracht hätte. Da sie den Kontakt zu ihren Eltern jedoch nicht komplett und rigoros beenden wollte, war das ein ständiger Drahtseilakt gewesen, der bis heute andauert, denn auch jetzt noch muss sie jeden kleinen Finger, den sie ihrer Mutter reicht, schnell mit der ganzen Hand bezahlen.

Monikas Schwester Ute hatte das Problem sehr viel konsequenter gelöst: Sie hatte sich in einen amerikanischen Soldaten verliebt, der in der Nähe stationiert war. Kaum volljährig war sie ihm in die Staaten gefolgt, als seine Zeit in Deutschland abgelaufen war. Glück für Ute, Pech für Monika: Sie hatte die Liebe zu Volker leider nur bis in die nächste Stadt gebracht – und das war allzu oft eine viel zu geringe Distanz zu den Ansprüchen ihrer Mutter!

Doch Monika war lernfähig. Mit der Zeit und mit wachsendem Selbstbewusstsein hatte sie es geschafft, sich ihren Freiraum zu erobern und die Trennung der Lebensräume zu konsolidieren. Als dann vor ein paar Jahren ihr Vater unvermittelt starb, schwitzte Monika noch einmal für ein paar Monate Blut und Wasser: Sie befürchtete, dass sie ihr Schicksal nun doch noch ereilen und ihre Mutter in völliger, hochkünstlerischer Lebensuntüchtigkeit auf ihre Unterstützung angewiesen sein würde. Es wäre Monika äußerst schwer gefallen, sich angesichts dieses dramatischen Verlustes dem bedürftigen Zugriff ihrer Mutter zu verweigern. Doch glücklicherweise fand sich schon bald ein neuer, beziehungsweise alter Verehrer der Kunst ihrer Mutter, der sich als erfolgreicher Versicherungsmakler auch fantastisch darauf verstand, ihr bei allem, was Finanzen, Versicherungen und sonstigen Papierkram anging, um den sich bis dahin ihr Vater gekümmert hatte, zur Hand zu gehen. Monika war erleichtert.

Vor ein paar Monaten jedoch fing ihre Mutter an, mit dem Gedanken zu spielen, gemeinsam mit dem mittlerweile verrenteten Makler zusammenzuziehen. Dazu muss jetzt ihr Haushalt, beziehungsweise Monikas Elternhaus, mit allem, was ein Familienleben lang dort angesammelt wurde, aufgelöst werden. Für solcherlei Aktivitäten ist jedoch der tatkräftige Ex-Makler nicht die richtige Adresse und Monika geriet wieder akut ins Visier ihrer Mutter! Ihr graut davor, die vermutlich ewig andauernden, unseligen Diskussionen mit ihr darüber zu führen, was sie noch braucht und was nicht und was weggeschmissen werden darf. Denn so, wie sie ihre Mutter kennt, wird sie auch dabei wieder alles tun, um ihrem Künstlerinnen-Image entsprechend in Lebensuntüchtigkeit zu glänzen, um sich möglichst ausgiebig den Diensten ihrer Tochter zu versichern! Um alles, was Aufmerksamkeit und einen umfangreichen Stab an Personal verspricht, wird bis zum letzten Atemzug mit Bitten und Betteln, Tränen, dem Vortäuschen von Schwächeanfällen und dem Appell ans schlechte Gewissen gekämpft. Das Schlimmste dabei ist, dass man ihrer Mutter ihren Egoismus nicht einmal vorhalten kann. Die Bedürfnisse anderer Menschen kommen in ihrem Weltbild einfach nicht vor! Ihr etwas anderes beizubringen wäre wohl spätestens die Aufgabe von Monikas Vater gewesen. Doch der hatte es vorgezogen, sich dem Frondienst durch einen raschen Tod zu entziehen, als seine Kräfte nachließen – jedenfalls unterstellt seine Tochter ihm das manches Mal.

Monika bemerkt, dass sie immer noch auf die Dunstabzugshaube starrt. In ihrem Bauch ballt sich schon wieder diese tief sitzende Wut zusammen. Sie findet einfach keine Erlösung, weil sie schon vor langer Zeit eine unauflösliche Allianz eingegangen ist mit einem schlechten Gewissen und dem Wissen darum, dass ihre Mutter in ihrem hohen Alter tatsächlich kaum in der Lage sein wird, auch nur das Geringste an ihrem Anspruchsverhalten zu ändern. Sie weiß, dass sie letztlich nichts tun kann, um diese Situation, die sie seit ihrer Kindheit verfolgt, zu ändern – außer, sie brächte ihre Mutter um. Doch das kommt bei Monika nur als rein hypothetische Lösung infrage, genauso wie der Plan, es ihrer Schwester gleichzutun und auszuwandern. Schließlich müsste sie dann auch ihr eigenes Leben zurücklassen.

Doch damals, vor ein paar Monaten, als sie nach dem kurzen Wortwechsel mit ihrem Mann in die Feldmark hinausgestürmt war, hatte sich plötzlich die Frage aufgedrängt, was sie denn genau zurücklassen würde, wenn sie tatsächlich ihr altes Leben aufgäbe: ein Leben, das aus einem erträglichen, aber nie erfüllenden Halbtagsjob besteht, aus Kindern, die sie sehr liebt, die jedoch längst auf dem Sprung sind, ihr eigenes Leben zu leben, und einem Mann, der eigentlich längst dasselbe tut. Reicht das aus um zu bleiben?

Damals hatte ihr dieses ganze Konglomerat an fragwürdigen Details, die ihr Leben bestimmen, fast den Atem geraubt. Ihr war klar geworden, dass sich etwas ändern muss, wenn sie nicht sehenden Auges in eine aussichtslos deprimierende Situation hineinschlittern will, in der ihre eigenen Bedürfnisse keine Bedeutung mehr haben. Auch wurde ihr klar, dass sie sich dieser Zukunft nur durch eine Flucht entziehen könnte, die zumindest kurzzeitig Erleichterung und die Möglichkeit bringen würde, in Ruhe über ihr weiteres Leben nachzudenken.

Doch wohin sollte sie schon fliehen?

Noch am selben Abend hatte sie eine Frauenzeitschrift zur Hand genommen, nur um sich von ihrer Wut und der frustrierenden Zwickmühle, in der sie sich befand, abzulenken. Dort hatte sie von diesem „Sehnsuchtsort“ in Italien gelesen, wo man in reizvoller Landschaft auf einem liebevoll restaurierten Gutshof eine Auszeit vom Alltag nehmen kann. Das gute Essen wurde gelobt und die Abgeschiedenheit weitab von dem nächsten Dorf und erst recht von der nächsten Stadt betont. Wer der Allgegenwärtigkeit der Medien entkommen wolle, sei dort genau richtig, denn vor allem eines sei an diesem Ort nur selten zu bekommen – ein Netz. Und mehr als alles andere erschien Monika in diesem Moment genau dieser Hinweis das beste Argument dafür zu sein, einen Urlaub an diesem Ort in Italien zu buchen!

Es klingelt an der Tür. Das Taxi. Oh je – sie wollte doch noch ein paar Bücher für die Reise aussuchen. Sie läuft ins Wohnzimmer und fischt nach schneller Durchsicht zwei Romane aus dem Regal und ein Sachbuch, das sie zum Geburtstag bekommen hat. Schließlich muss sie sich auch in reizvollster Landschaft irgendwie beschäftigen. Das bisschen Singen und Gitarre spielen, wovon in der Anmeldung die Rede war, würde ja nicht viel Zeit beanspruchen. Außerdem hat sie darauf sowieso keine Lust und wird derlei Aktivitäten den anderen Gästen überlassen. Sie will einfach nur in Ruhe nachdenken und dabei nicht ganz einsam sein.

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Carola und Maik

Carola und Maik haben kein Auge für die beeindruckende Kulisse um sie herum. Seit Stunden fahren sie schon durch die Alpentäler Norditaliens, die sich mit der Reise nach Süden immer weiter öffnen, vorbei an beeindruckenden Bergformationen, romantischen, an atemberaubend steilen Hängen gebauten Burgen und entzückenden kleinen Ortschaften. Doch keiner von beiden scheint die Schönheit der immer neuen Aussichten wahrnehmen zu können, obwohl sie in einem Cabriolet sitzen, welches die besten Voraussetzungen für den Genuss dieser einzigartigen Region bietet.

Gerade haben sie sich wieder in den Verkehr der Autobahn eingefädelt, nachdem sie an einer „area di servizio“ kurz hinter Bozen getankt und einen Espresso sowie ein Panini zu sich genommen haben. Carola hat nun das Steuer übernommen. Maik versucht, sich damit abzufinden und auf dem Beifahrersitz zu entspannen. Das fällt ihm schwer, da er sich am Lenkrad als Herr der Lage wohler fühlt. Aber Carola hat darauf bestanden, dass sie sich abwechseln, weil sie „leichte Ermüdungserscheinungen“ beim Fahrer festzustellen meinte. Maik konnte das zwar nicht erkennen, denn schließlich hatte das Wohnwagengespann vor ihm wirklich völlig unvorhergesehen gebremst. Aber Carola ist nach der Rast, als er noch kurz die Örtlichkeiten aufsuchte, einfach auf den Fahrersitz gerutscht und sieht nicht so aus, als würde sie diesen Umstand zur Diskussion stellen wollen.

Und jetzt hängen sie schon seit einem Kilometer hinter demselben LKW!

“Du kannst überholen“, ermutigt Maik seine Frau. Doch Carola schaut nur kurz in seine Richtung und er ist sicher, er würde hören, dass sie gerade geräuschvoll die Luft durch die Nase einzieht, wenn sie nicht im Cabriolet säßen und die Fahrgeräusche solche Dinge übertönten.

Er rollt mit den Augen und wendet sich ab. Missmutig starrt er zur Seite, um sich nicht länger darüber aufregen zu müssen, dass Carola dem behäbigen Laster hinterherdackelt.

In letzter Zeit fragt er sich manchmal, ob es damals, vor fast 15 Jahren, wirklich so eine gute Idee war, sich in Carola zu verlieben. Sein bester Freund hatte ihn gewarnt und seine Eltern sowieso. „Die ist nichts für dich, das gibt nur Ärger“, hatte André gesagt. Und seine Mutter hatte gemeint, er solle sich doch ein Mädchen „aus seinem Umfeld“ suchen, eine, die nicht studiert und aus einer Akademikerfamilie kommt wie Carola.

Aber über solche Sprüche hatte Maik sich nur amüsiert. Gerade Carolas „Klasse“, wie er es nannte, hatte ihn gereizt. Sie war so ganz anders als die Mädchen, mit denen er sonst zu tun hatte: Sie sprach viel melodiöser und gewählter, obwohl sie manchmal mit Vorliebe recht derbe Ausdrücke gebrauchte. Sie bewegte sich auch anders: weder so trampelig wie die einen, noch so affektiert wie die anderen Freundinnen seiner Kumpel. Ihr ganzes Wesen strahlte Eleganz aus und ihr Ausdruck war stets eloquent – auch ein Wort, welches er durch sie gelernt hat. Außerdem war sie bildschön und früher für ihn unwiderstehlich gewesen mit ihren langen blonden Haaren und dem ausgeprägten runden Hinterteil unter der extrem schmalen Taille. Niemals hätte er diese Frau ziehen lassen, die alles verkörperte, was er bewunderte und begehrte. Er war monatelang stolz wie ein Pfau neben ihr her spaziert, als er sie endlich ganz für sich erobern konnte.

Anfangs hatte ihm der Verlauf ihrer Beziehung bestätigt, dass es richtig war, sich nicht beirren zu lassen, sondern um diese Frau zu werben. Er war neunundzwanzig und sie zweiundzwanzig, als sie sich kennenlernten. Sie war noch ein junges Mädchen und kaum der behüteten Umgebung ihres Elternhauses entwachsen. Er dagegen war bereits ein gestandener Mann, der nicht schlecht verdiente im Betrieb seines Vaters, von dem er bereits wusste, dass er ihn eines Tages übernehmen würde. Er hatte etwas zu bieten, jedenfalls mehr als diese Studenten, die – noch feucht hinter den Ohren – von Papa und Mama lebten und wilde Weltverbesserungstheorien diskutierten, weil sie noch keine Ahnung von Verantwortung und der rauen Wirklichkeit hatten. Das gab ihm das nötige Selbstbewusstsein, sich neben dieser Frau nicht unwohl zu fühlen und darüber hinaus auch einiges anzunehmen, was sie ihm an Stil und Umgangsformen vorlebte.

Darüber hinaus fühlte er sich auch sehr wohl in ihrer Familie, die ihn vorbehaltlos in ihrer Mitte akzeptierte – jedenfalls ließ sie ihn nie etwas anderes spüren. Er hatte das Gefühl, das ganz große Los gezogen zu haben. Mit Carola hatte er die richtige Frau an seiner Seite, um sich aus den ihn schon immer einengenden Verhältnissen, in denen er lebte, herauszuentwickeln. Dabei musste er nicht einmal seine Wurzeln aufgeben, denn Carola hatte keinerlei Berührungsängste mit seiner Familie und seinen Freunden. Sie schien gerne in „seiner“ Welt zu sein und fügte sich problemlos ein, ohne sich zu verstellen.

Wie gesagt: Anfangs war alles perfekt. Maik schwebte auf einer Wolke der Glückseligkeit. Es erschien ihm so, als würde das Schicksal ihn lieben und ihm alles zu Füßen legen, was er für seinen angestrebten gesellschaftlichen Aufstieg brauchte.

Ein paar Jahre lang ging alles gut. Doch irgendwann begannen Zweifel an ihm zu nagen. Spätestens als Carola ihr Studium beendete und darüber nachdachte zu promovieren, realisierte er plötzlich, dass sie nicht ewig das junge Mädchen bleiben würde, das vor sich hin lernte und ohne einen Abschluss in der Tasche noch nicht viel darstellte. Als Carola dann auch noch ihr Diplom mit Auszeichnung bestand, fiel es ihm schwer, diesen Erfolg mit ihr zu feiern. Er zog sie lieber damit auf, dass sie vom „Ernst des Lebens“, wie er es nannte, auch mit Diplom noch nichts wusste.

Kurze Zeit später wurde sie tatsächlich als Doktorandin an dem Institut angestellt, an dem sie auch studiert hatte. Schnell erweiterte sich ihr Bekanntenkreis und auf einmal hatte sie immer mehr mit „Doktoren“ und „Professoren“ zu tun und duzte sich sogar mit ihnen. Seine Freundin „war plötzlich wer“ als angehende Frau Doktor, die forschte, Vorlesungen hielt und Diplomarbeiten betreute. Sie entwuchs der Rolle des kleinen Bücherwurms an seiner Seite. Maiks Vorsprung als angehender Unternehmer, der relativ viel Geld verdiente und sich im Leben bereits einen Platz erobert hatte, schwand.

Für eine kurze Zeit konnte er diese Gedanken in den Hintergrund drängen, als Carola seinen Heiratsantrag annahm und sich trotz ihrer mittlerweile gesicherten Existenz und glänzenden Zukunftsperspektiven für ihn entschied. Er hatte auch immer noch den Eindruck, dass sie ein bisschen zu ihm, dem erfahreneren Mann aufschaute, der nach und nach die Geschäftsführung des elterlichen Betriebs übernahm und sehr erfolgreich damit begann, das Unternehmen zu erneuern.

Doch letztendlich war der Prozess der Anpassung ihrer Beziehung an die geänderten Verhältnisse wohl nicht aufzuhalten gewesen. Carola wurde immer selbstbewusster und fügte sich nicht mehr ergeben seinen Ansichten und Vorstellungen. Sie hatte plötzlich auch mal Meinungen oder Wünsche, die von seinen abwichen. Auch war sie längst nicht mehr jederzeit verfügbar, wenn er wegen der betrieblichen Notwendigkeiten nur recht kurzfristig Freizeitaktivitäten planen konnte, sodass gemeinsame Unternehmungen immer seltener wurden. Seine familiären, freundschaftlichen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen musste er immer öfter alleine wahrnehmen. Beim Schützenfest oder anderen dörflichen Ereignissen, wo er sich als ortsansässiger Handwerker mit eigenem Betrieb sehen lassen musste, weil viele der Gäste seine Kunden waren, flog dann schon mal die ein oder andere bissige Bemerkung, warum seine Frau Besseres zu tun hätte, als ihn zu begleiten, und ob sie überhaupt noch zusammen wären. Zwar wehrte Maik solche Angriffe lachend ab oder frotzelte zurück, dass nur niemand neidisch sein soll, weil er unbewacht das Haus verlassen dürfe. Doch ihm missfiel Carolas häufige Abwesenheit auch und er fühlte sich vernachlässigt. Die Frauen seiner Freunde und Bekannten waren selbstverständlich immer an deren Seite und fielen höchstens dann einmal aus, wenn eines der vielen Kinder kränkelte. Er hätte es gern gesehen, wenn auch um ihn jemand herumgetanzt hätte, ihn anhimmelte oder seinen Äußerungen beifällig lauschte, wie er es selbstverständlich bei seinen Freunden und deren anwesenden Gattinnen beobachten konnte. Zwar zeigte er seine Frau bei den seltener werdenden Gelegenheiten immer noch gerne vor und dann verstummten auch schnell alle anzüglichen oder herablassenden Bemerkungen aus seinem Bekanntenkreis. Darüber hinaus umschmeichelte manch bewundernder oder gar begehrlicher Blick seine wunderhübsche, charmante Carola, die mit zunehmendem Alter auch optisch immer deutlicher aus der Masse der Ehefrauen hervorstach, denen die Zeit ihren Stempel aufdrückte. Dann wurde sein Stolz auf seine einstige Eroberung neu entfacht!

Aber diese Gelegenheiten wurden auch nicht zahlreicher, als Carola schließlich ihren Doktortitel hatte und begann, auf ihr nächstes Ziel, die Habilitation, hinzuarbeiten. Und schließlich konnte Maik nicht umhin, seine häusliche Situation immer kritischer zu betrachten. Immer öfter stellte er Vergleiche an zu dem Leben, das seine verheirateten Freunde führten. Wenn die abends heim kamen, wartete eine Frau auf sie, die ihren Mann genauso wie die Kinder bekochte und umsorgte. Wenn Maik nach Hause kam, dann war Carola oft noch nicht da oder arbeitete in ihrem Arbeitszimmer an der Veröffentlichung irgendwelcher Fachartikel oder sie bereitete Vorlesungen vor. Und so ist es bis heute geblieben.

Er seufzt. Vielleicht wäre es damals besser gewesen, dem Rat von Eltern und Freunden zu folgen und ein Mädchen zu ehelichen, das weniger ambitioniert an der eigenen Karriere arbeitet. Er sehnt sich nach einer Frau, die selbstverständlich zu ihm aufschaut, ihn umsorgt und wo ganz klar ist, wer die Sonne in der Beziehung ist, um die alles kreist. In den Ehen seiner Freunde sind das zweifelsohne die Männer, die etwas darstellen und deren Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Die Frauen sind mit bestenfalls schlecht bezahlten Halbtagsjobs, der Hausarbeit, der Kindererziehung und einem Platz an seiner Seite vollauf zufrieden. Doch mit Carola ist so eine Rollenverteilung nicht zu machen.

Und jetzt, denkt er, hat sie auch noch schlechte Laune! Das kann er nun gar nicht verstehen! Schließlich wollte sie doch diesen Urlaub und er hat alles möglich gemacht, um sich dafür eine Woche freizuschaufeln. Natürlich hatte er kurz vor diesem Urlaub, den Carola unbedingt machen wollte, noch viel zu erledigen gehabt. Schließlich musste er in seinem Betrieb alles so regeln, dass seine Leute für eine Woche auch ohne ihn klarkommen. Wie kann sie da erwarten, dass er sich auch noch Gedanken darum macht, das Auto vor der Reise zu überprüfen oder welche Sachen er einpacken muss? Er trägt die Verantwortung für einen Betrieb mit zwölf Arbeitsplätzen und muss zusehen, dass der Laden läuft. Da hat er den Kopf wirklich mit wichtigeren Dingen voll! Sie ist doch nur angestellt und kann nachts ruhig schlafen, weil die Universität auch dann noch steht, wenn sie mal mit ihrer Forschung nicht weiterkommt. Warum kann sie das nicht verstehen? Ist es denn wirklich so unzumutbar, dass sie sich um die Organisation der Reise kümmert? Bei seinen Freunden ist die Urlaubsvorbereitung selbstverständlich Frauensache. Warum soll er eigentlich auf alles verzichten, nur weil seine Frau mittlerweile Professorin ist? Warum ist sie sich nun für alles zu fein? Oder ist er ihr einfach nicht mehr gut genug?

Verstohlen schaut er zu Carola hinüber, deren Haar unter einem hellen Tuch zusammengebunden ist, um es vor dem Fahrtwind zu schützen. Sie trägt eine riesige Sonnenbrille und einen edlen, breiten Armreif am Handgelenk. Ihre Bewegungen, wenn sie schaltet oder den Kopf bewegt, um in den Rückspiegel zu sehen, haben etwas unbestreitbar Elegantes. Mondän sieht sie aus am Steuer ihres Autos – fast wie ein Filmstar aus den Fünfzigern. Sie muss nicht einmal etwas dafür tun, um ein Hingucker zu sein – sie ist es einfach. Maik findet, dass das großartige Eigenschaften für eine anbetungswürdige Geliebte sind. Aber ist es auch das Richtige als Ehefrau?

Carola blinkt und zieht links an einer langen Schlange von Wohnmobilen und vollbepackten Autos vorbei, die zum Gardasee abbiegen wollen. Es ist Urlaubszeit und natürlich staut sich an der Ausfahrt der Verkehr. Sie ist froh, dass sie sich hier nicht einreihen müssen und die Touristenmassen meiden können.

Von dem abgelegenen Urlaubsort, der inmitten von Bergen nur über endlose Serpentinen zu erreichen ist, hat ihr Jonas, ihr Gitarrenlehrer, erzählt. Seit ungefähr einem Jahr nimmt sie in unregelmäßigen Abständen wieder Unterricht, um einen Ausgleich zu ihrem Beruf zu finden, den sie zwar sehr liebt, der aber recht einseitig den Kopf beansprucht. In der letzten Unterrichtsstunde vor Weihnachten hatte Jonas dann von diesem Gut geschwärmt, wo man sich in unglaublich idyllischer Umgebung, ungestört von fast allen zivilisatorischen Ablenkungen, ganz der Muße hingeben könne. Weit ab von der Welt könne man auch mal vergessen, dass es sie überhaupt gibt und endlich wieder zu dem Menschen werden, der man eigentlich sei, schwärmte er. Innerhalb kürzester Zeit hatte er sie neugierig gemacht und schließlich angesteckt mit seiner Begeisterung. Und da sie nicht schon wieder auf den letzten Drücker irgendeine Pauschalreise buchen wollte, die sie nur halbherzig hinter sich bringen würde, hatte sie beschlossen, dieser Empfehlung zu folgen. Sie suchte einen passenden Kurs im Internet heraus und fragte Maik, ob er mitkommen wolle. Sie muss zugeben, dass sie ihn damit vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Aber dieses Jahr wollte sie nicht schon wieder über Monate hinweg ergebnislos Urlaubsoptionen an ihn herantragen, zu denen er sich doch nicht entschließen konnte, weil er gerade den Kopf für andere Dinge brauchte. Denn wenn er sich endlich dazu durchringen konnte, seinen Betrieb für ein paar Tage zurück in die Obhut seines Vaters zu geben, der glücklicherweise immer noch gut in der Lage ist, nach dem Rechten zu sehen, hatten sie stets die besten Angebote verpasst. Aber jetzt hatte sie endlich ein Urlausziel gebucht, das mehr war als ein fader Kompromiss zwischen Last-Minute-Angeboten, die auf dem Markt noch zu haben waren, und Carola freute sich sehr darauf!

Leider fiel es ihr schwer, diese Vorfreude durchzuhalten, denn bis auf die frühzeitige Entscheidung für ein lohnendes Urlaubsziel war alles andere leider so abgelaufen wie immer!

Sie seufzt und merkt, wie sich ihr Magen erneut vor Ärger zusammenzuziehen beginnt. Obwohl seit Anfang des Jahres klar ist, dass sie genau an diesem Tag in den Urlaub fahren werden, hat Maik es wieder einmal vermieden, sich um irgendetwas zu kümmern und sämtliche Aufgaben auf sie abgewälzt. Er hat sich nicht um das Auto gesorgt und nicht um die Anreisemodalitäten. Ja, er hat sich nicht einmal Gedanken darum gemacht, was er für den Kurs mitnehmen muss, denn er fragte in den letzten zwei Tagen immer wieder bei ihr nach, was wohl benötigt würde. Carola wurde den Eindruck nicht los, dass er darauf spekulierte, dass sie sogar seinen Koffer packt, weil sie die vielen Fragen irgendwann leid ist.

Stattdessen hat sie innerlich getobt, sich äußerlich jedoch bedeckt gehalten. Sie ist lange genug mit ihrem Mann verheiratet um zu wissen, dass Diskussionen zu überhaupt nichts führen. Manchmal helfen nur Taten! Deshalb hat sie konsequent nur das eingepackt, was sie selbst benötigt und zu allem anderen die Meinung gehabt, dass er schließlich erwachsen sei und es ihn als Geschäftsführer eines Familienunternehmens nicht überfordern dürfe, sich selbst um seine Utensilien zu kümmern. Alle anderen Urlaubsvorbereitungen, die sie beide betrafen, hat sie jedoch wohl oder übel in die Hand nehmen müssen und es ärgert sie, dass ihr Mann das als selbstverständlich hinnimmt.

In solchen Situationen, wo Maik sich um die Verantwortung für gemeinsame Angelegenheiten herumdrückt, ihr alle Aufwände aufdrückt und sich außer für Kritik an ihren Entscheidungen für jeden Handgriff zu schade ist, ertappt sie sich immer häufiger dabei, dass sie sich fragt, ob sie ohne ihn nicht besser dran wäre.

„Warum bin ich eigentlich noch mit ihm zusammen?“, überlegt sie, als sie die italienischen Alpen langsam hinter sich lassen und in die Po-Ebene eintauchen. „Ist das noch Liebe?“

Sie schaut verstohlen zu Maik hinüber, der seinen Sitz zurückgestellt und die Augen geschlossen hat. Der Mann, den sie da sieht, ist unzweifelhaft sehr attraktiv, was er leider auch weiß und ab und zu gerne im Beisein von anderen Frauen ausspielt. Die kurzen, dichten braunen Haare, die tiefdunklen braunen Augen, das markante Kinn, der durchtrainierte Körper: Das Alter hat ihm wenig anhaben können. Ganz im Gegenteil, wie Carola zugeben muss. Aber ist das alles, was sie in dieser Beziehung hält?

Damals, als sie sich kennenlernten, war sie von seinem Aussehen natürlich sehr beeindruckt gewesen. Auch die Tatsache, dass viele Frauen für ihn schwärmten, womit er ganz souverän umging und sich weder einwickeln ließ, noch überheblich agierte, erhöhte seine Attraktivität für sie noch. Ihr Herz hatte er jedoch dadurch gewonnen, dass er seit ihrem ersten Zusammentreffen nur noch Augen für sie hatte und keine andere Frau sein Interesse wecken konnte. Das war für sie ein Zeichen von Souveränität gewesen und davon, dass Maik weiß, was er will. Das hatte ihn wohltuend von all den unreifen Männern, die sonst ihren Weg säumten, abgehoben.

Anfangs war sie völlig hin und weg gewesen und hatte alles, was diesen Mann betraf, förmlich aufgesogen. Da gab es nichts Wichtigeres, nichts Interessanteres als das, was ihn betraf. Dass er aus einer anderen Welt stammte, die ihr sehr viel handfester und bodenständiger als ihre eigene vorkam, hatte sie darüber hinaus fasziniert. Maik wusste sich immer zu helfen, kam mit jeder Situation klar, verlor sich nicht in endlosem Hin und Her, sondern sagte, was er dachte und tat, was er für richtig hielt – und darüber hinaus auch noch mit Erfolg! Niemand konnte ihm in ihren Augen das Wasser reichen!

Aber natürlich musste all diese Verliebtheit, dieses Anhimmeln, dieses Schwärmen und Verklären nach und nach der Realität weichen. Der Alltag machte auch vor ihrer Beziehung nicht halt. Carola wurde von der behüteten Tochter zur erwachsenen Frau und legte damit auch nach und nach ihre rosarote Brille ab. Maik wurde bequem und gab sich immer weniger Mühe, ihr seine Zuneigung zu zeigen. Manches Mal kränkte er sie mit Nachlässigkeiten, die er sich in der Akquisephase ihrer Beziehung natürlich nicht erlaubt hätte. Sprach sie ihn darauf an, wurde immer öfter die Sorge um den Betrieb vorgeschoben, um den er sich zu kümmern hätte und der alle Aufmerksamkeit beanspruchte. Zwar lief die Dachdeckerei glücklicherweise sehr erfolgreich, aber das spielte in dieser Diskussion keine Rolle.

Gleichzeitig hatte Carola immer häufiger Spannungen wahrgenommen, wenn Maik ihre Anwesenheit bei irgendwelchen Veranstaltungen erwartete und sie ihrerseits berufliche Termine geltend machte. Als ihre Beschäftigung am Institut und ihre Doktorarbeit immer mehr Zeit beanspruchten, rückten seine familiären und gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sie anfangs höchst interessant fand, auf ihrer Prioritätenskala nach unten. Denn nun war sie selbst sehr viel mehr als früher gefragt und eingebunden in universitäre Angelegenheiten und darüber hinaus ehrgeizig genug, diese neue Rolle auch ausfüllen zu wollen. Anstatt nun seinerseits Verständnis für ihre Verpflichtungen zu haben, reagierte Maik immer öfter beleidigt, wenn sie anderes zu tun hatte, als an seiner Seite freundlich in die Runde zu lächeln und sich darauf zu beschränken, mit bewunderndem Blick den beruflichen und privaten Heldentaten ihres Mannes und seiner Freunde zu lauschen. Zu ihren gesellschaftlichen und dienstlichen Terminen kam er natürlich nie mit. Er meinte, das theoretische Gerede würde ihn nur langweilen. Davon, dass auch Wissenschaftler Menschen sind, die mehr als nur Formeln und hochtrabende Thesen im Kopf haben, konnte sie ihn bislang nicht überzeugen.

Hinzu kommt, dass Carola mittlerweile schon manches Mal von boshaften Zungen zugetragen wurde, dass ihr Mann, wenn sie nicht dabei ist, einem Flirt nicht abgeneigt ist. Und obwohl sie sich nicht allzu viel Gedanken um Maiks Treue macht, weil er immer noch jede Nacht zu Hause verbringt, nahm sie solche Geschichten zunächst gelassen, später mit Ärger zur Kenntnis und empfindet heute nur noch Verachtung dafür, dass er so etwas nötig zu haben scheint.

„Wo soll das enden?“

Diese Frage schießt Carola plötzlich durch den Kopf. Was ist das für eine Entwicklung, die ihre Ehe da nimmt? Was passiert, wenn sie beide die Dinge einfach so weiterlaufen lassen?

Ihr Herz krampft sich zusammen. Diese Frage steht schon länger im Raum, wie sie sich eingestehen muss. Jedoch hat sie sie so deutlich bislang nicht stellen mögen. Doch jetzt tut sie das und sie kennt die Antwort, auch wenn sie sich das nicht wirklich eingestehen will.

Noch einmal schaut sie zu ihrem Mann hinüber und ein wehmütiges Gefühl beschleicht sie, so, als wäre es fast schon nur noch eine Erinnerung, dass er neben ihr sitzt.

„Reiß dich zusammen“, sagt sie sich und richtet ihren Blick wieder nach vorne auf die Straße, „und nutze den Urlaub, um Klarheit zu gewinnen.“

+

Petra und Sabrina

Die Stimmung ist bestens im schicken schwarzen Kombi, obwohl die beiden darin sitzenden Frauen unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch sie schwatzen und lachen, was das Zeug hält, und scheinen sich großartig zu amüsieren.

Sabrina schaut zu Petra hinüber, die am Steuer des Wagens sitzt. Sie sieht eine kleine, hagere Person Anfang fünfzig, bei deren Anblick sich ihr der Vergleich mit einer Trockenfrucht aufdrängt: Die eingefallenen Wangen, der leicht hervorstehende Oberkiefer, die etwas verkniffenen Gesichtszüge und die kurzen, schwarz gefärbten Haare, die für ihren Hauttyp eine Nuance zu dunkel sind, wie Sabrina mit fachmännischem Blick feststellt, lassen diesen Eindruck bei ihr entstehen.

Die Frau auf dem Beifahrersitz ist Friseurmeisterin und es gehört zu ihrem Job, sich Gedanken über das Aussehen ihrer Kundschaft zu machen. Diese berufliche Angewohnheit vermag sie auch in ihrer Freizeit nicht einfach abzulegen. Zwar hat sie selbst eine Vorliebe für gewagte Farbkombinationen, was man ihrer eigenen Haarpracht ansieht, aber sie weiß eben auch, wem welche Farben stehen und wem nicht. Und zu Petras Teint passt das satte, tiefdunkle Schwarz eben nicht und lässt sie noch blasser und insgesamt farbloser aussehen, als sie sowieso schon ist.

Innerlich schüttelt Sabrina den Kopf: Immer wieder schneien solche Kundinnen in ihren Laden, die wie Petra meinen, mit Gewalt etwas aus ihrem farblosen Typ machen zu müssen. Solche Frauen kleiden sich mit auffälligen, aber unpassenden Farben und wollen dazu von ihr mit einer auffälligen, aber leider auch unpassenden Frisur versorgt werden. Das Ergebnis fällt dann erwartungsgemäß regelmäßig so aus, dass man denken könnte, ein Spatz würde sich als Paradiesvogel verkleiden! Kaum jemals ist es Sabrina gelungen, solche Kundinnen davon zu überzeugen, ihrem Typ entsprechende Veränderungen ihres Äußeren vorzunehmen. Immer wieder bestanden sie am Ende doch auf irgendwelchen unpassenden Modefarben und ebenso unpassenden, auffälligen Schnitten. Irgendwann hat sie es aufgegeben, solche Diskussionen zu führen und lässt ihren Klienten ihren Willen – auch wenn sie oft kurz davor ist sie zu bitten, nach der Behandlung den Laden durch den Hinterausgang zu verlassen.

Doch was spielt das hier schon für eine Rolle? Sabrina ist froh, mit Petra eine Mitfahrgelegenheit gefunden zu haben, die es ihr ermöglicht, auf äußerst komfortable Weise nach Italien zu reisen. Und komfortabel ist dieser großräumige Wagen allemal! Mit ihrem eigenen Auto, einem sehr betagten Kleinwagen mit nur 45 PS, hätte sie sich äußerst ungern auf die lange Strecke und diverse für ein Vehikel wie ihres sehr anspruchsvolle Steigungen eingelassen. Deshalb war sie angenehm überrascht, als dieses in ihren Augen nahezu luxuriöse Gefährt am frühen Morgen vor ihrem Haus in einem kleinen Dorf in der Nähe des Siebengebirges gehalten hat, um sie mitzunehmen.

Bis zu diesem Morgen – eigentlich war es noch mitten in der Nacht – kannten die beiden Frauen sich nicht. Der Veranstalter des Musik-Workshops hatte es vor ein paar Wochen übernommen, Fahrgemeinschaften unter den Teilnehmern zu initiieren. Petra hatte einen Platz in ihrem Wagen angeboten und Sabrina hatte gerne angenommen. Als dann die schwarz glänzende Limousine vor ihrem Häuschen in der engen Straße gehalten hatte und Petra ausgestiegen war, hatte sie ganz überrascht gefragt, ob das der Wagen ihres Mannes sei und ob der wüsste, dass sie damit unterwegs wäre. Eine Frau und so ein großes, PS-starkes Auto – das passte für Sabrina bis dahin überhaupt nicht zusammen. Aber Petra hatte nur geschmeichelt gelächelt und gemeint, als Führungskraft eines international erfolgreichen Unternehmens stände ihr ein Dienstwagen zu.

In Sabrinas Augen stieg Petras Ansehen in diesem Moment ins Unermessliche. Führungskraft und Dienstwagen. Als Frau. In Deutschland. Beinahe unglaublich!

Sie schluckte. Das musste sie erst mal verdauen. Ein Anflug von Neid kroch in ihr hoch: So muss das wohl sein, wenn man „es zu etwas gebracht“ hat, wie ihre Eltern immer sagen.

Sabrina unterdrückte eine bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, aber sie wollte sich auch ihre Bewunderung nicht anmerken lassen. Ohne einen weiteren Kommentar hatte sie ihre umfangreiche Ausrüstung im Wagen verstaut: einen Koffer, eine mittelgroße Reisetasche, die Gitarre im gepolsterten Rucksack und noch ein paar kleine Taschen und Beutel. Für ein weniger geräumiges Auto wäre diese Menge an Gepäck, zusätzlich zu Petras Ausstattung, tatsächlich ein Problem gewesen. Doch mit diesem Wagen konnten die beiden, ohne Platzprobleme diskutieren zu müssen, sogleich in Richtung Süden starten.

Schon bald merkte Sabrina, dass Petra eine unsichere Fahrerin ist. Anfangs zerrte das ein bisschen an ihren Nerven, jedoch fährt Sabrina selbst nur ungern fremde Autos. Deshalb war sie eifrig bemüht, einen Fahrerwechsel zu vermeiden und lehnte zu Beginn der Fahrt ein entsprechendes Angebot dankend ab. Petra quittierte das mit einem Achselzucken und fing nicht mehr davon an. Sabrina revanchierte sich stattdessen damit, während der Fahrt für Unterhaltung zu sorgen und die Fahrerin bei Laune zu halten.

Und bis jetzt gelingt ihr das in ihren Augen recht gut! Denn wenn Sabrina in einer Sache wirklich unschlagbar ist, dann darin, andere zu bespaßen. Sie kann unzählige Anekdoten aus ihrem reichhaltigen Erfahrungsschatz zum Besten geben. Auch ihre Schlagfertigkeit kennt keine Grenzen – zu allem und jedem fällt ihr sofort ein passender Kommentar ein. "So hat doch jeder in dieser Fahrgemeinschaft seine Aufgabe", denkt Sabrina. Besser so als andersrum, denn Petra scheint in ihren Augen zwar ganz nett zu sein, aber auch ein wenig verkrampft und vor allem gar kein bisschen schlagfertig. Aber da kann sie ja von Sabrina noch etwas lernen!

Mit dieser Arbeitsteilung gelingt es den beiden, den ersten Teil ihrer Reise über Basel und dann durch die Schweizer Alpen in angenehm klimatisierter Umgebung zügig hinter sich zu bringen. Kurz vor der italienischen Grenze ist Petra bereits bestens über das aufregende Leben einer Friseurin mit eigenem Studio informiert. Sie weiß, dass die einundvierzigjährige Sabrina neben dem Aufbau ihres Friseurgeschäfts eine Tochter ganz allein großgezogen hat, die jetzt siebzehn ist. Anastasia, so heißt sie, hätte ihre Mutter zu diesem Urlaub überredet, weil sie so viel gearbeitet hätte und sich unbedingt einmal etwas gönnen sollte. Ein Musikurlaub sei da genau das Richtige, fanden beide. Schließlich gibt es kaum eine Feier im Freundes- und Bekanntenkreis, wo Sabrina nicht inständig gebeten wird, ihre Gitarre mitzubringen und die Gesellschaft mit ihrer Kunst zu unterhalten. Die Stimmung sei immer bombig, wenn sie loslege, berichtet sie stolz, und außerdem gäbe es kaum einen Song, den sie nicht kenne.

Wenn Petra ihre Beifahrerin so ansieht, dann kann sie sich deren Alleinunterhaltungsqualitäten auch bestens vorstellen. Sabrina ist eine sehr auffällige Gestalt, allein schon durch ihre körperlichen Merkmale: Sie ist groß, verfügt über üppige Rundungen und weiß diese durch auffällige Kleidung in Szene zu setzen. Ihre schulterlangen, blonden Haare mit schwarzen und roten Strähnen und ihre sorgfältig lackierten und mit Strasssteinchen besetzten Fingernägel tun ein Übriges, ihr imposantes Äußeres zu unterstreichen.

Petra ist dankbar, mit ihrer Begleiterin eine Stimmungskanone erwischt zu haben, mit der sie sich auch noch gut versteht. Sie weiß von sich selbst, wie schwer es ihr fällt, aus sich heraus und vor allem auf andere zuzugehen, und in Gesellschaft lebhafter Menschen fühlt sie sich oft noch gehemmter. Aber nun hat sie mit Sabrina eine sehr extrovertierte Persönlichkeit an ihrer Seite, die sich schnell in ihrer italienischen Urlaubsstätte zurechtfinden wird. Wenn sie sich also an Sabrina hält, dann ist sie in dieser Woche in bester Begleitung und kann ihr die Führung überlassen, ohne den Anschluss an die Gruppe zu verlieren.

Auch wenn Petra es als Führungskraft gewohnt ist, sich in einem oft unwirtlichen Umfeld durchzusetzen, sich Gehör zu verschaffen und schon seit vielen Jahren auf ihrem Posten zu überleben, so ist die Woche in Italien doch eine komplett andere Herausforderung als ihr Beruf. Es gilt, in völlig unbekannter Umgebung und ohne sich auf einen hierarchischen Status verlassen zu können, zu bestehen. Außerdem geht es dort, in diesem Musikkurs, nicht um Zahlen, Daten und Fakten, sondern sie wird ein eher fremdes Terrain betreten, wo sie nicht versiert mit ihren beruflichen Kompetenzen glänzen kann. Dort wird sie nicht mehr vorzuweisen haben als ein paar Stunden Gitarrenunterricht, die bereits einige Jahre zurückliegen, und ein paar Übungseinheiten zur Entspannung nach einem langen Arbeitstag. Das verunsichert sie sehr! Schließlich lebt sie in einem Umfeld, in dem es fast ausschließlich darum geht, „wer den längsten hat“, um mal den Kollegen aus dem Vertrieb zu zitieren, der ihr damit bei einem Führungskräftetreffen nach einigen Gläsern Wein seine Philosophie des Karrieremachens offenbarte. Für eine Frau ist es nicht immer einfach, bei diesem Wettbewerb mit männerspezifischen Regeln mitzumachen. Doch Petra wusste stets ihre fachliche Kompetenz, ihre Anpassungsfähigkeit und kräftige Ellbogen einzusetzen, um ein gutes Plätzchen in der Hierarchie zu ergattern. An ihrem Urlaubsort werden diese Qualifikationen jedoch kaum eine Bedeutung haben. Umso besser, wenn sie mit Sabrina, der im musikalischen Bereich nichts fremd zu sein scheint, jemanden an ihrer Seite hat, der dafür sorgt, dass sie nicht untergehen wird!

Nachdem Sabrina bis kurz vor der italienischen Grenze über ihr Leben berichtet hat, braucht Petra anschließend nur bis Como gleich hinter der Grenze, um alles ihrer Meinung nach Wesentliche über sich preiszugeben. Sie ist auch gar nicht daran gewöhnt, viel über sich zu sprechen, und hält eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Daten für ausreichend. Sie erzählt, dass sie für die Finanzen des Unternehmens zuständig ist, bei dem sie eigentlich schon immer angestellt ist und wo sie sich von der Pieke auf hochgearbeitet hat. Ihr Beruf fordere sie sehr und für ein Privatleben reiche die Zeit nicht. Darüber hinaus müsse sie sich auch um ihre Eltern kümmern, die zwar noch in ihrem Haus am Stadtrand von Köln wohnten, wo Petra jedoch regelmäßig nach dem Rechten sehen müsse. In früheren Jahren hätte sie häufiger in Clubs Urlaub gemacht, doch die ständige Aufforderung der Animateure, irgendwo mitzumachen, sei sehr anstrengend gewesen und außerdem wäre sie nun mal nicht so vergnügungssüchtig. Stattdessen hätte sie dann im letzten Jahr eine Bildungsreise ausprobiert, wo sie sich jedoch selbst mit einundfünfzig noch wie ein junger Hüpfer vorgekommen sei. Deshalb habe sie beschlossen, es in diesem Jahr mit etwas anderem zu versuchen, und so habe sie den Urlaub in Italien gebucht.

Nachdem Petra mit ihrem kurzen Bericht nicht viel zur Ausgestaltung des Unterhaltungsprogramms beisteuern kann, beginnt Sabrina nun Vermutungen über ihren Urlaubsort, den Kurs und die sonstigen Teilnehmer anzustellen. Beide Frauen wissen nicht mehr, als ein paar Fotos im Internet an Informationen hergeben, und kennen auch keinen der anderen Gäste. Deshalb werden unter der Leitung von Sabrina immer wildere Spekulationen über ihre noch unbekannten Urlaubsgefährten angestellt, in deren Verlauf die hoffentlich vorhandenen Männer – buchen Männer Musikkurse in Italien? – immer attraktiver und interessanter und den teilnehmenden Frauen immer mehr optische und musikalische Fähigkeiten abgesprochen werden.

Für Sabrina ist klar, dass sie beide unbedingt eine Bereicherung für den Kurs darstellen werden. Dabei ist sie natürlich heimlich so ehrlich, das nur für sich selbst anzunehmen. Schließlich weiß Sabrina, was sie kann! Und jeder, der mehr zu bieten hätte, würde sicherlich mit Musik sein Geld verdienen und wäre nicht zur Inspiration oder Perfektionierung seines Könnens auf einen Kurs ohne qualitative Eignungsvoraussetzungen angewiesen. Petra hingegen mag zwar eine erfolgreiche Managerin sein, aber ein ausgesprochenes musikalisches Talent ist sie nach eigenen Angaben nicht, und Sabrina hat keinen Grund zu vermuten, dass sich ihre Chauffeurin übermäßig bescheiden bei der Beschreibung ihres Könnens gibt.

Das zeigt sich dann auch kurze Zeit später, als den beiden am frühen Nachmittag der Gesprächsstoff ausgeht. Da sind sie bereits kurz vor Bologna. Kurzerhand beschließt Sabrina zu singen. Schließlich sind sie ja auf dem Weg zu einem Musikurlaub und da kann es nicht schaden, schon mal die Stimmbänder zu trainieren. Wenn es der Platz auf dem Beifahrersitz zugelassen hätte, dann hätte sie auch gerne noch mit ihrer Gitarre eine Begleitung angestimmt. Aber diesen Raum bietet nicht einmal der komfortable Schlitten, in dem sie unterwegs sind, wie sie Petra ein bisschen hämisch wissen lässt. Doch auch ohne Gitarre und Liederbuch ist Sabrina eine schier unerschöpfliche Quelle von Songs, die sie zum Besten gibt. Als dann Petra bei einem ihr bekannten Stück für ihre Verhältnisse fast übermütig mit einsteigt, bestätigt sich Sabrinas Vermutung, dass ihre Mitfahrgelegenheit bei der Beschreibung ihres musikalischen Könnens nicht untertrieben hat – zumindest was den Gesang betrifft.

Trotz einiger schräger Töne vergeht die Zeit wie im Fluge, bis sie von der Autobahn abfahren. Bald folgen sie einer schmaleren Straße und finden sich schließlich recht unvermittelt auf Serpentinen wieder, die sich unermüdlich die Berge hinauf und manchmal auch wieder hinunter schlängeln. Nachdem sie die ersten Kurven der schmalen Straße genommen hat, macht Petra eine amüsierte Bemerkung: „Huch, sind das jetzt die berühmten italienischen Serpentinen? Großartig! Ich bin noch nie Serpentinen gefahren!“

Doch spätestens als ihr das erste Auto mit großer Geschwindigkeit unvermutet in einer unübersichtlichen Kurve entgegenkommt, hört Petra auf zu singen und konzentriert sich lieber voll aufs Fahren. Sabrina hingegen scheint gar nicht zu bemerken, dass ihre Mitstreiterin plötzlich still geworden ist. Unermüdlich trällert sie weiter und amüsiert sich großartig. Zwischendurch unterbricht sie ihren Gesang nur, um Petra auf die Besonderheiten der beeindruckenden italienischen Berglandschaft hinzuweisen.

„Guck dir das an!“, lacht sie und wedelt mit dem Finger vor Petras Gesicht herum, als sie ein Stück voraus eine kaum gesicherte Kurve über einer besonders steil abfallenden Bergwand entdeckt. In diesem Moment nutzt ein wagemutiger Motorradfahrer die Gelegenheit, den die Berge hinaufkriechenden Wagen zu überholen. Petra stößt einen kurzen Schrei aus, weil sie ihn erst im letzten Moment bemerkt. Überrascht schaut Sabrina zu ihr hinüber. Albert Petra herum? Dann aber bemerkt sie die angespannte, nach vorne gebeugte Haltung der Fahrerin, die fast direkt hinter der Windschutzscheibe klebt, und die weiß hervortretenden Fingerknöchel der Hände am Lenkrad. Von diesem Moment an verzichtet auch Sabrina vorsichtshalber auf Ablenkungen der Fahrerin aller Art, die sie bis hierhin für unbedingt nötig gehalten hat. Sie summt nur noch leise vor sich hin, um sich selbst Mut zu machen.

Ein Ort in Italien

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