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Kapitel 1
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Die vorliegende Uebersetzung finnischer Märchen ist
durch mich veranlasst worden, und darum habe ich
mich der Aufgabe nicht entziehen wollen, sie beim
Publicum mit einigen wenigen Worten einzuführen,
die es allerdings nur doppelt schmerzlich werden
empfinden lassen, dass nicht ein Besserer, wie sonst
so häufig, auch in dieser Sache das Wort ergriffen hat.
Vor etwa zwei Jahren, wo ich mehr als heut in
Mussestunden folkloristische Thätigkeit pflegen
konnte, hatte sich mir im Verlaufe einer Arbeit die
Wahrnehmung aufgedrängt, dass für eine vergleichende
Behandlung des Schatzes an Thiermärchen bei den
verschiedenen Völkern unsere Quellen, selbst für
europäische Völker, noch bei weitem nicht reichlich
genug fliessen. Bei meinen Bemühungen, diese Lükken
nach Möglichkeit zu ergänzen, erfuhr ich durch
einen sich dafür lebhaft interessirenden Freund, dass
seine Schwägerin, Frau Schreck in Leipzig, eine geborene
Finnländerin, gelegentlich eine Uebersetzung
finnischer Thiermärchen angefertigt habe. Meine
Bitte, mir das Manuscript dieser Märchen zu überlassen,
erfüllte die Uebersetzerin aufs freundlichste, im
weiteren Verlaufe des sich daran knüpfenden, für
mich an Genuss und Anregung überaus reichen Brief-
wechsels machte ich ihr den Vorschlag, eine grössere
Auswahl finnischer Märchen zu übersetzen, und das
Ergebniss davon liegt in dieser Sammlung vor, welche
dank dem freundlichen Entgegenkommen des
Herrn Böhlau in Weimar das Licht der Welt erblickt
hat.
Ich habe mich selbst gelegentlich gegen das Zuviel
ausgesprochen, das mir in der über uns hereinbrechenden
Fluth von Märchensammmlungen hervor zu
treten scheint und das die Verleger sowohl als das Publicum
misstrauisch gegen jeden neuen derartigen
Versuch machen muss. Ich habe darauf hingewiesen,
dass es nun wol an der Zeit sei, die Untersuchungen
wieder einmal im Zusammenhange aufzunehmen, für
welche Benfey die für alle Zeit giltigen Grundlagen in
seiner Einleitung zum Pantschatantra geschaffen hat.
Mit jener Bemerkung sind aber selbstverständlich nur
jene Sammlungen gemeint, welche, immer wieder dieselben
Gegenden ausbeutend, nichts als Varianten
von längst Bekanntem bringen. Eine Uebersetzung
finnischer Märchen ist von vornherein davon ausgenommen,
da sie dem allergrössten Theile der in Europa
für Folklore sich Interessirenden neues Material
zugänglich macht. Denn die finnische Sprache wird,
trotz ihres hohen Wohlklanges und ihrer grossen
Wichtigkeit für linguistische Studien, doch wol für
immer darauf verzichten müssen von einer grösseren
Anzahl Nicht-Finnen verstanden zu werden. Dass
aber der finnische Märchenschatz schon wegen seiner
Beziehungen zu benachbarter germanischer und slavischer
Volksdichtung eine hohe Bedeutung beanspruchen
darf, liegt ohne weiteres auf der Hand.
Märchen der den Finnen am nächsten verwandten
Ehsten und Lappen sind bereits, wenn auch zum Theil
erst in jüngster Zeit, durch deutsche Uebersetzungen
allgemein zugänglich gemacht. Die von Friedrich
Kreutzwald gesammelten ehstnischen Märchen übersetzte
im Jahre 1869 F. Löwe; erst 1881 konnte die
zweite Hälfte dieser Uebersetzung veröffentlicht werden.
1 Und eine Uebersetzung lappischer Märchen ist
gar erst in diesem Jahre dem deutschen Publicum dargeboten
worden.2 Diesen beiden Werken reiht sich
zunächst das vorliegende an, die erste Sammlung finnischer
Märchen in deutschem Gewande.
Das kleine Finnland beschämt manches grosse
Kulturvolk in Bezug auf die frühzeitig begonnene und
systematisch durchgeführte Sammlung und Ausbeutung
seiner volksthümlichen Ueberlieferungen. Das
Interesse für finnische Volkspoesie ist ungefähr ebenso
alt wie die finnische Landesuniversität Åbo (seit
1828 in Helsingfors), die im Jahre 1640 von der Königin
Christine gegründet wurde. Indessen wurden
während des siebzehnten Jahrhunderts, so viel man
weiss, nur Sprichwörter gesammelt, von denen ein
kleines Heft 1702 erschien. Seit dem Anfange des
achtzehnten Jahrhunderts findet man in Dissertationen
öfters Fragmente von Zauberliedern erwähnt, ein Beweis
dafür, dass man auch mit dem Sammeln dieser
Erzeugnisse des Volksgeistes sich bereits beschäftigte.
Eine grössere Anzahl von Zauberliedern, zusammen
mit epischen und lyrischen Stücken, liess gegen
das Ende des Jahrhunderts der hochgefeierte finnische
Professor Porthan durch seine Schüler und Freunde
sammeln. Gedruckt wurden indess nur Auszüge in
den um jene Zeit verfassten Mythologien von
Lencquist (1782) und Ganander (1789). Eine kleine
Sammlung finnischer Volksräthsel, meistens in poetischer
Form, erschien 1783.3
Bei dem vielseitigen Interesse Goethe's an volksthümlicher
Dichtung darf es nicht wundern, dass wir
bei ihm auch die Uebersetzung eines finnischen Liebesliedes
finden, das er, wie Düntzer nachgewiesen
hat, einem französischen Reisewerke entnommen
hat.4 Im Kanteletar findet sich, so weit ich sehe, das
Original nicht. Herder's Volkslieder, welche Proben
ehstnischer und lappischer Poesie mittheilen, enthalten
kein finnisches Lied. Schon viel früher war jedoch
eine Probe finnischer Volksdichtung in Deutschland
bekannt gemacht worden: Daniel Georg Morhof hatte
1682 in seinem »Unterricht von der teutschen Sprache
und Poesie« ein finnisches Bärenlied, das er der Hi-
storia ecclesiastica Sveo-Gothorum (Åbo 1675) des
Bischofs Bång entnahm, mit einer wenig geschmackvollen
deutschen Uebersetzung mitgetheilt. Ich setze
es her, weil das Buch nicht Jedem gleich zur Hand
sein dürfte:5
O schönes Wild von unsern Pfeilen,
Durch so viel Wunden hier berückt,
Das sich getraut bey uns zu heilen,
Will seyn von unsrer Speis' erquickt,
Durch dich wird uns nunmehr gelingen
Noch hundertmahl dergleichen Beut,
Und du kanst tausend Nutzen bringen,
Bistu zu kommen nur bereit.
Ich könnte hie vielleicht wohl kommen
Selbst von den Göttern hergesand,
Die mir zu meinem Nutz' und Frommen,
Viel guter Beute bracht zur Hand.
Wird dieser Tag denn nun sich enden
So geh ich in mein Hausz hinein,
So will ich zwischen meinen Wänden,
Drey Nächte durch voll Freuden seyn.
Ich habe mich mit Lust und Glücke
Hieher durch Berg und Thal gebracht,
Nun komm ich frölicher zurücke,
All' Unlust habe gute Nacht.
Der Tag ist frölich angefangen,
Mit denen die noch übrig sein,
Bald kömmt er wieder hergegangen
Zu voller Lust und Freudenschein.
Ich ehre dich allzeit indessen
Von dir erwartend Beut und Danck,
Dass ich nicht möge dich vergessen
Und meinen guten Bärensang.
Zu welch unerträglicher Geschwätzigkeit sind hier
die zwanzig kurzen trochäischen Verse des Originals
auseinandergezogen!
Das nationale Erwachen Finnlands und das daraus
hervorgehende ernstere Interesse für die im Volke bewahrten
Reste der Vergangenheit datirt – merkwürdig
genug – erst seit der Vereinigung aller finnischen Provinzen
unter russischer Herrschaft, also seit dem Jahre
1808. Man weiss, mit wie weit gehender Selbständigkeit
das Grossfürstenthum Finnland ausgestattet
wurde und wie in Folge dessen der bis dahin übermächtige
Cultureinfluss des Schwedischen immer
mehr und mehr zurück trat. Nun nahm das Sammeln
der Volkslitteratur einen immer grösseren Aufschwung.
Gottlund, Poppius, Topelius und Lönnrot
machten mehr oder minder bedeutende Sammlungen.
Einzelne Kleinigkeiten wurden auch herausgegeben,
das meiste aber blieb ungedruckt, weil die Bücher zu
wenig Interesse und Absatz fanden – man braucht
sich bloss an das Schicksal ähnlicher Unternehmungen
in grösseren Culturländern zu erinnern. Leicht
hätte es gehen können wie mit den Sammlungen des
achtzehnten Jahrhunderts, welche mit sehr wenigen
Ausnahmen durch Feuersbrünste und Unachtsamkeit
wieder verloren gegangen sind. Da erstand allen diesen
Bestrebungen ein Mittelpunkt und Hort in der finnischen
Litteraturgesellschaft. 1831 gestiftet, war sie
besonders dazu berufen, die reichen Sammlungen von
Elias Lönnrot dem finnischen Volke und der Nachwelt
zu erhalten. Lönnrot, geboren 1802, ist am 19.
März 1884, viel betrauert von dem Volke, dem die
ganze angestrengte Arbeit seines Lebens gegolten, dahingeschieden.
Er hat das in diesem Jahre gefeierte
fünfzigjährige Jubiläum der Litteraturgesellschaft
nicht mehr erlebt, deren Schriften in den von ihm besorgten
Veröffentlichungen ihre schönste Zierde besitzen.
Er kann mit Jacob Grimm verglichen werden,
dem er zwar an Genialität und vielseitigem Wissen
nicht gleich kam, wohl aber an hingebender Liebe und
treuer, stiller Arbeit für sein Volk. Noch kurz vor seinem
Tode hat er ein gross angelegtes finnisches Wörterbuch
beendet.
Es sind, wenn wir von den Sammlungen der
Sprichwörter (1842), Räthsel (1844) und Zauberlieder
(1880) absehen, besonders die drei grossen von
der Litteraturgesellschaft veröffentlichten Ausgaben
der epischen Lieder, der lyrischen Gedichte und der
Märchen, welche den grossen Reichthum des finnischen
Volksgeistes erschlossen haben und geeignet
sind auch ausserhalb ihrer engeren Heimat die weitesten
Kreise zu interessiren.
Schon im Jahre 1835 erschien die erste Ausgabe
der von Lönnrot gesammelten epischen Lieder, die
seitdem so berühmt gewordene Kalevala, in zwei
Bänden mit etwas über 12000 Versen in 32 Gesängen.
Fortgesetzte Sammlungen in entlegenen Theilen
des Landes ergaben eine so ungeahnte Fülle bisher
unbekannter Lieder, dass die zweite Ausgabe (1849)
fast um das Doppelte vermehrt war: sie umfasst 50
Gesänge mit fast 23000 Versen. Das Bekanntwerden
dieser epischen Volksdichtungen, die durch wohl
zwei Jahrtausende bloss mündlich fortgepflanzt waren
und bei aller Selbständigkeit der einzelnen Lieder
doch eine fortlaufende und zusammenhängende Handlung
zeigen, war von der grössten Bedeutung für die
Entscheidung der Fragen, die sich überhaupt an Entstehung
und Entwickelung des Epos knüpfen und die
besonders auf dem Gebiete der altgriechischen und
altdeutschen Litteratur zu so hitzig geführtem Streite
Veranlassung gegeben haben. Man kann sagen, dass
die finnische Kalevala in der Mitte der Entwickelungsreihe
liegt, deren einen für uns erkennbaren Endpunkt
die serbischen und südrussischen Heldenlieder,
den andern die Ilias und die Odyssee bilden. Rechnet
man dazu die hohe Bedeutung dieser alten Lieder für
die Erkenntniss eines vor aller Geschichte liegenden
Culturzustandes der Finnen – was bei den bekannten,
linguistisch nachweisbaren Wechselbeziehungen fin-
nischer und germanischer Stämme auch für die deutsche
Alterthumskunde nicht ohne Ertrag war – so wie
die trotz mancher Längen bald in die Augen springenden
hohen poetischen Schönheiten der Lieder, so wird
man die sympathische Begrüssung verstehen, die
Jacob Grimm denselben bereits 1846 zu Theil werden
liess.6
Grimm konnte damals bereits eine schwedische
Uebersetzung des Epos von Alexander Castrén
(1841) benutzen, der sich ebenfalls um die finnische
Alterthumskunde hoch verdient gemacht hat und dessen
letztes Werk eine erst nach seinem 1852 erfolgten
Tode heraus gegebene finnische Mythologie war.7
Auch ins Französische wurde die erste Ausgabe der
Kalevala schon 1845 von Léouzon-le-Duc übertragen,
der auch eine heute natürlich veraltete Studie
über die Urgeschichte, die Mythologie und die epische
Dichtung Finnlands hinzufügte. Nach dem Erscheinen
der zweiten Lönnrot'schen Ausgabe fertigte
Anton Schiefner seine deutsche Uebersetzung der Kalevala
an.8 Man kann nicht behaupten, dass sie der
Dichtung in Deutschland viele Freunde geworben hat.
Sie war weniger von aesthetischen als von philologischen
Gesichtspunkten geleitet. Allerdings waren
auch gegen das philologische Verständniss des Einzelnen
recht viele Einwendungen zu machen, wie das
in ziemlich scharfer Weise in der Besprechung von
Ahlqvist in der finnischen Zeitschrift Suomi geschehen
ist. Im ganzen rechtfertigte die Uebersetzung einigermassen
den herben Witz: »Herr Schiefner hat seine
Arbeit den Manen des edlen Castrén gewidmet; sollte
er über kurz oder lang eine zweite sehr verbesserte
Auflage publiciren, so empfehlen wir ihm, statt jener
Worte, folgenden Vers aus Racine's Phèdre:
›pour apaiser ses manes et son ombre plaintive ...‹«
Ahlqvist hat schon damals auf einige Grundsätze
hingewiesen, welche die Uebersetzer des finnischen
Epos leiten sollten. »Es wäre den Uebersetzern leicht
gewesen der Beschuldigung des Mangels an Formschönheit
zu entgehen, hätten sie nur sich vorgenommen
dasjenige zu ersetzen, was keine Nachahmung
zuliess. Sollten die Uebersetzungen durchaus trochäisch
sein – obgleich der Jambus im Schwedischen wie
im Deutschen viel häufiger gebraucht wird – so
müsste des finnischen Trochäus Beweglichkeit und
Abwechslung ersetzt werden durch Einschiebung
eines oder mehrerer Dactylen, nach Beschaffenheit
des Inhalts. Ferner müsste der Vers dann und wann
einen männlichen Schluss haben ....« und so weiter.
Ich weiss nicht, ob diese Worte Hermann Paul bekannt
gewesen sind, der seine Uebersetzung der Kalevala
jedenfalls ganz nach diesen Grundsätzen ge-
macht hat.9 Sie ist eine treffliche Leistung deutscher
Uebersetzerkunst, in fliessender und geschmackvoller
Sprache, dabei die Einfachheit und sinnliche Naturfülle
des Originals nirgends verwischend, und wird
wahrscheinlich viel dazu beitragen einer hochbedeutsamen
Dichtung der Weltliteratur auch bei uns in
etwas weiterem Kreise Eingang zu verschaffen. Leider
ist Paul nach dem Erscheinen des ersten Bandes, welcher
25 Runen, also die Hälfte des Ganzen, enthält,
gestorben. Hoffentlich wird das, wie ich höre, fertige
Manuscript der zweiten Hälfte bald gedruckt werden.
Schon früher hatte uns Paul mit einer Verdeutschung
des Kanteletar beschenkt.10 Kantele heisst
das finnische Musikinstrument, dessen Erfindung
durch Väinämöinen in der Kalevala erzählt wird und
über das man die ausführliche Auseinandersetzung
bei Retzius nachlesen mag.11 Davon hat Lönnrot die
Sammlung lyrischer Lieder benannt, welche er im
Jahre 1840 herausgab. Paul's Uebersetzung, welche
mit Weglassung von Varianten und unbedeutenden
Bruchstücken etwa die Hälfte der Originalausgabe
umfasst, setzt auch Fernerstehende in Stand, sich an
den Erzeugnissen einer Volksdichtung zu erfreuen,
welche einfache Gedanken in mannichfachster Abwechslung
darzustellen und ein wenig complicirtes
und von keinem Zwiespalt zerrissenes Seelenleben
mit grosser Zartheit und Tiefe der Empfindung zum
Ausdruck zu bringen weiss, ernst und still wie die Urwälder
und Landseen Finnlands.
Später als den in poetischer Form überlieferten Resten
finnischer Volksdichtung wandte man den Märchen
seine Aufmerksamkeit zu. Erst am Ende der
vierziger und Anfang der fünfziger Jahre wurden eigens
ihretwegen Sammler ausgeschickt. Das so zusammengebrachte
Material wurde von Eero Salmelainen
(Erik Rudbeck) geordnet und in den Jahren
1852–1866 in vier Heften herausgegeben.12 Aus diesen
ist das vorliegende Buch übersetzt. Es ist die erste
Sammlung finnischer Märchen, welche in deutscher
Uebersetzung geboten wird. Nur vereinzelte Stücke
der Rudbeck'schen Sammlung waren früher an zerstreuten
und schwer zugänglichen Orten mitgetheilt
worden. So machte bald nach dem Erscheinen des ersten
Heftes das von A. Erman herausgegebene »Archiv
für wissenschaftliche Kunde von Russland« in
seinem dreizehnten Bande (1854) S. 476 ff. auf die
Sammlung aufmerksam und theilte drei Märchen mit:
»Die vom Bösen geschenkten Instrumente«, »Das
Mädchen im dritten Stockwerke der Hofburg« und
»Lippo und der Tapio«, von denen das erste und das
dritte sich in unserem Buche als No. 17 und No. 2
finden, während das zweite eine Variante unserer No.
8 ist. Derselbe Band brachte S. 580 ff. noch die
Uebersetzung des Märchens »Die auf der Insel Leben-
den« (Saaressa eläjät, Rudbeck I2 99 ff.), eine Variante
unserer No. 11. Im sechzehnten (1857) und siebzehnten
(1858) Bande desselben »Archivs« sind drei
Märchen aus dem zweiten Hefte Rudbeck's übersetzt.
13 Ferner sind in dem mir nicht zugänglichen
Buche von Dr. Bertram Jenseits der Scheeren oder der
Geist Finnlands (Leipzig 1854) drei Märchen übersetzt:
»Die sonderbare Fleuduse«, »Das Mädchen aus
dem Meere« und »Der vigilante Jäger«, also unsere
No. 16, 10 und 2. Auch in Grässe's »Märchenwelt«,
die ich ebenfalls nicht habe einsehen können, sollen
sich nach Herrn Reinhold Köhler's Mittheilung einige
finnische Märchen befinden.
Die in dem vorliegenden Buche übersetzten Märchen
entsprechen in folgender Weise den Märchen des
Originals:
1. Brautfahrt des Schmiedes Ilmarinen = I 1 ff. Seppo
Ilmarisen kosinta.
2. Lippo und Tapio = I 6 ff. Lippo ja Tapio.
3. Mikko Mieheläinen = I 18 ff. Mikko Mieheläinen.
4. Das Teufelsschiff = I 29 ff. Hiiden laiva.
5. Der Aschenhocker = I 35 ff. Tuhkamo.
6. Die redenden Tannen = II 73 ff. Haastelevat
kuuset.
7. Das geschwätzige Weib = II 155 ff. Suulas akka.
8. Der Aschenhans = I 43 ff. Tuhkimo.
9. Die wunderbare Birke = I 59 ff. Ihmeellinen koivu.
10. Das dem Meere entstiegene Mädchen = I 77 ff.
Merestänousija neito.
11. Die neun Söhne des Weibes = I 87 ff. Naisen
yhdeksän poikaa.
12. Das Mädchen ohne Hände = I 108 ff. Käsitöin
neiti.
13. Von dem Mädchen, das ausging ihre Brüder zu
suchen = I 119 ff. Veljiänsä-etsijä tyttö.
14. Die dem Wassernix versprochenen Kinder = I 129
ff. Vetehiselle luvatut lapset.
15. Der in einen Hengst verwandelte Jüngling = I 142
ff. Oriiksi muutettu poika.
16. Die wunderbare Flöte = I 169 ff. Ihmeellinen
pilli.
17. Die Gaben des Unholds = I 181 ff. Hiiden lahjat.
18. Die wundersamen Schmiede = IV 1 ff. Ihmeelliset
sepät.
19. Vom Manne, der als Vogel über die Lande flog,
als Fisch durch das Wasser schwamm = IV 8 ff.
Miehestä, joka maat lenti lintuna, vedet ui kalana.
20. Der Lohn fürs Nachtlager = IV 12 ff. Yösian kostaminen.
21. Das widerhaarige Weib = IV 18 ff. Vastahakoinen
akka.
22. Der weise Mann und das Fieber = II 157 ff. Tietäja
ja tauti.
Von den Thiersagen steht der erste grosse Cyklus
»Bär, Fuchs und Wolf und ihre Abenteuer auf der Ilmola-
Feldmark« bei Rudbeck III 3 ff; das 17. Abenteuer
ist von der Uebersetzerin aus dem Ehstnischen
hinzugefügt. Die übrigen Thiermärchen entsprechen
folgenden Stücken des Originals:
2. Das Girren der Taube = III 45 Kyyhkysen kujerrus.
3. Hase, Wolf, Fuchs und Bär in der Fanggrube = III
45 No. 2 Jänis, susi, repo ja karhu yhtenä maahaudassa.
4. Die Tiere und der Teufel = III 47 Eläimet ja paholainen.
5. Der Fuchs, der Wolf und der Löwe = III 50 Kettu,
susi ja jalopeura.
6. Der Fuchs und der Hase = III 52 Kettu ja jänis.
7. Das Eichhorn, die Nadel und der Fausthandschuh =
III 52 Orava, neula ja kinnas.
8. Der Bär als Richter = III 55 Karhu tuomarina.
9. Der Wolf als Grenzwächter = III 56 Susi passin
katsojana.
10. Der alte Hahn = III 57 Vanha kukko.
No. 11–14 sind aus noch ungedruckten Originalen
übersetzt, über die ich später noch ein Wort sagen
werde.
Es ist eine wohl schon über den Kreis der Fachgelehrten
hinaus bekannt gewordene Thatsache, dass die
Märchen der europäischen Völker kein den einzelnen
von ihnen speciell zugehöriges Eigenthum sind, sondern
dass alle oder wenigstens fast alle bei den einzelnen
in mehr oder weniger genau zu einander stimmenden
Varianten erzählt werden, dass ferner viele derselben
auch bei den benachbarten Völkern Asiens und
Afrikas vorkommen, dass endlich selbst bei entlegenen,
gänzlich uncultivirten Stämmen Afrikas und
Amerikas sich zu manchen die überraschendsten Parallelen
nachweisen lassen. Die einzige Theorie, welche
diese merkwürdige Erscheinung befriedigend zu
erklären vermag, ist die Wanderungstheorie. Danach
ist ein Märchen an einem Punkte entstanden und hat
sich, wie heutigen Tages Witzworte und Anekdoten,
durch Weitererzählen von einem Volke zum andern
verbreitet. Man kann in dieser Weise sowohl die häufig
bis zu wörtlicher Gleichheit gehenden Uebereinstimmungen
verstehen als auch zu den ebenso bemerkenswerthen
Abweichungen Stellung nehmen, die
sich besonders durch Verschmelzung mehrerer Märchen
zu einem, durch Verschleppung einzelner Märchenzüge
an andere Stellen und durch Anpassung des
aus der Fremde eingewanderten Märchens an die psychische
Individualität und die Lebenserscheinungen
des entlehnenden Volkes erklären lassen. Dabei ist es,
wie ich glaube, durchaus nicht nöthig anzunehmen,
dass einzig und allein Indien das Mutterland aller unserer
Märchen und märchenartigen Erzählungen ist.
Uralte ägyptische Märchen müssen, so lange nicht
zwingende Gegengründe angeführt sind, als eigenste
Erfindung der Aegypter betrachtet werden, und das
Vorhandensein durchaus origineller Erzählungen bei
den Eingeborenen Afrikas und Australiens ist völlig
unbestreitbar. Und wenn die letztern hie und da in
einzelnen Zügen sowohl als auch in der ganzen Richtung
auffallend an unsere Märchen anklingen, so kann
man oft gewiss mit Fug auf die gemeinsamen Grundlagen
der menschlichen Phantasie zur Erklärung dieser
Thatsache hinweisen.14
Der verstorbene Theodor Benfey hat zuerst in seiner
berühmten Einleitung zu der Uebersetzung des indischen
Fabelwerks Pantschatantra den richtigen Weg
für die Behandlung dieser Fragen eingeschlagen und
Indien als die Heimat des grössten Theiles, wenn
nicht aller Erzählungsstoffe des Abendlandes nachzuweisen
gesucht. Ich betone hier nicht zum ersten Mal,
dass es mir Zeit scheint, jetzt, wo nicht bloss indische
Quellen in grösserer Reichhaltigkeit uns zugänglich
gemacht worden sind, sondern wo wir auch über die
Märchen und Fabeln der Weltliteratur einen viel weiteren
Umblick haben, diese Untersuchungen wieder
aufzunehmen. Es ist ungemein zu beklagen, dass
Reinhold Köhler sein ungeheures und von keinem andern
auch nur annähernd erreichtes Wissen auf diesem
Gebiete bis jetzt wenigstens noch nicht in den Dienst
einer grösseren Arbeit gestellt hat, um die Heimat und
die Wanderungen der Märchenstoffe im einzelnen
darzulegen, für deren allgemeine Gruppirung und Zurückführung
auf gewisse Grundtypen J.G.v. Hahn in
der Einleitung zu seinen »Griechischen und albanesischen
Märchen« eine dankenswerthe Vorarbeit geliefert
hat.
Es ist nicht meine Absicht zu den einzelnen Märchen
unseres Buches einen fortlaufenden Commentar
zu liefern. Schon der finnische Herausgeber hat den
einzelnen Stücken Nachweisungen aus Märchensammlungen
anderer Völker vorgesetzt, an die man
leicht anknüpfen kann, um die Stoffe weiter zu verfolgen.
Ich will mich auf einige mehr allgemeine Bemerkungen
beschränken.
Für die Vergleichung von Märchen fällt nach dem
oben Bemerkten nicht so sehr die ethnologische oder
sprachliche Verwandtschaft der Völker ins Gewicht,
als ihre Berührungen in Folge geographischer Nähe
oder historischer Ereignisse. Das ist der Grund, weshalb
ich im Stande war, auf specielle Uebereinstimmungen
zwischen arabischen und sicilianischen Märchen
hinzuweisen (Essays und Studien S. 186 ff.).
Wenn man aber mit den finnischen Märchen zunächst
ehstnische und lappische vergleichen will, so mag
man das thun, dabei aber nicht an die Stammverwandtschaft
der Völker, sondern an ihre geographische
Verbreitung denken. Wie sehr bei den Lappen,
diesem kümmerlichsten und poesielosesten der finnischen
Stämme,15 die Farben der Märchen verblasst
sind, sieht man zum Beispiel aus einer Vergleichung
des Märchens »Die Tochter des Beivekönigs« bei
Poestion a.a.O. S. 236 ff. mit unserer damit identischen
No. 5. Von nicht verwandten Völkern haben
natürlich vor allem die Schweden und Norweger und
die Russen Anrecht darauf als die Märchenlieferanten
für Finnland betrachtet zu werden, und damit tritt die
finnische Märchendichtung in engen Zusammenhang
mit der germanischen und slavischen überhaupt. Wir
haben für diese an und für sich selbstverständliche
Thatsache zum Ueberfluss ein bestimmtes Zeugniss.
Im Jahre 1855 schrieb Lönnrot an Schiefner: »Als ich
einen Finnen fragte, woher er so viele Märchen wisse,
antwortete er mir: ›Ich habe mehrere Jahre nach einander
bald bei russischen, bald bei norwegischen Fischern
am Eismeer Dienste gethan, und so oft der
Sturm uns vom Fischfang abhielt, vertrieben wir uns
die Zeit mit Märchen und Erzählungen. Dann und
wann war mir ein Wort oder eine Stelle unverständlich,
doch errieth ich den allgemeinen Inhalt aller
Märchen, die ich nachmals mit selbsterfundenen Zu-
sätzen daheim wiedererzählte‹«.16 Diese Stelle ist
nicht uninteressant für die Lehre von der Wanderung
der Märchen und Sagen.
Eine Abtheilung unseres Buches wird in dieser Beziehung
besonderes Interesse für sich in Anspruch
nehmen dürfen, nämlich die Thiermärchen. Wir lernen
hier eine grosse Anzahl finnischer Märchen kennen,
die sich um den Fuchs, den Wolf und den Bären als
Hauptfiguren gruppiren, mit andern Worten Märchen
des bekannten Reineke-Kreises. Man kennt die verschiedenen
Ansichten, welche über das Verhältniss
dieser Reineke-Märchen zu den litterarischen Bearbeitungen
der Thiersage, dem sogenannten Thierepos,
aufgestellt worden sind, und wie sich in der Anschauung
über Wesen und Ursprung des letzteren seit
Jacob Grimm ein so bedeutender Umschwung vollzogen
hat. Es ist hier nicht der Ort auf diese Frage ausführlich
einzugehen; ich deute nur kurz die Ansicht
an, welche ich mir über dieselbe gebildet habe. Thiermärchen,
welche den Löwen und den Schakal zu
Hauptfiguren hatten, waren in Indien entstanden und
hatten sich von dort, wahrscheinlich zugleich mit der
lehrhaften Tendenz, die ihnen entweder ursprünglich
anhaftete oder in sie hineingetragen worden war, nach
dem Occident verbreitet. Die aesopischen Fabeln der
Griechen sind aus solchen volksthümlichen Märchen
gewissermassen destillirt. Diese litterarischen Fabeln
gingen zunächst wesentlich durch Vermittelung der
Römer zu den übrigen Völkern Westeuropas über und
haben bekanntlich ungeheuer lange fortzeugende
Kraft besessen. Daneben ist ein lebendiger Strom
mündlicher Ueberlieferung anzunehmen, der die alten
Volkserzählungen ebenfalls nach dem Abendlande
trug. Seiner Bahn im einzelnen nachzuspüren wird
vermuthlich für immer verlorene Mühe sein; hier gilt
das Wort Liebrechts: »Ein Märchen, eine Erzählung
u.s.w. findet Wege der Fortpflanzung, die sich oft
durchaus allem näheren Nachweise entziehen«. Es
sind wesentlich ausserhalb der Thiermärchen liegende
Momente, die mich bestimmen, anzunehmen, dass für
den Westen Europas Italien, für den Osten (zunächst
also für die slavischen Völker) Byzanz die Vermittlerin
gewesen ist; und es freut mich, in dieser schon früher
von mir geäusserten Ansicht (Essays und Studien
S. 227) mit dem mir erst später bekannt gewordenen
Buche des russischen Gelehrten Kolmaěevsky »Das
Thierepos im Westen und bei den Slaven«, Kasan
1882; zusammen zu treffen. Ziemlich früh hat man,
zunächst in französischen Klöstern, diese Thiergeschichten
theils einzeln, theils zu vielfach von einander
abweichenden Gruppen zusammen geschlossen,
litterarisch verwerthet, auch hier wieder mit didaktischer,
diesmal vorwiegend satirischer Tendenz. Das
»Thierepos« ist also ein verhältnissmässig sehr spätes
Product gelehrter geistlicher Dichtung, das seine Frische
und Ursprünglichkeit lediglich den zu Grunde
liegenden Volksmärchen zu danken hat. Diese, die ja
ohnehin in dem »Epos« nicht ohne Rest aufgingen,
wurden daneben ruhig weiter erzählt und weiter verbreitet;
zunächst wenigstens sind jene litterarischen
Thierdichtungen gewiss ohne jeden Einfluss auf das
Volk geblieben. Wieweit ein solcher später, als der
Reineke vielfach zum Volksbuch geworden war, anzunehmen
sei, darüber wage ich kein Urtheil auszusprechen;
ganz wird er kaum abzuleugnen sein, weiss
doch J. Wolff in der Einleitung zu Haltrich's Siebenbürgisch-
deutschen Thiermärchen sogar von einem
aus Goethe's Reineke Fuchs stammenden Märchen zu
berichten.17 Es scheint mir jedoch nicht nothwendig,
da Einfluss der litterarischen Gestaltungen auf die
volksthümliche Version anzunehmen, wo, wie bei den
Siebenbürger Sachsen und in unsern finnischen Märchen,
solche Fuchsmärchen auch zu grösseren Cyklen
zusammengefasst erscheinen.18 Das ist gelegentlich
durch einen oder den andern besonders begabten Erzähler
geschehen; im grossen Ganzen laufen die
Thiermärchen nur als einzelne Stücke um. Es ist dem
Zusammenschweissen epischer Lieder zu epischen
Cyklen und weiter der Verbindung mehrerer einzeln
gesungenen Strophen zu längeren lyrischen Liedern
zu vergleichen. Die selbstständig erzählten oder ge-
sungenen einzelnen Geschichten, Lieder und Strophen
kommen immer daneben auch vor.19 Uebrigens will
ich der Mahnung Hrn. Wesselofsky's solche Märchencyklen
mit den litterarischen Bearbeitungen der Thiersage
zu vergleichen durchaus aus nicht entgegen treten;
soweit ich aber sehe, wird eine solche Vergleichung
durchaus nur ein negatives Resultat ergeben.
Die ehstnische Sammlung von Kreutzwald-Löwe
enthält keine Thiermärchen; wohl hat aber schon J.
Grimm in seiner Einleitung zum Reinhart aus andrer
Quelle ehstnische Thiermärchen benutzen können.
Poestion's Uebersetzung lappischer Märchen wird
durch einige Thiersagen eröffnet, von denen die beiden
ersten ebenfalls bekannte Episoden des Reineke-
Kreises enthalten und ebenfalls auf cyklische Märchenbildung
bei den Lappen hindeuten.20 Damit ist
wohl die Nachricht zu verbinden, dass Gustav von
Düben auf seinen Wanderungen durch die schwedischen
Theile von Lappland ein langes Reineke-Fuchs-
Gedicht hörte (Poestion S. 3); leider ist sonst nichts
über dasselbe bekannt geworden. Herrn Kolmaěevsky
sind für seine Studie über das Thierepos die finnischen
Thiermärchen unbekannt geblieben.
Die nicht dem Reineke-Kreise angehörigen Thiermärchen
sind entweder kleine Geschichten, welche
den Ursprung gewisser in die Augen fallender Eigenthümlichkeiten
der Thiere erklären sollen (so unsere
No. 6) oder kleine Schwänke. Das sind die beiden
Gebiete, wo der Erfindungskraft der einzelnen Völker
der weiteste Spielraum gelassen ist. Doch wird man
z.B. in No. 12 (der Kaulbarsch und der Lachs) die bekannte
Erzählung vom Wettlauf des Hasen und des
Swinegels wiedererkennen. Die Fische, welche Meer
und Landseen Finnlands in so grosser Anzahl bieten,
spielen in der Poesie der Finnen wie der Lappen überhaupt
eine hervorragende Rolle; auch in Lappland
wird der betreffende Scherz vom Lachs und Pottfisch
erzählt (Poestion S. 23). Zielinski hat in seiner Abhandlung
über die attische Märchenkomödie wahrscheinlich
zu machen gesucht, dass auch im altgriechischen
Volksmärchen die Fische einen bedeutenderen
Platz einnehmen als bei uns;21 was ja an und für
sich durchaus nicht unwahrscheinlich ist. Ich bin
sonst weit davon entfernt den zum Theil an allzu dünnen
Fäden hängenden Constructionen des Verfassers
überall beizustimmen. Es ist aber erfreulich, dass man
doch die Aufgabe nicht aus den Augen verliert den
Spuren von Volksmärchen in der antiken Litteratur
nachzugehen. Von Friedländer und Rohde sind in dieser
Hinsicht bereits werthvolle Andeutungen gemacht
worden; und wir dürfen noch mehr wahrscheinlich
von Eduard Zarncke erwarten, der in seiner Untersuchung
über das in den plautinischen Miles gloriosus
eingewebte Märchen ein vortreffliches Muster für sol-
che Arbeiten gegeben hat.
Ich will bei dieser Gelegenheit auf ein finnisches
Oedipus-Märchen hinweisen, das im zweiten Hefte
der Rudbeck'schen Sammlung steht. Es ist von der
Uebersetzerin nicht mit aufgenommen worden, findet
sich aber in Erman's Archiv XVII 14 ff. Sein Inhalt
ist folgender: Zwei weise Männer übernachten auf
einem Bauernhofe. Dort war eben ein Schaf im Lammen
begriffen und die Frau in Kindesnöthen. Sie stehen
beiden bei, weissagen aber zugleich, das Lamm
werde von einem Wolfe gefressen werden und der
Knabe werde seinen Vater tödten und seine Mutter
heirathen. Das Lamm wird bei einem Festmahl geschlachtet,
aber eben als man es nach der Suppe auf
den Tisch bringen will, sieht man, wie ein Wolf die
letzten Bissen verschlingt. Nun will der Vater das
Kind tödten, aber auf der Mutter Bitten wird es auf
ein Brett gebunden und ins Meer geworfen; doch hat
es bereits eine kleine Messerwunde an der Brust
davon getragen. Das Knäblein wird an den Strand getrieben
und von dem Abte eines Klosters erzogen. Erwachsen,
macht sich der Bursche auf die Wanderschaft
und tritt als Knecht auf einem Bauernhofe ein.
Er bekommt ein Rübenfeld zu hüten und erschiesst
den Hausherrn, der selbst bei Nacht kommt, um sich
eine Schürze voll Rüben zu holen. Nach einiger Zeit
nimmt die Wittwe den Knecht zum Ehegatten; bei ge-
meinsamem Baden entdeckt sie an der Narbe auf der
Brust, dass er ihr Sohn sei. Voll Verzweiflung macht
sich der Unglückliche auf den Weg, um von den
Schriftkundigen zu erfahren, ob Sohn und Mutter
Vergebung finden könnten. Zwei Mönche, die ihm
verneinend antworten, erschlägt er; von einem dritten
erfährt er, ihnen würde vergeben werden, wenn er
Wasser aus einem Felsen hervorgraben und ein auf
dem Schoosse seiner Mutter ruhendes Schaf weiss
werden würde. Beides geschieht, als er eines Tages
einen Rechtsverdreher so vor die Stirn schlägt, dass er
todt niederfällt.
Poestion's lappische Märchen enthalten zwei Versionen
der Polyphemsage. Die eine derselben (S. 122
ff.) stimmt sehr genau zu der homerischen Darstellung:
der Lappe, der mit seinen Gefährten in die
Höhle des Riesen gerathen ist, blendet ihn mit geschmolzenem
Blei, das er ihm statt einer Augensalbe
in die Augen giesst, gibt ihm als seinen Namen »Garniemand
« an und rettet sich sammt den Andern in den
Häuten geschlachteter Böcke aus der Höhle. Die
andre hat nur einen Zug bewahrt (S. 72): ein Lappe
kommt in die Hütte einer Hexe, gibt ihr als seinen
Namen »Selbst« an und verbrennt ihr das Gesicht mit
kochendem Wasser. Als ihre Genossen sie um den
Grund ihres Wehgeschreies fragen, antwortet sie:
»Selbst mich verbrannte!«
Es ist eine hübsche und dankbare Aufgabe, deren
Lösung nicht mehr allzu lange hinausgeschoben werden
sollte, die Volksmärchen auszuschälen, die in die
homerischen Gedichte Eingang gefunden haben. Hierfür
wird die Vergleichung der Kalevala mit finnischen
und verwandten Märchen eine lehrreiche Parallele
bieten. Schiefner hat nach dem Erscheinen der beiden
ersten Hefte der Rudbeck'schen Sammlung eine sehr
inhaltreiche Anzeige derselben geschrieben, in welcher
er besonders dieser Seite des Gegenstandes gerecht
geworden ist.22 Ein Aufsatz Schiefner's in
Erman's Archiv (XXII 608 ff.) bringt Nachträge zu
dieser Abhandlung. Hier wird auch die gewiss richtige
Beobachtung ausgesprochen, dass »gewisse wesentliche
Erscheinungen in Kalevala erst den Märchencyklen
ihr Dasein verdankten«. Das scheint mir
unzweifelhaft von einigen Zügen der Episode von
dem schon als Kind übermässig starken Kullervo, der
z.B. (in der 33. Rune) ebenso Bären und Wölfe statt
der Heerde nach Hause treibt, wie in unserm dritten
Märchen Mikko Mieheläinen die wilden Thiere an
seinen Schlitten spannt und wie in einem russischen
Märchen Iwaschko Bärenohr einen Bären nach Hause
treibt und in die Hürde sperrt. Im allgemeinen wird
sich allerdings, da es sich ja bloss um zwei verschiedene
Seiten der Volksdichtung handelt, eine Wechselwirkung
zwischen Epos und Märchen nicht ableugnen
lassen, und die Grenzbestimmung des beiderseitigen
Einflusses wird nicht immer leicht sein. Gleich dasjenige
Märchen, welches unsere Sammlung eröffnet,
»Die Brautfahrt des Schmiedes Ilmarinen«, ist aus
Zügen der Kalevala zusammengesetzt. Die beiden im
Märchen nicht näher bezeichneten Freier, die mit Ilmarinen
zusammen auftreten, sind natürlich Niemand
anders als Väinämöinen und Lemminkäinen. Die Vorbereitungen
Ilmarinens zur Brautfahrt stimmen sehr
genau zu der Erzählung in der achtzehnten Rune des
Epos: dort heizt ihm die Schwester Annikki (im Märchen
die Mutter) zuerst die Badestube, bringt ihm
dann Leinenhemd, Unterkleider und Strümpfe, und
der Knecht spannt dann das schnelle Füllen vor den
buntgeschmückten Schlitten (V. 383 ff.). Wie in unserm
Märchen, bekommt im Epos Ilmarinen drei Aufgaben
(19. Rune); die erste derselben, das Umpflügen
des Schlangenfeldes, ist dem Epos und dem Märchen
gemeinsam.23 Die beiden andern Aufgaben stimmen
nicht überein; doch lässt sich für die dritte, wo Ukko
Untamo Ilmarinen verschluckt und dieser in seinem
Magen sich eine Schmiede einrichtet, an die 17. Rune
der Kalevala anknüpfen, wo Väinämöinen von Vipunen
verschluckt wird und ihn durch Hämmern und
Schmieden in seinem Leibe so lange quält, bis er ihm
seine ganze Weisheit vorsingt. Im Epos wird Ilmarinen's
Frau von Kullervo's wilden Thieren zerrissen; er
schmiedet sich dann aus Gold und Silber eine andere
Frau (Pygmalion!); als er am Morgen, nachdem er bei
ihr geruht, erwachte, war die der Jungfrau zugewandte
Seite kalt. Nach diesem verunglückten Versuche raubt
er aus Nordland die jüngere Schwester seiner ersten
Frau, die ihn unterwegs beschimpft und dafür von
ihm aus Zorn in eine Möwe verwandelt wird (37. und
38. Rune). Beide Züge enthält auch unser Märchen,
aber in umgekehrter Reihenfolge; hier wird die erste
Frau, die sich Ilmarinen durch Verwandlungen dreimal24
entziehen will, in eine Möwe verwandelt,
schliesslich aber, als das Experiment mit der kupfernen
Frau misslungen ist, wieder zum Weibe gemacht.
Ich will diese einleitenden Bemerkungen nicht
schliessen, ohne darauf hinzuweisen, dass die finnische
Litteraturgesellschaft neuerdings sich wieder in
hervorragender Weise der Sammlung der Volksüberlieferungen
zugewendet hat. Ich kann darüber aus
einem in der französischen Zeitschrift »Mélusine«25
abgedruckten Briefe von Hrn. Eliel Aspelin und aus
einem an die Uebersetzerin gerichteten Briefe von
Hrn. J. Krohn das Folgende mittheilen. In alle Theile
des Landes sind in den letzten zehn Jahren Sammler
geschickt worden, die sich besonders des neuen Hilfsmittels
der Stenographie für ihre Aufzeichnungen bedienen
konnten. So haben die Herren Borenius, Genetz
u.A. eine grosse Menge Varianten zum National-
epos gesammelt, deren Redaction den Herren J.
Krohn und Borenius anvertraut worden ist.
Der erstere hat auch eine umfassende historisch-aesthetische
Studie über das Epos zu veröffentlichen begonnen.
Herr Aspelin besorgt eine neue Ausgabe der
Sprichwörter, die seit Lönnrot von etwa 7700 auf
10000 bis 11000 gestiegen sind. Herr Porkka hat eine
ungemein interessante Sammlung von »Thränenliedern
«, von denen sich bei Lönnrot nur wenig Proben
fanden, vorbereitet. Viele lyrische Gedichte, Zauberlieder,
Zauberformeln aus dem wenig civilisirten
Nord-Osten des Landes sind zusammengebracht; Borenius
hat auch Melodien epischer Lieder aufgezeichnet.
Auf Märchenjagd gingen unter Andern die Herren
Sjoeros, Mustakallio und Karl Krohn aus; besonders
der letztere hat von seinen fünf in den Jahren
1881–1885 unternommenen Reisen ein sehr reiches
Material heimgebracht, dem die paar nicht aus Rudbeck
stammenden Thiermärchen unserer Sammlung
entnommen sind; er hat sie noch vor der finnischen
Veröffentlichung der Uebersetzerin freundlichst zur
Verfügung gestellt. Dieselbe soll mit den Thiermärchen
beginnen, welche nächstes Jahr, etwa 20 Bogen
stark, erscheinen werden.
Eine Stelle aus dem Briefe von Hrn. J. Krohn kann
ich mir nicht versagen hier abzuschreiben: »Ausser
den eigens auf Kosten der Gesellschaft durch herum-
reisende Sammler veranstalteten Sammlungen hat
man bekannt gemacht, dass für eingesandte Sammlungen,
wenn sie gewisse vorgeschriebene Regeln erfüllen
(genaues Angeben des Fundortes, des Erzählers
u.s.w.), Preise je nach dem Umfange und Werthe des
Manuskripts ausgezahlt werden, in den meisten Fällen
in von der Litteraturgesellschaft herausgegebenen
Büchern bestehend, ausnahmsweise auch in Geld.
Dieser Aufruf hat eine wahre Sündfluth von Zusendungen
zu Wege gebracht. Volksschullehrer, Schüler
der gelehrten Schulen, Bauern, Frauen, selbst Tagelöhner
schicken unaufhörlich grössere und kleinere
Sammlungen, jeder aus seiner nächsten Heimath. Natürlich
ist nicht Alles von gleichem Werthe, aber der
grösste Theil doch verwendbar. Ich führe dies an, weil
es mir scheint, als hätte man in den grösseren Culturländern
nicht genug verstanden, auch das Volk für
wissenschaftliche Zwecke zu interessiren. Bei uns
wird in derselben Art auch vielfach für Alterthumskunde
und vaterländische Geschichte mit gemeinschaftlichen
Kräften gearbeitet.«
Es wird von der Theilnahme, welche der vorliegende
Band findet, abhängen, ob die Uebersetzerin sich
entschliessen wird auch von den neuen durch die finnische
Litteraturgesellschaft zusammengebrachten
Schätzen den Folkloristen anderer Länder durch eine
deutsche Uebersetzung Einiges zu vermitteln. Die le-
bendige und innige Theilnahme, welche sich diese
hochgebildete, schriftstellerisch und künstlerisch strebende
Frau für ihre Heimat zu erhalten wusste, hat
auch dieser Uebersetzung einfacher und so oft gering
geachteter Volksmärchen warmes Leben eingehaucht.
Möge man das bei uns anerkennen, wo man ja stets
fremden Litteraturerzeugnissen eine gastliche Stätte
gegönnt hat; möge man aber auch in Finnland selbst
dankbar dafür sein.
G r a z , Ende October 1886.
Gustav Meyer.
Fußnoten
1 Ehstnische Märchen. Aufgezeichnet von F. Kreutzwald.
Aus dem Ehstnischen übersetzt von F. Löwe.
Halle 1869. – Zweite Hälfte. Dorpat 1881. Aeltere
Mittheilungen ehstnischer Märchen zählen W. Grimm
Kinder- und Hausmärchen III 353 (1856) und Schiefner
im Vorwort zum ersten Bande von Kreutzwald-
Löwe S. V auf.
2 Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und
Sprichwörter. Nach lappländischen, norwegischen
und schwedischen Quellen von I.C. Poestion. Wien
1886.
3 Vgl. Porthan De poesi fennica 1766. Lencquist
Specimen academicum de superstitione veterum Fennorum
theoretica et practica Åbo 1782. Ganander
Mythologia fennica Åbo 1789.
4 Hempelsche Ausgabe I 97: ›Käm' der liebe wohlbekannte‹.
– Voyage pittoresque au Cap Nord par A.F.
Skjöldebrand. 1801.
5 S. 375 f. in der mir vorliegenden Ausgabe Lübeck
und Franckfurt 1700, deren Orthographie und Interpunction
beibehalten sind.
6 Ueber das finnische Epos. In Hoefer's Zeitschrift für
die Wissenschaft der Sprache I 13 ff.
7 Castrén's Vorlesungen über finnische Mythologie.
Im Auftrage der Kais. Akademie der Wissenschaften
aus dem Schwedischen übertragen und mit Anmerkungen
begleitet von H. Schiefner. St. Petersburg
1853.
8 Kalewala, das National-Epos der Finnen, nach der
zweiten Ausgabe ins Deutsche übertragen von Anton
Schiefner. Helsingfors 1852.
9 Kalewala, das Volksepos der Finnen. Uebersetzt
von Hermann Paul. I. Helsingfors 1885. Vgl. dazu
die lesenswerthe Besprechung von Roman Woerner in
der Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung
1886 No. 210 und 211.
10 Kanteletar, die Volkslyrik der Finnen. Ins Deutsche
übertragen von Hermann Paul. Helsingfors
1882.
11 Finnland. Schilderungen aus seiner Natur, seiner
alten Cultur und seinem heutigen Volksleben von Gustaf
Retzius. Autorisirte Uebersetzung von C. Appel.
Berlin 1885. S. 128 ff.
12 Suomen Kansan Satuja ja Tarinoita. I. Helsingissä
1852. II 1854. III 1863. IV 1866. Die ersten beiden
Hefte liegen mir in zweiter Ausgabe 1871 und 1873
vor, nach welcher ich im Folgenden citire.
13 XVI 236 Anton Puuhara = Rudbeck II2 100 ff.
Autti Puuhaara. XVII 14 Die Weissagungen = Rudbeck
II2 64 ff. Ennustukset. XVII 21 Nicht so was =
Rudbeck II2 53 ff. Ei-niin-mitä.
14 Ich habe mich über diese Fragen ausführlicher an
mehreren Stellen meiner »Essays und Studien zur
Sprachgeschichte und Volkskunde« (Berlin 1885)
ausgesprochen, z.B. S. 177 ff. 221 ff.
15 Vgl. O. Donner, Lieder der Lappen (Helsingsfors
1876) S. 22.
16 Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland
XXII 614.
17 Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen. Kleinere
Schriften von Josef Haltrich. In neuer Bearbeitung
herausgegeben von J. Wolff. Wien 1885. S. 4. In
dieser Einleitung ist die Frage der Thiermärchen – im
Gegensatz zu Haltrich, der ganz Grimm'schen Anschauungen
huldigte – ansprechend auseinander gesetzt.
Vgl. jetzt auch die lichtvolle Darlegung in Reissenberger's
Einleitung zu seiner Ausgabe des Reinhart
Fuchs (Halle 1886).
18 Die Siebenbürger Märchen stehen in dem eben an-
geführten Buche von Haltrich – Wolff S. 29 ff. und
bei Haltrich, Deutsche Volksmärchen in Siebenbürgen,
3. Auflage, Wien 1882, S. 269 ff.; die finnischen
Märchen in unserem Buche S. 183 ff.
19 Vgl. z.B. No. 9 der »Finnischen Märchen«: Der
Wolf als Grenzwächter. Hier sind nur zwei Erzählungen
combinirt, die von der Sau, die ihre Ferkel taufen
will, bevor sie der Wolf frisst, und die von dem Erlaubnissschein,
den die Stute dem Wolf an ihrem
Hufe sehr deutlich vordemonstrirt. Beide Geschichten
stehen auch bei Haltrich-Wolf, dort in einem grösseren
Cyklus, aber ohne gerade aneinander angereiht zu
sein. Sie gehören auch sonst zu den verbreitetsten
Thiermärchen: vgl. Grimm Reinhart S. LXXVII, 12.
LXXV. CCLXIII. Hahn, Griechische und albanesische
Märchen No. 92. Wagner, Carmina graeca medii
aevi S. 120. 135. Krauss, Sagen und Märchen der
Südslaven I 1.
20 Beide enthalten die bekannte Erzählung, wie der
Fuchs sich tot stellt, von einem Bauern auf den
Wagen geladen wird und die Fische von demselben
stiehlt. Daran reiht sich hier, wie anderwärts, die Erzählung
vom Fischfang des Wolfes (hier Bären), bei
dem diesem der Schweif einfriert. Beide Märchen finden
sich in unserer finnischen Sammlung nicht. Wohl
aber ein drittes, welches in No. 2 der lappischen Mär-
chen mit jenen beiden contaminirt ist. Fuchs und Bär
dreschen zusammen, bei der Theilung weist der Fuchs
dem Bären, der mehr gearbeitet habe, den grösseren
Haufen zu und dieser bekommt so die Spreu. »Wie
kommt es denn, fragt der Bär, dass es in deinem
Munde brisk brask lautet, wenn du kaust, in meinem
aber nur slisk slask?« »Das kommt natürlich daher,
dass ich so viel Sand und kleine Steinchen in meinem
Haufen habe, das knirscht so, wenn ich esse«, antwortete
der Fuchs. Das entspricht dem 9. Abenteuer des
finnischen Reineke-Cyklus. Felix Liebrecht äussert
sich über jene, lappische Geschichte vom Fuchs und
den Fischen (Germania XV, 161), »sie brauche nicht
eigentlich entliehen zu sein, da sie sich ja selbst unter
den Hottentotten wiederfindet«. Natürlich ist sie bei
den Hottentotten ebenfalls entliehen. Sie steht bei
Bleek, Reineke Fuchs in Afrika, S. 13.
21 Zielinski, Die Märchenkomödie in Athen. Abdruck
aus dem Jahresbericht der Deutschen Schulen
zu St. Annen. St. Petersburg 1885. S. 71.
22 Ueber den Mythengehalt der finnischen Märchen.
Bulletin de la classe historico-philologique de l'Académie
Impériale des Sciences de St. Pétersbourg. XII
(1855) 369 ff.
23 Der Zug, dass die Jungfrau selbst dem Helden mit
ihrem Rathe beisteht – wie in der Medeasage –, findet
sich nur im Epos.
24 Von der der Märchendichtung überhaupt eigenen
Verwendung der Dreizahl – Trigemination hat das
Zielinski in der angeführten Abhandlung S. 12 genannt
– bieten unsere finnischen Märchen eine so grosse
Anzahl von Beispielen, wie sie sich so gehäuft
schwerlich anderswo finden. Vgl. darüber schon
Schiefner in der oben citirten Anzeige im Bulletin.
25 Mélusine. Revue de mythologie etc. dirigée par H.
Gaidoz et E. Rolland. II, 66.
I.
Märchen.
1.
Die Brautfahrt des Schmiedes Ilmarinen.
(Aus Aunus.)
Der Schmied Ilmarinen, der unsterbliche Meister, arbeitete
in seiner Schmiede, that das Eisen in die Esse
und bewegte den Blasebalg. Da trat ein Weiblein an
die Schwelle der Schmiede – klein war das Weiblein,
so klein sie war, gross war das Weiblein, so gross sie
war, – das sagte: »Ei, Schmied Ilmarinen, wüsstest du
die Kunde, die ich dir bringe, du thätest nicht das
Eisen in die Esse!« Darauf antwortete der Schmied Ilmarinen:
»Kleines Weiblein, du winziges, grosses
Weiblein, du riesiges! bringst du mir gute Kunde,
dann gebe ich dir auch gute Gaben; lautet deine Nachricht
schlecht, dann stosse ich dir dies glühende Eisen
in die Kehle!« – »Dies ist, was ich dir zu sagen
habe:« erwiderte das Weib, »es sind zwei Freier hinausgefahren,
die um des Teufelkönigs Tochter, die
blendend weisse, schöne Katrina werben wollen. Im
Nachen sind sie hinausgerudert.«
Als er das hörte, nahm der Schmied Ilmarinen
schnell das Eisen aus der Esse und schritt in tiefen
Gedanken nach Hause. Er berieth sich mit seiner Mut-
ter und sprach: »O Mutter, die du mich geboren, heize
die kupferne Badstube; heize sie, dass sie heisser
werde als glühendes Eisen, heisser als ein glühender
Stein!«
Die Mutter heizte die Badstube und schickte sich
an, den Sohn zu baden. Doch Ilmarinen sagte: »Gieb
mir, o Mutter, die du mich geboren, mein leinenes
Hemd und meine enganliegende Hose, dass ich mich
schmücke.« Da brachte ihm die Mutter das Hemd und
die Hose, und der Schmied begab sich in die Badstube.
Nachdem er sich gebadet, läuft er eilig, baarfüssig
und ungegürtet, nach Hause und ruft seinem Sclaven
zu: »Mein alter, treuer Sclave, spanne schnell mein
drei Sommer altes, treffliches Fohlen vor den bunten
Schlitten; nimm das kupferne Geschirr dazu, mit dem
eisernen Zaum, den stählernen Zügeln und dem zinnernen
Brustriemen.« – Der greise, treue Sclave führte
das drei Sommer alte, treffliche Fohlen herbei und
fing an es einzuspannen; aber der Brustriemen ging
nicht zu. Da kommt der Schmied Ilmarinen selber,
baarfüssig und ungegürtet, seinem Sclaven zu Hülfe,
knüpft den Brustriemen fest und spannt das Fohlen
ein. Dann tritt er wieder in die Stube, kleidet sich eilends
an, nimmt Abschied von seiner Mutter und sagt:
»O Mutter, die du mich geboren, gieb mir deinen
Segen auf die Reise, denn es gilt jetzt eine Braut-
fahrt!«
Nachdem er seiner Mutter Segen empfangen, setzte
sich Ilmarinen, der Schmied, in den bunten Schlitten,
gezogen vom trefflichen, drei Sommer alten Fohlen
mit dem eisernen Zaum, dem kupfernen Geschirr und
den stählernen Zügeln, und fuhr sausend über das offene
Meer; dabei ward des Pferdes Huf nicht nass,
noch zog der Schlitten eine Spur. Er mochte wohl eine
Weile gefahren sein, da holte er die beiden Ruderer
ein, von denen ihm das Weib gesagt hatte, und zog
mit ihnen des Weges dahin.
Jenseits des Meeres schaute des Teufelkönigs
Töchterlein, die blendend weisse, schöne Katrina, aus
dem dritten Stock des Schlosses auf das Meer hinaus.
Sie erblickte die Reisenden und sagte zu ihrem Vater:
»O mein Väterchen, es kommen drei Freier herangezogen;
zwei rudern im Nachen, der dritte fährt im
Schlitten.« – Bald kamen die drei Reisenden in des
Teufels Schlosse an, wo sie vom König mit Ehren
empfangen und aufs beste bewirthet wurden. Nachdem
sie gegessen und getrunken, thaten die Männer
ihr Begehren kund und sagten, sich tief vor dem Könige
verbeugend: »Wir kommen, lieber König, als
Bewerber um die schöne Katrina.« – Der König gab
ihnen gleich Preisarbeiten auf und fragte zuerst: »Wer
von euch, ihr Männer, übernimmt es, mein Schlangenfeld
mit ungestiefelten Beinen, nackten Füssen
und mit unbedeckter Haut zu pflügen.« – »Siehe, ich
will dein Feld pflügen«, antwortete Ilmarinen, der
Schmied, muthig; aber die beiden Andern wagten sich
nicht an solch eine Arbeit, verbeugten sich vor dem
Könige und zogen ihres Weges.
Als sie fort waren, ging der Schmied Ilmarinen
rasch ans Werk; er spannte schnell sein treffliches
Fohlen an den Pflug und fing an das Feld zu pflügen.
Es kochte und zischte, und das Gewürm thürmte sich
bis zu zwei Ellen in die Höhe; bald schnellten die
Schlangen unter dem Pfluge hinweg, bald an dem
Schmiede empor, doch nicht eine einzige berührte ihn.
Ilmarinen vollbrachte sein Werk aufs beste, trat kühn
vor den König und sagte: »Nun, mein Herr König,
dein Schlangenfeld ist gepflügt!« – »Gut!« sagte der
König, »doch wenn du solch eine Arbeit vollbringen
konntest, so wirst du wohl auch auf meine Tenne
einen Teich hinzaubern können, in dem grosse Fische
schwimmen, kleine Fische plätschern.« – »Auch dieses
bringe ich zu stande«, antwortete der Schmied Ilmarinen,
und ging ohne Zögern auf die Tenne. Kaum
hatte er dort sein Zauberlied gesungen, als auch sofort
auf der Tenne ein Teich entstand, in dem grosse Fische
schwammen, kleine Fische plätscherten.
Nachdem er auch diesen Auftrag erfüllt, trat der
Schmied wieder vor den König, und sagte sich verbeugend:
»Das Werk ist gethan, das du mir aufgetra-
gen hast!« Darauf antwortete der König dem Schmiede:
»Bis jetzt hast du deine Sachen gut gemacht. Nun
gehe hin und bringe deiner Braut, der schönen Katrina,
den schweren Kasten vom Meeresstrande, der
schon seit undenklichen Zeiten darin verborgen liegt.«
Was war zu thun? Der Schmied musste den Kasten
aufsuchen, und schritt dem Meeresstrande zu. Da sah
er drei Jungfrauen am Ufer sitzen, redete sie an und
fragte: »O ihr Mägdelein! wo ist der Kasten mit der
Morgengabe der schönen Katrina? wisst ihr es?« –
»Der ist im Besitz des Ukko Untamo, von ihm musst
du ihn fordern«, sagten die drei Jungfrauen; »dort
sieht man sein Schloss. Frage ihn, vielleicht giebt er
ihn dir. Aber sei nur ja auf deiner Hut; Viele sind
schon hingegangen, aber nur Wenige sind zurückgekehrt.
« – Der Schmied begab sich in das Schloss des
Untamo, wie ihm geheissen worden, und schaute
durchs Fenster hinein. Siehe, da schlief der greise Untamo,
zu einem Knäuel zusammengeballt, Kopf und
Füsse an der Thürschwelle. Der Schmied schlich sich
leise hinan, sprang mit einem Satz mitten in die Stube
und rief laut: »Gieb mir, Ukko Untamo, den Kasten
mit der Morgengabe der schönen Katrina heraus.«
Darauf antwortete der alte Untamo: »Kannst du dich
auf meiner Zunge halten und darauf hüpfen und springen,
so bekommst du die Morgengabe sofort.« – Der
Schmied besann sich nicht weiter, sondern sprang be-
hende auf Untamo's Zunge und fing an darauf zu hüpfen.
Aber in demselben Augenblicke öffnete Ukko
Untamo die Kinnladen so weit, dass sein Mund anderthalb
Ellen im Umfange mass und die Zähne ellenlang
hervorstaken; ohne ihn zu zerbeissen, schlang er
Ilmarinen, den Schmied, in seinen Magen hinunter.
Der Schmied verlor auch jetzt nicht den Muth, sondern
zog seine Kleider aus: das Hemd benutzte er als
Schmiede, aus den Hosen machte er einen Blasebalg;
das linke Knie gebrauchte er als Amboss, die linke
Hand als Zange, die rechte Faust als Hammer, und
nun fing er an in Untamo's Magen zu schmieden und
zu hämmern. Von seinem Hemde nahm er die kupferne
Brustschnalle ab und schmiedete daraus einen
Vogel, dem er eiserne Krallen und einen stählernen
Schnabel machte. Als er damit fertig war, sang er sein
Zauberlied; da brachte er sogleich Leben in das Herz
des Vogels, dem er dann einen Schwung gab, dass er
in Untamo's Magen herumflog. Wie der Vogel so hin
und her flatterte, zerriss er mit seinen scharfen Krallen
die Gedärme in Untamo's Leibe und stiess ihm mit
seinem stählernen Schnabel ein grosses Loch in die
Seite. Ukko Untamo gerieth darüber in so fürchterliche
Todesangst, dass er in seiner Qual dem Schmiede
zurief: »Wenn du aufhörst meinen Leib zu zerreissen,
Schmied Ilmarinen, sollst du sofort die Morgengabe
der schönen Katrina erhalten. Geh hin zum Meeres-
strande; wo du die drei Jungfrauen sitzen siehst, da
liegt der Kasten im Sande vergraben.«
Als der Schmied Ilmarinen dieses vernahm,
schlüpfte er durch das Loch, welches der Vogel
durchgestossen, aus Untamo's Magen hinaus und
sprang aus der Stube auf den Hof und dem Meeresstrande
zu. Da sah er, wie früher, die drei Jungfrauen
sitzen und rief ihnen zu: »Ihr lieben Mägdelein, gebt
mir der schönen Katrina Morgengabe heraus, der alte
Untamo hat sie mir bereits zugesagt.« – »Nimm sie
hin; hier im Sande steckt der Kasten! Hebe ihn heraus
und trage ihn heim«, sagten die Jungfrauen und zeigten
dem Schmiede die Stelle, wo der Kasten verborgen
lag. Er grub ihn aus und brachte ihn dem Könige
mit den Worten: »Hier bringe ich der schönen Katrina
den Kasten mit der Morgengabe, den du mich suchen
hiessest.« Der König war mit den Thaten des Schmiedes
zufrieden, da er seinen Schatz aus der Gewalt des
Ukko Untamo wiedererlangt hatte. Er gab dem
Schmied Ilmarinen seine Tochter, die blendend weisse,
schöne Katrina zum Weibe und segnete die Beiden
zur Heimfahrt.
Da sass nun der Schmied Ilmarinen mit seinem jungen
Weibe in dem bunten Schlitten, gezogen von dem
trefflichen Fohlen im kupfernen Geschirr mit dem eisernen
Zaum, den stählernen Zügeln und dem zinnernen
Brustriemen, und sauste über das offene Meer
dahin; des Pferdes Huf ward nicht nass, und der
Schlitten hinterliess keine Spur. Sie fuhren weiter und
immer weiter, bis die Nacht sie auf dem Meere überraschte.
Da sang Ilmarinen, der Schmied, sein Zauberlied,
und alsbald erhob sich mitten im Meere eine
Insel, auf welcher sich der Schmied mit seinem Weibe
zur Ruhe begab. Sie schliefen die Nacht durch bis
zum Morgen. Da erwachte Ilmarinen aus dem Schlafe,
schaute zur Seite, – aber er sah sein Weib nicht mehr.
Er stand vom Lager auf, schritt dem Meeresstrande zu
und zählte alle Enten auf der Insel. Siehe da, eine
Ente war überzählig. Als er das sah, sang der
Schmied schnell sein Zauberlied und sagte: »Verstekke
dich nicht, Katrina, da bist du ja!« Alsbald verwandelte
sich die Ente wieder in sein Weib. Sie sausten
wieder über das offene Meer dahin, wer weiss,
wie lange sie gefahren sein mochten, da überraschte
sie wieder die Nacht auf ihrer Fahrt. Aber der
Schmied Ilmarinen sang sein Zauberlied und es entstand
eine Insel auf dem Meere, auf welcher sich die
Beiden zur Ruhe legten. Die Nacht verging, der Morgen
brach an; da erwachte Ilmarinen, der Schmied,
aus seinem Schlafe und blickte zur Seite: aber sein
Weib war nicht mehr da. Eilig sprang er von seinem
Lager auf und zählte alle Bäume auf der Insel, – da
fand sich ein überzähliger Baum. Schnell sang Ilmarinen
sein Zauberlied und rief: »Verstecke dich nicht,
schöne Katrina, da bist du ja!« und augenblicklich
stand sein Weib wieder vor ihm. Der Schmied Ilmarinen
setzte sich neben sie in den bunten Schlitten, gezogen
vom trefflichen, drei Sommer alten Fohlen, und
fort sausten sie über das offene Meer. Sie fuhren den
Tag über, bis die Nacht hereinbrach, da sang der
Schmied Ilmarinen sein Zauberlied wie früher, und
zauberte auf dem Meere eine Insel hervor, auf welcher
er sich neben seinem Weibe zur Ruhe legte. Die
Nacht verging, der Tag dämmerte bereits, als der
Schmied aus dem Schlaf erwachte und zur Seite
schaute: aber sein Weib war nicht mehr da. Diesmal
ward Ilmarinen, der Schmied, zornig auf sein Weib;
er sprang schnell von seinem Lager auf und wanderte
am Meeresstrande umher. Beim Herumgehen zählte er
die Steine auf der Insel und fand einen überzähligen
Stein. »Verstecke dich nicht, Katrina, da bist du ja!«
sagte er schnell, sang sein Zauberlied, und alsbald
stand sein Weib wieder vor ihm. Aber der Schmied
redete sie zürnend an: »Um dich zu erlangen, du schöne
Katrina, habe ich Riesenarbeit gethan und habe
Riesenmühe gehabt, und du betrügst mich immer. So
gehe denn hin und treibe dich für ewige Zeiten auf
dem Meere umher!« Als er das gesagt, sang der
Schmied sein Lied und verwandelte sein Weib, die
blendend weisse, schöne Katrina, in eine Möwe, ewig
verdammt über dem Meere gegen den Wind zu flie-
gen.
Doch das Leben ohne Weib ward dem Schmiede zu
einsam, und er begann sich aus Kupfer ein Weib zu
schmieden. Er sang ein Zauberlied, und es entstand
ein Menschenbildniss. Er sang ein zweites Lied, und
es kam Leben in das Herz des Weibes. Ilmarinen
legte sich neben sein selbsterschaffenes Weib zur
Ruhe; die eine Hand that er auf den Busen der Frau,
die andere auf die eigene Brust. Als er am folgenden
Morgen erwachte und seine Hände befühlte, da war
die Hand warm, welche er auf der eignen Brust gehabt
hatte, und die andere eisigkalt, die er zu seinem
Weibe gethan. Da sprach der Schmied Ilmarinen, der
ewige Meister, die Worte: »Niemand schmiede sich
selbst ein Weib; man nehme nur das erschaffene!«
Dann sang er noch ein Zauberlied; da verwandelte
sich die Möwe wieder in sein Weib, die blendend
weisse, schöne Katrina, wie sie leibt und lebt. Er setzte
sich mit ihr in den Schlitten, gezogen vom trefflichen
Fohlen, und fuhr mit eilender Fahrt in die Heimat,
wo seine Mutter die Schwiegertochter aufs beste
empfing.
2.
Lippo und Tapio.
(Aus Ilomants.)
Lippo, der flinke Mann, der Jäger, begab sich eines
Tages mit zwei Gefährten auf die Rennthierjagd.
Einen ganzen Tag wanderten sie im Walde umher, da
brach die Nacht herein, und sie suchten in einer Reisighütte
Schutz gegen die Finsterniss und die Kälte.
Sie brachten die Nacht in der Hütte zu, und als der
Tag zu dämmern begann, glitten die drei Männer auf
ihren Schneeschuhen weiter; bevor sie die Hütte verliessen,
schlug Lippo seine Schneeschuhe aneinander
und sagte: »Heute muss mir der Tag Beute bringen;
ein Stück dem einen Schneeschuh, ein Stück dem andern,
ein drittes meinem Stabe.« Die Männer hatten
sich kaum in Bewegung gesetzt, als sie auch drei
Rennthierspuren fanden; sie folgten ihnen und erblickten
bald die drei Rennthiere: zwei nebeneinander,
das dritte etwas weiter ab von den andern. Da
sagte Lippo zu den Gefährten: »Ihr mögt die beiden
Thiere verfolgen, das sei eure Beute; ich will dem einzelnen
nachjagen.« Mit diesen Worten glitt er auf dem
Schnee dahin, den ganzen Tag, bis ihn die Nacht
überraschte; aber das Rennthier holte er nicht ein, obgleich
er der schnellste Schneeschuhläufer war. Da
kam er im Walde an ein Gehöft; das Rennthier flüchtete
sich in den Stall auf dem Hofe und Lippo eilte
ihm nach. Auf dem Hofe stand der Herr des Hauses,
ein ehrwürdiger Greis, Haupt und Kinn mit grauem
Tannenmoos bewachsen. »Oho!« sagte er, »welcher
Krötensohn hat meinen Hengst heute in Schweiss gejagt?
« – Lippo trat vor, begrüsste den Greis und
sagte: »Ich habe es gethan, konnte ihn aber nicht einfangen,
und bin so in diesen Hof gerathen.« – Der
Greis, welcher Tapio selber war, sagte darauf: »Nun,
wenn du bis zum Abenddunkel meinen Hengst gejagt
hast, so magst du zur Nacht in meiner Stube bleiben.«
Lippo trat in die Stube des Tapio ein und schaute sich
darin verwundert um: hier waren Rennthiere und Hirsche,
dort Bären, Füchse, Wölfe und alle nur erdenklichen
Thiere des Waldes. Tapio setzte ihm ein
Abendessen vor und bewirthete ihn gut. Am folgenden
Morgen wollte Lippo seine Fahrt fortsetzen, aber
er konnte seine Schneeschuhe nicht finden. Er fragte
den Tapio danach, doch dieser sagte: »Willst du nicht
als Schwiegersohn bei mir bleiben? Ich habe eine einzige
Tochter.« Lippo antwortete: »Gern bliebe ich,
aber ich bin ein ganz armer Mann.« – »Das lass
meine Sorge sein!« rief Tapio, »Armuth ist kein Fehler,
und bei uns sollst du haben, wonach dein Sinn ge-
lüstet.« Er gab dem Lippo seine Tochter, und der flinke
Schneeschuhläufer und Jäger blieb als Schwiegersohn
in der Waldhütte des Tapio.
Drei Jahre waren vergangen, seitdem er zu Tapio
gekommen, da gebar ihm Tapio's Tochter einen Sohn.
Nun gedachte Lippo seine Heimat zu besuchen und
bat Tapio, ihn dorthin zu führen. Tapio sagte: »Wenn
du mir Schneeschuhe nach meinem Sinn verfertigst,
lasse ich dich ziehen.« Lippo eilte in den Wald und
begann Schneeschuhe zu schnitzen. Ueber ihm sass
eine Meise auf einem Baumzweige und sang:
»Tii, tii, ich kleine Meise
Lehre dich die rechte Weise:
Nach unten thu ein Zweiglein spitz,
Ans Ende vorn des Fusses Sitz!«
Lippo warf ein Holzstückchen nach dem Vogel und
sagte: »Was pfeifst du da, du dummes Thierchen?« Er
machte seine Schneeschuhe fertig, verzierte sie so
schön er's verstand und brachte sie dem Tapio. Tapio
versuchte sie, sagte aber alsbald: »Diese Schneeschuhe
sind nichts für mich!« – Am folgenden Tage
musste Lippo aufs neue hinaus in den Wald an die
Arbeit. Wieder sass die Meise da und sang:
»Tii, tii, ich kleine Meise
Lehre dich die rechte Weise:
Nach unten thu ein Zweiglein spitz,
Ans Ende vorn des Fusses Sitz!«
»Bist du schon wieder da mit deinem Geschwätz?«
rief Lippo zornig und warf ein Holzstückchen nach
dem Vögelchen. Er dachte nicht daran, den Rath der
Meise zu befolgen, sondern schnitzte die Schneeschuhe
nach alter Art und brachte sie dem Tapio. »Das
sind nicht meine Schneeschuhe«, sagte Tapio wieder.
Nun, als Lippo am dritten Tage in den Wald ging und
die Meise wieder ihr Liedlein sang:
»Tii, tii, ich kleine Meise
Lehre dich die rechte Weise:
Nach unten thu ein Zweiglein spitz,
Ans Ende vorn des Fusses Sitz!«
da dachte Lippo: »Gut, ich thue wie du mich heissest;
umsonst wirst du wohl nicht singen.« Er nahm einen
recht ästigen Zweig und befestigte ihn an der schmalen
Rinne unter dem Schneeschuh, und an dem oberen
Ende desselben brachte er den Fussriemen an; dann
zeigte er dem Tapio die Schneeschuhe. »Siehe, das
sind ja meine Schneeschuhe«, sagte Tapio, als er sie
versuchte. »Jetzt darfst du heimwärts ziehen.« Er gab
Lippo das Geleite und sagte: »Ich will vor euch hingleiten,
und ihr sollt meinen Spuren folgen; wo ihr
einen Abdruck meiner Stabspitze findet, da sollt ihr
zur Nacht bleiben; aber baue deine Schlafhütte recht
dicht aus Tannenzweigen, dass nicht des Himmels
Gestirne durchzuscheinen vermögen.« Mit diesen
Worten glitt Tapio vor ihnen dahin; die Zweige unter
seinen Schneeschuhen bezeichneten seine Spur, sodass
Lippo mit Weib und Kind ihr folgen konnte. Erst
gegen Abend sahen sie den Abdruck des Stabes, und
daneben einen gebratenen Hirsch zum Abendessen.
Sie bauten sich eine dichte Hütte aus Tannenzweigen,
bedeckten sie mit einem sehr festen Dach und zogen
den kleinen Schlitten mit dem Kinde hinein; dann legten
sie sich zur Ruhe. Am andern Morgen setzten sie
die Fahrt fort und nahmen ein Stück von dem Hirschbraten
mit auf den Weg. Gegen Abend fanden sie wieder
die Spur des Stabes und ein gebratenes Rennthier
daneben. Wieder bauten sie eine sehr dichte Hütte aus
Tannenzweigen und zogen den Schlitten mit dem
Kinde hinein. Nachdem sie die Nacht geruht, ging es
am Morgen weiter, bis sie am Abend den dritten Abdruck
des Stabes fanden; diesmal lag ein gebratener
Auerhahn zum Abendessen da. »Siehe da! Nun kann
die Heimat nicht mehr fern sein, da man uns nur einen
Auerhahn bietet!« rief Lippo aus. Die Hütte bauten
sie nur ganz durchsichtig und zogen den Schlitten mit
dem Kinde hinein, dann legten sie sich zur Ruhe nieder.
In der Nacht verzogen sich die Wolken, und die
Sterne am Himmel schauten hell durch das Reisig auf
die Schläfer herab, da die Hütte so wenig dicht gebaut
war. Als Lippo am Morgen erwachte, war sein Weib
nirgends zu finden; er trat hinaus vor die Hütte,
schaute umher, aber die Spur von Tapio's Schneeschuhen
war nicht mehr zu sehen. Lippo wusste nicht
wo aus, wo ein, da er keine Spur fand; er setzte sich
mit seinem Kinde vor die Thür seiner Hütte und
schaute vor sich hin; da lief ein Hirsch an ihnen vorüber
und blökte. Sonst war weit und breit nichts zu
sehen, der Abend brach herein, und Lippo blieb
nichts übrig als dort die Nacht zuzubringen. Am Morgen
lag wieder ein gebratener Auerhahn vor der Thür,
und der Hirsch lief blökend vorüber. – Viele Jahre
verbrachte Lippo mit seinem Kinde in derselben
Hütte aus Tannenzweigen; jeden Morgen lag für sie
ein gebratener Auerhahn vor der Thür, und jeden Tag
lief ihnen der Hirsch vorüber. Der Knabe wuchs heran
zu einem klugen, verständigen Jüngling; er bat einst
den Vater, ihm ein langes Rohr zu verfertigen, damit
sie hinausschauen könnten, ob die Heimat noch fern
sei. In seinen Mussestunden machte Lippo das Rohr
und gab es seinem Sohne. Dieser schaute aus und rief
alsbald: »Die Heimat ist ja nicht mehr fern, wir sind
dicht am eignen Feldgrund!« Und richtig, als die Beiden
hinausgingen, waren sie alsbald in der Heimat.
Der Jüngling aber ward der Stammvater der Lappen.
Damit ist die Geschichte aus.
3.
Mikko Mieheläinen.
(Aus Aunus.)
Ein Mann hatte einen Tag lang gejagt und wanderte
nun durch tiefes Dickicht seinem Hause zu. Plötzlich
kam ihm Tapiotar, Tapio's Tochter, entgegen und
sagte: »Wenn du mit mir kommst, will ich dich nicht
tödten; doch folgst du mir nicht willig, so tödte ich
dich auf der Stelle!« Im ersten Schrecken über Tapiotar's
Rede und schlimme Drohung wagte der Mann
nicht sich zu widersetzen und folgte der Tapiotar auf
ihrer Wanderung. Die Beiden gingen lange Zeit durch
den dichten Wald, bis sie nach Tapiola1 kamen, wo
die Tapiotar den Mann in ihr Haus führte und sagte:
»Hier sollst du nach deinem Sinne herrschen, wenn du
mir treu bleibst; doch wirst du mir untreu und versuchst
du von mir zu fliehen, so werde ich dich auf
der Stelle tödten!«
Der Mann, der nirgends eine Hülfe erblickte, ging
auf das Ansinnen der Tapiotar ein und nahm sie zum
Weibe. Sie lebten eine Zeitlang zusammen, da ward
die Tapiotar schwanger und gebar einen Sohn, dem
man den Namen Mikko Mieheläinen gab. Als dieser
heranwuchs, ward aus ihm ein so fester, starker
Mann, wie man es nicht in Versen ausdrücken, in keiner
Predigt aussagen kann.
Einst war das Brod im Hause zu Ende; die Tapiotar
ging aus Nahrung zu suchen und sagte im Fortgehen:
»Während meiner Abwesenheit dürft ihr euch nicht
aus dem Hause wagen, gedenkt daran!« Die Anderen
versprachen daheim zu bleiben; doch kaum war die
Tapiotar aus dem Umkreis des Gehöfts verschwunden,
als Mikko zum Vater herantrat und sagte: »Väterchen,
ich sehne mich danach unser Vaterland zu
sehen; lass uns von hier fortgehen und deine Heimat
aufsuchen.«
»O mein lieber Sohn!« erwiderte der Vater; »auch
mich drängt es mein altes Heim zu schauen; aber
denke an deine Mutter, die uns verboten hat aus der
Stube hinauszutreten.« Mikko liess sich dadurch nicht
irre machen; er redete so lange seinem Vater zu, bis
dieser auf das Vorhaben einging. Nun begaben sich
die Beiden auf die Flucht. Nicht lange danach kam die
Tapiotar von ihrem Jagdzuge heim; als sie niemand in
der Stube sah, errieth sie sofort die Sachlage und eilte
den Flüchtlingen nach.
Bald hatte sie den Mann und ihren Sohn auf dem
Wege eingeholt; sie sprang mit einem Satze vor sie
hin und fragte grimmig: »Wesshalb seid ihr geflüchtet?
habe ich es euch nicht verboten?« Der Mann
ward ganz elend vor Schrecken über diese Anrede, so
dass er nichts erwidern konnte, aber Mikko trat muthig
der Tapiotar entgegen und schrie ihr zu: »Aus
dem Wege!« Darüber ward die Tapiotar so zornig,
dass sie den Sohn mit den Händen packte; doch
Mikko liess sich dieses nicht gefallen, sondern warf
die Frau gegen einen Zaun, dass sie zerschmettert und
zerschunden liegen blieb; danach wanderte er mit seinem
Vater weiter.
Endlich kamen sie in ihr eigenes Land, und der
Vater lebte mit seinem Sohne in der Heimat wie ehedem.
Mikko ward im Laufe der Zeit immer männlicher
und kraftvoller, sodass er zuletzt einen Ueberfluss
an Kraft besass. Einst streifte er umher und gesellte
sich zu anderen Burschen und Mädchen, die
sich mit mancherlei Spielen die Zeit vertrieben. Zuletzt
wurde ein Ballspiel angefangen, und als die
Reihe an Mikko kam, den Ball zu werfen, schnellte er
ihn mit solcher Macht einem Mädchen zu, dass ihr der
Arm zerbrach, und die Leute zum Vater Mikko's mit
der Klage liefen: »Schaffe deinen Sohn fort, er tödtet
uns noch alle unsre Kinder!« Der Vater machte dem
Sohne Vorwürfe und sagte: »Warum hast du solches
gethan, mein Söhnchen? Nimm dich in Acht!« – »Ich
meinte den Ball nach altem Brauch geworfen zu
haben,« antwortete Mikko; »ich muss es doch wohl
aus Versehen etwas kräftiger gethan haben.« Der
Vater dachte jedoch in seinem Sinne: »Ich muss den
Jungen auf die Arbeit schicken, damit er nicht Zeit
findet Böses zu thun.« Darauf sagte er zu ihm: »Geh
hin, mein Söhnchen, bringe einige Lasten Holz aus
dem Walde, damit wir unsere Badestube heizen können!
« – »Das ist bald gethan,« sagte Mikko; »aber
hast du irgendwo einen Schlitten und Geschirr?« »Gewiss
«, sagte der Vater und übergab Geschirr und
Schlitten dem Sohne. Dieser ging damit ins Gehölz
und gerade in den besten Tannenwald. Dort erkannten
ihn die wilden Thiere und wollten sich auf ihn werfen;
aber Mikko erschrak nicht im mindesten, sondern
kämpfte mit ihnen und erschlug viele davon. Nun
ward es den Ungethümen selber angst, und sie flehten
Mikko an: »Tödte uns nicht, Söhnchen, wir werden
dir Gutes dafür thun!« »Ei, so mögt ihr am Leben
bleiben, wenn ihr mir ein paar Fuder Holz nach
Hause fahren wollt«, sagte Mikko Mieheläinen; er
wählte die besten unter den Raubthieren aus und
spannte sie vor seinen Schlitten. Dann brach er eine
grosse Tanne im Walde um, legte sie mitsammt den
Aesten auf den Schlitten und fuhr mit den wilden
Thieren nach Hause, wo er schnell vom Schlitten
sprang und seinem Vater zurief: »Hier, Väterchen,
hast du Holz, und hier sind auch Pferde für dich!«
»Hast du sie dir angeschafft, Söhnchen, so magst du
sie auch behalten; ich kann solche Pferde nicht brau-
chen«, meinte der Vater.
Nach einiger Zeit ging Mikko wieder hinaus zum
Spiel und fing an mit anderen Burschen und Mädchen
Ball zu werfen. Was geschah? Als er den Ball hinschleuderte,
traf dieser ein Mädchen ans Bein, welches
sofort zerbrach. Die Leute liefen wieder zum
Vater mit ihrer Klage und sagten: »Schaffe deinen
Sohn fort! Er vernichtet das ganze Volk mit seiner
riesigen Kraft!« Der Vater ärgerte sich wohl über die
Unthaten seines Sohnes, aber da er nicht Abhülfe
schaffen konnte, ersann er eine Arbeit für den Burschen
und sagte: »Geh doch mal hin, Mikko, und
fange mir Fische aus jenem Teiche, damit ich einmal
wieder eine Fischspeise zu kosten bekomme!« »Nun
so gieb mir, Väterchen, eine alte Mähre aus deinem
Stalle, die mir die Fische nach Hause schaffen kann;
dann werden wir bald Fische zum Essen haben«, antwortete
Mikko. Der Vater gab dem Sohne ein Pferd,
und Mikko ging mit der Angelschnur allein zum Fischen
aus. Als er am Ufer des Teiches angelangt war,
knickte er eine Tanne um, machte sich eine Angelruthe
daraus und setzte sich am Ufer zum Fischen hin.
Er angelte und angelte, da blieb plötzlich der Wassernix
an der Angel hangen; Mikko zog ihn ans Land
und schlug ihn halbtodt mit der Angelruthe. Da flehte
ihn der Wassernix an und sagte traurig: »Tödte mich
nicht, guter Mann, ich will dir Gutes thun!« – »Nun,
wenn du mir ein Fuder Fische aus dem Teiche
heraufschaffst, dass ich meinem Vater eine Fischspeise
bereiten kann, will ich dich am Leben lassen«,
sagte Mikko, und liess ihn in den Teich zurück mit
der Angelschnur im Munde. Bald darauf brachte der
Wassernix einen Sack voll Fische herauf und zog ihn
an das Ufer; aber Mikko hob prüfend den Sack in die
Höhe und sagte: »Bringe noch einen Sack voll herauf;
das ist noch keine Last für einen Mann!« Wieder
tauchte der Wassernix in den Teich hinein und brachte
aufs neue einen Sack voll Fische. – »So, jetzt habe
ich genug!« sagte Mikko zum Nix, »komm jetzt mit
und trage mir die Last nach Hause!« Der Wassernix
musste alle die Fische in den Säcken tragen, und die
Beiden kamen zusammen in Mikko's Heimat an. Sobald
sie sich dem Vater so weit genähert hatten, dass
er sie hören konnte, rief ihm Mikko entgegen: »Väterchen,
hier hast du Fische und eine Wirthschafterin
zum Wirthschaften.« Doch als der Vater die Beute
seines Sohnes sah, meinte er: »Was du dir angeschafft,
mein Söhnchen, magst du auch behalten; ich
brauche solch eine Wirthschafterin nicht!«
Sie hatten eine Zeitlang ruhig dahingelebt, als
Mikko zum dritten Male zum Spielen hinausging und
sich mit den anderen Burschen und Mädchen im Ballwerfen
übte. Doch wie erging es wieder? Als er den
Ball einem der Mädchen zuwarf, traf er sie in die
Seite, sodass sie ganz schief wurde. Die Leute liefen
klagend zum Vater und riefen: »Jetzt musst du deinen
Sohn fortschaffen! Er zerbricht alles Volk mit seiner
unmenschlichen Kraft!« Der Vater trug Sorge um seinen
Sohn, wie er ihn wohl daran hindern könnte
Böses zu thun. Nachdem er lange darüber nachgesonnen,
entschloss er sich, ihn auf weite Reisen zu schikken
und sagte zu ihm: »Seit drei Jahren schuldet mir
der Waräger König zwei Tonnen Goldes. Geh hin,
mein lieber Sohn, und verlange das Geld.« Mikko war
dazu bereit und machte sich reisefertig. Er spannte
das Raubthier vor den Schlitten, setzte sich in diesen
und übergab dem Wassernix die Zügel. Auf diese
Weise reiste er lange Zeit, bis er ins Warägerland
kam und sich des Königs Behausung näherte; dort
fuhr er mit solch einem Gerassel auf den Hof, dass der
Palast erzitterte. Darüber erschrak der Warägerkönig
heftig, denn er fürchtete, sein Palast stürze zusammen;
er rief seinen Sclaven zu: »Fragt den Reisenden
nach seinem Begehr, und gebt ihm Alles, was er verlangt,
damit er nur seiner Wege fahre!« Die Sclaven
eilten hin mit Mikko zu reden; doch als sie sahen, was
für ein Pferd und welchen Rosselenker er hatte, erschraken
sie noch viel mehr und fragten in ihrer
Angst: »Was verlangt der Fremdling?« – »Ich habe
zwei Tonnen voll Gold von eurem König zu fordern«,
antwortete Mikko muthig. Die Sclaven gedachten des
Gebotes ihres Herrn und trugen ohne Zögern die
Geldtonnen herbei; Mikko Mieheläinen hob sie in seinen
Schlitten und fuhr rasselnd nach Hause. Auf dem
eignen Hofe angelangt, spannte er das Raubthier aus
und trieb es in den Wald; den Wassernix dagegen
liess er in den Teich zurück, und selber trat er vor seinen
Vater hin und sagte: »Väterchen, hier ist das
Geld, welches du mich aus dem Warägerlande holen
hiessest, – nimm!« – Was sollte der Vater dazu
sagen? Er hätte eigentlich nichts dagegen gehabt,
wenn der Sohn auf der Reise geblieben wäre; aber das
viele Geld dünkte ihm doch gut, und so musste er
Mikko's Muth loben, da er die Sache so schnell in
Ordnung gebracht hatte.
Nun verging lange Zeit, ohne dass dem Vater irgend
ein Aergerniss durch den Sohn widerfahren war.
Endlich fand Mikko das Leben zu Hause doch langweilig;
freilich mochte er sich nicht mehr am Spielen
betheiligen, da es ihm stets dabei so schlimm ergangen
war. Er trat vor seinen Vater und sagte: »Väterchen,
nähe mir einen Reisesack; ich habe Lust mir die
Welt anzusehen.« Das war auch ganz nach dem Sinne
des Vaters, der schnell einen ledernen Sack fertig
nähte und ihn dem Sohne reichte. Den Sack auf dem
Rücken, begab sich Mikko jetzt auf die Wanderung
und schritt lange durch verschiedene Länder, bis er
einst an einen hohen Berg kam, auf dessen Spitze ein
Bursche sass, welcher fortwährend zwei Felsen aneinander
stiess.
Als dieser Felsenzusammenstosser sah, dass Mikko
sich dem Berge näherte, begrüsste er ihn und rief ihm
zu: »Ich grüsse dich, Mikko Mieheläinen! Nimm
mich zum Gefährten an!« – »Komm nur mit, da du
ein tüchtiger Mann zu sein scheinst; besser wandert es
sich zu Zweien«, sagte Mikko Mieheläinen; und der
Felsenstosser kam vom Berge herab und ging mit. Sie
mochten eine Weile miteinander gewandert sein, als
sie einen Burschen erblickten, der mit den Händen
zwei Flüsse zusammenlenkte; diesem Manne näherten
sich die Wanderer. Der Flüsselenker hielt sofort in
seiner Arbeit inne und sagte zu Mikko: »Ich grüsse
dich, Mikko Mieheläinen! Willst du mich nicht zum
Gefährten annehmen?« – »Komm nur mit, wenn du
Lust hast; gut ist's, auf der Wanderschaft Gefährten
zu haben«, antwortete Mikko Mieheläinen, und die
drei Männer gingen miteinander weiter. Nach einiger
Zeit gelangten sie in einen tiefen Wald und erblickten
darin aus der Ferne etwas, das ihrem Auge wie ein
Haus erschien, und als sie näher kamen, sahen sie,
dass es eine Menschenwohnung war, für ein Schloss
zu klein, für eine Hütte zu gross. Als sie in den Hof
traten, sahen sie eine Menge Kühe in einer Einfriedigung
stehen; desshalb glaubten die Wanderer, das
Haus sei bewohnt, und gingen in die Stube hinein.
Aber da trafen sie keine Seele an, das ganze Haus war
wie ausgestorben. Die Burschen, die auf ihrer Wanderung
müde und hungrig geworden waren, legten sich
in der Stube zur Ruhe nieder und beriethen sich,
woher sie sich wohl Nahrung schaffen könnten. Da
sagte Mikko Mieheläinen zu den Anderen: »Da das
Haus ganz verlassen, das Gehege aber voller Kühe
ist, werden wir keinen Mangel an Nahrung haben,
selbst wenn wir einen Festschmaus halten wollten;
lasst uns desshalb eine Kuh aus dem Gehege schlachten!
«
Dieser Rath war auch ganz nach dem Sinne der Anderen;
sie gingen Alle sofort zur Einfriedigung, suchten
sich die beste Kuh aus und schlachteten sie. Der
Felsenstosser wurde angestellt aus dem Fleische das
Essen zu bereiten, die beiden Anderen gingen in den
Wald, um Brennholz zu schlagen.
Die Wohnung gehörte jedoch der Hexe, die während
der Zeit im Walde gewesen war; sie kehrte eben
heim und fand den Burschen in der Stube vor, wie er
die Kuh kochte. Die Hexe kreischte dem Koch zu:
»Ei, du Aasjunge, bist du in meine Stube gekommen,
um zu feuern und zu schmoren?« Damit packte sie
den Burschen an, hob mit der einen Hand den Sperrbaum
in die Höhe und steckte mit der andern den
Kopf des Burschen in das Loch darunter. Dann schaute
sie nach dem Essen, schlang all das Fleisch in sich
hinein und ging fort.
Der Bursche unter dem Sperrbaum sprang hin und
her, bis er den Kopf aus der Oeffnung herausgezogen
hatte; schnell that er die Knochenreste, welche die
Hexe übrig gelassen, in den Kessel zurück und kochte
daraus eine neue Suppe. Danach ging er hinaus und
rief die Gefährten zum Essen. Die Anderen kamen
schnell aus dem Walde herbei, da sie sehr hungrig
waren, und sie fingen an zu essen; doch die Suppe
wollte den Zweien nicht schmecken, und sie fragten
den Koch: »Woher ist die Suppe so mager? Es schien
uns doch, dass wir die beste Kuh geschlachtet hatten!
« »Diese Hütte ist alt und baufällig«, sagte der
Felsenstosser, »sie gerieth so sehr ins Schwanken,
während ich kochte, dass die Suppe auf den Boden
floss, und als ich den Rest aufs neue kochte, ist das
Essen nicht besser gerathen.«
Nun, die Anderen mussten die Suppe nehmen, wie
sie eben war, und liessen sich für den Tag an solchem
Essen genügen. Als es wieder Morgen ward, schlachteten
sie aufs neue eine Kuh aus dem Gehege, und der
Flüsselenker ward zum Kochen daheim gelassen; die
Anderen gingen aus, um Holz zu schlagen wie gestern.
Was nun weiter? Während der Bursche kochte,
kam die Hexe in die Stube und schrie ihm zu: »Bist
du schon wieder in meiner Stube, du Aasjunge, obgleich
ich dir's gestern verboten habe?« Sie packte
den Burschen an und steckte seinen Kopf unter den
Sperrbaum; doch das Essen schlang sie hinunter und
ging dann ihrer Wege.
Endlich machte sich der Bursche unter dem Sperrbaum
frei und las die wenigen Knochenreste, welche
die Hexe übrig gelassen hatte, zusammen und kochte
daraus eine neue Suppe. Darauf rief er die Gefährten
aus dem Walde herbei und man fing an zu essen.
Während der Mahlzeit murrten die Anderen wieder
über die Unschmackhaftigkeit der Suppe und sagten:
»Es ist doch ein Wunder, dass dieses Gesud so mager
ist, wir haben doch eine gute Kuh geschlachtet!« –
Aber der Flüsselenker antwortete mit den gestrigen
Worten seines Gefährten: »Während ich kochte,
schwankte die Hütte so stark, dass die Suppe auf den
Boden floss, und als ich den Rest aufs neue kochte,
ward das Essen nicht gut.«
Was sollten sie thun? Dieser Tag verging ihnen
und sie schliefen die Nacht durch; doch kaum dämmerte
der Morgen, als der Hunger über die Männer
kam, da sie sich mit so kärglichem Essen an den zwei
vorhergegangenen Tagen hatten begnügen müssen,
und sie schlachteten eine dritte Kuh aus dem Gehege.
Diesmal blieb Mikko Mieheläinen selber zum Kochen
da und schickte die beiden Anderen in den Holzschlag.
Während des Kochens ward ihm die Zeit lang,
und als die Suppe brodelte, machte er sich eine Kan-
tele2 zurecht; in der Stube war keine Bank, auf die er
sich hätte setzen können, desshalb trug er vom Hofe
einen grossen eichenen Trog herein, stülpte ihn auf
dem Fussboden um, setzte sich darauf und fing an
seine Kantele zu spielen. In diesem Augenblicke kam
die Hexe nach Hause und kreischte Mikko entgegen:
»Ei, Mikko Mieheläinen, was kommst du her und
lärmst in meiner Stube?« – »Na, ruhig, ruhig, Alte!«
sagte Mikko Mieheläinen; »ich spiele ja deinen Kinderchen
was vor; wo sind denn deine Kleinen?« Darüber
ergrimmte die Hexe noch mehr und schrie vor
Zorn: »Was kümmert mich dein Spiel? Komm, lass
uns kämpfen, du Aasjunge!« Doch als Mikko Mieheläinen
die Alte zu packen kriegte, zerschmetterte er
sie und that sie dann unter den eichenen Trog, der umgestülpt
auf der Diele stand. Darauf kochte er in Ruhe
die Suppe fertig und rief die Anderen zum Mahle. Die
kamen bald aus dem Walde heran, und als sie beim
Essen waren, fragte Mikko Mieheläinen seine Gefährten:
»Nun, ist die Suppe diesmal gut?« – »Ja, sehr
gut!« versicherten die Anderen und rühmten Mikko
wegen der schmackhaften Zubereitung. Da stand dieser
vom Essen auf, hob den Trog in die Höhe und
sagte: »Da ist nun diejenige, die das Haus geschüttelt
hatte! Warum habt ihr mich nicht gewarnt? Jetzt wird
wohl die Hütte nicht mehr wackeln; aber lasst uns
weiter gehen, wir haben hier nichts mehr zu schaf-
fen.« Die Anderen schämten sich und wagten gar
nichts zu erwidern, sondern wanderten mit Mikko
weiter. Sie schritten und schritten immer vorwärts und
fanden in einem Walde eine Grube, die so tief war, so
tief, dass man den Grund nicht sehen konnte.
»Man müsste doch erforschen, was in der Grube
ist«, meinte Mikko Mieheläinen; »aber wie erreichen
wir den Grund?« Die Gefährten sannen ein wenig darüber
nach und fanden endlich ein Mittel; sie sagten:
»Wir haben ja die drei Kuhhäute aus dem Hause der
Hexe mit; lasst uns daraus eine Wiege machen und
darin hinunterfahren!« Dieser Rath dünkte auch
Mikko gut, und sie verfertigten aus den Häuten eine
Hängewiege, an welche sie so lange Lederstreifen befestigten,
als die Häute dazu ausreichten; daran sollte
die Wiege hinuntergelassen werden. Als das Werk
fertig war, fragte Mikko die Anderen: »Wer von uns
soll sich in die Wiege setzen?« – »Setze du dich hinein,
Mikko Mieheläinen«, sagten die Gefährten, »wir
schwächeren Männer wollen an den Riemen heraufziehen,
was du in die Wiege thun wirst.« – »Gut, so
mag es sein«, sagte Mikko Mieheläinen, setzte sich in
die Wiege und gebot den Anderen, ihn an den Riemen
hinunterzulassen. Die Gefährten thaten es, und Mikko
Mieheläinen glitt mittelst der Riemen immer tiefer
hinab, bis er endlich unter die Erde gelangte, wo sich
ihm ganz fremde Länder und nie gesehene Gegenden
zeigten. Vor ihm lag eine neue Welt, der oberen jedoch
ähnlich, und am Ufer eines Meeres stand eine
Hütte. Mikko Mieheläinen stieg aus der Hängewiege
und ging in die Hütte hinein; siehe, da sass ein wunderschönes
Mädchen in weissen Gewändern, und
Sie webet goldnes Linnen,
Silberfädchen wohl auch drinnen.
Golden sind des Mädchens Hände,
Füsschen silbern bis zur Lende.
Sonne auf dem Haupt ihr glänzet,
Mondenlicht die Stirne kränzet,
Nordstern ihr die Schultern schmücket,
Dass ihr Sternenglanz entzücket,
Siebenstern thront ihr am Nacken.
Als das Mädchen Mikko erblickte, erschrak sie und
sagte: »O du Mann aus fremdem Lande, wie bist du
Unglückseliger hierher gerathen? Wenn meine Mutter
nach Hause kommt, wird sie dich tödten!« – »Ich
habe noch keinen Mann getroffen, der mir gleich kam
und den ich zu fürchten gebraucht hätte; sollten mich
jetzt gar Weiber besiegen?« sagte Mikko Mieheläinen
und erzählte sodann dem Mädchen, wie er in der Hängewiege
aus der Oberwelt heruntergefahren war.
Dem Mädchen ward es leid um den Burschen, da er
ihr gut gefiel, und sie führte Mikko Mieheläinen in
das Vorrathshaus, wo sie ihn unter ihren Kleidern
versteckte, damit ihn die Mutter nicht finden sollte;
dann schloss sie die Thür hinter sich zu. Aber bald
darauf kam die Alte nach Hause und rief schon von
der Schwelle ihrer Tochter zu: »Wo hast du den Burschen
verborgen? Eben ist ein Bursche hier gewesen!
Bringe ihn aus dem Versteck herbei, dass ich mit ihm
kämpfe!« Dem Mädchen half alles Leugnen nicht, sie
musste den Burschen herbeiholen, und nun entstand
ein fürchterlicher Kampf zwischen ihm und der Mutter;
doch zuletzt gewann Mikko den Sieg und tödtete
das alte Weib. Da vertraute sich das Mädchen dem
Manne an und ward Mikko Mieheläinens Weib, und
Beide machten sich bereit auf die Oberwelt zu steigen.
Was in des Mädchens Hause an Sachen, Vorräthen
und Reichthümern, an Silber und Gold zu finden
war, nahmen sie mit und trugen Alles an die Grubenmündung,
wo die lederne Wiege hing. Die Sachen
thaten sie hinein, und Mikko's Gefährten zogen die
Wiege an den Riemen hinauf, leerten sie aus und
senkten sie wieder herab, bis alle Schätze auf diese
Weise unten zu Ende waren. Eben senkte sich die
Wiege wieder leer herab, und es gab nichts mehr hineinzuthun,
da sagte Mikko Mieheläinen zu seinem
Weibe: »Setze du dich jetzt hinein, mein liebes Mädchen,
damit du hinaufgelangst; ich folge dir nach,
wenn die Reihe an mir ist.«
Das Mädchen setzte sich in die Wiege und ward
hinaufgezogen; dann ward die Wiege noch einmal
hinabgelassen und Mikko Mieheläinen schwang sich
als der Letzte hinein. Die Gefährten zogen ihn eine
Strecke an den Riemen herauf, da sagte der eine Bursche
zum andern: »Wenn Mikko Mieheläinen aus der
Grube herauskommt, wird er uns gewiss keinen Theil
an seinen Vorräthen gönnen, sondern wird uns dort
hineinwerfen. Wollen wir ihn lieber in der Grube lassen
und alle seine Sachen behalten!« Der Andere ging
auf den Vorschlag des Genossen ein, und sie zerschnitten
alsbald die Riemen, an denen die Wiege
hing, und Mikko Mieheläinen fiel auf halbem Wege
in die Grube zurück.
Was sollte er nun anfangen? Mikko ging in der Unterwelt
in seiner Trauer am Meeresstrande umher und
erblickte einen Vogel, der am Himmel flog; schnell
rief er ihn herbei: »Komm her, mein Vögelchen!« Der
Vogel flatterte heran und sagte: »Ich grüsse dich,
Mikko Mieheläinen! Worüber sinnst du?« – »Darüber
sinne ich, wie ich wohl in meine Heimat gelangen
könnte«, antwortete Mikko; »trage mich, lieb Vögelchen,
in meine Heimat!« Der Vogel erbarmte sich seiner,
nahm Mikko schnell auf den Rücken und flog mit
ihm davon. Er flog und flog mit ihm weite Strecken,
bis er Mikko endlich an die Stelle brachte, wo dieser
mit seinen Gefährten Holz zum Kochen der Kühe geschlagen
hatte; hier liess ihn der Vogel vom Rücken
herab und fragte: »Kennst du das Land, wo du dich
befindest?« Mikko schaute sich um, erkannte den Ort
und sagte: »Nun weiss ich, wo ich bin, mein Vögelchen;
schön Dank fürs Herbringen!« Dann schieden
die Beiden voneinander; der Vogel flog wieder fort,
und Mikko ging nach der Grube zu, wo er die Gefährten
verlassen hatte. Als er sich der Stelle näherte,
hörte er ein Kampfgeschrei von der Grube her, und
als er nahe daran stand und von der Seite hinschaute,
sah er den Felsenstosser und den Flüsselenker heftig
miteinander ringen. »Nimm die Schätze! gieb mir das
Mädchen!« so schrie Einer zum Andern, und sie
konnten sich nicht über ihren Antheil an den Sachen,
die sie in der Wiege heraufgeschafft, einigen. Da
stand plötzlich Mikko Mieheläinen vor ihnen und
sagte: »Ich grüsse euch, Gefährten! Hier seid ihr ja,
und hier bin auch ich!« Mit der einen Hand packte er
den Einen an der Brust, mit der andern Hand den Andern,
und stiess die beiden Kumpane in die Grube
hinein, indem er sagte: »Geht, Brüderchen, wo ich gewandert
bin, mögt ihr auch wandern!«
Alsbald fuhren sie kopfüber unter die Erde, und
man sah sie nie wieder und hörte nichts mehr von
ihnen; aber Mikko Mieheläinen nahm seine Schätze
vom Grubenrande zusammen und ging mit seiner
Braut in die einstige Wohnung der Hexe; sie
schmückten das Haus mit allem möglichen Reichthum
aus und lebten darin miteinander vergnügt und
voll Freuden, bis der Tod sie erreichte. – So lang ist
die Geschichte!
Fußnoten
1 des Tapio (Waldgeistes) Wohnung.
2 Ein Musikinstrument der Finnen.