Читать книгу Der Trotzkopf - Emmy von Rhoden - Страница 1

Der Trotzkopf

Оглавление

»Papa, Diana hat Junge!«

Mit diesen Worten trat ungestüm ein junges, schlankes Mädchen von fünfzehn Jahren in das Zimmer, in dem sich außer dem Angeredeten, seiner Frau und dem Pfarrer noch Besuch aus der Nachbarschaft, ein Herr von Schäffer mit Gattin und Sohn, befanden.

Alles lachte und wandte sich dem Mädchen zu, das ohne jede Verlegenheit auf seinen Vater zueilte und ausführlich über das wichtige Ereignis berichtete.

»Es sind vier Stück, Papa«, erzählte sie lebhaft, »und sie sind braun, genau wie Diana. Komm, sieh dir sie an, es sind reizende Tierchen! Vorn an den Pfötchen haben sie weiße Flecke. Ich habe gleich einen Korb geholt und mein Kopfkissen hineingelegt; sie müssen doch warm liegen, die kleinen Dinger!«

Gutsbesitzer Oberamtmann Macket legte den Arm um Ilses Schultern und strich ihr das wirre Lockenhaar aus dem erhitzten Gesicht. Er sah sein Kind mit wohlgefälligen Blicken an, wenn auch Ilses Aufzug durchaus nicht geeignet war, Wohlgefallen zu erregen, besonders jetzt nicht, da fremde Augen ihn musterten. Das abgetragene dunkelblaue Waschkleid, blusenartig gemacht und mit einem Ledergürtel gehalten, mochte wohl recht bequem sein, aber kleidsam war es nicht, und einige Flecke und Risse darin dienten ebenfalls nicht dazu, sein Aussehen zu heben. Die hohen, plumpen Lederstiefel, die unter dem kurzen Kleid hervorblickten, waren voll Staub und eher grau als schwarz. Aber Herrn Macket störte dieser Aufzug nicht; er sah in die fröhlichen braunen Augen seines Lieblings, die so wenig vorteilhafte Kleidung bemerkte er nicht.

Er war im Begriff, sich zu erheben, um den Wunsch seines Kindes zu erfüllen, als ihm seine Gattin, eine vornehme Erscheinung von ruhigem, aber energischem Wesen, zuvorkam. Sie stand auf und trat auf Ilse zu. »Liebe Ilse«, sagte sie freundlich und nahm das Mädchen bei der Hand, »ich möchte dir etwas sagen. Willst du mir auf einen Augenblick in mein Zimmer folgen?«

Ruhig, aber bestimmt waren die Worte gesprochen, und Ilse fühlte, daß ein Widerstand vergeblich sein würde. Ungern folgte sie der Mutter in den anstoßenden Raum.

»Was willst du mir sagen, Mama?« fragte sie und sah Frau Macket trotzig an.

»Nichts weiter, mein Kind, als daß du sofort auf dein Zimmer gehen und dich umkleiden sollst. Du wußtest wohl nicht, daß wir Gäste erwarten?«

»Doch, ich wußte es, aber ich mache mir nichts daraus«, gab Ilse kurz zur Antwort.

»Aber ich, Ilse. Mir kann es nicht gleichgültig sein, wenn du dich in einem so unordentlichen Kleid blicken läßt. Du bist kein Kind mehr mit deinen fünfzehn Jahren; bedenke, daß du seit Ostern konfirmiert bist! Eine angehende junge Dame muß den Anstand wahren. Was soll der junge Schäffer von dir denken! Er wird dich auslachen und dich verspotten.«

»Der dumme Mensch!« fuhr Ilse auf. »Ob der über mich lacht oder spottet, ist mir ganz gleichgültig. Ich lache auch über ihn. Tut, als ob er ein Herr wäre mit seiner Hornbrille, und geht doch noch in die Schule!«

»Er ist Primaner und neunzehn Jahre alt. Nun sei vernünftig und kleide dich um, Kind! Hörst du?«

»Nein, ich ziehe kein andres Kleid an!«

»Wie du willst. Aber dann bitte ich dich, daß du in deinem Zimmer bleibst und dein Abendbrot dort verzehrst«, gab Frau Macket ruhig zur Antwort.

Ilse biß sich auf die Unterlippe und trat heftig mit dem Fuß auf; aber sie schwieg. Schnell ging sie zur Tür hinaus und warf sie unsanft hinter sich zu. Oben in ihrem Zimmer ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und weinte Tränen des bittersten Unmutes. »Oh, wie schrecklich ist es jetzt!« stieß sie schluchzend hervor. »Warum mußte auch Papa wieder eine Frau nehmen! Es war so schön, als wir beide allein waren. Ich will doch keine Dame sein, ich will es nicht, und wenn sie es zehnmal sagt!«

Als Ilse mit ihrem Vater noch allein gewesen war, hatte sie freilich ein ungebundenes und lustiges Leben geführt. Niemand durfte ihr Vorschriften machen oder ihre dummen Streiche hindern; was sie auch unternahm, galt als unübertrefflich. Das Lernen wurde nur als langweilige Nebensache betrachtet, und die Erzieherinnen fügten sich entweder dem Willen ihrer Schülerin, oder sie gingen davon. Beklagte sich je einmal eine von ihnen bei dem Vater und faßte dieser wirklich den festen Entschluß, ein Machtwort gegen sein unbändiges Kind zu sprechen, fiel sie ihm um den Hals, nannte ihn ihren »einzigen, kleinen Papa«, obwohl Herr Macket groß und kräftig war, und küßte ihn stürmisch.

»Ich weiß alles, was du mir sagen willst, und ich will mich ganz gewiß bessern!« Mit solchen und ähnlichen Worten und Versprechungen tröstete sie ihren Vater. Ach, wie gern ließ er sich doch trösten! Er konnte seinem Kind nie ernstlich zürnen, es war sein alles.

Als Ilses Mutter starb, legte sie ihm das kleine, hilflose Mädchen in den Arm. Ilse hatte die schönen, frohen Augen der früh Dahingeschiedenen, und wenn sie den Vater anblickte, dann war es ihm, als ob ihn die Gattin anlächle, die er so sehr geliebt hatte.

Viele Jahre blieb Herr Macket einsam und lebte nur für sein Kind. Dann lernte er seine zweite Frau kennen. Ihr kluges, sanftes Wesen fesselte ihn so sehr, daß er sie heimführte.

Frau Anne betrat das Haus ihres Mannes mit dem festen Vorsatz, seinem Kind die liebevollste Stiefmutter zu sein und alles aufzubieten, ihm die früh verlorene Mutter zu ersetzen; aber jede herzliche Annäherung von ihrer Seite scheiterte an Ilses trotzigem Widerstand. Bald ein Jahr war sie nun schon im Hause, und doch war es ihr bis heute nicht gelungen, Ilses Liebe zu gewinnen.

Die Gäste blieben zum Abendessen auf Gut Moosdorf. Als man sich zu Tisch setzte, befahl Frau Anne dem Stubenmädchen, das Fräulein zu Tisch zu rufen.

Ilse hatte sich eingeschlossen, und das Stubenmädchen mußte erst tüchtig pochen, bevor sie sich bequemte, die Tür zu öffnen.

»Sie sollen herunterkommen, Fräulein! Die gnädige Mama hat es befohlen«, sagte Katharine und betonte das »sollen« und »befohlen« recht auffallend.

»Ich soll«, rief Ilse und wandte den Kopf hastig herum, »aber ich will nicht! Sag das der gnädigen Frau Mama!«

»Ja«, erwiderte Katharine, befriedigt von dieser Antwort. Auch sie war durchaus nicht damit einverstanden, daß wieder eine Frau ins Haus gekommen war, die der schönen Freiheit ein Ende bereitete. Sie ging hinunter in das Speisezimmer und richtete Ilses Bestellung wörtlich aus.

Herr Macket blickte seine Frau verlegen an; er wußte nicht, was diese Antwort bedeuten sollte.

Die Hausfrau verstand die Frage, und ohne im geringsten ihren Unmut merken zu lassen, sagte sie gelassen: »Ilse ist nicht ganz wohl, lieber Richard, sie klagte etwas über Kopfschmerzen. Katharine hat ihre Bestellung ungeschickt ausgerichtet.«

Alle Anwesenden errieten sofort, daß Frau Anne eine Ausrede gebrauchte, nur Herr Macket glaubte, daß es sich in Wahrheit so verhielt. »Wollen wir nicht lieber eine Boten zum Arzt schicken?« fragte er besorgt.

Die Antwort gab ihm seine Tochter selbst. Laut jubelnd und lachend trieb sie einen Reif mit einem Stock über den großen Rasenplatz, und Tyras, der Jagdhund, sprang ihr nach.

Herrn Mackets Gesicht veränderte sich bei diesem Anblick. Er stand auf und trat in die offenstehende Flügeltür des Zimmers.

Er war im Begriff, Ilse zu rufen, als Frau Anne ihn davon zurückhielt. »Laß sie, ich bitte dich, Richard!« bat sie, und, zu den Gästen gewendet, setzte sie hinzu: »Es tut mir leid, nun doch die Wahrheit sagen zu müssen, aber Ilses Benehmen zwingt mich dazu.« Und sie erzählte den kleinen Vorfall so gemildert wie möglich.

Es wurde darüber gelacht, ja, Herr Schäffer behauptete, die Kleine habe Temperament, und es sei schade, daß sie kein Junge sei. Seine Frau vermochte ihm jedoch nicht beizustimmen, sie fand das wilde Mädchen geradezu entsetzlich.

Als die Gäste fortgefahren waren, blieb Pfarrer Wollert noch zurück. Er war ein modern denkender und klarblickender älterer Herr, der in seiner gütigen Art Ilse seit ihrer Kindheit eine wohlwollende Zuneigung bewahrte. Er hatte sie getauft und eingesegnet, unter seinen Augen war sie herangewachsen. Seit dem Abschied der letzten Erzieherin leitete er ihren Unterricht. Es trat ein beinahe peinliches Stillschweigen ein. Jedem der drei Anwesenden lag etwas auf dem Herzen, doch jeder scheute sich, das erste Wort zu sprechen. Herr Macket saß rauchend am Tisch, Frau Macket beschäftigte sich eifrig mit einer Handarbeit. Pfarrer Wollert ging im Zimmer auf und ab, er sah ernst und nachdenklich aus.

Endlich blieb er vor dem Oberamtmann stehen. »Es hilft nichts, lieber Freund«, sagte er, »das Wort muß heraus. Es geht nicht mehr so weiter; wir können dieses unbändige Kind nicht zügeln, es ist uns über den Kopf gewachsen.«

Der Oberamtmann sah den Pfarrer verwundert an. »Wie meinen Sie das?« fragte er. »Ich verstehe Sie nicht.«

»Meine Meinung ist, geradeheraus gesagt, die«, fuhr der Pfarrer fort, »das Kind muß fort von hier, in ein Pensionat.«

»Ilse in ein Pensionat? Aber warum? Sie hat doch nichts verbrochen!« rief Herr Macket erschrocken.

»Verbrochen?« wiederholte lächelnd der Pfarrer. »Nein, nein, das hat sie nicht! Aber muß denn ein Kind erst etwas Böses getan haben, um in ein Institut zu kommen? Es ist doch keine Strafanstalt! Hören Sie mich ruhig an, lieber Freund!« fuhr er besänftigend fort und legte die Hand auf Mackets Schulter, als er sah, daß der Oberamtmann heftig auffahren wollte. »Sie wissen, wie ich Ilse liebe, und Sie wissen auch, daß ich nur das Beste für sie im Auge habe. Nun wohl, ich habe reiflich überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß Sie, Ihre Frau und ich nicht Macht genug besitzen, das Mädchen zu erziehen. Sie trotzt uns allen dreien. Soeben hat sie wieder ein klares Beispiel ihrer widerspenstigen Natur gegeben.«

Der Oberamtmann trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Das war eine Ungezogenheit, die ich bestrafen werde«, sagte er. »Etwas Schlimmes kann ich nicht darin finden. Lieber Himmel, Ilse ist jung, noch halb ein Kind, und Jugend muß sich austoben! Weshalb soll man einem übermütigen Mädchen so strenge Fesseln anlegen und es Knall und Fall in ein Pensionat bringen? —Was sagst du dazu, Anne?« wandte er sich an seine Frau. »Du denkst wie ich, nicht wahr?«

»Ich dachte wie du«, entgegnete Frau Anne, »vor einem Jahr, als ich dieses Haus betrat. Heute urteile ich anders, heute muß ich dem Herrn Pfarrer recht geben. Ilse ist schwer zu erziehen, trotz aller Herzensgüte, die sie besitzt. Gewöhnlich geschieht das Gegenteil von dem, was ich ihr sage. Bitte ich sie, ihre Aufgaben zu machen, so tut sie entweder, als hätte sie mich nicht verstanden, oder sie nimmt unwillig ihre Bücher, wirft sie auf den Tisch, setzt sich davor und unterhält sich mit allerhand Unsinn. Nach kurzer Zeit erhebt sie sich wieder – und fort ist sie. Da hilft kein gütiges Zureden, keine Strenge; sie will nicht! Frage den Herrn Pfarrer, wie ungleichmäßig Ilses wissenschaftliches Interesse ist, wie sie zuweilen sogar noch orthographische Fehler macht!«

»Was kommt‘s bei einem Mädchen darauf an!« entgegnete Herr Macket und erhob sich. »Eine Gelehrte soll sie nicht werden; wenn sie einen Brief schreiben kann und das Einmaleins gelernt hat, weiß sie genug.«

Der Pfarrer lächelte. »Das ist nicht Ihr Ernst, lieber Freund. Oder würde es Ihnen Freude machen, wenn man von Ihrer Tochter sagen dürfte: ›Ilse Macket ist dumm und langweilig, sie ist so ungebildet, daß man mit ihr über gar nichts sprechen kann.‹ Ilse hat gute Anlagen, es fehlt ihr nur der Wille, die Lust zum Lernen. Beides wird sich einstellen, sobald sie unter junge Mädchen ihres Alters kommt. Die gemeinsame Arbeit wird ihren Ehrgeiz wecken und ihr bester Lehrmeister sein.«

Die Wahrheit dieser Worte leuchteten Herrn Macket ein, aber die Liebe zu seinem Kind ließ es ihn nicht laut eingestehen. Der Gedanke, sich von Ilse trennen zu müssen, war ihm furchtbar.

Frau Anne empfand, was im Herzen ihres Mannes vorging; liebevoll trat sie zu ihm und ergriff seine Hand. »Denke nicht, daß ich hart bin, Richard, wenn ich für den Vorschlag unseres Freundes stimme!« sagte sie. »Ilse steht jetzt an der Grenze zwischen Kind und Mädchen, noch hat sie Zeit, das Versäumte nachzuholen und ihre unbändige Natur zu zügeln.«

»Ich wüßte ein Institut in W., das ich für Ilse bestens empfehlen könnte«, erklärte der Pfarrer. »Die Vorsteherin ist mir gut bekannt, sie ist eine außerordentlich tüchtige und sehr gescheite Dame. Ilse würde dort den besten Unterricht und die liebevollste Pflege finden. Und welch ein Vorzug wäre die wunderbare Lage dieses Ortes! Die Berge ringsum, die herrliche Luft…«

»Ja, ja«, unterbrach Herr Macket abwehrend, »ich glaube das alles gern! Aber laßt mir Zeit, bestürmt mich nicht weiter! Ein so wichtiger Entschluß, selbst wenn er notwendig ist, bedarf reiflicher Überlegung.«

Am andern Morgen, es war noch sehr früh, traf der Oberamtmann sein Töchterchen, als es eben im Begriff war, auf die Wiese hinauszureiten, um das Heu mit einzuholen. Ilse saß auf einem der Pferde, die vor den Leiterwagen gespannt waren: »Guten Morgen, Papachen!« rief sie ihm schon von weitem laut entgegen. »Wir wollen auf die Wiese fahren, das Heu muß herein; der Hofmeister sagt, wir bekämen gegen Mittag ein Gewitter. Ich will gleich mit aufladen helfen.«

Herrn Macket fielen die Worte seiner Frau vom gestrigen Abend ein. Ilse sah in diesem Augenblick kaum wie ein Mädchen aus, eher glich sie einem wilden Buben. Wie ein richtiger Junge saß sie auf dem Pferd und ließ die Füße an beiden Seiten herunterhängen. Das kurze Kleid ließ die unordentlichen, bunten Strümpfe sehen, und die hohen plumpen Lederstiefel waren sichtlich seit Tagen nicht gereinigt. Das Mädchen bot kein anmutiges Bild.

»Steig ab, Ilse!« sagte Herr Macket, dicht zu ihr tretend, um ihr zu helfen; »du wirst jetzt nicht auf die Wiese reiten, hörst du, sondern deine Aufgaben machen!«

Es war das erstemal in Ilses Leben, daß der Vater in so bestimmtem Ton zu ihr sprach. Sehr verwundert blickte sie ihn an, aber sie machte keine Miene, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Sie schlug die Arme ineinander und fing an, herzlich zu lachen. »Hahahaha, arbeiten soll ich! Du kleiner reizender Papa, wie kommst du denn auf diesen komischen Einfall? Mach nur nicht ein so böses Gesicht! Weißt du, wie du jetzt aussiehst? Gerade wie Mademoiselle, die letzte, Papa, von den vielen, wenn sie böse war. ›Fräulein Ilse, gehen Sie auf Ihr Simmer, mais tout de suite! Aben Sie mir compris?‹ Dabei zog sie die Stirn in Falten und riß die Augen auf – so.« Ilse versuchte es nachzuahmen. »Oh, es war zu himmlisch! Leb wohl, Papachen! Zum Frühstück komm‘ ich zurück.« Sie warf ihm noch eine Kußhand zu, lachte ihn schelmisch an, und fort ging es im lustigen Trab hinaus auf die Wiese, in den taufrischen Sommermorgen hinein.

Herr Macket schüttelte den Kopf. Mit einemmal stiegen ernstliche Bedenken in ihm auf. Er fand den Gedanken, Ilse in ein Pensionat zu geben, heute weniger unerträglich als gestern. Seine Tochter hatte ihm soeben den Beweis gegeben, daß sie auch ihm Widerstand entgegensetzte. Er ging in das Speisezimmer und trat von dort auf die Veranda, die sich weinumrankt an der Vorderseite des Hauses entlangzog. Seine Frau erwartete ihn dort am gedeckten Frühstückstisch. Ganz gegen seine Gewohnheit war er still und einsilbig.

»Gab es Unannehmlichkeiten?« fragte Frau Anne und reichte ihm den Kaffee.

»Nein«, entgegnete Herr Macket mürrisch. Er hielt einen Augenblick inne, als würde es ihm schwer, weiterzusprechen, dann fuhr er fort: »Ich habe über unser gestriges Gespräch nachgedacht und den Entschluß gefaßt, Ilse zum 1. Juli in das Pensionat zu geben. Wirst du imstande sein, bis zu dem Zeitpunkt alles zu Ilses Abreise vorzubereiten? Wir haben heute den 12. Juni.«

»Ja, das kann ich wohl, lieber Richard; aber verzeih, mir kommt dein Entschluß etwas übereilt vor. Wird er dich nicht gereuen? Laß Ilse die schönen Sommermonate noch ihre Freiheit genießen, und gib sie erst zum Herbst fort! Der Abschied wird ihr dann weniger schwer werden.«

»Nein, keine Änderung!« sagte Herr Macket, der befürchtete, bei einem längeren Hinausschieben wieder schwach zu werden. »Es bleibt dabei: zum 1. Juli wird sie angemeldet.«

Nach einigen Stunden kehrte Ilse wohlgemut, mit erhitzten Wangen und über und über mit Heu bestreut, zum zweiten Frühstück zurück. Ohne sich umzukleiden und die Hände zu reinigen, trat sie höchst vergnügt auf die Veranda. »Da bin ich!« rief sie. »Bin ich lange fortgeblieben? Ich sag‘ dir, Papa, das Heu ist wunderbar! Nicht einen Tropfen Regen hat es bekommen! Du wirst deine Freude daran haben. Der Hofmeister meint, so gut hätten wir es seit Jahren nicht hereingebracht.«

»Laß das Heu jetzt, Ilse«, entgegnete Herr Macket, »und höre zu, was ich dir sagen werde!« Es wurde ihm nicht leicht, von dem einmal gefaßten Entschluß zu sprechen; seine Stimme klang ernst.

Ilse war vergnügt wie immer und schenkte seiner Stimmung keine Beachtung. Ihr Augenmerk war auf den reichgedeckten Frühstückstisch gerichtet; sie war sehr hungrig von der Fahrt.

»Soll ich dir ein Brötchen richten?« fragte die Mutter freundlich, aber Ilse lehnte es ab.

»Ich will es schon selbst tun«, sagte Ilse, nahm das Messer und schnitt sich ein tüchtiges Stück Schwarzbrot ab. Die Butter strich sie fast fingerdick darauf. Dann nahm sie ein großes Stück Wurst und fing an, unbekümmert zu essen, bald von dem Brot, bald von der Wurst, die sie in der Hand hielt, einen Bissen nehmend. Es schmeckte ihr köstlich.

»Ich denke, du wolltest mir etwas sagen, Papachen?« rief sie mit vollem Mund. »Nun schieß los! Ich bin ordentlich neugierig darauf.«

Herr Macket zögerte etwas mit der Antwort; noch war es Zeit, noch konnte er seinen Entschluß zurücknehmen. Einen Augenblick überlegte er, die Sekunde der Schwäche ging jedoch vorüber. Ruhig und fest teilte er Ilse seinen Entschluß mit.

Seine Annahme, daß sie sich dem Plan stürmisch widersetzen würde, erwies sich als Irrtum. Zwar blieb Ilse vor Überraschung und Schreck buchstäblich der Bissen im Munde stecken, aber ihr Auge flog zur Mutter hinüber, und sie unterdrückte den Sturm, der in ihr tobte. Um keinen Preis sollte sie erfahren, wie furchtbar es ihr war, die Heimat, den Vater vor allem, zu verlassen, denn die Mutter war doch sicherlich nur allein die Anstifterin dieses Planes. Der Papa – nein, der würde sie niemals hergegeben haben.

»Nun, du schweigst?« fragte Herr Macket. »Du hast vielleicht selbst schon eingesehen, daß du noch tüchtig lernen mußt, mein Kind, denn mit deinen Kenntnissen hapert es noch überall, nicht wahr?«

»Gar nichts habe ich eingesehen!« platzte Ilse heraus. »Du selbst hast mir doch oft genug gesagt, ein Mädchen braucht nicht soviel zu lernen; das allzu viele Studieren macht auch nicht gescheiter. Ja, das hast du gesagt, Papa, und jetzt sprichst du mit einemmal anders. Nun soll ich fort, soll auf den Schulbänken sitzen zwischen andern Mädchen und lernen, bis mir der Kopf weh tut. Aber es ist gut, ich will gerne fort, ja, ich freue mich schon auf die Abreise. Wenn nur erst der 1. Juli da wäre!«

Ilse erhob sich hastig, warf den Rest ihres Frühstücks auf den Tisch und eilte fort, hinauf in ihr Zimmer. Dort brachen die Tränen hervor, die sie bis dahin nur mühsam zurückzuhalten vermochte.

Frau Anne wäre ihr gerne gefolgt; sie fühlte, was in dem jungen Herzen vorging, aber sie wußte genau, daß Ilse ihre gütigen Worte trotzig zurückweisen würde. So verzichtete sie darauf und hoffte auf die Zeit, wo Ilses gutes Herz den Weg zu ihrer mütterlichen Liebe finden würde.

Die wenigen Wochen bis zu dem für die Abreise festgesetzten Zeitpunkt vergingen schnell. Frau Anne hatte alle Hände voll zu tun, um Ilses Kleider in Ordnung zu bringen. Die Vorsteherin des Pensionates beantwortete sofort Herrn Mackets Anfrage und erklärte sich gerne zur Aufnahme seiner Tochter bereit. Gleichzeitig übersandte sie ein Verzeichnis der Gegenstände, die jede Pensionärin bei ihrem Eintritt in das Institut mitbringen mußte.

Ilse lachte spöttisch über die vielen nach ihrer Meinung unnützen Dinge; besonders die Hausschürzen fand sie geradezu lächerlich. Schürzen zu tragen hatte sie bisher immer mit Entrüstung abgelehnt.

»Die dummen Dinger trage ich doch nicht, Mama!« sagte sie, als Frau Anne dabei war, den Koffer zu packen; »die brauchst du mir gar nicht mitzugeben.«

»Du wirst dich der allgemeinen Sitte fügen müssen, mein Kind«, entgegnete die Mutter. »Warum solltest du auch nicht? Sieh einmal her! Diese blau und weiß gestreifte Schürze mit den gestickten Zacken ringsum ist ein reizender Schmuck für ein junges Mädchen, das sich im Haushalt nützlich machen wird.«

»Ich werde mich aber im Haushalt nicht nützlich machen!« rief Ilse ungezogen. »Das fehlte noch! Ihr denkt wohl, ich soll dort in der Küche arbeiten oder die Zimmer aufräumen? Die Schürzen trage ich nicht, ich will sie nicht!«

»Übertreibe nicht, Ilse!« entgegnete Frau Anne. »Wenn du durchaus die Schürzen nicht tragen magst, so kannst du deinen Wunsch der Vorsteherin mitteilen; vielleicht erfüllt sie ihn dir.«

»Ich werde die Leiterin nicht erst darum fragen; solche Dinge gehen sie gar nichts an«, war Ilses unartige Antwort.

Sie erklärte ihrem Vater, daß sie ein kleines Köfferchen für sich selbst packen werde. Niemand sollte ihr dabei helfen, niemand wissen, welche Schätze sie in das neue Heim mitnehmen würde.

»Das ist ein prächtiger Einfall, Ilschen«, stimmte Herr Macket bei. »Nimm nur mit, was dir Freude macht!« Er ließ sofort als Überraschung für seinen Liebling einen neuen, kleinen Koffer kommen. Als Ilse ihm erfreut um den Hals fiel und sie ihn endlich wieder »mein kleines Pachen« nannte, da wurde es ihm so weich ums Herz, daß er sich abwenden mußte, um seine Rührung zu verbergen.

Am Tag vor ihrer Abreise schloß sich Ilse in ihr Zimmer ein und begann zu packen. Aber wie! Bunt durcheinander, wie ihr die Sachen in die Hand kamen. Zuerst das geliebte Blusenkleid nebst Ledergürtel. Es wurde mit Schwung in den Koffer hineingeworfen und mit den Händen etwas festgedrückt. Dann folgten die hohen Lederstiefel mit Staub und Schmutz, wie sie waren, ferner eine alte Ziehharmonika, auf der sie nur ein paar Töne hervorbringen konnte, ein neues Hundehalsband mit einer langen Leine daran, ein ausgestopfter Kanarienvogel, und zuletzt griff sie nach einem Glas, in dem ein Laubfrosch saß. Ilse liebte den Frosch sehr, und so mußte das arme Tier auch mitverpackt werden. Sie nahm ein hübsches gesticktes Taschentuch aus dem Schrank, band es über das Glas, legte Papier darüber und schnitt kleine Löcher in beide Hüllen. Dann steckte sie einige Fliegen hinein. »So«, sagte sie höchst befriedigt, »nun bist du gut versorgt, mein liebes Tierchen, und wirst nicht verhungere auf der weiten Reise.«

Es war nicht leicht, das Glas in dem Koffer unterzubringen, aber schließlich gelang das Kunststück doch mit vieler Mühe. Endlich war sie soweit, daß sie den Deckel schließen konnte. Er klemmte etwas, und Ilse mußte erst darauf knien, bevor er ins Schloß fiel. Den kleinen Schlüssel zog sie ab und befestigte ihn an einer schwarzen Schnur, die sie um den Hals band.

Als das Abendbrot verzehrt war und die Eltern noch am Tisch saßen, ging Ilse in den Hof und machte eine Runde durch die Ställe. Von ihren Lieblingen, den Hühnern, Tauben, Kühen, Pferden, nahm sie Abschied. Die Trennung von den Hunden wurde ihr am schwersten; sie waren ihre besten Freunde. Dianas Sprößlinge, die schon allerliebst waren und sie zärtlich begrüßten, entlockten ihr heiße Abschiedstränen.

Neben ihr stand Johann. Er kannte Ilse vom ersten Tag ihres Lebens an und liebte sie abgöttisch. »Wenn das kleine Fräulein wiederkommt«, sagte er mit kläglicher Stimme und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, »dann wird es wohl eine große Dame sein. Ja, ja, Fräulein Ilschen, unsere schöne Zeit ist dahin! Ach und die Hunde, wie werden sie das Fräulein vermissen! Die sind gescheit. Beinahe menschlichen Verstand hat das dumme Vieh. Wie sie schmeicheln, als ob sie wüßten, daß unser kleines Fräulein morgen abreist!«

»Johann«, entgegnete Ilse unter Schluchzen, »sorge für die Hunde! Und wenn du mir einen großen, letzten Gefallen tun willst« – hier sah sie sich erst vorsichtig nach allen Seiten um, ob auch niemand in der Nähe war —, »so nimm Bob«, diesen Namen hatte sie Dianas kleinstem Söhnchen gegeben, »morgen mit auf den Kutschbock, wenn du mich zur Bahn fährst, aber heimlich! Niemand darf es wissen; ich will ihn mitnehmen. Ein Halsband und eine Leine habe ich schon eingepackt.«

Der Kutscher war glücklich, daß er dem kleinen Fräulein noch einen Liebesdienst erweisen konnte. Er lächelte verschmitzt und versprach, Bob so geschickt unterzubringen, daß keine menschliche Seele etwas merken würde.

Früh am andern Morgen stand der Wagen vor der Tür, der Ilse zur Bahn fahren sollte. Herr Macket begleitete sie bis W., um sie der Vorsteherin, Fräulein Raimar, selbst zu überbringen. Er wollte seinen Liebling nicht aus den Augen lassen, ohne vorher sein neues Heim gesehen zu haben. Frau Anne wollte Ilse zärtlich und liebevoll zum Abschied an sich ziehen, aber das Mädchen machte ein finsteres und trotziges Gesicht und entwand sich den Armen der Mutter. »Lebe wohl!« sagte sie kurz und sprang in den Wagen.

Als Ilse mit ihrem Vater im Zug saß, trat Johann mit Bob unter dem Arm und der Mütze in der Hand an das Fenster. »Leben Sie recht wohl, Fräulein Ilschen, und kommen sie gut hin!« sagte er verlegen. »Die Hunde werde ich schon besorgen, haben Sie nur keine Angst! Den hier nehmen Sie wohl mit; es ist doch gut, wenn Sie nicht so allein im Pensionat sind!«

Ilse jauchzte vor Freude. Sie nahm den Hund im Empfang, liebkoste und streichelte ihn, dann reichte sie Johann die Hand.

»Leb wohl«, sagte sie, »und hab Dank! Ich freue mich so sehr, daß ich ein Hündchen mit mir nehmen kann.«

»Ja, aber Ilse, das geht doch nicht!« wandte der erstaunte Oberamtmann ein. »Du darfst doch keine Hunde mit in das Institut bringen! Sei vernünftig und gib Bob Johann wieder zurück!«

Doch daran war nicht zu denken. Ilse ließ sich durch keine Vorstellung dazu bewegen.

»Die einzige Freude gönn mir, Pachen! Willst du mich denn ganz allein unter den fremden Menschen lassen? Wenn Bob bei mir ist, dann habe ich doch einen guten Freund! Nicht wahr, Bobchen, du willst nicht wieder fort von mir«, wandte sie sich an den Hund, der sich bereits behaglich auf ihrem Schoß zusammenrollte. »Du bleibst nun immer bei mir.«

Es war dem Vater unmöglich, ein Machtwort dagegen zu sprechen. Schließlich überzeugte ihn der Gedanke, daß die Kleine doch einen heimatlichen Trost in die Fremde mitnahm.

Es war eine lange und nicht sehr abwechslungsreiche Fahrt durch meist flaches Land; erst zuletzt kamen die Berge. Für Ilse tat sich eine neue Welt auf, sie hatte noch nie eine so lange, weite Reise gemacht. Über all den neuen Eindrücken, die sich ihr aufdrängten, trat der Trennungsschmerz in den Hintergrund.

Spät am Abend langten sie in W. an. Man übernachtete im Hotel; und am nächsten Tag sollte Ilse in ihr neues Heim eingeführt werden.

Als es am andern Morgen neun Uhr schlug, stand Ilse fertig angezogen vor ihrem Vater. Sie sah in ihrem grauen Kostüm und den hübschen Sportschuhen ganz allerliebst aus. Unter dem hellen Strohhut schlängelten sich die braunen Locken übermütig hervor. Die schönen großen Augen blickten heute nicht so fröhlich wie sonst, sie zeigten einen ängstlich-erwartungsvollen Ausdruck.

»Dir fehlt doch nichts, Ilschen?« fragte Herr Macket und sah sein Kind besorgt an. »Du bist so blaß. Hast du schlecht geschlafen?«

Die herzliche Frage des Vaters löste die unnatürliche Spannung in Ilses Seele. Sie fiel ihm um den Hals, und die bis dahin trotzig zurückgehaltenen Tränen brachen mit aller Macht hervor.

»Aber Kind, Kind«, sagte Herr Macket, »du wirst nicht lange von uns getrennt bleiben! Ein Jahr vergeht schnell, und zu Weihnachten besuchst du uns. Komm, Kleines, trockne die Tränen! Mach dir das Herz nicht schwer! Du wirst uns fleißig Briefe schreiben, und Mama und ich werden dir täglich von uns Nachricht geben, von allem, was dich in Moosdorf interessiert!« Er nahm sein Taschentuch und trocknete damit die immer von neuem hervorbrechenden Tränen seines Kindes.

»Mama soll mir nicht schreiben«, stieß Ilse schluchzend heraus, »nur deine Briefe will ich haben! Meine Briefe an dich soll sie auch nicht lesen!«

»Ilse«, verwies Herr Macket, »so darfst du nicht sprechen! Mama hat dich lieb und meint es sehr gut mit dir!«

»Sehr gut!« wiederholte sie in kindischem Zorn. »Wenn sie mich lieb hätte, würde sie mich nicht verstoßen.«

»Verstoßen? Du weißt nicht, was du sprichst, Ilse. Werde erst älter, dann wirst du das große Unrecht einsehen, das du heute deiner Mutter antust, und deine bösen Worte bereuen.«

»Sie ist nicht meine Mutter – sie ist meine Stiefmutter!«

»Du bist kindisch«, sagte der Oberamtmann. »Aber merke dir, niemals will ich wieder solche Äußerungen von dir hören! Du kränkst mich damit.«

Ilse konnte nicht begreifen, wie es kam, daß ihr Vater sie nicht verstand; er mußte doch einsehen, wie unrecht ihr geschah.

»Komm jetzt!« fuhr er beruhigend fort, »wir wollen gehen, mein Kind!«

Ilse ergriff den Hund, nahm ihn auf den Arm und wollte dem Vater folgen.

»Laß ihn zurück!« befahl der Oberamtmann. »Wir fragen erst, ob du einen Hund mitbringen darfst.«

Aber Ilse setzte ihren Trotzkopf auf. »Dann gehe ich auch nicht!« erklärte sie mit Bestimmtheit. »Ohne Bob bleibe ich auf keinen Fall im Pensionat.«

Herr Macket gab nach, aus Furcht, neue Tränen hervorzulocken. Aber die Sache war ihm sehr peinlich. Was sollte Fräulein Raimar denken!

Eine Viertelstunde später standen Vater und Tochter vor einem stattlichen zweistöckigen Haus, das etwas außerhalb der kleinen Stadt mitten im Grünen lag; es war das Institut von Fräulein Raimar.

Der Gutsbesitzer blieb davor stehen. »Sieh, Ilse, welch ein schönes Gebäude!« rief er höchst befriedigt. »Der Blick von hier aus in die nahen Berge ist wirklich prächtig.«

Was kümmerten Ilse die Berge! Sie fühlte sich so gedrückt vor Kummer, daß ihr die ganze Welt ein Jammertal dünkte.

»Wie kannst du dieses Haus schön finden, Papa!« entgegnete sie. »Wie ein Gefängnis sieht es aus.«

Herr Macket lachte. »Glaubst du, daß in einem Gefängnis hohe, breite Fenster zu finden sind? Die armen Gefangenen sitzen hinter kleinen blinden Scheiben mit Eisengittern.«

»Ich werde jetzt auch eine Gefangene sein, Papa, und du selbst lieferst mich in dem Gefängnis ab.«

»Du bist eine kleine Närrin!« sagte er lachend und brach das Gespräch ab, das ihm bedenklich zu werden schien.

Er stieg die breiten steinernen Stufen, die zum Eingang führten, hinauf und zog an der Klingel. Gleich darauf wurde die Tür von einem Mädchen geöffnet, das die beiden in das Empfangszimmer führte.

Sie durchschritten den Hausflur und einen langen Gang, von dem zwei Ausgänge in einen schönen, großen Hof führten. Es war gerade Frühstückspause in der Schule, und überall sah man lachend und plaudernd große und kleine Mädchen umhergehen. Sie verstummten, als sie die neue Pensionärin erblickten, von der sie wußten, daß sie heute ankommen sollte, und alle Augen richteten sich auf Ilse, der es plötzlich höchst beklommen zumute wurde. Sie glaubte, verstecktes Kichern hinter sich zu hören, und war herzlich froh, als sich die Tür des Empfangszimmers hinter ihr schloß und sie mit dem Vater allein war.

Ilse blickte sich in dem großen, elegant eingerichteten Raum um, und mit einemmal stieg ein ängstlich-banges Gefühl wegen Bob in ihr auf. Fast wünschte sie, des Vaters Willen gefolgt zu sein. Nun wollte der Unartige auch noch hinunter auf den Boden, und diesen Wunsch konnte sie ihm doch unmöglich erfüllen. Wie durfte sie es wagen, das Tier auf den kostbaren Teppich zu setzen!

Die Tür öffnete sich, und Fräulein Raimar trat ein. Sie begrüßte Herrn Macket mit großer Liebenswürdigkeit, dann blickte sie mit ihren stahlgrauen Augen, die einen zwar strengen und ernsten, aber sehr gewinnenden Ausdruck zeigten, auf Ilse. Das Mädchen trat dicht an den Vater und ergriff seine Hand.

»Sei willkommen, mein Kind!« Mit diesen Worten begrüßte die Vorsteherin Ilse und reichte ihr die Hand. »Ich denke, du wirst dich bald bei uns heimisch fühlen.« Als sie den Hund sah, fragte sie: »Hat er dich begleitet?«

Ilse blickte hilfesuchend auf ihren Vater, der dann auch für sie das Wort nahm. »Sie mochte sich nicht von ihm trennen, Fräulein Raimar«, sagte er mit verlegenem Lächeln; »meine Tochter hoffte, Sie würden die Güte haben, ihren kleinen Kameraden mit ihr aufzunehmen.«

Das Fräulein lächelte. Es war das erstemal, daß ihr ein solches Anliegen zugemutet wurde. »Es tut mir leid, Herr Oberamtmann«, sagte sie, »daß ich den ersten Wunsch Ilses rücksichtslos abschlagen muß. Sie wird verständig sein und einsehen, daß ich nicht anders handeln kann. – Stell dir einmal vor, liebes Kind, wenn alle meine Pensionärinnen mit dem gleichen Wunsch kämen, dann wären bald zweiundzwanzig Hunde im Institut! Welch einen Lärm würde das geben! Möchtest du das Tier gern in deiner Nähe behalten, so wüßte ich einen Ausweg. Mein Bruder, der Bürgermeister hier, wird deinen Hund gewiß aufnehmen, wenn ich ihn darum bitte; dann kannst du deinen Liebling täglich sehen.«

Der Oberamtmann lachte. »Sie haben recht, Fräulein Raimar«, sagte er, »und wir hätten das selbst vorher bedenken können. Ihre große Güte, den Hund bei Ihrem Bruder unterzubringen, wird Ilse mit vielem Dank annehmen, nicht wahr?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf »Fremde Leute sollen Bob nicht haben, Papa; du nimmst ihn wieder mit nach Moosdorf!«

Herrn Macket setzte die taktlose Antwort seiner Tochter in nicht geringe Verlegenheit, aber Fräulein Raimar nahm geschickt die Führung des Gesprächs wieder in die Hand. Mit ihrer Erfahrung erkannte sie sofort das Trotzköpfchen. Sie tat, als merke sie Ilses Unart nicht. »Du hast ganz recht«, bemerkte sie freundlich, »es ist das beste, dein Vater nimmt das Tier wieder mit in die Heimat. Du würdest durch den Hund vielleicht doch mehr zerstreut, als mir lieb wäre. – Soll ihn das Mädchen in das Hotel zurücktragen, wo Sie abgestiegen sind, Herr Oberamtmann?«

»Ich will ihn selbst hintragen, nicht wahr, Papachen?« fragte Ilse und hielt Bob ängstlich fest.

»Ich wünsche nicht, daß du es tust, liebe Ilse«, wandte Fräulein Raimar ein. »Ich möchte dich gleich zu Mittag hierbehalten, um dich den übrigen Pensionärinnen vorzustellen. Ich halte es so für das beste. – Es tut nicht gut, Herr Oberamtmann, wenn ein Kind, sobald der Vater oder die Mutter es mir übergeben haben, noch einmal in das Hotel zurückkehrt. Der Abschied wird ihm dadurch nur noch schwerer gemacht!«

»Nein, nein«, rief Ilse zitternd vor Aufregung, »ich bleibe nicht gleich hier! Ich will mit meinem Papa so lange zusammen sein, bis er abreist. – Du nimmst mich mit dir, nicht wahr, Papa?«

Es wurde Herrn Macket heiß und kalt bei ihrem Ungestüm, indes half ihm auch diesmal Fräulein Raimar über die peinliche Lage hinweg. »Gewiß, mein Kind«, entgegnete sie mit Ruhe, »dein Wunsch soll dir erfüllt werden. – Darf ich Sie bitten, Herr Oberamtmann, heute mittag mein Gast zu sein? Es würde mich sehr freuen.«

Ilse warf ihrem Vater einen flehenden Blick zu, der ungefähr ausdrücken sollte: »Bleib nicht hier, nimm mich mit fort! Ich mag nicht hierbleiben bei dem bösen Fräulein, das mich schlecht behandeln wird.«

Leider verstand Herr Macket den Blick anders; er hielt ihn für eine stumme Bitte, die Einladung anzunehmen, und sagte zu.

Die Vorsteherin erhob sich und zog an einer Klingelschnur. Dem eintretenden Mädchen trug sie auf, Fräulein Güssow zu rufen, die wenige Augenblicke später in das Zimmer trat.

Fräulein Güssow war die erste Lehrerin im Institut und wohnte im Hause. Weit jünger als die Vorsteherin, war sie eine sehr anmutige, liebenswürdige Erscheinung von sechsundzwanzig Jahren. Sämtliche Schülerinnen und besonders die Pensionärinnen schwärmten für sie; sie verstand es, durch gleichmäßige Güte die jungen Herzen für sich zu gewinnen.

»Wollen Sie die Güte haben, Ilse auf ihr Zimmer zu bringen, damit sie dort ihren Hut ablegen kann«, sagte die Vorsteherin nach der gegenseitigen Vorstellung.

»Gern«, erwiderte die junge Lehrerin und trat auf Ilse zu. »Komm, liebes Kind!« sagte sie freundlich und ergriff das Mädchen bei der Hand. »Jetzt werde ich dir zeigen, wo du schläfst. Du hast ein schönes, großes Zimmer. Du wohnst nicht allein; Ellinor Grey, ein sehr liebes Mädchen, wird deine Stubengenossin sein. Du möchtest gern gleich mit ihr bekannt werden, nicht wahr?«

Ilse überhörte die Frage. Sie sah ihren Vater ängstlich an und fragte: »Du gehst doch nicht fort, Papa?« Als er sie darüber beruhigte, folgte sie Fräulein Güssow.

»Aber den Hund mußt du wohl hierlassen; du kannst ihn doch nicht mit hinauf in dein Zimmer nehmen!« sagte Fräulein Raimar.

Fräulein Güssow dachte weniger streng als die Vorsteherin. Sie fand es nicht so schlimm, wenn Ilse ihren Hund im Arm behielt.

»Hast du ihn so lieb?« fragte sie, als sie mit dem jungen Mädchen den Gang hinunterging.

»Ja«, entgegnete Ilse, »ich habe Bob sehr, sehr lieb, aber ich darf ihn nicht hierbehalten.« Sie legte ihre Wange auf den Kopf des Hundes und kämpfte mit dem Weinen.

»Gräme dich nicht darum, mein Kind!« tröstete Fräulein Güssow. »Das ist nicht so schlimm. Du findest hier etwas viel Besseres. Du sollst einmal sehen, wie bald du Bob vergessen wirst! Wir haben zweiundzwanzig Pensionärinnen im Institut; du wirst manche liebe Freundin unter ihnen finden. Hast du Geschwister?«

»Nein«, sagte Ilse, die bereits zu Fräulein Güssow Vertrauen faßte.

»Nein, siehst du, es fehlen dir die Gespielinnen. Gib den Hund getrost deinem Vater wieder mit zurück! Du wirst ihn nicht vermissen.«

Sie stiegen eine Treppe hinauf und kamen auf einen großen hellen Vorplatz, auf den eine Anzahl Türen mündete. Die Lehrerin öffnete eine Tür und trat mit Ilse in ein geräumiges Zimmer, das nach dem Garten führte. Die Fenster waren geöffnet, und ein Apfelbaum streckte seine Zweige fast zum Fenster herein.

Die Einrichtung war nicht kostbar, aber hell, hübsch und zweckmäßig. Nur das Notwendigste befand sich in dem Zimmer: zwei Betten, zwei Wäsche- und zwei Kleiderschränke, ein großer Waschtisch und einige Stühle.

Als Fräulein Güssow mit Ilse eintrat, erhob sich schnell ein junges Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren, das mit einem Buch in der Hand am Fenster gesessen hatte. Es war ein schlankes, zartgebautes Wesen mit goldblondem, in einem Knoten aufgesteckten Haar und blauen Augen. Wenn sie lachte, erschienen schelmische Grübchen in ihren Wangen. Es war Ellinor Grey, eine Engländerin.

»Hier bringe ich dir Ilse Macket, Nellie. Ich denke, du wirst dich ihrer liebreich annehmen.«

»O ja, ich werde ihr sehr lieben!« antwortete Nellie und reichte der Neuangekommenen die Hand. »Bleibt die Hund auch hier?« fragte sie.

»Nein«, sagte Fräulein Güssow.

»O wie schade! Es ist so ein soßes Tier!« Und sie streichelte Bob.

Es klang so drollig, und sie sah so schelmisch aus, daß Ilse sich sofort von ihr angezogen fühlte. Sie hätte noch gern ein Weilchen dem drolligen Geplauder Nellies zugehört, aber sie mußte Fräulein Güssow folgen, die ihr einige Schulräume zu zeigen wünschte. Dort eingeklemmt sollte sie von jetzt an sitzen, nicht aufstehen dürfen, wenn es ihr beliebte – oh, es war entsetzlich! Ein Grauen überkam sie plötzlich, ihr war, als würde ihr die Brust zusammengeschnürt.

»In welche Klasse meinst du, daß du kommen wirst?« fragte das Fräulein. »Deinem Alter nach müßtest du wohl in die erste versetzt werden. Hast du deine Arbeitsbücher mitgebracht? Wie steht es mit den Sprachen? Französisch und Englisch sind dir wohl geläufig, da du stets, wie dein Vater schrieb, eine englische oder französische Erzieherin hattest.«

Von unten herauf tönte eine Glocke. Dies war für Ilse eine sehr gelegene Unterbrechung. Die Fragen nach ihren Kenntnissen wurden ihr langsam unbehaglich. Sie sagte, daß sie nicht wisse, wie weit sie sei; Französisch glaube sie sprechen zu können.

»Nun laß nur, mein Kind!« meinte das Fräulein »Heute wollen wir noch nicht an das Lernen denken; bei deiner Prüfung morgen werden wir sehen, welch kleine Gelehrte du bist. Wir wollen jetzt in den Speisesaal hinuntergehen, die Glocke hat uns zu Tisch gerufen.«

Als Ilse und Fräulein Güssow eintraten, fanden sie bereits die Vorsteherin mit dem Oberamtmann vor. Fräulein Raimar machte ihren Gast mit der Hausordnung während des Essens bekannt und erklärte, daß die zuletzt angekommene Pensionärin stets ihren Platz neben der Vorsteherin angewiesen erhielt; dann, daß zwei junge Mädchen wöchentlich den Tisch besorgten. Sie mußten ihn decken und darauf achten, daß nichts fehlte und sämtliche Gegenstände sauber waren. Die jüngste der Pensionärinnen sprach stets das Tischgebet.

Dem Oberamtmann gefielen die Anordnungen vortrefflich, und als er seinen Blick über die junge Mädchenschar hingleiten ließ, stellte er voll Freude fest, wie gesund und fröhlich alle aussahen.

Ilse sah auch umher, aber es waren nicht die fröhlichen und gesunden Gesichter, die sie interessierten, sondern die Schürzen. Jedes Mädchen trug ein solches von ihr verachtetes Ding, und Fräulein Raimar sah nicht aus, als würde sie eine Ausnahme bei ihr gelten lassen.

Nach dem Gebet wurden die Speisen aufgetragen. Diese waren kräftig und gut gekocht, und Herr Macket konnte sich überzeugen, daß sein Kind auch in dieser Hinsicht auf das beste versorgt sein würde.

Nach dem Essen verabschiedete er sich bald, und Ilse durfte ihn begleiten. Kaum hörte Nellie davon, als sie wie der Wind die Treppe hinaufflog, um gleich darauf mit Ilses Hut und Handschuhen zurückzukommen.

Ilse dankte ihr überrascht, und Herr Macket reichte ihr die Hand. »Leben Sie wohl, mein Fräulein«, sagte er herzlich, denn Nellies kleine Aufmerksamkeit nahm ihn sofort für sie ein, »und haben Sie Geduld mit meinem kleinen Wildfang!«

»O ja«, entgegnete Nellie, »ich werde mir schon gern von sie annehmen!«

»Nun, Ilse, wie gefällt dir das Institut?« fragte der Oberamtmann, als sie langsam dem Hotel zugingen. »Ich gestehe, daß ich sehr befriedigt von hier abreise; ich weiß, ich lasse dich in guten Händen.«

»Mir gefällt es gar nicht hier!« erklärte Ilse höchst verstimmt. »Es ist mir alles fremd, und vor dem Fräulein Raimar mit dem blonden, glatten Scheitel fürchte ich mich. Sie ist hart und unfreundlich. Du sollst sehen, Papa, sie ist nicht gut gegen mich. Warum soll ich Bob nicht behalten?«

»Du hast gehört, weshalb nicht, nun sollst du auch nicht mehr so hartnäckig auf deinem Wunsch bestehen«, verwies Herr Macket die Tochter.

»Nun fängst auch du an, mit mir zu zanken! Niemals hast du so böse mit mir gesprochen«, rief Ilse schmerzlich. Sie fühlte sich in dem Gedanken, daß kein Mensch sie leiden mochte, selbst der Papa nicht, so unglücklich, daß sie auf offener Straße zu weinen begann.

Der Oberamtmann nahm ihren Arm und legte ihn in den seinen. Die Tränen seines Töchterchens machten ihn immer weich. Er führte Ilse in das Hotel zurück, wo sie bereits Bob vorfanden, der freudig bellend sein Frauchen begrüßte. Ilse nahm ihn auf den Arm und liebkoste ihn unter lautem Schluchzen.

Um fünf Uhr reiste der Gutsbesitzer wieder in die Heimat zurück. Die wenigen Stunden bis dahin vergingen schnell und stürmisch.

»Sei doch verständig!« Immer wieder bat er seine Tochter inständig, wenn sie in leidenschaftlicher Erregung allerhand Drohungen ausstieß, wie: »Ich laufe heimlich davon!« oder »Ich werde so ungezogen sein, daß mich das böse Fräulein wieder fortschickt!« Herr Macket wußte, Ilse würde keines von beiden tun, aber es machte ihm Kummer, seinen Liebling so trostlos zu sehen.

Ilse wollte den Vater zur Bahn begleiten, aber auch das litt Herr Macket nicht. »Ich bringe dich zurück in das Institut und fahre dann allein zur Bahn. So ist es am besten. Nun komm, Ilschen!« fuhr er fort, als der Wagen unten vorfuhr, und nahm sie zärtlich in den Arm. »Versprich mir, ein gutes, folgsames Kind zu sein! Du sollst sehen, wie bald du dich eingewöhnen wirst!«

Als der Wagen vor der Anstalt hielt, trennte sich Ilse laut schluchzend von ihrem Vater, und als sie ihn davonfahren sah war es ihr zumute, als ob sie auf einer wüsten Insel allein zurückgelassen worden wäre und elendiglich untergehen müsse.

Noch eine Weile stand Ilse vor der verschlossenen Pforte; sie konnte sich nicht entschließen, an der Klingel zu ziehen. Da wurde die Tür von selbst geöffnet, und Fräulein Güssow stand vor Ilse. Sie hatte von einem Fenster im oberen Stockwerk den Wagen kommen sehen und war hinuntergeeilt, um Ilse zu empfangen. »Jetzt gehörst du zu uns, liebes Kind«, sagte sie herzlich und nahm sie in den Arm. »Weine nicht mehr. Wir werden dich alle liebhaben.«

Ilse gab keine Antwort; sie fühlte sich so unglücklich, daß selbst der liebevolle Empfang der jungen Lehrerin kein Echo in ihrem Herzen fand.

»Möchtest du auf dein Zimmer gehen?« fragte Fräulein Güssow.

Ilse nickte stumm; sie hielt noch immer das Tuch gegen die Augen gedrückt.

»Nellie!« rief Fräulein Güssow, »geh mit Ilse hinauf und hilf ihr beim Auspacken ihrer Sachen! – Du möchtest doch wohl gern deine Sachen in Ordnung haben, liebe Ilse.«

Sie wußte wohl, daß Ilses Gedanken in einer ganz anderen Richtung liefen, aber sie dachte, daß Tätigkeit das beste Heilmittel gegen Kummer und Herzeleid ist.

Die beiden Mädchen begaben sich in ihr Zimmer. Ilse setzte sich auf einen Stuhl, behielt den Hut auf dem Kopf und starrte zum Fenster hinaus. Es fiel ihr nicht ein, ihre Sachen auszupacken.

Nellie öffnete schweigend den Schrank und zog die Schubladen auf. Dann sah sie Ilse abwartend an. »Gib mich deinen Schlüssel! Ich werde aufschließen die Koffers«, sagte sie; »wir müssen auspacken.«

Ilse verließ widerwillig ihren Platz, und da sie an irgend etwas ihren augenblicklichen Unmut auslassen mußte, nahm sie den Hut vom Kopf und warf ihn mitten in das Zimmer. »Warum soll ich alles auspacken? Ich weiß gar nicht, ob ich hierbleiben werde«, rief sie. »Mir gefällt es hier nicht.«

Nellie nahm den Hut auf und legte ihn auf ein Bett. »Oh«, sagte sie sanft, »du gewöhnst dir schon! Es geht uns alle wie dich, wenn wir kommen. Du mußt nur deinen Kopf nicht hängen lassen! Nun gib die Schlüssels, daß ich öffnen kann!«

Ilses Trotz konnte durch keine Waffe besser geschlagen werden als durch Nellies Sanftmut. Sie gab ihr den Schlüssel, und Nellie schloß auf und begann auszuräumen. Ilse stand dabei und sah zu.

»Du mußt dich deine Sachen selbst aufräumen in dein Schrank«, sagte Nellie. »Ich werde dich alles zureichen.«

Ilse hatte wenig Lust dazu. Ordnung kannte sie nur dem Namen nach. Sie nahm die sauber, mit roten Bändern gebundene Wäsche und warf sie achtlos in die Schubladen; es war ihr gleich, wie alles zu liegen kam.

Nellie sah diesem Treiben einige Augenblicke zu, dann fing sie zu lachen an. »Was machst du?« fragte sie. »Weißt du nicht, wie Ordnung ist? Taschentücher, Kragen, Schürzen – alles wirfst du durcheinander. Das sieht sehr bunt aus. Hübsch nebeneinander mußt du es machen, so!« Und sie zog eine Schublade nach der andern in ihrem Schrank auf und zeigte Ilse, wie sauber dort alles lag.

»Das kann ich nicht!« entgegnete Ilse. »Übrigens fällt es mir auch gar nicht ein, so viele Umstände wegen der dummen Sachen zu machen.«

»Dumme Sachen?« wiederholte Nellie. »O Ilse, wie kannst du so sagen! Sieh diesen feinen Taschentücher, wie sie schön gestickt! Oh, und diese süßen Schürzen! Und du hast so schwere Bücher daraufgetan – wie hast du sie zerdrückt! – Laß nur sein!« fuhr sie fort, als Ilse im Begriff war, Schuhe und Stiefel auf die Wäsche zu werfen. »Ich werde ohne dir machen, du verstehst nix.«

Ilse ließ sich das nicht zweimal sagen. Ruhig sah sie zu, wie Nellie das Schuhzeug nahm und es unten in den Kleiderschrank stellte, wie sie überhaupt jedem Ding den rechten Platz gab.

»Oh, ein schönes Buch!« rief Nellie plötzlich und nahm aus dem Koffer ein Buch, elegant in braunes Leder gebunden. In der Mitte des Deckels befand sich ein kleines Schild mit den eingravierten Worten: Ilses Tagebuch.

Ilse nahm es Nellie aus der Hand und sah es verwundert an. Was war das für ein Buch? Sie wußte nichts davon. Ein kleiner Schlüssel steckte in dem Schloß, und als Ilse es aufschloß, fiel ein beschriebenes Blatt gerade vor ihre Füße.

Sie hob es auf und las:

»Mein liebes Kind!

Möge dieses Buch Dein treuer Freund in der Fremde sein! Wenn Dein Herz schwer ist, flüchte zu ihm und teile ihm mit, was Dich bedrückt! Es wird verschwiegen sein und Dein Vertrauen nie mißbrauchen.

Gedenke in Liebe

Deiner

Mama«

Ohne ein Wort zu sagen, legte Ilse das Buch beiseite. Sie empfand keine Freude über die reizende Überraschung, und die liebevollen Worte der Mutter blieben in ihr ohne Widerhall.

»Freut dir das Buch nicht?« fragte Nellie, die sich über diese Gleichgültigkeit wunderte.

Ilse schüttelte den Kopf. »Was soll ich damit? Ich werde niemals etwas hineinschreiben. Ich werde froh sein, wenn ich meine Aufgaben gemacht habe; zu langen, unnützen Geschichten habe ich keine Zeit und keine Lust.«

»Ich würde viel Freude haben, wenn ich eine Mutter hätte, die mir so beschenkte«, sagte Nellie traurig.

»Ist deine Mutter tot?« fragte Ilse teilnehmend.

»Oh, sie ist lange, lange tot!« entgegnete Nellie. »Sie starb, als ich noch ein kleines Baby war. Mein Vater ist auch tot – ich bin ganz allein. Niemand hat mir recht von Herzen lieb.«

»Arme Nellie!« flüsterte Ilse und ergriff ihre Hand. »Aber du hast doch sicher Geschwister?«

»O nein, keine Schwester – ich sein ganz allein! Ein alter Onkel laßt mir in Deutschland ausbilden, und wenn ich gutes Deutsch gelernt habe, muß ich eine Gouvernante sein.«

»Gouvernante?« rief Ilse erstaunt. »Du bist doch viel zu jung dazu! Alte Mädchen können doch erst Gouvernanten werden!«

Über diese sonderbare Anschauung mußte Nellie herzlich lachen; nun war ihre traurige Stimmung wieder verschwunden, und ihre angeborene Heiterkeit brach hervor wie der Sonnenstrahl durch graue Wolken.

Auf Ilse aber machte Nellies Verlassenheit einen tiefen Eindruck. »Laß mich deine Freundin sein!« bat sie in ihrer kindlich offenen Weise. »Ich will dich auch sehr liebhaben.«

»Gern sollst du meine Freundin sein«, entgegnete Nellie und reichte Ilse die Hand. »Du hast mich von der erste Augenblick an so nett gefallen.«

Der große Koffer war nun leer, und Nellie ergriff den kleinen und wollte ihn eben öffnen, als ihn ihr Ilse unsanft aus der Hand nahm. »Der bleibt geschlossen!« sagte sie. »Du darfst nicht sehen, was dann ist.«

»O je! Was machst du so böse Augen!« rief Nellie und stellte sich höchst erschrocken. »Hast du Heimlichkeiten in der kleinen Koffer? Ist wohl Kuchen und Wurst darin?«

Nellie begleitete ihre Worte mit so komischen Gebärden, daß Ilse lachen mußte. Sie bereute auch schon ihre Heftigkeit. »Ich war recht heftig, Nellie, sei mir nicht böse!« bat sie. »Wenn du mich nicht verraten willst, dann werde ich dir zeigen, was darin ist; aber gib mir die Hand darauf, daß du schweigen wirst!«

Nellie legte den Zeigefinger auf den Mund und besiegelte mit einem Händedruck ihre Verschwiegenheit.

Jetzt nahm Ilse den Schlüssel, den sie am schwarzen Band um den Hals trug; doch als sie aufschließen wollte, wurde zum Abendessen geläutet.

»O wie schade!« rief Nellie, die vor Neugierde brannte, die geheimnisvollen Schätze zu sehen. »Nun müssen wir hinunter, und erst nach die Schlafengehen können wir auspacken.«

»Nach dem Schlafengehen?« fragte Ilse erstaunt. »Da liegen wir ja in unseren Betten!«

»Schweig!« entgegnete Nellie und legte abermals den Finger auf den Mund. »Das ist mein Geheimnis.«

Ilse nahm ihren Platz neben der Vorsteherin. An ihrer andern Seite saß eine junge Russin, Orla Sassuwitsch, ein reizvolles, gepflegtes junges Mädchen mit kurzgeschnittenem, schwarzem Haar, sehr lebhaften, dunklen Augen und einem Stupsnäschen. Sie zählte siebzehn Jahre, sah aber älter aus. Sie sprach fließend deutsch.

Ilse wäre gern neben Nellie gesessen, mit der sie in den wenigen Stunden so vertraut geworden war – die aber saß weit entfernt von ihr. Im Augenblick hatte sie ihren Platz noch gar nicht eingenommen, sondern stand mit einem anderen Mädchen an einem Nebentisch und war der Wirtschafterin behilflich, den Tee zu reichen.

Ilse war hungrig. Zu Mittag hatte sie fast gar keinen Bissen genießen können, jetzt aber machte die Natur ihre Rechte geltend. Sie nahm sich vier Brötchen auf einmal, legte zwei und zwei aufeinander und verschlang den ganzen Vorrat in drei bis vier Bissen. Ihr Mund war so voll, daß sie kaum atmen konnte. Das kümmerte sie indes wenig; sie war gewohnt, von einem Butterbrot tüchtig abzureißen. Als sie trank, hielt sie ihre Tasse mit beiden Händen und stützte die Ellenbogen dabei auf den Tisch.

Fräulein Raimar achtete nicht auf Ilse und wurde erst aufmerksam, als sie in ihrer Nähe unterdrücktes Kichern hörte. Melanie und Grete, zwei Schwestern aus Frankfurt am Main, die Ilse gerade gegenüber saßen, unterhielten sich köstlich über das unbekümmerte Benehmen der »Neuen«, stießen heimlich ihre Nachbarinnen an und zeigten verstohlen auf die nichtsahnende Ilse.

Ein strenger Blick der Vorsteherin brachte die Mädchen zur Ruhe. Sie liebte es nicht, daß über Schwächen und Fehler anderer gespottet wurde. Über Ilses unfeine Art zu essen sagte sie vorläufig nichts, um sie nicht vor den vielen Mädchen zu beschämen.

Um halb acht Uhr war das Abendessen vorbei, danach wurde den Pensionärinnen die Erlaubnis gegeben, bis neun Uhr zu tun, was sie wollten. Dann war Schlafenszeit.

»Komm«, sagte Nellie zu Ilse, »ich werde mit dich in die Garten spazieren! Aber du hast deine Serviette noch nicht schön gelegt und die Ring darauf gezogen! Das mußt du erst machen.«

»Nein«, entgegnete Ilse, »das werde ich nicht! Wozu sind denn die Dienstmädchen da? Zu Hause brauchte ich solche Dinge nie zu tun.«

»Ist gleich, mein Kind, hier mußt du solche Dinge tun; wir machen es alle.«

Richtig, da lagen sämtliche Servietten sauber zusammengewickelt. Ilses Serviette war die einzige, die zu einem Knäuel zusammengeballt neben ihrem Teller lag. Mit einer unwilligen Bewegung nahm sie das Tuch, schlug es flüchtig zusammen und zog den Ring darüber.

»So nicht«, meinte Nellie, »das ist ungeschickt!« Und sie faltete es noch einmal schnell und geschickt mit ihren kleinen Händen. Die junge Engländerin zeigte in allen ihren Bewegungen große Anmut; es war ein Vergnügen, ihr zuzusehen.

»Nun schnell in den Garten!« rief sie, nahm Ilses Arm und führte sie hinaus.

Der Garten war sehr schön, nicht so groß und natürlich wie der heimatliche, aber gut gepflegt. Bäume standen darin, auch fehlte es nicht an lauschigen Plätzen. Von überall her sah man die grünbewaldeten Berge.

»Ist es nicht nett hier?« fragte Nellie. »Habt ihr bei dich auch so schöne Berge?«

»Nein, Berge haben wir nicht«, entgegnete Ilse, »aber es gefällt mir doch besser bei uns. Es ist alles so frei, ich kann alle Felder übersehen. Eine Mauer haben wir auch nicht um unseren Park, nur eine grüne Hecke; das ist viel hübscher.«

Nellie führte sie zu einer alten Linde, die mit ihren breiten Zweigen und Ästen einen großen, runden Raum beschattete. »Oh, es ist süß hier! Nicht wahr?« fragte sie entzückt und sah mit leuchtenden Augen hinauf in das grüne Blätterdach. »Hier halten wir unsere Ruhe zu Mittag. Dieser alte Baum kann viel erzählen, wenn er sprechen will. Er weiß soviel Geheimnisse, die hier verraten sind.«

Bei Nellies Geplauder verging die Zeit schnell. Ilse, die am Morgen so unglücklich gewesen war wie nie und noch zu Mittag geglaubt hatte, die Trennung von ihrem Vater nicht überleben zu können, mußte immer wieder herzlich über Nellie lachen, die sie in ihrer drolligen Art auf die verschiedenen Pensionärinnen aufmerksam machte.

»Wie heißt das junge Mädchen, das bei Tisch neben mir sitzt?« fragte Ilse.

»Die mit die kurze Haar und der Brille auf die Nase? Das ist Orla Sassuwitsch. Oh, sie ist klug! Wir haben alle eine kleine wenig Furcht vor sie, weil sie immer die Wahrheit gerade in die Gesicht sagt.«

»Das soll man doch immer tun!« meinte Ilse.

»O ja, wenn sie angenehm ist! Aber zuweilen tut die Wahrheit weh; das hört keiner Mensch gern. Wenn ich zu sie sagen würde: ›Orla, du hast geraucht‹, das würde sie gar nicht gefallen, und es ist doch die Wahrheit. Ich habe durch ihr Schlüsselloch geluxt und habe große, rauchige Wolken gesehen.«

Beide waren jetzt bei der Trauerweide angelangt, die ihre grünen Zweige bis auf den Boden senkte. Nellie blieb stehen und bog einige Zweige auseinander. »Hier, Ilse, stell‘ ich dich unsre Dichterin vor«, sagte sie lachend.

Die Angeredete blickte zwischen die Zweige und sah ein junges Mädchen auf einer kleinen Bank sitzen. Sie war hoch aufgeschossen, blond und blaß, ihr Gesicht mit zahllosen Sommersprossen bedeckt. Auf ihrem Schoß lag ein dickes blaues Heft, in das sie eifrig schrieb.

Mit neugieriger Scheu blickte sie Ilse an; sie hatte bis jetzt nicht gewußt, daß siebzehnjährige Mädchen schon dichten konnten.

»Sie schreibt Romane«, fuhr Nellie fort, »aber wie! Es kommen immer zerbrochene Herzen drin vor. – Du dir die Augen schaden wirst, du hast kein Licht genug zu deine Romane!«

Bis dahin hatte sich Flora Hopfstange in ihrer Arbeit nicht stören lassen, jetzt aber wurde sie ärgerlich. »Ich bitte dich, laß mich in Ruhe, Nellie!« rief sie und schlug ihre hellblauen Augen schwärmerisch auf. »Eben fiel mir ein so wundervoller Gedanke ein, nun habe ich ihn verloren.«

»Oh, ich will ihn suchen!« neckte Nellie und bückte sich zur Erde nieder, als wollte sie ihn dort finden.

»Du bist unausstehlich!« entgegnete Flora aufgebracht. »Du freilich hast keine Ahnung von meiner Poesie, du kannst nicht einmal richtig deutsch sprechen!«

»Das ist wahr«, meinte Nellie lachend und verließ mit Ilse die schwerbeleidigte Dichterin.

Melanie und Grete kamen ihnen entgegen. Sie führten in ihrer Mitte ein junges Mädchen; es mochte in Melanies Alter sein, mit lieben, sanften Gesichtszügen. Das braune Haar trug es einfach und glatt gescheitelt, kein Härchen sprang widerspenstig hervor. Freundlich lächelte es Ilse und Nellie an, die beiden Schwestern dagegen musterten im Vorübergehen die Neuangekommene mit spöttischen Blicken.

»Die Schwestern kennst du«, bemerkte Nellie, »sie sitzen dich geradeüber bei Tisch, aber unsre ›Artige‹ ist dich noch unbekannt. Oh, ich sage dich, Ilse, sie ist so artig wie eines ganz wohlgezogenes Kind! Sie ist immer der erste in alle Stunden und macht nie eine dummer Streich, kurz, Rosi Möller ist ein Musterkind.«

»Was sagst du von unserem Musterkind?« rief plötzlich eine fröhliche Mädchenstimme. »Nellie, Nellie, dein böses Zünglein geht sicher mit dir durch!«

»Du irrst dir, liebes Lachtaube«, entgegnete Nellie. »Ilse ist noch fremd, ich mache ihr bekannt.«

»Wer war das?« fragte Ilse, als die kleine, runde Mädchengestalt, die an Orlas Arm hing, vorüber war.

»Das ist Annemie von Bosse, genannt Lachtaube. Sie lacht sehr viel, eigentlich immer, und sie kann kein Ende davon finden. Man muß mitlachen, sie steckt an. – Nun habe ich dich aber alle Mädchen gezeigt, die in unser Alter sind; die andern sind zu jung, oder es sind Engländerinnen. Von die ist nicht viel zu sage; sie sind alle langweilig, und sie sprechen noch viel weniger gut deutsch als ich.«

Schlag neun begaben sich sämtliche Pensionärinnen zurück in das Haus. Bevor sie zur Ruhe gingen, war es Sitte, daß sich alle in das Zimmer der Vorsteherin begaben, um ihr gute Nacht zu wünschen. Dabei ermahnte, lobte oder tadelte sie die Mädchen, je nachdem, ob sie den Tag über etwas gut oder schlecht gemacht hatten; alles geschah in liebevoller Weise.

»Ich möchte dir noch etwas sagen, liebe Ilse«, sagte Fräulein Raimar, als ihr Ilse gute Nacht wünschte. »Bleibe noch einen Augenblick hier!«

Als alle Mädchen aus dem Zimmer gegangen waren, ermahnte sie Ilse, sich bei Tisch gesitteter zu benehmen. »Du darfst nicht die Tasse mit beiden Händen fassen und die Ellbogen dabei aufstützen, Kind; du glaubst nicht, wie unschön das aussieht! Achte auf deine Mitschülerinnen! Du wirst sehen, daß keine einzige es so macht wie du. Und stecke nicht wieder so große Bissen in den Mund! Das tun nur kleine Kinder, aber dann nennt die Mutter sie ›Nimmersatt‹.«

Ilse wurde dunkelrot vor Ärger über die Ermahnung. Trotzig biß sie die Lippen aufeinander und unterdrückte eine Antwort.

»Geh nun zu Bett, mein Kind, und schlafe gut!«

Sie wollte Ilse einen Kuß auf die Stirn drücken, aber das Mädchen bog mit einer heftigen Bewegung den Kopf zurück. Fräulein Raimar wandte sich unwillig von dem Trotzkopf ab, ohne ein Wort zu sagen, und Ilse verließ das Zimmer.

Sie lief die Treppe hinauf und trat atemlos zu Nellie in das Zimmer. Sie warf die Tür heftig in das Schloß und schob auch noch den Riegel vor, was in der Pension streng untersagt war.

»Mach nicht den Riegel zu!« rief Nellie. »Wir dürfen das nicht tun. Wenn wir in die Bett liegen, kommt Fräulein Güssow bei uns nachsehen.«

Ilse rührte sich natürlich nicht, und Nellie mußte selbst den Riegel wieder öffnen. Ungestüm warf sich Ilse auf ihr Bett und brach in Tränen aus.

»Oh, was ist dich?« fragte Nellie erschrocken.

»Hier bleibe ich nicht! Ich reise morgen fort! Wenn das mein Papa wüßte, wie sie mich behandelt hat!« rief Ilse aufgeregt.

Durch viele Fragen erfuhr Nellie langsam in einzelnen abgerissenen Sätzen, was Fräulein Raimar gerügt hatte.

»Ich esse ungeschickt – ich nehme zu große Bissen – ich sei ein Nimmersatt! Zu Hause darf ich essen, wie und was ich will. Ich will wieder fort! Morgen reise ich!«

»Du mußt dir nicht so viel grämen um so kleine Sach‘!« bemerkte Nellie sanft und strich liebkosend über Ilses lockiges Haar. »Fräulein Raimar ist sehr gerecht; sie meint es gut und will dir nicht beleidigen. Mit uns alle macht sie es so. Wir sind doch jung und dumm und müssen noch lernen. – Nun komm, wir legen uns jetzt ins Bett, und später, wenn Fräulein Güssow bei uns eingesehen hat, stehen wir ganz leise wie die Mäuschen wieder auf und packen deiner kleine Koffer leer!«

Aber so leicht war Ilse nicht zu beruhigen. »Nein«, rief sie und sprang auf, »der kleine Koffer bleibt verschlossen! Ich reise wieder fort!«

Hastig zog sie sich aus, ließ ihre Kleidungsstücke liegen, wohin sie fielen, und legte sich schluchzend in ihr Bett. Schweigend ordnete Nellie die zerstreuten Sachen; sie hing das schöne Kleid, das zerknüllt auf einem Stuhl lag, über einen Bügel und legte alles übrige ordentlich zusammen. Dann ging auch sie zur Ruhe.

Bevor sie ihr Lager aufsuchte, kniete sie nieder, faltete die Hände und betete leise ein kurzes Gebet. »Gute Nacht, Ilse!« sagte sie dann und gab ihr einen Kuß. »Du mußt nun nicht mehr weinen – alle Anfang ist schwer.«

Am andern Morgen um sechs Uhr hieß es: Aufgestanden! Da galt kein langes Besinnen, und wenn die jungen Glieder noch so sehr vom Schlaf befangen waren, es gab keine Ausnahme. Ilse pflegte daheim bald früh, bald spät aufzustehen, wie es ihr gerade einfiel. Einer bestimmten Ordnung, wie sie die Mama so sehr wünschte, wollte sie sich niemals fügen.

Nellie stand schon da und wusch sich. Mit einem Sprung war sie Schlag sechs Uhr aus dem Bett gewesen. »Wach auf, Ilse!« sagte sie. »Um halb sieben trinken wir Kaffee.«

»Schon aufstehen?« antwortete die Verschlafene. »Aber ich bin noch so müde!«

»Tut nix, du darfst nicht mehr schläfrig sein!«

Aber Ilse zögerte noch. Nellie war schon fertig angezogen, und alles, was sie zur Nacht- und Morgentoilette benötigte, war beiseite geräumt, als Ilse sich langsam erhob.

»O Ilse, eile dir, du hast nur zehn Minuten Zeit. Schnell, schnell, ich will dich helfen! Wo ist dein Kamm?«

Ilse zeigte auf ein Papier, das im Fenster lag. »Dort liegen sie eingewickelt«, gab sie zur Antwort.

»Das ist nicht nett, das gefallt mir nicht«, meinte Nellie und rümpfte das Näschen. »Du mußt dich ein Taschen nähen von grauer Stoff und rote Band, sieh, wie dies da!« Nellie zeigte ihre Kammtasche. »Siehst du, so ist‘s fein!«

Ilse machte nicht viel Umstände mit ihrem Haar. Sie kämmte und bürstete es, damit war alles geschehen; die natürlichen Locken ringelten sich von selbst ohne weitere Bemühung. Nellie schlang ihr ein hellblaues Band durch und band es mit einer Schleife seitwärts zu.

»Nun noch die Schürze«, sagte sie, als Ilse soweit fertig war, »die darf nicht fehlen.« Sie lachte, als sich Ilse dagegen sträubte. »Du bist ein klein, albern Ding«, schalt sie und band ihr die Schürze vor, trotz Ilses heftigem Widerstand. »Gleich haltst du still! Ohn ein Schürzen gibt es kein Kaffee.«

Die lustige Nellie setzte es wirklich durch, daß Ilse sich ihrem Willen fügte. »So«, sagte sie, »nun bist du schön. Die blau gestickter Schürze ist sehr nett, und du bekommst ein süßer Kuß.«

Nellie und Ilse waren die letzten am Frühstückstisch. Fräulein Raimar war des Morgens niemals zugegen, nur Fräulein Güssow führte die Aufsicht. Ilse mußte sich zu ihr setzen. Als ihr der Kaffee gereicht wurde, nahm sie die Tasse ganz sittsam beim Henkel in die Hand, aß auch, wie es sich gehört, nicht mit großen Bissen wie am Abend zuvor; aber nun zeigte sich eine andere Unart, die ebenfalls zu tadeln war: Sie schlürfte den Kaffee so laut, daß sie allgemeine Heiterkeit erregte.

Ilse wußte nicht, daß das Gelächter ihr galt. Orla machte sie darauf aufmerksam. »Du führst ja ein wahres Konzert auf!« sagte sie. »Machst du das immer so? Schön hört sich diese Tafelmusik nicht an, das kann ich dir versichern!«

Ilse fühlte sich schwer beleidigt über diese Zurechtweisung. Hastig setzte sie die Tasse nieder, erhob sich und eilte hinaus.

»Du durftest sie nicht vor allen andern so beschämen, Orla!« tadelte Fräulein Güssow, indem sie ebenfalls aufstand, um Ilse zu folgen. »Das kränkt sehr.«

Ilse wollte in den Garten eilen, als die junge Lehrerin sie zurückrief. »Wo willst du hin, Ilse?« fragte sie. »Was fällt dir ein, mein Kind, einfach davonzulaufen! Es gehört sich nicht, eine Mahlzeit zu verlassen, bevor sie beendet ist. Komm gleich zurück und trinke deinen Kaffee.«

»Ich mag nicht mehr frühstücken«, entgegnete Ilse, »und ich gehe nicht wieder hinein! Es geht niemand etwas an, wie ich esse und trinke, ich mache es, wie ich will! Vorschriften lasse ich mir nicht machen, nein!«

»Ehe ich weiter mit dir spreche, bitte ich dich, erst ruhig und vernünftig zu sein, liebe Ilse. Ich kann nicht dulden, daß du in einem so unartigen Ton zu mir sprichst.« Fräulein Güssow sprach sehr ernst und nachdrücklich, aber durch die Strenge der Worte hindurch vernahm man deutlich den warmen Klang der Liebe. Ihre wohlklingende Stimme verfehlte selten den Weg zu den Herzen, das lernte auch Ilse in diesem Augenblick kennen. Sie blickte zu Boden, und etwas wie Beschämung stieg in ihr auf.

Die Lehrerin las in Ilses Zügen und wußte, was in ihr vorging. »Gib mir deine Hand, du kleiner Brausekopf«, sagte sie freundlich, »und versprich mir, nicht wieder so stürmisch zu sein und deiner augenblicklichen Laune zu folgen, selbst wenn du glaubst, im Recht zu sein! Heute warst du es nicht einmal, du hast wirklich unappetitlich getrunken. Orla hat es gut gemeint, als sie dich darauf aufmerksam machte; du darfst ihr darum nicht böse sein. Es ist doch besser, jetzt als Kind zurechtgewiesen zu werden als später, wenn aus den schlechten Gewohnheiten bereits Fehler geworden sind, die bei einem Erwachsenen nicht mehr entschuldigt werden können. Siehst du das ein, Ilse?«

Vielleicht tat sie es, aber sie würde ein Ja nicht über die Lippen gebracht haben. Fräulein Güssow begnügte sich mit ihrem Stillschweigen und nahm es für eine Zustimmung.

»Nun wollen wir zurück in den Speisesaal gehen«, sagte sie, und Ilse wagte keine Widerrede. Sie folgte der Lehrerin mit niedergeschlagenen Augen, aus Furcht vor den vielen peinlichen Blicken, die sich alle auf sie, richten würden.

Als sie eintraten, war das Zimmer leer und die Frühstückszeit vorüber. Niemand war froher als Ilse, die sich wie erlöst vorkam.

»Ich habe noch einen Auftrag für dich, Ilse«, sagte die Lehrerin. »Fräulein Raimar wünscht deine Arbeitshefte zu sehen, du sollst auch gleich mündlich geprüft werden. Finde dich in einer Stunde in dem Konferenzzimmer ein! Du wirst dort einige deiner zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen kennenlernen.«

»Wollen sie mich alle prüfen?« fragte Ilse etwas besorgt.

»Nein«, entgegnete das Fräulein, »aber sie werden zuhören, wenn Fräulein Raimar dich prüft. Später wirst du dann erfahren, in welche Klasse du kommst, und morgen nimmst du zum erstenmal am Unterricht teil.«

Ilse ging in ihr Zimmer und suchte ihre Hefte zusammen. Sie waren nicht in der besten Verfassung. Das deutsche Aufsatzheft war mit Tintenflecken verziert, und sogar einige Fettflecke machten sich darauf breit. Das französische Heft wurde ganz beiseite gelegt. Sie versuchte einige Seiten, die gar zu verschmiert aussahen, herauszureißen, aber durch diesen Gewaltstreich lockerten sich alle andern Blätter.

Nellie, die gerade eine freie Stunde hatte, sah erstaunt Ilses Treiben zu. »Was tust du?« fragte sie. »Willst du deine Bücher so an Fräulein Raimar vorzeigen? Das darfst du nicht. Hat deiner Herr Pastor dir dies erlaubt? Gib schnell, ich will dich blaues Umschläge drum wickeln! Das ist nett, und man sieht die alte Flecken nicht.«

»Gib her!« rief Ilse gereizt. »Sie sind gut so! Es ist mir ganz einerlei, ob Fräulein Raimar die Flecken sieht oder nicht.«

»Nicht so zornig, Fräulein Ilse! Sie sind eine kleine, unordentliche junge Dame. Würde es dir vielleicht spaßig sein, wenn Fräulein Raimar deine Buch mit spitze Finger hochhielte und sie alle Lehrer zeigte? O nein, das wäre dich nicht einerlei und nicht spaßig. Besonders wenn Herr Doktor Althoff, unser deutscher Lehrer, mit seine bekannte, höhnische Lachen dir so von die Seiten ansieht und fragt: ›Wie alt sind Sie, mein Fräulein?‹«

Obwohl Ilse ungeduldig erklärte, es wäre höchst unnütz, so viele Umstände wegen der dummen Bücher zu machen, setzte Nellie ihren Willen durch. »So, nun kannst du gehen«, sagte sie, als auch das letzte Heft in einem blauen Kleid steckte. »Nun bedanke dich für meine Mühe!«

»Du bist sehr gut, Nellie!« meinte Ilse. »Wie ist es dir möglich, so sanft und geduldig zu sein? Ich kann das nicht.«

»Oh, du lernst schon, Kind! Wirst noch eine ganz zahme, kleine Vogel sein!« entgegnete Nellie.

Um elf Uhr ging Ilse in das Konferenzzimmer. Es waren mehrere Lehrer und einige Lehrerinnen anwesend. Sie saßen um einen Tisch, Fräulein Raimar machte mit einigen freundlichen Worten die neue Schülerin mit ihren zukünftigen Lehrern bekannt. Darauf ließ sie sich die Schreibhefte reichen. Das Aufsatzheft fiel ihr zuerst in die Hand. Sie blätterte und las darin, und einigemal schüttelte sie den Kopf »Oft recht gute und klare Gedanken«, bemerkte sie zu dem neben ihr sitzenden Lehrer der deutschen Sprache, Doktor Althoff, »und dabei diese oberflächliche, flüchtige Schrift. Sehen Sie einmal, ›uns‹ mit einem ›z‹ geschrieben – ›Land‹ mit einem ›t‹. Da werden wir viel Versäumtes nachzuholen haben. Wie schreibst du ›Land‹, Ilse? Buchstabiere einmal!«

Ilse fühlte sich durch diese Frage verhöhnt. War sie denn ein kleines Mädchen aus der Abc-Klasse? Sie zögerte mit der Antwort.

Die Vorsteherin war nicht gewöhnt zu scherzen, sie sah die schweigende Ilse erstaunt an. »Wie du Land schreibst, möchte ich von dir wissen«, wiederholte sie in einem Ton, der jeden Zweifel, ob er ernst gemeint sei, ausschloß.

Ilse kräuselte etwas unwillig die Stirn, zog die Lippe in die Höhe und buchstabierte so schnell, daß man ihr kaum folgen konnte: L-a-n-d. Den Blick wandte sie zum Fenster, um Fräulein Raimar nicht anzusehen.

»Also nur flüchtig; ich dachte es mir«, sagte die Vorsteherin. »Wenn du in Zukunft deine Aufsätze machst, wirst du sehr aufmerksam sein. Fehler, wie ich sie in deinen Aufgaben finde, kommen bei uns in der dritten Klasse nicht mehr vor.«

Es wurden Ilse nun Fragen in den verschiedensten Fächern vorgelegt. Manchmal fielen die Antworten überraschend gut aus, zuweilen geradezu einfältig.

Im Französischen bestand sie gut. Monsieur Michael, der französische Lehrer, ein älterer Herr mit weißem Haar, sprach sie sogleich französisch an, und sie antwortete richtig und fließend.

Bei Miß Lead, der englischen Lehrerin, die ebenfalls im Institut wohnte, war Ilse weniger erfolgreich; sie holperte sehr, als sie die Antwort gab.

»Nun kannst du uns verlassen, Kind«, sagte Fräulein Raimar. »Deine Prüfung ist zu Ende. Später werde ich dir mitteilen, welche Klasse du besuchen wirst.«

Nach einer eingehenden Beratung wurde von der Lehrerkonferenz der Beschluß gefaßt, Ilse in die zweite Klasse zu geben, im Französischen sollte sie die erste besuchen.

»Ich glaube, Ilse wird uns viel Sorgen machen«, äußerte die Vorsteherin besorgt. »Sie ist widerspenstig und trotzig, und sie kann nicht den geringsten Tadel vertragen.«

»Sie hat ein gutes Herz«, fiel Fräulein Güssow lebhaft ein. »Ich habe noch keine Beweise dafür, aber ich lese es in ihren Augen. Ich bin überzeugt, daß ich mich nicht täusche. Mir ist klar, mit Strenge werden wir wenig ausrichten, dagegen hoffe ich, mit Liebe und Bestimmtheit wird es gelingen, ihren Trotz zu zähmen.«

»Das ist ganz meine Ansicht«, stimmte Monsieur Michael bei. »Sie werden sehen, meine Damen und Herren, Mademoiselle Ilse wird eine Zierde des Pensionates sein. Mit welcher Eleganz spricht sie französisch, wie gewählt setzt sie die Worte! Ah, sie ist ein Genie!«

»Ich wünsche von Herzen, daß Sie recht haben mögen«, entgegnete Fräulein Raimar und erhob sich von ihrem Platz. »An Liebe und Nachsicht wollen wir es nicht fehlen lassen; vielleicht gelingt es uns, Ilse verständig und gefügig zu machen.«

Am Abend, als Fräulein Güssow bereits die Runde gemacht hatte, als das Licht gelöscht und alles still im Hause war, rief Nellie: »Wachst du, Ilse?«

»Ja, was soll ich?«

»Zieh dir leise an! Wir wollen deinen kleinen Koffer auspacken!«

»Es ist aber dunkel!« meinte Ilse.

»O laß nur, ich habe schon ein Licht!«

Leicht und unhörbar stieg Nellie aus dem Bett und ging auf Strümpfen an ihren Schrank. Sie zog die oberste Schublade vorsichtig heraus und entnahm ihr eine kleine Kerze. Sie zündete sie an und stellte ein Buch davor, um jeden verräterischen Lichtschimmer nach draußen abzublenden. »Ist doch fein, nicht?« fragte sie. »Nun eile dich aber!« trieb sie Ilse an, die sich flüchtig ankleidete. »Wo hast du der Schlüssel?«

»Hier habe ich ihn«, entgegnete Ilse und zog ihn unterm Kopfkissen hervor, »ich werde selbst aufschließen.«

Nellie leuchtete mit der Kerze, die sie mit der Hand abschirmte. Sie stand über dem Koffer gebeugt, in neugieriger Erwartung der Schätze, die sich vor ihren Augen auftun würden. Sie war enttäuscht, als Ilse anfing auszupacken. Die erwarteten Delikatessen – Nellie war eine kleine Naschkatze – kamen nicht zum Vorschein. »Oh, hast du keine Kuchen?« fragte sie, warf den Plunder heraus und durchsuchte den Koffer bis auf den Grund. »Au, au!« rief sie plötzlich und fuhr mit der Hand zurück. »Was ist dies? Ich habe mich gestochen.« Und richtig, ein roter Blutstropfen hing an dem kleinen Finger.

Ilse wußte nicht, woher die Verwundung kam, bis sie selbst in den Koffer griff und die Ursache entdeckte. O Schrecken! Das Glas mit dem Laubfrosch war zerbrochen, und Nellie hatte sich an einem Glassplitter geritzt.

»Wo nur der Frosch ist?« sagte sie ängstlich und räumte die Scherben fort.

»Was, ein Frosch? Eine lebendige Frosch. O je, hast du ihn verpackt? Wie kannst du so eine arme Tier in die Koffer tun! Ohne Luft muß er totgehen.«

Ilse fand den kleinen Laubfrosch, natürlich tot. Sie legte ihn auf die flache Hand und hauchte ihn an, vielleicht brachte sie ihn wieder zum Leben.

Nellie lachte sie aus. »Du hast die arm, klein Frosch gemordet«, sagte sie und nahm ihn in die Hand. »Oh, er ist kaputt! Er kriegt keine Leben wieder, niemals! Morgen früh wollen wir ihn unter die Linde vergraben.«

Ilse sah traurig auf den Frosch, und die Tränen traten ihr in die Augen. »Wie schlecht von mir, daß ich so dumm sein konnte!« klagte sie sich an. »Ich dachte gar nicht daran, daß er ersticken könnte, als ich ihn in den Koffer gab, es ging so schnell.« Die Aussicht auf das Begräbnis unter der Linde tröstete sie einigermaßen.

»Wir machen eine kleiner Hügel«, riet Nellie, »und pflanzen Blumen darauf. Und ein klein Holzkreuz stecken wir in die Erden und schreiben daran: Hier ruht Ilses Frosch. Er mußte sein junges Leben lassen, weil ihm die Luft ausging.«

Dieser Einfall trocknete Ilses Tränen, sie mußte sogar lächeln. – Der ausgestopfte Kanarienvogel hatte auch sehr gelitten. Das Köpfchen war ganz breitgedrückt, und der eine Flügel hing herunter.

Nellie gab ihm wieder einige Form. »Laß mir nur machen«, sagte sie, »ich werde ihm schon wieder in die Ordnung bringen! – Was ist denn das?« fragte sie plötzlich und hielt Ilses Blusenkleid in die Höhe. »Warum hast du dieses schmucklose Robe eingepackt – und die alte schmutzige Stiefel? Was soll damit?«

Warum? Das wußte Ilse selbst nicht, aber sie war ärgerlich, ihr Lieblingskostüm so verachtet zu sehen. »Du verstehst nichts davon!« sagte sie und nahm es Nellie fort. »Es ist mein liebster und schönster Anzug. Ich mag die andern Kleider gar nicht leiden, sie sitzen so fest und sehen so geziert aus.«

»Oh, laß mir ihn anprobieren!« bat Nellie. »Ich will ihn anziehen.«

Dagegen konnte Ilse nichts einwenden. Sie half Nellie ankleiden, und in wenigen Augenblicken stand diese in einem ganz merkwürdigen Aufzug da. Der Rock war ihr zu kurz, da sie etwas größer als Ilse war; darunter sah das lange, weiße Nachtgewand hervor. Die Bluse war stellenweise zerrissen. Nellie war statt durch den Ärmel durch ein großes Loch dicht daneben hinausgefahren, so daß der Ärmel auf dem Rücken hing. Nun schlang sie auch noch den schäbigen Ledergürtel um ihre zierliche Taille, und dann stand sie fertig da, bis auf die Stiefel, die sie nicht anziehen mochte, weil sie zu schmutzig waren. »Bequem ist diese Kostüm, das ist wahr«, sagte sie und fing an, allerhand lustige Sprünge auszuführen und sich im Kreis zu drehen. »Man ist so luftig, so leicht.«

Ilse brach plötzlich in ein so herzhaftes Gelächter aus, daß Nellie auf sie zueilte und ihr den Mund mit der Hand verschloß. »Du darfst nicht so toll lachen«, sagte sie, »du wirst uns verraten!«

»Ich kann nicht anders, du siehst zum Totlachen aus!«

Nellie trat mit der Wachskerze vor den kleinen Spiegel und betrachtete sich. »O wie abscheulich!« sagte sie und riß die Sachen herunter. »Wie kannst du so ein häßlicher Anzug schön finden!«

Ilse verschloß ihre Herrlichkeiten wieder in den Koffer, dann wurde das Licht gelöscht, und in wenigen Augenblicken schliefen die beiden Mädchen fest und tief.

Vierzehn Tage waren seit Ilses Aufnahme im Pensionat vergangen. Sie weinte in dieser kurzen Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, manche bittere Träne, und oft setzte sie die Feder an, um den Vater zu bitten, er möge sie zurückholen. Nur weil sie sich vor der Mutter scheute, tat sie es nicht. Sie antwortete auf die vielen und langen Briefe, die sie aus der Heimat erhielt, nur zweimal, nur kurz und mit der Entschuldigung, daß ihr die Zeit zu längeren Briefen fehle.

Endlich, eines Sonntagnachmittags, den fast alle Pensionärinnen zum Briefeschreiben benutzten, setzte sich auch Ilse dazu an ihren Tisch. Große Lust verspürte sie nicht zum Schreiben. Sie schlug die neue Schreibmappe auf, wählte nach langem Suchen einen rosa Bogen, tauchte die Feder in das Tintenfaß und malte allerhand Schnörkeleien auf ein Stückchen Papier. Endlich begann sie den Brief. Doch nach wenigen Zeilen hörte sie auf und legte das Geschriebene beiseite. Der Anfang gefiel ihr nicht. Es wurde ein neuer Bogen geopfert und noch einer. Der vierte endlich hatte mehr Glück. Sie beschrieb ihn von Anfang bis zum Ende, ja, sie nahm noch einen fünften Bogen dazu. Sie war nun einmal ins Plaudern gekommen, immer wieder fiel ihr etwas ein, das sie dem Papa mitteilen mußte. Als Ilse zu Ende war, las sie noch einmal ihre lange Epistel.

Der Trotzkopf

Подняться наверх