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Kapitel 2

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Für einen Menschen ist die Entfernung zwischen Sonne und Erde gewaltig. Für einen Sonnenstrahl ist sie ein Witz. Würde ein Mensch zur Sonne laufen wollen, bräuchte er dafür viele Millionen Jahre. Ein Sonnenstrahl noch nicht mal zehn Minuten. Es dauerte also gar nicht lange, da hatten die beiden Sonnenstrahlenkinder den Erdenhimmel erreicht.

Sie waren nicht allein. Es herrschte ein Gewühl, wie in einer Wechselstube, wenn der Dollar fällt. Viele Sonnenstrahlenkinder hatten den gleichen Weg gewählt. Und noch mehr Sonnenstrahlen waren aus allen nur erdenklichen, anderen Richtungen aus den Tiefen des Weltalls zur Erde gelangt. Es waren ganz junge Sonnenstrahlen dabei, es waren Sonnenstrahlen in jugendlichem Alter dabei, es waren ernst dreinblickende Erwachsene dabei, die Höflichkeiten austauschten und sich gegenseitig zum Kaffee einluden. Und hier und da tauchte auch einer von jenen Sonnenstrahlen auf, die die Last des Alters auf ihren Schultern trugen.

Diese Sonnenstrahlenopas waren im halben Universum herumgekommen und einige von ihnen waren tatsächlich so alt wie das Universum selbst. Auch sie hatten einst auf der Sonne in Katalogen geblättert. Hatten den Kopf voller Flausen und Träume und waren schließlich aufgebrochen zu ihrer großen, weiten Reise. Sie hatten das Universum in ihr goldenes Licht getaucht und dabei die fantastischsten Entfernungen zurückgelegt. Tag um Tag, Jahr um Jahr - doch nie hatten sie sich länger als auch nur einen Augenschlag an einem Ort aufgehalten. Kaum angelangt waren sie schon wieder auf und davon, nur noch einen Gedanken entfernt von ihrem nächsten Ziel. In die Jahre gekommen waren sie über die Zeit. Ihr Licht strahlte nicht mehr golden, sondern rot. Ihr Haar glänzte in silbrigem Grau über die vielen Reisen, die sie unternommen hatten. So viel Wissen hatten sie sich angeeignet, dass sie gelegentlich ihr Gedächtnis im Stich ließ. Dann standen sie unschlüssig in den Ecken und überlegten, was sie nun schon wieder nicht wussten. Aber trotz allem hatten ihre Augen nichts von ihrem Glanz verloren. Sie waren hellwach und sprühten vor Tatendrang und Energie. Ganz wie bei den Jüngeren, die diesen alten Veteranen ehrfürchtig Platz machten und sie mit großem Respekt behandelten.


Die Sonnenstrahlenkinder starrten mit offenen Mündern auf all die vielen Sonnenstrahlen und waren sprachlos. So ein Durcheinander hatten sie auf der Sonne selbst noch nicht einmal gesehen.

Zwei greise Sonnenstrahlenopas schoben sich ein Stück von ihnen entfernt durch die Menge. Mit Händen und Armen gestikulierend gaben sie einander Zeichen, um sich nicht aus den Augen zu verlieren.

Einer ging festen Schrittes. Der andere versuchte an Krücken humpelnd mitzuhalten. Der Erste blieb hin und wieder kurz vor einem der vielen Sonnenstrahlenkinder stehen.

“Mein Name ist Jack”, sagte er dann. “Wer bist du?”

Dann schaute er dem anderen Sonnenstrahl forschend in die Augen, wechselte kurz ein paar Worte, schob ihn dann aber doch beiseite und stapfte weiter.

Schließlich entdeckte er das Sonnenstrahlenmädchen und ihren Begleiter.

“Hey, ihr zwei”, machte sich der Sonnenstrahlenopa an die beiden heran. “Hey, mein Name ist Jack! Ihr seid noch Kinder, was?”

Das Mädchen und der Junge nickten schüchtern.

“Hahaha”, lachte der Sonnenstrahlenopa. “Das habe ich mir doch gleich gedacht. Ist eure erste Reise, was?”

Die beiden Sonnenstrahlenkinder nickten wieder und warfen verstohlene Blicke auf den lachenden Sonnenstrahlenopa.

Der war aber auch ein Haudegen. Die Füße steckten in schweren Stiefeln, die ausgefransten Hosen wurden von einem breiten Gürtel mit einer glühenden Schnalle gehalten. Das Hemd war bis zur Brust geöffnet. In den Ausschnitt hinein fiel ein feuriges Halstuch, das der Sonnenstrahlenopa im Nacken verknotet hatte. Ein dunkelrotes Stirnband trug der Sonnenstrahlenopa und einen Hut, dessen Krempe er tief ins Gesicht gezogen hatte.

Die Sonnenstrahlenkinder waren fasziniert von seinem Aussehen, seinen Bewegungen, von seiner rauen Stimme.

Nur, was wollte dieser Sonnenstrahlenopa von zwei Sonnenstrahlenkindern wie ihnen?

“Wie heißt ihr zwei?”, fiel es dem Sonnenstrahlenopa ein.

Die Augen der Sonnenstrahlenkinder wurden noch größer, als sie es ohnehin schon waren. Sie staunten den Sonnenstrahlenopa an.

“Eure Namen will ich wissen”, drängte der Sonnenstrahlenopa. “Oder habt ihr etwa keine?”

Das Sonnenstrahlenmädchen schüttelte langsam den Kopf. Der Junge staunte einfach weiter. Nein, Namen hatten sie tatsächlich nicht.

“Das hatte ich mir fast so gedacht”, sagte der Sonnenstrahlenopa. Kurz seufzte er, dann redete bedächtig weiter.

“Ich hatte anfangs auch keinen Namen”, bemerkte er. “Aber ihr kommt schon noch dahinter. Denkt euch einfach etwas Hübsches aus, dann habt ihr auch jeder einen Namen. Zum Beispiel ...”

Er unterbrach sich, denn der zweite Sonnenstrahlenopa hinkte an seinen Krücken hinzu. Er sah genauso abenteuerlich aus wie sein Gefährte, nur hatte das Alter seinen Hüften zugesetzt. Mit dem Laufen wurde es immer beschwerlicher für ihn.

“Sind sie das, Jack?”, fragte er heiser. Er hob eine seiner Krücken und zeigte mit dem Ende auf die Kinder.

Jack nickte.

“Ja, William, das sind sie! Sonnenstrahlenkinder! Kommen geradewegs von Mutter Sonne und haben noch nicht einmal eigene Namen.”

Die beiden Sonnenstrahlenopas warfen einander einen kurzen Blick zu, dann betrachteten sie mit ernsten Gesichtern die Kinder. Denen brummte inzwischen der Kopf. Hatte der eine Sonnenstrahlenopa schon mächtig Eindruck auf sie gemacht, kam nun noch ein zweiter hinzu und beide benahmen sich merkwürdig. Als ob sie die Kinder kennen würden, aber das konnte unmöglich sein - sie waren sich doch noch nie begegnet.

Das Mädchen gab sich einen Ruck und fand die Sprache wieder. “Ihr kennt uns? Ja, woher denn?”, fragte sie.

“Genau, was wollt ihr von uns?”, fasste sich auch der Junge ein Herz.

“Gute Frage. Was, William?”, sagte Jack und grinste.

“Gute Frage, Jack”, antwortete William. “Die Antwort haben wir wohl hier!”

Er hatte wieder die Krücke erhoben und zielte damit nach dem Gürtel des Sonnenstrahlenjungen. Ganz gemächlich, ohne Hast, wie einer, der sich seiner Sache gänzlich sicher ist, zupfte er mit der Krücke das Hemd des Jungen aus dem Gürtel und schob es nach oben.

Im Gürtelbund steckte der Reisekatalog, den der Sonnenstrahlenjunge auf der Sonne heimlich eingesteckt hatte.

“Ei, was haben wir denn da”, machte Jack belustigt.

Er trat einen Schritt auf den Jungen zu und zog den Katalog aus dem Gürtelbund.

“Nanu”, sagte Jack und tat erstaunt. “Sieht aus wie ein Katalog. Ich dachte, den hättet ihr auf der Sonne abgegeben.”

Das Sonnenstrahlenmädchen warf dem Jungen einen vorwurfsvollen Blick zu.

“Ich hab doch gleich gewusst: Das gibt Ärger”, zischte sie den Jungen an.

Der stand mit gesenkten Kopf da und zupfte umständlich an einem Hemdzipfel herum.

“Ich wollte doch nur ...”, fing er an.

Jack schlug den Katalog auf und studierte das Inhaltsverzeichnis. William stand daneben und stützte sich ächzend auf beide Krücken, bis er wieder den richtigen Halt gefunden hatte.

“Gut gemacht, junger Mann”, unterbrach er den Sonnenstrahlenjungen.

Die beiden Sonnenstrahlenopas schienen sehr zufrieden mit dem Diebstahl des Katalogs zu sein.

Der Junge schaute zuerst ihn verdattert an. Dann Jack, der die Nase in den Katalog steckte. Dann blickte er zu seiner Begleiterin, die ratlos mit den Schultern zuckte.

William hatte noch mehr zu sagen: “Tja, das ist schon ein Glücksfall. So ein Katalog ist fern der Sonne schwer zu kriegen. Jedes Sonnenstrahlenkind muss seinen Katalog schließlich abgeben. Ihr wisst ja, wie streng die Drohnen sind.“

William wandte den Blick zu dem Sonnenstrahlenjungen.

“Um so besser, dass du einen Katalog bei dir hast. Er wird euch helfen, ein gefährliches Abenteuer zu bestehen”, fuhr er fort.

Die Augen des Jungen blitzten, als er das hörte. Ein Abenteuer und noch dazu ein gefährliches - das hatte er sich so gewünscht.

“Eine interessante Geschichte über die Erde findet sich in dem Katalog”, redete William weiter.

Er musste husten. Er kränkelte jetzt schon seit geraumer Zeit. Das Alter - in der Tat - es machte ihm zu schaffen.

“Jack und ich - wir waren auch mal Kinder und haben damals auf der Sonne aufmerksam den Katalog gelesen. Jack, die alte Leseratte, schmökerte in einer ganz grässlichen Geschichte. Sie handelte auf der Erde. Und ich kann euch sagen, sie hat uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Fürchterliches Unheil, gierige Menschen, Finsternis. Aber wir lasen auch von einem tapferen Mädchen und einem tapferen Jungen. Zwei Sonnenstrahlenkinder, die das Unglück verhindern helfen. Ich spreche von euch beiden.“

Er machte eine kurze Pause zum Luft holen, dann fuhr er fort: “Tja, wir waren ganz vertieft. Aber wir konnten nicht zu Ende lesen, denn plötzlich standen die Drohnen vor uns. Ihr kennt das inzwischen ... Eine Drohne schiebt die Schubkarre und die andere Drohne nimmt dir deinen Katalog weg.“

Die beiden Sonnenstrahlenkinder nickten. Ja, so war es bei ihnen auch gewesen.

“So wussten wir zwar von dem Unglück, aber nicht, wie es zu verhindern ist”, grummelte William. “Nun, jetzt haben wir ja den Katalog. Der wird uns sagen, was zu tun ist, um das Abenteuer zu bestehen.”


Jack stieß ihn plötzlich von der Seite an.

“Hier ist es. Ich erinnere mich genau”, sagte er und zeigte William den aufgeschlagenen Katalog.

William las kurz, dann nickte er.

“Bis zum heutigen Tage haben wir gewartet“, spann Jack den Faden weiter, “damit wir zum rechten Zeitpunkt hier sind, um euch zu treffen und zu helfen.”

“Fürs Erste läuft alles nach Plan, aber wer weiß ...”, murmelte William.

“Was steht denn in dem Katalog”, fragte das Mädchen, dem langsam mulmig wurde. Anders als der Junge hielt sie von gefährlichen Abenteuern nicht eben viel.

“Nun”, antwortete Jack, “zum Beispiel steht hier etwas von einem Lichtdieb. Wisst ihr, was ein Lichtdieb ist?”

Der Junge überlegte.

Das Mädchen aber wusste wohl die Antwort. Genau dieses Wort hatte sie auf der Sonne im Katalog auch gelesen.

“Er ist rund und an den Seiten etwas eckig und vor allem düster”, wiederholte sie, was sie im Gedächtnis behalten hatte. “Er hat mir Angst gemacht - ich hab’s schnell wieder weg geblättert.”

“Sie weiß Bescheid, was”, sagte Jack und zwinkerte William zu. “Weißt du auch, was das ist?“

Er spitzte die Lippen, pfiff eine kurze Melodie und klatschte mit den Händen dazu.

Das Sonnenstrahlenmädchen schaute ihn verständnislos an. So etwas hatte zuvor weder gesehen, noch gehört.

Jack grinste. “Das nennt sich Musik. Jazz, verstehst du! Auf der Erde wird so etwas in der Musik-Bar gespielt”, erklärte Jack. “Schätze, William und ich werden da mal das Tanzbein schwingen. Was, William?“

William guckte ihn böse an.

“Das ist doch jetzt unwichtig”, sagte er grantig. „Lies aus dem Katalog!“

“Musik ist niemals unwichtig”, sagte Jack in belehrendem Ton. “Aber gut! Der Katalog weiß von diesem Lichtdieb einiges mehr zu berichten. Hättest weiter lesen sollen, junge Dame ...”

Der Junge kicherte dazwischen.

“Hihi! Junge Dame nennt er dich!”

Er kannte die Anrede nicht und fand sie deshalb komisch.

“Ich bin keine junge Dame, sondern noch klein. Ich muss das Lesen erst noch üben”, verteidigte sich das Mädchen und machte einen Schmollmund.

Jack schmunzelte und warf dem Mädchen einen aufmunternden Blick zu. Er wartete, bis der Junge ausgekichert hatte.

Dann schien er es eilig zu haben, denn er drängte: “Genug gekichert! Der Tag bricht bald an. Hier ist der Eintrag im Katalog ...“


***


“Auf der Erde gab es einen Winkel, in den nie ein Sonnenstrahl drang. Ein unheimliches Gewölbe. Düster duckte es sich zwischen all den Dingen und Wesen, die sich am Tageslicht erfreuten - und blieb den neugierigen Sonnenstrahlen so gänzlich verborgen und unbemerkt.

Mit seinen wuchtigen, alten Mauern, den fest gefügten Steinen, der unerbittlichen, eisenbeschlagenen Tür, die es fest verschloss, vermochte sich nichts ohne die Hilfe von Menschenhand Zutritt in dieses Gewölbe zu verschaffen. Außer das faulende Grundwasser, dass durch den erdenen Boden aus der Tiefe drang. Und nichts gelangte ohne fremdes Zutun aus dem Gewölbe heraus.

Gerade in diesem Gewölbe wurde bei Anbruch eines gewöhnlichen Erdentages ein Lachen geboren. Es war ein angstvolles Lachen. Freudlos, hastig und voller Schuld. Ein verzweifeltes Lachen.

Niemand hörte das Lachen. So laut es auch war und so lange es währte, es erstarb ungehört in dem von einem elektrischen Licht düster beleuchteten Raum.

Das Lachen suchte einen Weg hinaus, um gehört zu werden. Aber es hallte zurück von den hohen, nasstriefenden Ziegelmauern. Es wand sich auf einen Spalt hoffend hinauf an die Decke. Es fand auch dort keinen Ausweg und hallte zu einer schwarzen, metallenen Kiste, die auf dem Boden stand. Von da stieß es zu einer weiteren schwarzen Kiste und zu noch einer und noch einer - Dutzende dieser schwarzen Kisten befanden sich in dem Gewölbe. Das Lachen versuchte, in ihr Inneres einzudringen, um dort Gehör zu finden, doch die Kisten waren versiegelt und schweren Ketten verschlossen. Für alles und die Ewigkeit, wie es schien.

Das Lachen hielt Ausschau nach einer anderen Möglichkeit, seinem feuchten, dämmrigen Grab zu entrinnen. Es entdeckte eine Tür, doch auch durch die drang kein Hauch, geschweige ein Lachen. Mit letzter Kraft wehte das Lachen zu einer Apparatur, die sich in einer Ecke neben den schwarzen Kisten übermannshoch bis dicht unter die undurchlässige Decke türmte. Das Lachen irrte durch verworrene Kabel und Drähte, stieß sich an Gestängen und Verkleidungen, quetschte sich an wuchtigen Rädern, aber es fand auch in dem Apparat keinen Weg ins Freie. Das Lachen verharrte erschöpft auf einem der zahlreichen, glitschigen Knöpfe, die zum Betrieb des Apparates taugten. Endlich rutschte es auf eines der von Maschinenruß geschwärzten Sichtfenster der vielen Anzeigen, an denen schmutzige Wassertropfen perlten. Es hielt inne über einem schmalen Schriftzug auf dem Sichtfenster einer Armatur. Der Schriftzug, der dem Apparat einen Namen gab: Lichtdieb.

Das Lachen ergab sich in sein Schicksal. Hier gab es keinen Weg hinaus, kein Entrinnen. Es warf einen letzten, hoffnungslosen Blick auf die feuchten Mauern, das trübe elektrische Licht, die dunklen Schatten der schwarzen Kisten, den mächtigen Umriss des Apparates und schließlich auf den Menschen, dem es entkam. Dann verschwand es so schnell, wie es geboren war.


Der Mensch stand, den Rücken zu einem spitzen Buckel gekrümmt, vor einem Haufen von Papieren, den er vor sich in der Mitte des Raumes auf einem Brett ausgebreitet hatte. Das Brett hatte er auf zwei Holzböcke gelegt, sodass es ihm als Arbeitstisch diente. Er studierte die Papiere, wühlte darin, hielt sie sich nah an die Augen, da er in dem kargen Licht kaum die Worte und Skizzen zu erkennen vermochte, die sich eng auf den Blättern drängten.

Zuweilen warf er die Blätter, die er gerade in den Händen hielt, unwillig zu den anderen zurück. Griff gleich darauf nach einigen anderen, denen er sich wieder mit Aufmerksamkeit widmete.

Ganz und gar war er vertieft, studierte jede Zeile, jeden Federstrich, fegte das Papier dann aber doch mit einer wütenden Bewegung von sich und stieß aus sich heraus: “Nein, das ist nicht, was ich suche. Das ist es wirklich nicht.”

Er forschte weiter, und zuweilen entdeckte er, was ihm das Richtige erschien.

“Es ist großartig! Es ist perfekt””, zischte er dann durch die vor Eifer nervös zuckenden Mundwinkel. Er eilte mit den Notizen in den Händen durch den Raum, entlang an den Schatten der schwarzen Kisten hin zu der Apparatur. Seine Augen hetzten über die Papiere, als ob sie sich noch einmal vergewissern wollten. Dann hantierte der Mensch keuchend an den Drähten des Apparates, drückte Knöpfe, bewegte Hebel, prüfte immer wieder mit hastigen Blicken die Anzeigen, deren Zeiger wütend ausschlugen und verglich die Ergebnisse mit den Notizen auf dem Papier, in das sich seine Finger krampften.

Für einen Moment stand er dann regungslos vor dem Apparat und sog hastig Luft in seine Lungen, als sei die Anstrengung zu groß für seinen hageren Körper. Der Kopf pendelte wie bei einem Reptil zwischen den dürren Schultern. Ein Kopf mit hervortretenden, kantigen Wangenknochen und tiefen Augenhöhlen, in denen die von roten Äderchen durchzogenen Augäpfel nervös umhersprangen.

Das Ergebnis schien mehr als einmal im Sinne des Menschen zu sein, denn manchmal riss er die langen Arme in die Höhe. Seine Hände wirbelten die Papiere durch das Gewölbe, fielen herab zu seinen Hüften und warfen die Schöße seines abgetragenen, schwarzen Anzuges weit zurück. Dann fuhren sie wieder hinauf und wühlte sich in die dünnen Haarsträhnen, während die Füße ungeduldig den Boden scharrten,

So stand der Mann für Augenblicke völlig starr.

Dann nestelte er aus den Brusttaschen seines Anzuges eine Taschenuhr, las den Stand der Zeiger. Und stopfte die Uhr in wilder Hast zurück in die Tasche. Er hielt noch einmal einen kurzen Moment inne und keuchte eifernd: “Noch ist Zeit. Es wird gelingen.”

Schon sprang er mit zwei, drei Sätzen zu den verbliebenen Papieren auf dem Schreibtisch, dass ihm die Hosen flatternd um die dünnen Beine schlugen.

Er warf einen kurzen Blick voll von unruhigem Misstrauen auf die schwarzen Kisten, und keinen Augenblick später hallte erneut ein freudloses, schuldiges Lachen durch das Gewölbe.”


***


Abrupt endete Jack an dieser Stelle. William fuchtelte aufgeregt mit den Krücken.

“Jack, der Tag bricht an. Wir kommen noch zu spät zur Morgendämmerung”, rief er aufgeregt.

Jack schaute aufgeschreckt um sich, klappte den Katalog zu und stopfte ihn dem Jungen eilig zurück in den Hosenbund.

In der Tat, die Sonnenstrahlen um sie herum machten sich bereit für den Tagesanbruch. Und war es ein Vorrecht der alten Sonnenstrahlen den Himmel zur Morgendämmerung in ihr blutiges Rot zu tauchen.

Sie hatten zuviel Zeit vertan. Das Ende der Geschichte blieb im Geheimen.

Die Sonnenstrahlenopas mussten los. Sie waren wie ausgewechselt, sprangen umher wie Kinder, waren wie entfesselt. Sie blitzten und sprühten vor Erregung über die bevorstehende Morgendämmerung, dass sie fast Flammen zu schlagen schienen.

“Auf, auf”, riefen sie wie aus einem Munde. “Der Tag bricht an. Und für euch zwei wird es auch langsam Zeit, sonst verpasst ihr euren ersten Sonnenaufgang.”

Die Sonnenstrahlenopas waren zum Aufbruch bereit. William packte seine Krücken, Jack zog die Hutkrempe noch tiefer ins Gesicht.

Gerade wollten sie sich aufmachen, da platzte es aus den Sonnenstrahlenkindern heraus: “Was ist denn nun mit dem Abenteuer?”

Jack wandte sich noch einmal zu den Kindern.

“Genießt euren ersten Sonnenaufgang. Ihr werdet sehen, alles Weitere ergibt sich fast von allein”, sagte Jack. “Nur eines ist wichtig: Ihr müsst wachsam sein! Dann wird alles gut!”

Die Sonnenstrahlenopas waren nicht mehr zu halten. Und ehe die beiden Sonnenstrahlenkinder es sich versahen, waren Jack und William auf und davon.


Da standen die beiden Sonnenstrahlenkinder und schauten ihnen hinterher.

“Das sind zwei Kerle”, sagte der Junge schließlich voller Bewunderung. “So will ich auch mal werden.”

Dann fiel ihm etwas ein: “Lass uns schauen, was der Katalog noch berichtet.”

Er zog noch einmal den Katalog hervor und schlug ihn auf. Eine kurze Weile versuchte er, die Geschichte weiter zu lesen. Aber er verhaspelte sich und geriet ins Stocken. So gab er bald auf. Auch das Mädchen wusste nicht weiter.

“Pah”, machte der Junge schließlich und steckte den Katalog wieder unter sein Hemd. “Wir werden das Geheimnis dieses Gewölbes und des Mannes schon lüften und unser Abenteuer bestehen!”

Er stopfte entschlossen die Hände in die Hosentaschen und warf unternehmungslustig den Kopf in den Nacken.

“Und wir sollten uns Namen ausdenken”, sagte das Sonnenstrahlenmädchen. “Jack sagte, wir hätten noch keine. Glaubst du, das ist etwas wichtiges - so ein Name?”

Der Junge lachte und nahm sie bei der Hand. “Wir kommen schon noch dahinter, hat Jack gesagt! Und jetzt dürfen wir keine Zeit mehr vertrödeln - lass uns die Sonne aufgehen!”


Die Sonnenstrahlenkinder

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