Читать книгу Der gläserne Dichter - Erasmus Schofer - Страница 5

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Er war ein Morgenmensch. Einer, der Sonnenaufgänge liebt, das staubfreie frischgeputzte Licht eines jungen Morgens, der einem ein Lied aus der Kehle lockt und das noch unangefochtne Versprechen enthält auf einen schöpferischen Tag – einer Sanduhr gleich –, gefüllt mit den ungezählten Körnern seiner Möglichkeiten.

Als habe die noch rotglühende Sonne, der unbenutzte, unbeschmutzte Tag ihm Kraft verliehen, spürte er eine zur Tat drängende Energie, setzte sich an den Schreibtisch mit Neugier und Lust, in der festen Absicht, an diesem Tag sein Epochenstück mächtig voranzutreiben.

So befand er sich um acht Uhr in seinem Büro, seinem Arbeitszimmer, umgeben von einigen tausend Büchern, kalt geduscht, mit einem Becher Milch im Magen, Milch mit Honig und einem leicht verdaulichen stärkenden Zusatz, Weizenkeime, Blütenpollen, untergerührt, sehr wohlschmeckend.

Seit er vor Jahren festgestellt hatte, dass ein mit Verdauung belasteter Magen dem Hirn das Körperblut entzieht und Schläfrigkeit bewirkt, hat er das Frühstücken an Arbeitstagen seiner Frau überlassen. Olga braucht eine solide Grundlage für den Tag. Sechs Stunden Schulunterricht. Sein Magen ist daran gewöhnt, sich bis in den Nachmittag, ohne störende Hungergefühle an die übergeordnete Steuerzentrale zu melden, mit Getränken zufriedenzugeben.

Aus der Thermoskanne füllte er seinen Becher nach, Tee, mit Honig und Zitrone verfeinert. Da er den Tee, nur in kleinen Schlucken trank, von Zeit zu Zeit am Becher nippend, musste er ihn auch nach dem Ausschütten aus der Kanne warmhalten. Das geschah auf einem tönernen Stövchen, das allerdings nicht wartungsfrei war, weil der Kerzendocht oft eine zu große Flamme erzeugte, die den Boden des Bechers berußte, so dass der Docht mit der Nagelschere gekappt werden musste, oder aber, nach dem Wiederanzünden, so weit runterbrannte, dass der Dochtstummel mit seiner winzigen Flamme den Tee nicht mehr ausreichend erwärmte. Manchmal verlosch die Flamme vollständig, ertrank in einem Tropfen des verflüssigten Wachses, weshalb er das Kerzentöpfchen aus dem Stövchen ziehen, den flüssigen Brennstoff abgießen, den Dochtstummel mit der Nagelscherenspitze ausgraben musste, ehe er ihn wieder anzünden konnte. Das ausgeschüttete und ausgepuhlte Wachs bewahrte er irgendwo zwischen den Stiften Papieren Büchern und Schachteln auf der Schreibtischplatte auf, um es später in den Topf nachzufüllen, wenn der Docht wieder genügend Brennspielraum gewonnen hatte.

Die üppig vor ihm liegenden Stunden gaben ihm die Gelassenheit, erst noch einmal den Brief des Freundes zu lesen, dem Strauß Wiesenblumen das Wasser zu erneuern, einige herumliegende Zeitungsausschnitte zu überfliegen und wegzuschmeißen, die Kadaver der nachts eingedrungenen Eintagsfliegen mit dem Staubtuch vom Schreibtisch zu wischen, seine beim gestrigen Grübeln ausgerauften grauen Haare einzusammeln und dem Aschenbecher zu übergeben, der schon wieder auf der Couch schlafenden Katze das verklebte Auge auszuwischen und über das verstörend gute, aber ungewöhnlich verworrene Buch des Kollegen C. G. nachzudenken, in dem er am Abend gelesen hatte.

Der unausgeleerte Aschenbecher störte zwar noch auf dem Schreibtisch, stand mit seinen krausen Abfällen der lauteren Kunst irgendwie im Weg, aber er entschied, dieses Hindernis vorläufig zu übersehen. Man kann es allerdings kaum Entscheidung nennen, was da in seinem Kopf ablief – er ließ den Aschenbecher auf sich beruhen, ignorierte seinen unterschwelligen Appell zur Reinigung, so wie er eigentlich fast ständig damit zu tun hatte, die leisen Rufe der ihn umgebenden Dinge nach Säuberung oder besserer Ordnung oder Beseitigung nicht an sein Bewusstsein dringen zu lassen oder sie daraus zu verdrängen. Er war umzingelt von ihnen, sie belästigten ihn wie ein Schwarm sirrender Mücken. Nur die in langen Jahren gewonnene Einsicht, dass die Zahl dieser kunstfeindlichen Herausforderungen gegen unendlich tendiert, ließ ihn täglich neu die Kraft finden, die Arbeitsstörer zu verscheuchen und sich für seine eigentliche Aufgabe zu befreien.

Er beobachtete, wie die beiden Krähen aus der Parkplatane den kreisenden Bussard vertrieben. Die Sonne war höhergerutscht, das zwiefältige Spiel von Licht und Wind mit den Dampfgebilden im Rahmen seines Fensters war ein endloser Film der Wandlungen. Und die Vögel dazu, Tauben Elstern Stare Mauersegler Spatzen Meisen Möwen Enten, luftige Schauspieler. Keine Gardine durfte ihm dies eintrittsfreie AugenTheater rauben.

Plötzlich merkte er, dass das Tickgeräusch der Wanduhr sich verändert hatte. Er konnte nicht definieren, ob sie langsamer oder leiser tickte, wusste aber, dass er sie aufziehen musste, um ihr Stehenbleiben zu verhindern. Das war unabweisbar. Also nahm er den altmodischen Schlüssel aus dem Uhrenkasten und drehte ihn mehrfach auf dem Bolzen, der aus dem Zifferblatt ragte. Das leise mechanische Rattern des Uhrwerks beim Spannen der Feder befriedigte ihn. In der Uhr war alles in Ordnung, sie funktionierte hervorragend. Da bemerkte er das Pochen seines Herzens. Ein Angstschatten huschte durch seine Brust. Dieser Maschine durfte er nicht mehr selbstverständlich sicher sein. Die Uhr war älter als er, unsterblich vielleicht, bei entsprechender Wartung. Er nicht. Mehr als ein halbes Jahrhundert auf der Welt hieß: Er hat den Höhepunkt seines Lebens überschritten. Der Weg ist abschüssig. Er muss sich beeilen.

Da der Tee fast ausgetrunken war, beschloss er, doch erst in der Küche seinen Kaffeevorrat zu kochen, um sich später nicht mehr beim Schreiben unterbrechen zu müssen. Als er zurückkam, lag die Katze eingerollt in dem Sonnenfleck auf seinem Manuskript, heftig schnurrend. Er brachte es nicht fertig, sie zu vertreiben. Ihr warmes Fell streichelnd beantwortete er den Anruf des Rundfunkredakteurs, der ihn an den Ablieferungstermin für die verabredete Buchbesprechung erinnerte. Lieber sofort, um den Kopf von dieser Sache frei zu haben, erledigte er die Anrufe bei zwei Redakteuren andrer Sender, denen er die gleiche Rezension angeboten hatte. Die Sekretärin des einen, der verreist war, wusste allerdings von nichts, der andre befand sich in einer Besprechung. Die Sekretärin empfahl einen neuen Versuch in einer Stunde, wollte ihrem Chef aber schon mal eine Notiz hinlegen.

Als es an der Wohnungstür klingelte, fragte er durch das Haustelefon nach dem Urheber des Klingelns und sagte dem Austräger, niemand im Haus brauche Werbung. Der Katze erklärte er, dass trotz aller Liebe nun aber Schluss mit lustig sei, trug sie zur Couch auf ihr Kissen, holte sich den Packen beschriebener Manuskriptblätter lesegerecht vor den Bauch, schob die Blätter auf Kante und nahm den Bleistift in die Hand. Er stellte fest, dass die Mine im Druckbleistift zurückrutschte, also zu kurz geworden war. Auch das Reservoir im Stift war leer, er musste Ersatzminen nachfüllen. Das erneute Klingeln bedeutete den Briefträger. Er öffnete ihm mit der Fernbedienung, aber versagte sich den Gang hinunter zu den Briefkästen, beschwichtigte die aufkeimende Neugier mit der Erfahrung, dass neunzig Prozent seiner Posteingänge Spendenbitten oder Investitionsangebote mit tollen Renditen waren: Containerschiffe Solaranlagen Goldmünzen. Als häuften sich bei ihm die Büchner- Böll- und DöblinPreise.

Er erneuerte noch die Heizkerze im Kaffeewärmer, füllte seinen Becher in der Küche, ein Schuss Sahne dazu, rührte um, schlürfte am Schreibtisch sitzend einen Schluck der vertrauten Gaumenfreude, zündete sich eine Zigarre an, beobachtete die von der Hitze des Getränks angetriebene Faltenbildung auf der Sahnehaut, das Formenspiel der Milchfettmoleküle unter der Leitung jener chaotischen Intelligenz, die ihn auch faszinierte beim Anblick wabernder Wolkenherden, schäumender Meeresbrandung, auch bei den Rauchschlieren aus seiner Havanna, den Wasserläufen und Bergfaltungen aus der Flugperspektive – wo denn noch? wo denn nicht? Die Maserung der Schreibtischplatte und das sich ins immer Feinere verkriechende Faltennetz seiner Handhaut, die irren Schwirrbewegungen der Eintagsfliegen vorm Fenster – wunderbar und zugleich seine Ordnungswünsche mit ihrer Unberechenbarkeit irritierend. Sind das überall und endemisch die gesetzlosen wilden Zustände, die auch in seinem Kopf toben, die ihre Herrschaft aufrecht erhalten, den anmutig geschwungnen Brückenbögen, den kühnen gotischen Kirchtürmen, der harmonisch in seiner Hand liegenden Bleistiftrundung zum Trotz? Findet sich Schönheit in jenem Grenzbereich, wo chaotische Zustände zusammentreffen mit den regelmäßigen Formen, die menschlicher Geist ihnen entgegenstemmt, um nicht im Chaos zu versinken? Aber doch entwickelt Natur auch noch im wildesten Gewimmel Harmonien – planetarische Systeme im Weltall, Schneesterne Blüten Drusenkristalle, Symmetrien im Makrokosmos wie in den nur im Elektronenmikroskop sichtbaren Mikrostrukturen ihrer Elemente und Kleinstlebewesen, die also offenbar auch vorhanden sind, unabhängig davon, ob eine menschliche Intelligenz sie wahrnimmt. Welch übergeordneter Geist ist da längst vor unsrer Entstehung am Werk gewesen?

Er sah auf der Wanduhr, dass zwei weitere Stunden seines irdischen Daseins ohne sichtbares Ergebnis verflossen waren. Wohin? In den großen Topf, der die Lebensstunden sammelt und zur Spurlosigkeit, zur bleichen Entropie verkocht.

Störend und ärgerlich war die Selbsttätigkeit dieses Hirns – Sinnloses, Unnützes schleppte es mit, pumpte es urplötzlich hoch in die Gegenwärtigkeit wie das Oh du wunderschöner deutscher Rhein, das ein paar Besoffne vorgestern im Park bierselig gegröhlt hatten – auf der Lauer schien dieser Klangfetzen in seinem Gedächtnis zu liegen, um bei der leisesten Berührung, ja durch was? einen Ton, ein Wort, aus dem Unterholz seiner Ganglien steil hervorzuspringen und seine vernünftigen Gedanken zu verschlingen.

Unheimlich war ihm die Autonomie dieser Einrichtung seines Körpers, die ihm zu Diensten war oder nicht, ganz nach einem Belieben, welches die Kommandogewalt seines Ich in beschämender Weise relativierte.

Vollends ins Rätselhafte hatte ihn der Bericht einer Freundin gestoßen, die bei einem Autounfall knapp und wunderbar dem Tod entronnen war, aber in den Augenblicken vor diesem anscheinend unausweichlichen Ende in einer irgendwie überirdischen Präsenz ihres ganzen gelebten Lebens mit einem Rausch leuchtender Bilder beschert worden war. Gelegentlich hatte er schon von diesem Phänomen plötzlicher Allgegenwart einer jahrzehntelangen Vergangenheit gelesen, aber dieses existenzielle Abenteuer der Freundin hatte ihm das Gefühl eingeschärft, mit seinem Ich, seiner Person, in einem weltraumähnlichen Kopf herumzuschwirren, von dessen Inhalt und Konstruktion er nicht mehr wusste als die heutige Menschheit von ihrer galaktischen Heimat. Vielleicht hatte der mystisch bewanderte Rationalist Borges sich bei der Erfindung seines Aleph von solchen Erfahrungen inspirieren lassen – alle Realitäten der Welt gleichzeitig sichtbar in einem magischen Auge!

Er klopfte die Asche von seiner Zigarre, entzündete sie neu mit dem Feuerzeug. Weshalb das erst beim fünften Mal aufflammte, war auch nicht klar. Wahrscheinlich der Gasdruck zu gering. Er schrieb auf einen Zettel, wo schon Katzenstreu und MILKA gekritzelt stand: Gas!

Als ihm der Rauch in die Nase kitzelte, musste er niesen, mehrfach, ein Anfall, bis er mit Hilfe des Taschentuchs die gereizten Schleimhäute freischnauben konnte, was einen kleinen spitzen Schmerz auf dem rechten Nasenflügel auslöste. Der Zeigefinger erspürte eine unbekannte Erhebung auf der Haut. Er holte den doppelseitigen Rasierspiegel aus der Kramschublade des Schreibtischs und entlarvte darin die Erhebung als gerötete, leicht entzündete Talgpore, noch ohne gelben Kopf. Er versuchte, mit dem Nagel des kleinen Fingers den Porenverschluss abzuheben, was misslang. Trotz der erkennbaren Unreife des Pickels und seiner ungünstigen Lage am Übergang des Nasenflügels in die Wange, setzte er nun die zwei Zeigefingernägel dicht neben den Mitesser und drückte und spannte in der Hoffnung, dass der winzige unsichtbare Talgpfropf herausspritze und die Pore freigebe. Vergeblich. Eigentlich hatte er mit diesem Ergebnis schon gerechnet. Er hätte der Entzündung nur noch einige Stunden zur Reifung geben müssen. Durch das Drücken leuchtete die Nase tiefrot. Die Entzündung würde sich nun verschlimmern und länger dauern. Aus den umliegenden Poren waren beim Drücken weißliche Talgwürmer gequollen, was ihn, wie nach einer üppigen Ernte, mit Befriedigung erfüllte. Er wischte sie ins Taschentuch. Im Vergrößerungsspiegel sah er deutlich: Weitere Poren der Nasen- und Wangenhaut waren mit schwärzlichen Punkten versehen und warteten auf ein Ausdrücken dieser Verschlüsse. Er machte sich nun daran, ein halbes Dutzend kleinerer und größerer Würmer zu ernten und hatte das Gefühl, seine Haut von Parasiten zu befreien. Einige allerdings saßen fest, widersetzten sich, würden nun wahrscheinlich erst mit Hilfe einer durch den Quetschreiz verursachten Entzündung herauseitern. Er wunderte sich über die Länge mancher der sich windenden Talgsäulchen, die eilig aus den Poren hervorkrochen, wenn einmal der verhärtete Pfropfen gelöst war. Ihm fiel die Information des Hautarztes ein, dass der Talgdrüsenbeutel seinen Inhalt wie durch eine Düse auf den Druck hin nach außen freigebe, und er erinnerte sich an die Stofftüte, aus deren abgeschnittner Spitze die Bäckerin vor der Erfindung der Spraydosen eine Schlagsahnewurst auf seinen Pflaumenkuchen gedrückt hatte. Unklar blieb allerdings, weshalb die Haut überhaupt Fett in derart überschüssigen Mengen produzierte und in Beuteln ablagerte, ausgerechnet unübersehbar im Gesicht statt zum Beispiel am Bauch, wo sich ohnehin mehr Fett als erwünscht sammelte, aber doch besser versteckt und gleichmäßig verteilt.

Er holte sich den Brockhaus GRI–JAR aus dem Regal. Beim Suchen nach HAU blieb er am Wadi Hadramaut hängen, das im Altertum als Land des Weihrauchs bekannt war und seit 1967 zur Volksrepublik Jemen gehörte. Ob es die inzwischen noch gab, war ihm unklar. Die Häher und Haie konnte er überschlagen und erhielt die beruhigende Auskunft, dass die gefürchtete Hakenwurmkrankheit, über die er hier zum erstenmal informiert wurde, heute durch Pyrantel wirksam bekämpft werden kann.

Dann allerdings sah ihn der Kollege P. H. herausfordernd von der Bildleiste des Lexikons an, mit Sonnenbrille und charakteristischerweise direkt unter der Zeichnung einer Handgranate.

Der Artikel über Haut, lat. Cutis, grch. Derma, war viel zu ausführlich – da hatte offenbar ein Dermatologe seinen Lebensinhalt in Brockhaus‘ allgemeinverbindliches Konversationslexikon zu drängen versucht, um ihn von der Arbeit abzuhalten. Beim Überfliegen fand er die Talgdrüsen. Sie sollten wie Haarfollikel und Schweißdrüsen zu den Hautanhangsgebilden gehören, was ihm überhaupt nichts sagte. In der Querschnittszeichnung gab es zwar unter 13 einen Schweißdrüsenausführungsgang und unter 8 eine Haarzwiebel zu sehn, eine Talgdrüse aber war nicht eingezeichnet. Obwohl die Redaktion 1979 nichts Eiligeres zu tun gehabt hatte, als dem damals noch völlig unreifen Bürgerschreck P. H. einen Artikel mit Foto zu widmen. Nur weil der die Chuzpe gehabt hatte, sein Publikum zu beschimpfen statt ihm gefallen zu wollen.

Er klappte den Band zu, ohne weiter die Untergründe der Menschenhaut zu studieren, zündete die Zigarre wieder an und stellte fest, dass er gestern nur sechseinhalb Zeilen zu Papier gebracht hatte. Beschämend. Eine vage Scheu hielt ihn davon ab, das Geschriebene kritisch zu untersuchen. Die frisch eingeflognen Mauersegler schrien wirklich aufdringlich schrill, wenn der Schwarm wieder und wieder wie eine Horde freigelassner Schulkinder vor seinem Fenster vorbeitobte. Er schenkte sich das letzte Stück Milchschokolade aus der Kramschublade und putzte den Fingerfleck vom linken Brillenglas.

Dann begann er zu lesen. Er ging eine Seite zurück und wurde gleich festgehalten von einer ärgerlichen stilistischen Doublette, die er gestern nicht bemerkt hatte. Er reparierte die beiden Sätze mit Hilfe des Deutschen Wortschatzes nach Sachgruppen, da ihm selbst keine passende Alternative einfiel. Weiterlesend stieß er auf einen viel zu langen, unübersichtlichen, ihm zuerst sogar unverständlichen Satz. Erst allmählich vergegenwärtigte sich ihm das Gemeinte, so dass er versuchen konnte, eine klarere Formulierung zu finden. Er wunderte sich, dass ihm auch diese misslungene Stelle gestern nicht anstößig erschienen war. Offenbar wirklich ein mieser Tag. Oder er hatte da noch nicht den Abstand zum Text, den die später geschriebenen Zeilen für ihn jetzt hergestellt hatten. Die jedenfalls schienen ihm passabel. Nur fand er den schon gedachten Anschluss nicht wieder, den er im Kopf gehabt hatte, als überraschend der bayrische Kollege anrief, zornbebend, weil G. V. eben zum drittenmal den Literaturschatz bekommen hatte, vierundzwanzigtausend Mark, während ihnen beiden dieses begehrte Jahresstipendium zum dritten bzw. viertenmal abgelehnt worden war mit einem vorgedruckten Schreiben! Obwohl sie jedes Jahr ihren Stolz niedergekämpft und ein völlig neues Projekt eingereicht hatten. Sie waren sich einig in ihrer Empörung über die offensichtliche Benachteiligung ihrer Arbeit durch die öffentlichkeitshörige Jury und auch über die Statuten des Schatzes, die es erlaubten, einzelne Autoren so unverhältnismäßig oft mit Fördermitteln zu überschütten, weil es angeblich nur nach der Qualität der eingereichten Projekte ging. Wäre dies tatsächlich das maßgebliche Kriterium, hätten die Großverdiener G. G. oder H. M. E. jedes Jahr den Schatz erhalten müssen, wenn sie die Unverschämtheit besäßen, ihn mit einem eignen Projekt zu beantragen, denn offenbar war ja alles, was sie produzierten, preiswürdig und erreichte, zumindest kurzfristig, den Zenit der literarischen Werteskala.

Er würde den Unsinn dieser Verschleuderung von Steuergeldern öffentlich anprangern, im Interesse der vielen Kollegen mit gleichen Erfahrungen. Kein Mangel an Bissigkeiten von schneidender Schärfe, die Praxis der schatzhütenden Drachen in der Luft zu zerfetzen. Da aber seine Anträge so kaltschnäuzig abgebügelt worden waren, geriete er natürlich in den Geruch des mäkelnden Zukurzgekommenen, ganz davon abgesehen, dass er dann bei den selbstgefälligen Juroren endgültig verspielt hätte. Der bayrische Freund riet ihm nachdrücklich von einem solchen Husarenritt ab.

Er hatte errechnet, dass dieser Günstling G. V. allein durch den dreifachen Litschatz einen Marktvorteil von rund siebzigtausend Mark ihnen gegenüber erhielt, ganz zu schweigen von den andern Preisen, die er offenbar magnetisch oder magisch anzog. Kein Wunder, dass der jedes Jahr ein Buch rausbringen konnte. Wenn die Bücher wenigstens erkennbar überragend gewesen wären. Der bayrische Kollege kennzeichnete sie treffend als Schmarrn.

Während des Telefonats konnte er keine Stichworte über den schon angedachten Fortgang des Textes notieren, so heftig hatte ihn der Groll über diese Benachteiligung, über sein Schicksal im Schatten der großen Gelegenheiten überfallen, und so ätzend füllten die Bilder der scheinheiligen Preisverleihungen, zu denen er manchmal als lebendes Dekorationsstück geladen worden war, nun wieder seinen Kopf, da er den verlorenen Anschluss suchte.

Er musste den vertrackten Denkzwang, gegen den er aus eigner Kraft nicht ankam, erst neutralisieren, indem er den Mülleimer auf den Hof trug und den Briefkasten leerte. Die Körperbewegung schaffte die Säuberung. Da die Post tatsächlich nur aus Werbedrucksachen und spendenheischenden Mitteilungen karitativer Organisationen zu bestehen schien, war sie kein Anlass zu weiterer Irritation. Der Morgen war allerdings nun bereits stark verbraucht, wie er mit einem Anflug von Panik feststellte.

Er zog einen frischen Zahnstocher aus der Schachtel, prüfte alle Zahnlücken durch, nichts zu finden, biss auf der hölzernen Spitze herum, kaute sie zu einem fasrigen Holzbrei. Es wurde notwendig, die feinen Splitter, die sich störend zwischen Kronenränder und Zahnfleisch geschoben hatten, mit der Zunge zusammenzusuchen, um sie auf die Lippen befördern und mit der Fingerspitze absammeln zu können. Er zerbiss den halben Zahnstocher, schnippte den Rest in den Aschenbecher zu den Splittern.

Halb eins. Zwei Zahnstocher zerbissen, eine Zigarre verraucht und drei Zeilen Worte repariert. In vier Stunden. Vor dem Fenster reife Frühlingssonne. Die Blätter an den Parkbäumen schimmerten hell in den unterschiedlichen Grüntönen ihrer Jugend, eben aufgebrochen, erste Tage ihres Lebens. Der erstaunlichste, der zarteste und mutigste Monat des Jahres.

Der blieb auch nicht. Nichts war festzuhalten. Ein Schluck Wein, der über die Zunge rann. Abschiedstrauer zunehmend in den jährlichen Aufbrüchen der Natur, verschattete Freude, melancholieverwandte Frühlingsfarben. Für Wörter die lebendige Schönheit verpasst. Wie oft das brausende Leben versäumt, wegen einer selbstverordneten Schöpfungspflicht! Wie viele Jahre! Aber was ist das wirkliche Leben? Das draußen? Oder der schwangere formsuchende Brei im Kopf, der zu einer Kunst drängt, auf die keiner wartet? Lieber doch teilnehmen an den geschenkten Festgaben der Sonne –

Er packte seine Blätter Bleistift Radiergummi zusammen, verlagerte seinen Arbeitsplatz auf den Balkon. Ergeben ließ er die Wohltat die Wärme in die Haut sickern, nichts war ihm jetzt gleichgültiger als das Ozonloch. Seine Tagesaufgabe verblasste im Sonnenbad, er sicherte den Blätterstapel trotz Windstille mit der Tasse, legte den Stift aus der Hand. Je eindringlicher er die Hitze in seinem Körper spürte, je mehr Kleidungsstücke zog er aus. Bis er nackt platt auf der Sisalmatte lag, die Augen geschlossen, das Funkengestöber der Sonne hinter den Lidern und Empfindungen frommer Dankbarkeit, alle Krämpfe lösende Entspannung, die sein Hirn leerwischte von Gedanken, sie verwandelte in Bilder und Farben, fließende Übergänge ohne Abgrenzungen. Der Körper füllte sich mit einem dumpfen Wohlgefühl und die Schwerkraft zog in den Boden, wie um diesen noch zusammengehaltenen Leib zu schmelzen, zu erlösen – so könnte Sterben sein, so warm, so gewaltlos: ein Rücksinken in die Herkunft – wie damals, unvergessliche Erinnerung, bei seinem Vater, der sich ins Bett gelegt hat mit der Absicht zu sterben, fünfundachtzig Jahre gelebt und gesund, nur müde unersättlich müde, die Mutter hat den Wunsch angenommen, seine ausgedörrte Hand in ihre, er hat die Augen geschlossen nicht gegessen getrunken drei Tage lang auf dem Weg hinüber, dann hielt das Herz an, verstummte unmerklich, so was wäre gut, der Übergang ins Nirwana leidlos ohne Grenze.

Im Schlaf könnte der Tod wohl schmerzfrei geschehn. Unversehens. Beiläufig. Ohne zerreißenden Abschied.

Der Schlaf! Der Tröster. Der Erlöser, oft freundlich vertraut. Aber raubt ihn auch unwillkommen aus seinen Weltwanderungen am Schreibtisch, aus den suchenden Oszillationen der Neuronen in seinen Hirnfeldern, da er sie zu formen versucht, festzuschreiben in verständlichen und sinnvollen Sätzen.

Der die Schallmauer durchbrechende Düsenjäger schreckte ihn auf, benommen taumelte er hoch, warf sich im Bad kaltes Wasser ins Gesicht. Zurück zum Schreibtisch mit dem Manuskript, vollgesogen, entspannt. Energiegeladen. Er las erneut die letzte Zeile des Textes. Dabei schnappte die vorgedachte Weiterführung zurück in sein Wachbewusstsein, lag wie durchs Fenster geflogen zum Greifen vor ihm. Nur noch hinzuschreiben brauchte er sie. Auszuformulieren und hinzuschreiben, genauer gesagt. Die Gegenwart des Gedankens im Bewusstsein bedeutete nicht, dass er schon in Worte gefasst war. Die Wortlosigkeit enthielt den Gedanken wie eine elektrisch geladene Wolke den Blitz – er musste ihn erst auslösen durch den Prozess des Gestaltens, wobei das amorphe Gebilde sich meist als glitschig erwies und jeden Augenblick zurückflutschen konnte in sein unscharfes latentes Dasein, während er noch die Formulierung abprüfte und verglich mit einer zweiten einer dritten, die womöglich den Embryo haltbarer, angemessener entwickelte, aber auch die Gefahr mit sich brachte, ihn in eine abdriftende, ins Falsche führende Gestalt zu drängen – (was alles zu geschehen hatte, ehe die Hand mit hingeschriebenen Worten eine Feststellung verursachte). Also musste er in seinem Denkapparat mehrere ähnliche Fassungen des Gedankens gegenwärtig halten, teilweise miteinander verknüpfen oder austauschen, bis er wirklich die Niederschrift wagen konnte. Schwarz auf Weiß, im Licht des Tages, erschien der Gedanke erst wirklich und konnte distanzierter betrachtet werden, weil er nun zumindest gegen das Verrutschen halbwegs gesichert war. Er verhärtete schnell, indem die andern möglichen Ausprägungen ins Schemenhafte zurückglitten, zumal er eine Neigung in sich trug, von sich weg nach vorn in den nächsten Gedanken zu drängen. Er musste aber doch noch weiter geschmeidig gehalten werden, um seiner bestmöglichen Wortgebung willen, die mit dem hinschreibenden Verankern oft noch nicht erreicht war und sich aus der Mikroskopie des Satzes auch nicht unbedingt erkennen ließ, sondern sich erst aus den folgenden Sätzen und vielleicht dem Umfeld einer ganzen Seite ergab.

Überraschungen waren immer möglich. Eine SatzSuite konnte glänzender, genauer scheinen als die ursprünglich anvisierten Gedanken. Dann musste er sich erst daran gewöhnen, sie als seine eigne zu betrachten. So konnten unvermutet, unverlangt auftauchende Wörter zum Jungbrunnen eines Gedankens werden, den er eigentlich als abgenutzt und ausgeleiert schon hatte zurückweisen wollen. Manche Wörterfolgen, die offenbar in solcher Schönheit oder Überzeugungskraft noch nie zuvor auf Papier gestanden hatten, luden ihn ein, seine Seele in ihnen zu baden. Oder er lernte aus ihnen. Manchmal war er sicher, dass der eigentlich gemeinte Gedanke nicht richtig in den gefundenen Worten des Satzes erschien, aber er konnte ihn nicht genauer fassen, wie er sich so irgendwo listig verbarg und ihn herausforderte – aufblitzte – abtauchte. Fatales verrätseltes Spiel.

Die stärkste Energieentfaltung war am Anfang nötig, um jene Spannung zu erzeugen, jenes Potential, das die innere Richtung auf den ungefestigten Gedanken ermöglichte, das erlaubte, ihn lange genug im Visier, in der Absicht zu halten, um ihn zu treffen. Deutlichstes Zeichen, dass diese Anstrengung auf einem materiellen, chemoelektrischen Vorgang beruhte, war die – völlig sinnlose – Erzeugung von Schweiß in den Drüsen seiner Achseln, die mit dem Denkprozess in Gang kam, als wäre er dabei, Holz zu hacken oder einen Berg zu ersteigen. Noch törichter der Schwitzort – dachte einer denn mit dem Oberkörper? Warum erschienen die Salztränen nicht am Ort der tatsächlichen Plackerei – auf der Stirn? Wie üppig seine Kopfhaut schwitzen konnte, erlebte er bei jedem Saunagang, aber am Schreibtisch weigerte sie sich, ein sichtbares Zeugnis abzulegen von der Anspannung, in die er sich getrieben hatte.

Die Nässe in den Achseln mit dem charakteristischen herben Geruch war unangenehm, sobald sie ihm in Tropfen am Körper herabrann oder in den Hemdstoff einzog, der dann feuchtkühl unter den Armen zu spüren war. Er legte Stofftaschentücher oder aus Restaurants mitgebrachte flauschige Papierservietten über die Ansatznähte der Ärmel. Verblüffend, wie schnell – obwohl er sich kaum bewegte – die so fixierten Tücher vom nützlichen Ort in die Ärmel oder auf seinen Bauch rutschten. Manchmal, wenn er sie vergessen hatte, fielen sie in der Toilette durch das Öffnen der Hose als feuchte Knäuel auf den Boden, ohne dass er es bemerkte. Wenn seine Frau sie später fand, legte sie sie – vermutlich mit den Fingerspitzen – aufs Waschbecken, um zu zeigen, dass sie nicht für die Beseitigung seiner Abfälle zuständig war. Hatte er mehrere Tücher zur Verfügung, wechselte er sie öfter, hängte die durchfeuchteten zum Trocknen über die Schreibtischlampe oder eine Stuhllehne, obwohl er den Anblick unästhetisch fand.

Manchmal schnupperte er an den getrockneten Tüchern das Schweißparfüm, das milder roch als die schon in Zersetzung übergegangenen Flüssigkeitsspuren, die er mit dem Handrücken aus den Achselhöhlen wischte. Mit einer aus Lust und Widerwillen gemischten Empfindung sog er den stechend säuerlichen Geruch ein, rechtfertigte mit dem klassischen faulen Apfel in Schillers Schreibtischschublade, dass er ihn liebte als Arbeitsaroma, lehnte ihn jedoch als atavistische, unkontrollierbare Machenschaft seiner Drüsen ab.

Mit zunehmender Erschöpfung seiner morgendlichen Energien wurde es schwieriger, den erforderlichen Kraftaufwand zu leisten, ihm entglitt die Absicht und damit die Möglichkeit, die im Hirndickicht gesuchten Gedanken in ihr wörtliches Hiersein zu ziehen. Das Chaos, das unaufhörlich in seinen Mikrostrukturen wispert, drängte herauf, schwappte in sein angestrengtes Bewusstsein. Eine unbestimmte Scheu vor der notwendigen Gegenanstrengung bewirkte – wie schon am Morgen bei der ersten Annäherung an den vortägigen Text –, dass er ihr auswich, sein Wille sich verflüchtigte. Es bestand auch deutlich ein Gefälle, ein Sog, hin zu dem alltäglich genutzten, schnell verfügbaren Sprachschrott – die sich selbst aufziehende Spieluhr des Hirns, verkratzte Schallplatte, sinnlose spukhafte Satzfetzen, unkontrollierbar, über denen ihm die Augen zusanken, Traumzirren seinen Denkapparat überzogen, sich verdichteten zu wässrigen strukturlosen Nebelschichten am Ufer eines wabernden mulmigen FastSchlafs.

Mit einem Rest Pflichtbewusstsein beobachtete er, wie heile, ineinandergreifende Sätze bruchlos hinübertrieben in sinnlos-fantastische, über die er lachen konnte, wenn ihm die Rückkehr in die Wachlogik gelang. Eine Art Slalom oder besser: das Auf und Ab eines spielerisch schwimmenden, aus dem Wasser springenden und zurückfallenden Delfins, nur eben mühsam, ein Kampf gegen die bleierne Gravitation des Schlafs, aus dem aber ein Schreck, ein Telefonklingeln vielleicht, eine Anfrage der von der Schule zurückgekehrten Frau aus der Küche, ihn befreien konnte.

Oder er legte sich rücklings auf die Couch, bedeckte die Augen mit einem Unterarm, und noch während er die Entspannung weich in den Rücken strömen fühlte, schlief er weg. Er sank einfach widerstandslos in ein flauschiges schwarzes Loch. Und noch plötzlicher, ebenso schwellenlos, geschah der Rücksprung ins Wache. Er öffnete ohne Anstrengung die Augen, lag einen Moment in der klaren, gedankenlosen Empfindung von Befreiung und Frische im vogelleichten wie durchsichtigen Körper, erhob sich mühelos und kehrte zum Schreibtisch zurück. Fünf, vielleicht zehn Minuten waren vergangen, zeigte die Uhr. In das Gefühl der Erneuerung mischte sich die Genugtuung über das Gelingen des Kurzschlafs. Doppelgesichtiger Schattenwerfer Schlaf – balsamischer Verführer, lebenfressender Räuber.

Da, an diesem unvorhersehbaren, unbestimmbaren Punkt: der Musenkuss, der Umschlag der flüchtenden Assoziationen in eine scharf umrissne, helle Konzentration, in der eine halbe Seite Sätze sich schreiben ließ innerhalb einer wirklichen Zeitstunde – die wie ein gestaltloser Rausch des Überfließens war, nicht vergleichbar dem befreiten, aus einem brechenden Damm hervorschießenden Wasser, sondern dem Überströmen eines bis über den Rand sich füllenden Staubeckens. Zeitfreie Momente – da konnte er unter den von seinem Hirn ausgeschenkten Gedanken Beschreibungen Bilderfolgen sich vorstellen, dass fließendes Wasser glücklich sei und vollendet in seiner Bewegung. Augenblicke wie das Auffinden einer Goldader, die den Sucher für seine verzweifelte Mühsal in der Wildnis entschädigt.

Passte er nicht den richtigen Erschöpfungspunkt für den Quickschlaf ab, war das Warten auf die Erlösung langwierig und quälend, Beute jedes akustischen Störangriffs. Entnervt verstopfte er sich die Ohren mit Pfropfen von Wachswatte, aber war nun dem plötzlich aufdringlichen Pfeifton seines Innenohrs und dem aufsässigen Klopfen seiner Herzschläge ausgeliefert. Der willentlich herbeigezerrte Dämmerzustand blieb flach, voller Gedankenspülicht. Fruchtloses Warten, das er schließlich verbittert abbrach. Alt und ausgelaugt schleppte er sich zum Kampftisch zurück, die Müdigkeit wie Rheuma vom Rückgrat ausstrahlend.

Die Wut über die ergebnislos verbrauchte Morgenzeit wurde dann zu einem nicht fassbaren, aber körperlich fühlbaren Angstdruck (in der Magengrube, vielleicht vom Sonnengeflecht, vom Herzen ausstrahlend), der überging in Panikgefühle, wenn die Uhrzeiger, die Sonne, über Mittag vorgerückt waren und das Blatt auf der Schreibtischplatte gefüllt mit weißen, unsichtbaren Gedanken, die ihn, Aufdeckung heischend, anfeixten aus ihrer Verborgenheit.

Manchmal erstreckten sich seine Versuche, in den verlassenen Text zurückzukehren, bis in den Nachmittag, ohne dass er mehr als Verbesserungen am bereits Geschriebenen zuwege gebracht hätte. Dann gewannen Überlegungen an Verdrängungsgewalt, die das Epochenstück, an dem er arbeitete, insgesamt für verfehlt, für undurchführbar, für überzogen erklärten und die Zeit für vertan, die er daran setzte. Er erlaubte diesen Argwohn nicht als formulierten Verdacht – es war mehr eine trübe Anwandlung, die in seine Gedankengänge einsickerte, sie einfärbte, ohne wörtlich zu werden. In diesem Stadium der Zersetzung seiner Tagesenergie hatte er kaum noch eine Chance, mit den Kraftresten neue Sätze zu erdenken. Er ließ irgendwann auch ohne von außen gelieferten Vorwand von dem Versuch ab, wandte sich bürokratischen oder handwerklichen Tätigkeiten von einfacher Nützlichkeit zu, Redaktionsbriefe schreiben, das am Abend benutzte Geschirr spülen, die über Nacht nachgewachsenen Läuse von den Hibiskusknospen kratzen, den Flurläufer staubsaugen – je eindringlicher seine Frau diese häuslichen Beihilfen angemahnt hatte, je besser waren sie geeignet, seine Verstörung in den Untergrund zu drücken.

Eine andre Gattung selbstgeschaffner Störgeister waren Gedanken, die er an einem eigentlich produktiven Tag in Erwägungen driften ließ, wie er seine eben im Entstehen begriffene Arbeit verwerten wollte. Er wusste unbeirrbar, dass er sie nicht schrieb, um sie zu verkaufen, aber keiner zahlte ihm einen Ehrensold wie die Schweden ihren Dichtern. Folglich musste er seine gelegten Eier versilbern. Oder eher verhökern. Das traf zwar weniger auf das Epochenstück zu, da seine Verwendung wirklich und unmissverständlich in unabsehbarer Ferne lag. Aber selbst hier tauchten Überlegungen auf, wie sich schon geschriebene Teile des Dramas unter möglichst geringem Arbeitsaufwand in Hörspiele verwandeln oder vielleicht in Zeitschriften abdrucken ließen. Erst recht bei kurzen, überschaubaren Werken – er führte fantasievolle Angebots- und Verkaufsverhandlungen, entwarf Briefformulierungen und Telefongespräche mit Redakteuren, wenn er eben einige Seiten zu Papier gebracht hatte und ihn jene verhängnisvoll unkritische, fast narkotische Zufriedenheit mit der eignen Erfindung überschwemmte.

Unkorrekt allerdings wäre zu sagen: Er überlegte diese Möglichkeiten. Genauer ist: Es überlegte ihn (oder sich), Es ergriff seine Gedanken mit einer strudelnden Gewalt, riss sie in einen Sog, aus dem kein Entrinnen war. Ein Zersetzungsvorgang, den er sich manchmal als noch unentdeckte Bazille vorstellte, eine plötzlich – durch einen infektiösen Gedanken – freigesetzte zerstörerische Bakterie, die durch explosionsartige Vermehrung den Zerfall seiner Schreibfähigkeit auslöste. Da jedoch der Vorgang, so unwiderstehlich er sich von selbst zu entzünden und zu beschleunigen schien, in seinem Hirn geschah, in dem er die Kommandogewalt zu haben beanspruchte, waren auch diese Schadensfälle mit seelischen Verstimmungen verbunden, die sich als Schuld- und Versagensgefühle äußerten, kaum gemildert durch Wut oder, je nach der Tagesform, Resignation. Auch seine Potenz wurde von diesem Gift hinterhältig lahmgelegt, bei schweren Infekten womöglich bis zur nächsten Honorarzahlung.

Er war störanfällig, lebenslang der uneingefahrne Motor, stotternd, verunsichert bei jeder Temperaturschwankung, mimosisch reagierend auf die leiseste atmosphärische Erschütterung – das nichtgeordnete Bett im Schlafzimmer, eine eigentlich unhörbar in der Wohnung anwesende Person, die jeden Augenblick eintreten könnte, das unablässige Zwirbeln eines SchnurrbartZipfels drei Tische weiter in der Bibliothek, die herumsumsende, gegen die Fensterscheibe knallende Störfliege, das immer neu einsetzende und wieder ausgeschaltete Heulen des Laubgebläses im Park, dreimal zehnmal hundert – ach! ungezählt und unzählbar die Anschläge der Nervensäger auf seine Konzentration! Hochgerüstet sind die menschlichen, die technischen und natürlichen Attentäter mit optischen akustischen bakteriologischen psychischen Waffen und im rollenden Einsatz von morgens bis Mitternacht!

Nie erfuhr er, niemand konnte ihm zuverlässig Auskunft geben, ob mangelnde intellektuelle Disziplin oder eine vertrackte MissSchaltung seiner Hirnzellen die Ursache seiner Denkschwäche, seiner fatalen Ablenkbarkeit war. Sein KlageTagebuch, wenn er denn einmal die Eintragungen früherer Jahre nachlas, hielt ihm die gleichen lähmenden Beschwerden als ständige Lebensbegleiter vor Augen: Hatte ihm in der Jugend der unerbittliche Lehrer gefehlt, der die noch unformatierte Weichware im Schädel, die streunenden Neuronen zum gezielten Denken hätte erziehen können?

Es gab Gründe, den Löffel hinzuschmeißen. Die Meldungen über sein Scheitern kamen nicht nur aus seinem eignen Kopf. Eher schienen sie die ätzenden Reflexe, die inneren Echos auf das Verblassen seines Lichts am Sternhimmel der Öffentlichkeit. Doch ließ er sich nicht einreden, seine eigne Lebenslüge zu sein. Er war gewohnt, mit dem Misslingen zu leben wie ein Obdachloser mit der Parkbank, gewohnt auch ans Aushalten durch Arbeit, den alltäglichen Lambrusco. Spät am Abend konnte er seinen Ehrgeiz entlassen, dem Körper das Hinstrecken gönnen, ins Bett fallen, zufrieden oder nicht, in das tröstliche Lächeln der Frau, ihre vertraute Wärme, müde nur noch und schlafergeben.

Der gläserne Dichter

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