Читать книгу Der blaue Amtsrichter - Erdmann Graeser - Страница 7
Tantes Hausschneiderei
Оглавление„Na, Kindakins, macht ma’ ’n bisken Platz“ — sagte Onkel Karl wohlwollend — „laßt mir ma’ durch! Wa’m jeht ihr denn nich ooch rin und scherbelt?“
Da er Miene machte, den jungen Mädchen, die sich am Eingang des Tanzsaals drängten, in die Backen zu kneifen und sie zu streicheln, wichen sie, die Hände zur Abwehr vorgehalten, lachend zurück.
Im Saal selbst kam er erst gar nicht vorwärts, stand festgekeilt in der Menge der Neugierigen, die den Tanzenden zusahen, und mußte abwarten, bis die Kellner — die Tabletts auf hochgehobenen Händen balanzierend — durch den Schreckensruf: „Achtung! Fettflecke!“ einen Weg zum Büfett bahnten.
Das Scharren der Füße übertönte fast das Klavier, aber die Melodien waren ja allen bekannt und wurden mitgesummt:
„Mit meiner Mandoline,
Die mit mir weint und lacht,
Vertreibe ich die Zeit mir,
Bei Tage und bei Nacht!“
Dann mit jähem Ruck — verstummte das Klavier, der „Tanzmaître“, ein kleiner, vierschrötiger Mann mit gutmütigem Bulldoggengesicht, sammelte die Groschen ein und lief hin und wieder den „Nassauern“ nach, die das Geld plötzlich reute, und die nun, ihre Dame im Stich lassend, im Gedränge zu entkommen suchten.
„Wei—ta!“ schallte, als der Rundgang beendet, das Kommando des Tanzmeisters, dann folgten die Schlußtakte der Melodie, und die Pärchen suchten die Plätze ringsum an den Saalwänden auf.
Onkel Karl hatte am Büfett seinen Kognak bekommen, ihn hinuntergestürzt und suchte jetzt, weil ihm die Luft zu heiß und stickig war, schleunigst den Saalausgang wieder zu erreichen. Aber plötzlich duckte er sich, tauchte dann vorsichtig wieder auf und spähte — das linke Auge zugekniffen, als ziele er — drüben nach der Ecke.
Dort, in der Nähe des Klavierspielers, stand eine Gruppe junger Männer, die sich, nach der Art, in der sie sich gaben, offenbar als Helden der Situation fühlten. Die Konfektionseleganz, mit der sie gekleidet, das Siegerlächeln, das sie für die vorüberwirbelnden Mädchen hatten, die Vertraulichkeit gegen den Klavierspieler und die Verachtung gegen die Kellner — all das unterschied sie auffallend von den übrigen Gästen, den Studenten, jungen Künstlern und Kaufleuten, die sich hier mit ihren Bekanntschaften — Ladenmädchen, Modellen, Fabrikarbeiterinnen — beim Tanz vergnügten.
Und unter jener Gruppe dort hatte Onkel Karl seinen Neffen erkannt. Den Hut ein wenig schief gesetzt, das Spazierstöckchen unter den Arm geklemmt, nervöshastig seine Zigarette rauchend — stand Edwin da und führte das große Wort.
„Det is mir ja sehr intressant, meen Jungekin, det ick dir hier ma’ in deene janze Jlorie sehe“, dachte Onkel Karl, der in den kleinen Nebensaal getreten und sich, Bier bestellend, dann so gesetzt hatte, daß er Edwin beobachten konnte. „Also hier — mit die Meute da — wirste det ville Jeld los — nu wissen wir’t wenichstens!“
Er hatte dann Lust bekommen, hinüberzugehen und sich Edwins Freunden vorzustellen, aber da merkte er, daß sich dort etwas abspielte, eine kleine Szene, auf deren Weiterentwicklung er selber neugierig war. So blieb er und wartete.
Zwei junge Mädchen — das eine noch ein blutjunges Ding mit dunklen Augen und schwarzem Haar, das in Zöpfen kranzförmig um den Hinterkopf gelegt war — wurden jedesmal beim Vorübertanzen von Edwin zu trennen versucht, wichen aber immer geschickt aus. Als dann, um dem Gedränge im Saal abzuhelfen, die ohne Herren tanzenden Mädchen vom Maître de Pläsir angehalten wurden und nun den Saal verließen, folgte ihnen Edwin.
Onkel Karl trank rasch sein Bier aus und ging ihnen nach. In dem heiteren Gewühl des großen Gartens wären sie ihm beinahe entschlüpft — dann sah er sie plötzlich bei der Kapelle auftauchen, und nun schritten sie dem Ausgange zu. Auf dem stillen Feldweg, der dort vorüberführte, sprach Edwin die Mädchen an.
Wie Onkel vorhin schon im Saal gemerkt, schien man sich bereits zu kennen, ein kleines Zerwürfnis, eine Verstimmung hatte offenbar nur vorgelegen, daß die Mädchen Edwin bisher nicht beachtet hatten. Jetzt folgte die Aussprache, die Versöhnung glückte, und alle drei — Edwin das schwarzhaarige Mädchen am Arm — kehrten, ohne Onkel Karl hinter dem Fliedergebüsch zu bemerken, in den Tanzsaal zurück.
„Jmhm!“ machte er, „det kam mir ja sehr jelejen. For heite jeniecht mir det ibrijens, nu tapp’ ick doch wenichstens nich mehr janz ins Dustere.“ Und dann trat er hinaus auf den Feldweg und schlenderte in der hereinbrechenden Dämmerung nachdenklich und ein wenig elegisch gestimmt auf Umwegen heim.
Er hatte gehofft, daß der Besuch schon fort sei, als er aber vor dem Hause stand und die hell erleuchteten Fenster der ersten Etage sah, wurde er verdrießlich: Da saßen sie nun oben im „Salon“, wie die „gute Stube“ umgetauft worden war, und warteten, hungrig wie die Raubtiere, auf das Abendbrot.
Erst hatte er wenig Lust, hinaufzugehen, dann tat er es schließlich doch, hielt sich aber, ganz gegen seine Gewohnheit, im Hintergrund und hörte der Unterhaltung zu.
Lieschen und Gertrud, beide mit weißen Schürzchen, erschienen ab und zu aus der Küche, wo sie dem Mädchen bei der Bereitung des Abendbrotes halfen, und setzten bald eine Schüssel mit Salat, bald einen Teller mit Wurst oder Schinken auf den großen, weißgedeckten und etwas feierlich anmutenden Tisch des Eßzimmers.
Herr Lemke und Onkel August disputierten — Gott weiß worüber — nebenan, in dem kleinen Hinterzimmer. Im Salon aber hatte Tante Liese jetzt das große Wort und erzählte triumphierend von ihrer Hausschneiderin, deren Kunstfertigkeit sie das neue Lilakleid verdankte.
„Et war nich so leichte, die Adresse zu erfahren“, sagte sie. „Kochrezepte und Mittel jejen Rheimatichtich, det sacht een ja jede jerne, aba ’ne wirklich jute Hausschneidern verrät keene, da machen se alle Ausreden und schwindeln eenen dreiste int Jesicht.“
Tante Maries und Frau Lemkes Mienen schienen ihr anzudeuten, daß an dieser Behauptung schon etwas Wahres sein könne.
„Nu hatte ick mir schon imma jewundert, wat die Frau Schwarzen for elejante Kleida trug. Und wenn wir uns ooch uff die Treppe jrießten und ick mal ’ne Anspielung machte — jerne tut man det ja nich, weil sich sonne Frau leichte wat inbildt — denn tat se imma wie dumm.“
„Da haste ihr also zun Kaffee injeladen“, sagte Tante Marie ahnungsvoll.
„Ja — aba mit Schnecken war da nischt zu machen, ick mußte ihr wahaftich ’n abjeriebnen Nappkuchen zu ’ner Mark vorsetzen, eh’ sie ufftaute. Und denn ha’ick ihr noch vorher alle möglichen Komplemente iba ihrn neien Hut machen müssen, bis sie wirklich loslegte.“
Aus dem, was Tante Liese dann noch erzählte, ging hervor, daß diese Schneiderin in ihrer Art wirklich ein Juwel sein mußte. Ein ganzer Legendenkreis hatte sich schon um sie gebildet: Zeigte man ihr beispielsweise einen alten Rock, der eigentlich nur noch zu Wischlappen brauchbar war, wurde sie sofort von heißer Begierde entflammt, eine Staatshose für etwa vorhandene Sprößlinge daraus zu machen. Keine Gegengründe und Einwände ließ sie gelten, bis die Hose wirklich fertig war und wie angegossen paßte. Noch überraschender wirkte sie im „Wenden“. Alte, glänzende Kammgarnkleider verstand sie innerhalb weniger Stunden so umzudrehen, daß die Speckseite nach innen kam und das Kleid wieder wie neu war. Die höchste Meisterschaft aber besaß sie im Zuschneiden. Wo eine andere mit dem besten Willen aus dem gegebenen Stoff nur einen Rock gemacht, brachte sie sicher auch noch eine Bluse zustande, und aus den Abfällen setzte sie noch eine Mütze für den Säugling zusammen.
„Aba dafor mag se scheene teuer sind“, sagte Frau Lemke bedenklich.
Und nun kam das Allermerkwürdigste: Diese Schneiderin war billig und aß nichts. Sie saß wie angepicht vor ihrer Nähmaschine und ließ die Schinkenstulle und die Flasche Bier, die man ihr zum Frühstück hingesetzt, unberührt oder packte sie sich erst am Abend ein und nahm sie mit. Zum Mittagessen mußte man sie mit Gewalt zwingen: An dem Tage, an dem sie kam, brauchte man nur immer Rindfleisch mit Rosinensauce zu machen — ein Gericht, das sie überall erhielt, und das — sozusagen — ihre Hauptnahrung bildete. Nur den Kaffee mit dem Mohnhörnchen nahm sie, stets dankbar und bescheiden, sofort ein.
„Uff’n Abend hat se denn manchmal eene janze Familje ausjestattet — natierlich — zu sonnen Kleid, wie ick’s heite anhab, braucht se selbstvastendlich mehr Zeit, det könnt ihr eich woll denken“, schloß Tante Liese ihren Bericht.
„Ja — aba die Abrechnung?“ fragte Frau Lemke.
„Die is janz eenfach, die Frau Schwarzen hat mir’s vorjemacht, wie man det anstellt!“ Und Tante Liese, angefeuert durch die Bewunderung ihrer Zuhörerinnen, führte die Abschlußszene sogar pantomimisch auf: „Also — Se hatten freie Beköstjung, Freilein — Ihr Abendbrot ha’ick Sie injepackt — und wat bekommen Se nu noch?“
„Det is sehr wichtich —“ schob Tante Liese ein — „det man det extra fragt, sonst werden se manchmal unvaschämt. Also, Freilein, Se haben um halb Neine anjefangen und jetzt is erst halb Achte. Ick werd Sie die letzte Stunde diesmal for voll rechnen, nechstes Mal machen Se’t denn aba ooch so billich, wie bei Frau Schwarzen. Ick empfehle Ihn’n denn ooch ibaall weita.“
„Na — und denn jeht se ooch wirklich los“, setzte Tante Liese, vergnügt über die Betroffenheit ihrer Zuhörerinnen, noch hinzu.
Onkel Karl, der bisher regungslos im Winkel gesessen, erhob sich, räusperte sich, und sagte ganz laut: „Fui — Deibel!“
Und dann ging er hinaus und warf die Tür krachend zu.