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Heimat reloaded

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1994 schrieb ich ein Büchlein mit dem Titel „Heimat – Politik mit Sitz im Leben“. Damals gab es eine Reihe von Ereignissen, die für mich zur Auseinandersetzung mit diesem Begriff führten, der in den Erfahrungen meiner Ahnen eine wichtige Rolle spielte und in der Generation meiner Eltern gebraucht und heftig missbraucht wurde. Damals hatte nicht nur ich den Eindruck, dass der Begriff „Heimat“ wieder zurückgekehrt war, sodass ich mich gedrängt sah, zur Auseinandersetzung mit demselben beizutragen. Nachdem es in unserem Land vielfache Tendenzen gibt, mehr rückwärts als vorwärts zu blicken, muss dazu ergänzt werden, dass der ständige Gebrauch des Begriffes, aber auch die Verwirrung, die durch verschiedenste mit ihm verwandte Ausdrücke hervorgerufen wird, schlicht und einfach den Versuch einer Klärung notwendig macht.

Seit 25 Jahren hat sich in der Auseinandersetzung mit dem Wort „Heimat“ vieles verändert. Der große kanadische Soziologe Charles Taylor stellte damals die Frage: „Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie?“1 Heute sind wir bei der Frage angekommen: Wie viel Demokratie haben und brauchen wir noch, um uns beheimatet zu fühlen? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es vor einem Vierteljahrhundert noch einfacher war, die Bedeutung dieses oft gebrauchten und missbrauchten Begriffs zu verstehen. Ich erinnere mich an die Künstlerin und Filmemacherin Karin Brandauer, der ich damals eine wesentliche Orientierung dazu verdankte: „Man ist nicht nur ein Kind seiner Heimat, die Heimat wird einem auch zum Kind. Und so, wie man dieses nicht nur hat und sich daran erfreut, trägt man auch die Verantwortung dafür. Wo Bindung ist, ist Verantwortung.“2

Heute muss man sich die Frage stellen, welche Bindungen überhaupt noch existieren? Und welche Verantwortung? In der Auseinandersetzung um den Stellenwert der Religion begegne ich dieser Frage noch heftiger. „Religare“ ist das Herkunftswort von Religion und bedeutet „verbinden“. Wohl aber muss ich mir die Frage stellen, ob Religion im Allgemeinen heute noch als Bindung verstanden wird? Für mich ist dieses wichtige Element unseres Lebens und der Geschichte ein Wort des Herumirrens, leider nicht des intensiven Suchens geworden. An Bruno Kreisky lag es, dass in meinen frühen Jahren der Begriff „Agnostiker“ für jene verwendet wurde, die keine Heimat in der Religion fanden. Heute spricht man von „Säkularisierung“, wobei die dadurch zum Ausdruck gebrachte Sinngebung eigentlich zu noch mehr Orientierungslosigkeit führt.3

Ähnliche Unsicherheiten gibt es auch bezüglich des Begriffs des „Nationalstaates“. Er ist ein Kind der Französischen Revolution, ausgehend von der berühmten Frage des Abbesses im Rahmen der Assemblée nationale der Französischen Revolution. In dieser Frage wurde zum Ausdruck gebracht, dass der dritte Stand, eigentlich das Volk, ja der wirkliche Gegenstand des Staates ist. Dadurch ist eine tiefgreifende Veränderung entstanden, die sich etwa in den Formen der Rekrutierung des Militärs ausdrückte, weil die „Levée en masse“4 jene Formen der Rekrutierung und der Wehrpflicht hervorbrachte, die immerhin zwei Weltkriege prägten. Dass wir auf eine gewisse Weise zu Söldnertruppen zurückgekehrt sind, die dem Rekrutierungssystem des aristokratischen Staates ähnlich sind, wenngleich auch noch viel bindungsloser, muss ergänzt werden.

Eine Lehre aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts war und ist die Hinwendung zu Europa, die trotz aller Diskussionen eigentlich alternativlos ist! Was bedeutet Europa heute für uns? Hier begegne ich wieder einem dieser entliehenen Worte, die eigentlich keine Auskunft geben, nämlich dem „Narrativ“. Was hinter diesem Begriff steht, ist eigentlich sehr interessant: eine „Erzählung“, die beschreibt, woher man kommt und wohin man geht. Das ist bestenfalls eine Richtungsangabe mit der Darstellung von Begleiterscheinungen. Eigentlich ist es unbestritten, dass wir eine Ahnung haben müssten, woher wir kommen und wohin wir gehen, aber offensichtlich ist schon allein die Beschreibung dieser Umstände schwierig geworden.

Man muss sich heute damit auseinandersetzen, dass die Unsicherheiten der Zeit zugenommen haben. Das wird instinktiv begriffen, wenngleich auch nicht immer rational aufgearbeitet. Es ist schon schwer, festzustellen, wo wir politisch unsere Heimat haben: am ehesten noch in der Region, in der wir leben, darüber hinaus werden aber die Ebenen von Bundesländern über den Nationalstaat bis hin zu Europa schwieriger nachvollziehbar. Mit Sicherheit ist das auch auf die Entwicklung der Globalisierung zurückzuführen, wobei wir keine Chance haben, diese abzulehnen, weil sie unsere Wirklichkeit bestimmt und in das tägliche Leben der Menschen eingreift. Noch komplizierter ist es im politischen Bereich, denn, offen gestanden, unser politisches System zerbröselt, und man tut sich schwer, noch zu wissen, wo es feste Pflöcke gibt, die in den Grund der Politik eingeschlagen sind. Dass das aus dem 19. Jahrhundert überkommene System der politischen Parteien und deren Orientierung durch die unendlichen Veränderungen „verflüssigt“ wurde, ist außer Frage, aber es ist nicht klar, was an dessen Stelle getreten ist. Es ist kein Wunder, denn die Art und Weise der Vermittlung ist durch die mediale Situation ebenso vage geworden und hat mit der Fülle von neuen technischen Möglichkeiten und der Kraft der Bilder, die uns täglich ereilen, eine solche Gewalt entwickelt, dass wir uns in der komplexer gewordenen Welt schwertun, überhaupt Orientierung zu finden. Umso mehr wäre „Bindung“ notwendig, damit wir nicht in dieser, unserer Welt herumgetrieben werden wie Schiffbrüchige, die nicht wissen, wo sie landen.

Natürlich gibt es aktuelle Fragestellungen, wie etwa die der Ökologie, die uns vor sich hertreiben, wenngleich überhaupt nicht klar ist, wie wir diese Aufgaben bewältigen können. Auch hier gibt es ungeheure Angebote, die meistens sehr widersprüchlich sind. Mehr noch aber brauchen wir eine „Ökologie der Werte“, wobei es nicht nur um die Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen geht, sondern um die Sinngebung des Lebens. Eine nach wie vor intensive Begegnung mit den BürgerInnen vermittelt mir etwas, das Hoffnung gibt: Die Suche nach dem Sinn und die Sehnsucht nach Orientierung sind stärker denn je vorhanden. Wie man aber mit den Angeboten umgeht, ist noch unklarer, als es das schon früher war. Wir haben Schwierigkeiten, diese Angebote zu sortieren, ja überhaupt die Fragestellung zu erkennen, die wir brauchen, um zu wissen, wohin die Reise geht. Dabei ist die Fantasie des Menschen nach wie vor nicht begrenzt – im Gegenteil, es gibt eine Fülle von Lösungsvorschlägen, aber die „Unterscheidung der Geister“ macht uns ungeheure Schwierigkeiten.

In Wirklichkeit haben wir uns von den Ordnungsgesichtspunkten des 20. Jahrhunderts längst verabschiedet. Das gegenwärtig dramatische Element des Klimawandels, die öffentliche Dominanz der ökologischen Fragestellungen und die Veränderungen der politischen Landschaften verlangen eine Suche nach Verortungen.

Für dieses Bändchen habe ich Muamer Bećirović gebeten, auch mitzuwirken! Warum? Er ist ein junger Mensch, politisch orientiert und gleichzeitig suchend, und hat bereits eine spannende Vita hinter sich: aus Bosnien-Herzegowina kommend, in Wien gelandet und zur Schule gegangen, in Studien steckend, die er nicht nur in Österreich, sondern auch im übrigen Europa fortsetzten möchte, politisch engagiert und bereit, mit anderen gemeinsam Wege zu suchen – in der Überzeugung, dass die gegenwärtigen Systeme nicht reichen, um die Probleme zu bewältigen. Ich habe ihn gebeten, von sich aus eine Klärung vorzunehmen, wo er sich beheimatet fühlt. Seine Aussagen sind aus meiner Sicht wesentlicher für die Zukunft, weil hier ein junger Mensch darum ringt, überhaupt Zukunft zu haben. Es war mir wichtig, auch das Charakteristische der „Wanderung“, die unsere Zeit prägt, einzubeziehen. „Heimat“ bedeutet nicht die Fixierung auf einen Punkt, sondern die Fähigkeit, sich in der Welt zu bewegen, die uns als Aufgabe anvertraut ist.

Zum Abschluss meiner Gymnasialzeit veröffentlichten wir eine Maturazeitung, die der damaligen Tradition von Rückblicken, Dokumentationen von Geschehnissen und dummen Scherzen etc. nicht entsprach. Die Zeitschrift trug den Titel „Quo via fert? – Wohin führt der Weg?“. Dem Ende meines Lebens näherkommend bewegt mich angesichts der Zeitumstände diese Frage weitaus mehr, wobei ich jedenfalls nicht in der Lage bin, fertige Rezepte zu bieten, aber Versuche zu unternehmen, näher zu beleuchten, wo wir in Zukunft „beheimatet“ sein können.

Heimat

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