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DIE GESELLSCHAFT DER BÄUME
ОглавлениеVor vielen Jahren entdeckte ich bei einem Waldspaziergang während des Vorfrühlings in einer Buche am Wegesrand ein Gesicht. In der grauen Rinde erkannte ich deutlich das Profil eines menschlichen Kopfes: die Form, das linke Auge, die Nase und ein leicht angedeuteter Mund gemahnten ein wenig an Johann Wolfgang von Goethe.
Ich fotografierte den Baum und beschloss, bei künftigen Exkursionen durch das waldreiche Weserbergland Ausschau zu halten nach weiteren interessanten Objekten. Im Laufe der Zeit gelang es mir tatsächlich, viele Baumgestalten mit menschlichen Zügen zu finden und fotografisch festzuhalten.
Bäume als beseelte Lebewesen unterliegen - wie wir Menschen - den Gesetzmäßigkeiten des irdischen Werdens und Vergehens. Jeder Baum ist den wechselnden Ereignissen des Lebens ausgesetzt: Dürre, Sturm und Frost sind dauerhafte Bedrohungen, gegen die er sich behaupten muss. Die Spuren seines wetterbedingten Erlebens sind nicht nur in den Jahresringen des Hauptstammes erkennbar, sondern auch und gerade in der äußeren Rinde: Schädlinge, Pilzbefall, Fäulnis, Blitzeinschläge, Bruchstellen an schweren Ästen und neu entstehende Triebe zeigen, wie nahe Leben und Sterben eines Baumes beieinanderliegen.
Der Baum als Symbol des Lebens hat in allen Epochen der Menschheitsgeschichte die Poeten, Musiker und Maler fasziniert in seinen magischen Bann gezogen. Als leidenschaftlicher Fotograf zähle ich mich zu den Bewunderern und Verehrern des Waldes, der in unserer von raschen Veränderungen geprägten Zeit eine Quelle der kreativen Inspiration und des inneren Friedens ist. Ich bekenne: Ich bin ein spaziergehender WALDWEGetarier.
Ausdrucksstarke Charakterköpfe in Bäumen zu finden, ist für mich ein besonderes Vergnügen geworden, welches ich nicht mehr missen möchte. Nur wenige Bäume enthalten vollständige Gesichtsmerkmale. Oft begegnen mir nur Fragmente eines menschlichen Antlitzes: Ein Auge in Form eines Astloches, die schwache Linie einer Nase oder ein halber Mund. Um den verborgenen Zauber meiner Entdeckungen zu verdeutlichen, nutze ich die Möglichkeiten der digitalen Fotobearbeitung, indem ich anvisierte Halb-Motive verdoppele, spiegele und schließlich zu vollständigen Rindengesichtern zusammenfüge. Die Ergebnisse meiner Gestaltungsarbeit sind groteske Naturfratzen, Schreckensmonster, Dämonen des Waldes und skurril wirkende Fabelwesen. Meine finster und mürrisch dreinschauenden Baumgesellen, die teilweise auch im heimischen Obstgarten angesiedelt sind, erscheinen mir oft wie die Figuren aus einer fiktionalen Parallelwelt, die wir aus Fantasyromanen und -filmen kennen. Zu jedem Gesicht ließe sich in der Tat eine dramatische Geschichte ersinnen. Autoren, die nach markanten Figuren für ihre Werke suchen, werden in dieser kleinen Galerie nützliche Anregungen finden. Freunde der Fotografie möchte ich mit meinem Buch ermuntern, eigene Motive in der Welt zu entdecken und zu gestalten.
Viel Vergnügen mit diesem facettenreichen Bildband über die Gesellschaft der Bäume wünscht
Erhard Schümmelfeder