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VORWORT

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Für einen Schreiber der Neuzeit gibt es kaum eine Möglichkeit, sich dem prägenden Einfluss historischer Vorbilder zu entziehen. Im Alter von neunzehn Jahren las ich erstmals einzelne Aphorismen des Göttinger Professors Georg Christoph Lichtenberg. Im Laufe der folgenden Jahre lernte ich erkenntnishungrig weitere Texte des Philosophen kennen. Maßgeblich inspiriert wurde ich durch seine auf Erfahrung beruhende Bemerkung, einmal im Jahr sei jeder Mensch ein Philosoph. Weitere Denkanstoßgeber waren für mich: Friedrich Hebbel, Stanislaus Jerzy Lec, Ebner-Eschenbach, und – in ganz besonderer Weise – der deutsche Autor Curt Goetz, der Oscar Wilde als Vorbild betrachtete.

Als Quellen für dieses Werk dienten mir vorwiegend unzensierte Tagebuchnotizen und eilig festgehaltene Zettelaufzeichnungen, die ich teilweise auch in meinen Romanen, Erzählungen und Gedichten verwendete. Die hier zusammengestellten Sprüche berühren viele Teilbereiche des Lebens: Soziologie, Philosophie, Geschichte, Pädagogik, Psychologie, Literatur, Religion und - nicht zuletzt - das Alltagsgeschehen der Gegenwart aus der subjektiven Sicht eines stillen Weltbetrachters, der sich seinen eigenen Reim auf die Ereignisse des Daseins macht.

Bei dem Versuch, die Facetten des bunt schillernden Lebens einzufangen, zeigen sich die Denkzettel in experimentellen Verkleidungen: als Tagebucheintrag, Gelegenheitsvers, geflegelte Worte, Dialog, Plakatbotschaft, Anekdote, Meldung, Bericht, Gedicht der konkreten Poesie, Sprachspiel, Fluchblatt usw. Neben traditionellen Aphorismen finden sich auch Sprüche, die den jeweiligen Ort der erlebten Erfahrung (Im Theater, Auf der Landstraße, Im Fernsehen etc.) einbeziehen.

Wie im wirklichen Leben gibt es in diesem Band sachliche, derbe, freche, taktvolle, feine, banale oder intellektuelle Reflexionen über die Menschen und die komplizierten Umstände des irdischen Daseins. Inhaltlich lassen sich meine Sprüchen leicht einordnen: Sie wollen unterhalten, aufklären oder verändern. Gelegentlich vermischen sich die Absichten des Autors. Ich bitte um Nachsicht für die Funktionsweise meines geistigen Strickmusters, bei dem sich Ernstes und Unernstes, Haupt- und Nebensächliches auf wundersame Weise miteinander vernetzen. Als tieferen Beweggrund für meine Leidenschaft, eigene Gedanken und Wahrnehmungen zu sammeln, nenne ich mein Urbedürfnis, das Wesen der rätselhaften menschlichen Existenz zumindest ansatzweise zu erhellen.

Die Entstehung meiner oft spontan entstandenen Aufzeichnungen liegt zwischen 1975 und 2013. Nicht das jeweilige Datum war mir wichtig, sondern die über den Tag hinaus gültige menschliche Einsicht. Zu jeder Bemerkung aus diesem Werk gibt es eine real erlebte oder gedankliche Erfahrung. Die Sprüche ADAM wurde aus dem Paradies EVAkuiert und Die Dummen erkennt man häufig daran, dass sie in der Überzahl sind, stammen bereits aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In den frühen 1980er Jahren, in der Zeit der atomaren Aufrüstung durch die Großmächte, entstand der Satz: Die Angst vor den Schrecken des Krieges hält sich in Grenzen - wenn man fantasielos genug ist. Die Auseinandersetzung mit der pazifistischen Weltanschauung veranlasste mich in damals auch zu der idealistischen Aussage: Jeder Krieg beginnt mit einer moralischen Niederlage - der Kapitulation des GUTEN WILLENS. Etwa zwanzig Jahre später, im Jahre 1999, unterstrich Papst Paul II. in einer von allen Medien der Welt verbreiteten Rede meine bereits in Anthologien veröffentlichte Ansicht durch den erneuten Hinweis, jeder Krieg sei eine Niederlage für die Menschheit. Ich finde, der Papst hätte mich als Urheber dieser Aussage wenigstens in einem Nebensatz erwähnen müssen. Vielleicht hatte er es aber nur vergessen. Ich verzeihe ihm.

Hier noch ein Beispiel aus der deutschen Geschichte: Ein spektakuläres Ereignis der späten 80er Jahre war die Intrigenaffäre um den Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, der mich inspirierte zu dem Satz: Der Meineid ist das ungeschriebene V-strecht in der Politik. Inzwischen gibt es viele Wiederholungen ähnlicher Fälle in der Politik, wodurch mein Spruch den Stellenwert einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung erhält.

Die Hälfte meiner Aufzeichnungen stammt aus der Zeit nach der Jahrtausendwende. Jüngstes Produkt meiner Wahrnehmung ist die Einsicht: Jedes zwielichtig-verführerische Event lockt die Eventuellen. Ereignisse, die diesem Satz Gesichter verleihen, finden sich in Hülle und Fülle in der weiten Fernsehlandschaft.

Die Vermischung alter und neuer Sprüche ohne thematische Ordnung gehört zu den oft kritisierten Mängeln dieser Sammlung von Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten des irdischen Mit-, Neben-, Gegen- und Durcheinanders. Das Fehlen einer strengen formalen Struktur lässt das vorliegende Werk als das erscheinen, was es sein möchte: ein mit leichter Hand komponiertes Gedanken-Fragment, zusammengesetzt aus Bruchstücken erlebter und schriftstellerisch reflektierter Wirklichkeit. Sollte ich für mein Buch ein Motto wählen, würde ich mich entscheiden für einen Satz des westfälischen Dichters Peter Hille, der einst bemerkte: Ich habe kein Programm; die Welt hat auch keins. Mit eigenen Worten möchte ich es so ausdrücken: Die Arbeitsweise des Dichters entspricht exakt der Arbeitsweise eines Vier-Takt-Motors: Ansaugen, Verdichten, Zünden - Auspuffen!

Meine Denkzettel sind satirisch geprägte freie Geister, die erfahrungsgemäß unterschiedliche Reaktionen beim Publikum auslösen. Amüsant, unterhaltsam, erhellend, anmaßend, witzig, frech, skurril, platt, geistreich, geistlos, nichtssagend – die Liste der von Lesern geäußerten Kritiken ließe sich beliebig weiterführen. Von vollständiger Ablehnung bis zu jubelnder Zustimmung – alle Formen menschlicher Lesarten haben die hier vorliegenden aphoristischen Sprüche im Laufe der Zeit hervorgerufen.

Möge der geneigte Leser sich eine eigene Meinung bilden. Gute Unterhaltung bei der Lektüre wünscht


Erhard Schümmelfeder


Denkzettel eines Zweiflers

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