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Die Vorgeschichte

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Der Zyniker Cornelius Schenkhut war bekannt für seine bissigen Reden, in denen er sich über die Dummheit in der Welt ereiferte. Nur selten bekam er Besuch von Verwandten; Bekannte und Nach­barn gingen ihm aus dem Weg, weil seine beleidigenden Bemerkungen zu Fragen des menschlichen Mitein­anders stets in Streit ausarteten. Oft beklagte er voller Verbitterung die Ver­dorbenheit des Lebens und die schier grenzenlose Torheit der Menschen. Am Fenster seiner Küche sitzend, schickte er in Selbstge­sprächen üble Flüche in die Welt hinaus, um seinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen. So lebte der nörglerische Mann allein in seinem Haus am Rande des Bevertals.

Unter den Kindern der Nachbarschaft wurde Cornelius Schenkhut nur der Kinderfresser genannt, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass mit diesem Zeitgenossen nicht zu spaßen sei. Auch Prospektverteiler und Handelsreisende, die den hitz­köpfigen und rechthaberischen Sonderling längst kannten, mie­den das Haus, denn hier war nichts zu bewegen oder gar zu holen.

Einmal im Jahr, zumeist im Frühling, verirrten sich zwei Männer in die Straße, an deren Ende Cornelius Schenkhut wohnte. Immer war einer der bei­den Män­ner uniformiert, während der andere Zivilkleidung trug. Die von Jahr zu Jahr wechseln­den Spen­densammler des Kyffhäuser Soldatenbun­des schell­ten auch jedes Mal an der Haustür von Cornelius Schenkhut, um ihr Anliegen vorzu­tragen: »Guten Tag, wir sammeln für die Kriegsgräberpflege in Russ­land. Möchten Sie etwas spenden?« Die Sammel­büchse, die stets von dem uniformierten jungen Mann gehalten wurde, veranlasste Cornelius Schenkhut im ersten Jahr dazu, ein bissig hingebell­tes »Nein» ertönen zu lassen, bevor die Tür sich vor den verdutzt-erschrockenen Män­nern wieder ver­schloss. Im darauffolgenden Jahr wiederholte er seine schroffe Verneinung und ließ die Tür mit Wucht ins Schloss fallen. Im Laufe der Zeit wurde der Besuch der Spendensammler zu ei­ner fast will­kommenen Abwechselung im eintö­nigen Le­ben des alten Mannes. Einmal zwang er sich zu ei­nem sarka­stisch-freundlichen »Nein«, wobei er seine nicht mehr vollständig vorhandene Zahnreihe ent­blößte, während er zwölf Monate später einen ge­langweilten und gleichgültigen Kommentar äußerte.

Da es keine anderen Auseinandersetzungen mit dem Leben und den Menschen gab, war der Be­such der Spenden­sammler gleichzeitig immer eine Gele­genheit, den angestauten Groll mit leidenschaftli­cher Inbrunst hinauszubrüllen. Sobald er die bei­den Männer in der Straße auf sein Haus zukommen sah, rieb er sich die Hände anlässlich der bevorste­henden Begeg­nung, auf die er zwölf Monate schimp­fend gewartet hatte. Die Palette seiner Nein-Varia­tionen war bunt und voller Gefühlsregungen: sach­lich, lauthals, drohend, fauchend, hustend, kräch­zend, hämisch grinsend, verächtlich glot­zend, em­pört prustend und einmal sogar ge­künstelt singend, hatte er seine ablehnende Haltung bekundet.

Seine verbale Aus­drucksweise wich bald einer non­verbalen Form: Einmal schüttelte er nur mit zusammengepressten Lippen sein Haupt. Im darauffolgenden Jahr vollführte er schadenfroh grinsend ein bedauerndes Achselzucken. Nie erlaubten sich die Bitt­steller ein Wort des Wider­spruchs oder gar der Kri­tik; immer zogen sie sich kommentar­los zurück und gingen weiter zur näch­sten Straße.

Wieder einmal schellte es an der Haustür. Wieder öffnete Cornelius Schenkhut, doch ließ er dem Sprecher keine Zeit, seine Bitte vorzutragen und sagte nur knapp: »Nein, nein und nochmals nein.« Schon wollte er die Tür zuschlagen, da fragte der Unifor­mierte mit der Sammelbüchse interes­siert: »Und warum nicht?«

Die unverhoffte Frage irritierte Cornelius Schenkhut einen Moment. Schweigen. Nachdenken. Endlich fasste er sich und schnauzte den Männern seinen Standpunkt ins Gesicht: »Für Kriegsopfer spende ich, für Kriegstäter aber nicht. Basta!«

Von seinem Fenster aus beobachtete er die bei­den Männer, die sich eilig aus der Straße entfern­ten. Bevor sie seinen Blicken ent­schwanden, zog der Mann in Zivil ein Notizbuch aus der Jacke und notierte etwas mit einem Stift. Aha, dachte der Zyniker, das saß!

Im folgenden Frühling hockte Cornelius Schenkhut wie­der am Fenster seiner Küche und äugte lauernd die Straße entlang. Endlich erblickte er die beiden Sammler, deren Gesichter er nicht kann­te. Vergeb­lich rieb er seine Hände, denn nachdem sie das vor­letzte Haus der Straße besucht hatten, kehrten sie um, ohne sein Haus auch nur zu beach­ten. Die Flü­che, die Cornelius Schenkhut ausstieß, können an dieser Stelle nicht alle wiedergegeben werden. Nur soviel sei versichert: sie waren recht übel und keinesfalls gesellschaftsfähig.

Im folgenden Frühling blieb der Besuch der Spendensammler wieder aus. In diesem Leben, soviel hatte Cornelius Schenkhut begriffen, würde er wahrscheinlich keine Spen­denbitten mehr hören. Hatte er sich richtig verhalten? Ja, ja und nochmals ja, sagte er sich. Kein Wort würde er je von seiner Meinung zurückneh­men.

Trotzdem vermisste er merkwürdigerweise den Be­such der beiden Männer.

*

Tobias Schenkhut hatte es sich zur Gewohn­heit ge­macht, alle Ereignisse seines Lebens mit Sym­pathienoten zu versehen. Die Ferien in der Weserstadt Höxter bewegten sich auf seiner imaginären Bewer­tungsskala launisch zwi­schen 1 und 6. Heute würde er auf dem Bahnhof den Jungen treffen, der keine Probleme hatte...

So könnte ein Roman aus der Sicht eines allwissenden Erzählers beginnen...

4 minus, dachte er, als ihm einfiel, dass es keine Möglichkeit gab, die erste Begegnung mit seinem Stief­bruder Andy an einen günstigeren Ort zu verlegen...

Aber ich bin nicht allwissend. Ich möchte aus meiner subjektiven und somit begrenzten Sicht etwas erzählen über den lange zurückliegenden Sommer, der ein Teil meiner eigenen Lebensgeschichte ist. Es ist die konfliktlastige Beschreibung vom Zusammentreffen dreier Menschen mit unterschiedlicher Prägung: Ein Realist, ein Idealist und ein grantiger Zyniker verbringen einige Tage in einem Haus auf dem Lande. Ich will versuchen, die merkwürdigen Ereignisse dieser Begegnung in Worte zu fassen. Mein Interesse für Menschen und die oft verborgenen Beweggründe ihres Handelns war in der Zeit meines neunzehnten Lebensjahres nur schwach entwickelt. Tiefgreifende Reflexionen über die prägenden Faktoren in der Lebensgeschichte anderer Leute, die mir begegneten, beschäftigten mich nicht. Die wesentlichste Erfahrung dieses Sommers - der plötzliche und unerwartete Tod eines mir nahestehenden Menschen - hat bis zum heutigen Tag Spuren in meinem Denken hinterlassen. In manchen Augenblicken sehne ich mich danach, die Zeit zurückzudrehen, um das Lebensgefühl dieses Sommers noch einmal zu erleben.

Wie soll ich mit meiner Schilderung anfangen?

Allein die Vorstellung, dass ein Junge namens Andy nun mit seiner Mutter unter einem Dach wohnte, war noch gewöhnungsbedürftig. Nach der Trennung sei­ner Eltern hatte seine Mutter wieder geheiratet und hieß nicht mehr Schenkhut, sondern Simon. Ihre Absicht, Tobias und Andy zusammenzuführen, war vereitelt worden durch eine Sommergrippe. Mit einwö­chiger Ver­spätung sollte Andy gleich in der Stadt eintref­fen, um die verbleibenden sechs Ta­ge »unter Jungen sei­nes Alters« zu ver­bringen...

Nein, das ist noch nicht der Ton jener Melodie, die in meiner Erinnerung spielt, wenn ich an meine erste Begegnung mit Andy denke. - Ich halte in Gedanken die Zeit an und spule sie - wie einen Film - zurück bis zu dem Julitag, an dem die Geschichte beginnt...

Seltener Besuch

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