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V o r w o r t

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Die wichtigste Stunde

ist immer die Gegenwart,

der wichtigste Mensch immer der,

der dir gerade gegenübersteht

und die notwendigste Tat

die Liebe.

Meister Eckhart

Der seltsame Junge namens Friedolin Riemenspanner, mit dem ich im Jahre 1986 eine Zeitlang die Schulbank teilte, wurde von allen Schülern und Lehrern nur Klette genannt.

Wenn man mich heute fragt, was ich über den Jungen von einst weiß, kann ich umfassend Auskunft geben, denn uns verbindet seit langem eine feste Freundschaft. Meine erste Erinnerung an die Zeit unseres gegenseitigen Kennenlernens ist diese: Er war der einzige Schüler in meiner Klasse, der noch keinen Computer besaß. Im bunten Mosaik seiner Persönlichkeit aber ist diese Information nur ein Baustein mit geringem Erkenntniswert.

Bei dem Versuch einer Charakterisierung Friedolin Riemenspanners sollen die Meinungen der Leute, die ihn damals kannten, nicht unerwähnt bleiben. Die volkstümlich anmutenden Umschreibungen Herumtreiber, Springinsfeld, Quasselkopf und Nervensäge fanden in der Schülerakte ihre Entsprechung in dem Vermerk verhaltensauffällig. Destabile Familienverhältnisse und die offensichtliche Zugehörigkeit zur belächelten Second-Hemd-Klasse, deren modische Grundbedürfnisse von der städtischen Altkleiderkammer befriedigt wurden, boten den Mitschülern genügend Gründe, um über diesen Jungen die Nase zu rümpfen. Im Bewusstsein der Dummen aber war für den Schmuddeljungen mit den schwarzen Fingernägeln die Bezeichnung asozial fest verankert.

Als Störenfried und Clown erfreute sich Friedolin Riemenspanner einer gewissen Beliebtheit bei den Mitschülern, während er manchen Lehrer an die Grenze seiner pädagogischen Belastbarkeit brachte, beispielsweise wenn er auf der Schulbank afrikanische Rhythmen trommelte, seine Hausaufgaben nicht in Heften, sondern auf Bierdeckeln präsentierte oder wenn er im Musikunterricht die angestimmten Gesänge mitpfiff.

Empörte Mütter beschwerten sich bei der Schulleitung über den Missstand, ein Mitglied unserer Klassengemeinschaft esse frecherweise ständig die Frühstücksbrote ihrer Kinder oder nasche an diesen. Als Beweise wurden dem Direktor Brote mit halbmondförmigen Lücken oder angebissene Bananen vorgelegt. In einigen Fällen hatte der Übeltäter nur zwei dünne Brotrinden übrig gelassen. Trotz erhöhter Wachsamkeit verschwanden in der Folgezeit immer wieder Wurst und Käsescheiben von den Pausenbroten. Ein Täter konnte nie ermittelt werden. Man hegte aber einen Verdacht.

Als notorischer Zuspätkommer erfand Friedolin Riemenspanner, der nach der Trennung seiner Eltern beim Großvater wohnte, ständig neue Ausreden, deren Wahrheitsgehalt alle Lehrer grundsätzlich bezweifelten. „Mein Wecker is heut Nacht stehn geblieben.“ - „Mein Oppa is mit seinem Auto vorn Baum gefahren.“ - „Mein Oppa musste zum Arzt.“ Die Ansicht, es gebe keine unverbrauchten Ausreden mehr, wurde widerlegt, als er eines Morgens atemlos zur zweiten Unterrichtsstunde erschien mit der Erklärung: „Heute Nacht sind unsere Nacktarschhühner ausgebüxt.“

Frau Meise, unsere strenge Englischlehrerin, von allen nur Missis Middlepoint genannt, ereiferte sich immer wieder über die Unart des Zuspätkommens und wurde nicht müde, ihn zu ermahnen: „Mein lieber Friedolin Riemenspanner! Dein Vater, den ich auch schon unterrichten durfte, war an dieser Schule ein vorlauter Rabauke, ein Faultier und ein unkonzentrierter Schüler, aber er ist nie zu spät zum Unterricht erschienen. Nimm dir daran ein Beispiel!“

Unser Mathematiklehrer, Herr Lohmann, atmete erleichtert auf, als während einer Sichtstunde vor dem Schulrat morgens der Bankplatz des Klassenkaspers unbesetzt war. Sichtlich nervös horchte Herr Lohmann auf, als beim Unterricht plötzlich aus dem Besenschrank neben dem Waschbecken die gepfiffene Melodie von Spiel mir das Lied vom Tod ertönte. Knarrend öffnete sich die Schranktür. Friedolin Riemenspanner marschierte unter dem Gejohle der Klasse zu seinem Platz, um sich artig am Unterricht zu beteiligen. Für den Rest der Stunde saß der Schulrat knichelnd in der hinteren Bankreihe. Einen solchen Auftritt hatte er bislang noch nicht erlebt.

Sein von Spontaneität und Irrationalität geprägtes Verhalten bot uns Schülern ständig neuen Gesprächs und Lachstoff: Während einer großen Pause kletterte er am Regenrohr des Hauptgebäudes auf das Dach, um sich die Welt aus dieser Perspektive einmal anzusehen. Als die Aufsicht führenden Lehrer ihn energisch aufforderten, sofort vom Dach herunterzuklettern, brach ein Stück der Dachrinne ab. Die Feuerwehr eilte mit Tatütata herbei und rettete Klette im Beisein aller Schulklassen aus dieser gefährlichen Lage.

Seinen größten Triumph erlebte er im Religionsunterricht von Herrn Buschmeier, als dieser mit uns Schülern über die menschlichen Vorstellungen vom Paradies und der Unendlichkeit diskutierte.

„Der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende. Er ist das Symbol für die Unendlichkeit des Lebens. Ich möchte, dass ihr eure subjektiven Gedanken über die Unendlichkeit zur nächsten Unterrichtsstunde zeichnerisch ausdrückt und in der Klasse vorstellt.“

Die meisten Schüler legten bald darauf ein Bild mit einem blumenverzierten oder schlichten Kreis vor. Alle hielten zunächst den kunstvoll als Dornenkrone gestalteten Kreis von Gaby Winter für das fantasievollste Motiv dieser Aufgabenstellung. Aber dann brachte Friedolin Riemenspanner mit einem Bollerwagen ein lumpenverhülltes Etwas in den Klassenraum und irritierte Herrn Buschmeier mit dem Hinweis, dies sei seine Hausaufgabe. Als er den Stofffetzen entfernte, sahen wir die Frisierkommode seiner Mutter. Herr Buschmeier wies darauf hin, er unterrichte nicht das Fach Werken, sondern Religion. Es war eine Anspielung auf Klettes gelungenen Versuch, im Werkunterricht aus einem ausgehöhlten Kürbis einen Lautsprecher zu bauen. Alle wollten nun wissen, welche Bewandtnis es mit diesem Möbelstück auf sich habe. Ein rechteckiger Spiegel bildete die Rückwand der Kommode. Links und rechts des Spiegels befanden sich klappbare Seitenspiegel. Als Klette die Seitenspiegel so ausrichtete, dass sie sich gegenüber standen, legte er einen Bierdeckel, auf den er das Wort Unendlichkeit gekritzelt hatte, zwischen sie. Unendlich oft vervielfältigte sich das Bild des Bierdeckels zwischen den beiden Spiegeln. Herr Buschmeier war beeindruckt und schoss ein Foto von diesem überzeugenden Beispiel. Der Rückweg der Holzkommode auf dem Bollerwagen durch das Treppenhaus unserer Schule endete als Katastrophe: Polternd und krachend stürzte das Möbelstück auf die Treppe, wobei die Spiegel in tausend Teile zersplitterten. „So also kann ich mir das Ende der Unendlichkeit vorstellen“, murmelte Herr Buschmeier vor sich hin, als er die Bescherung sah, während unser Hausmeister, wenig begeistert von dem Objekt, nur verständnislos über Friedolin Riemenspanner den Kopf schüttelte.

Trotz komödiantischer Zwischenfälle, die dem oft langweiligen Unterricht die Farbe verliehen, wollte niemand gern neben Friedolin Riemenspanner sitzen. Innerhalb der Klassengemeinschaft blieb er ein Außenseiter, der auch bei Geburtstagsfeiern nie zu den geladenen Gästen gehörte.

Der Junge, der ständig verrückte Streiche spielte und Lügengeschichten erfand, stand auch unter Generalverdacht bei Diebstählen aller Art. Ich erinnere mich genau: Eine Zeitlang erschien Friedolin Riemenspanner zu jedem Unterricht mit einer Plastiktüte, in der sich ein weißer Mauerstein befand. Aufmerksame Schülerspitzel berichteten bald, er stehle die Steine auf dem morgendlichen Weg zur Schule bei der Kartonfabrik Giehse, die auf dem Firmengelände eine neue Lagerhalle errichten lasse. Als Banknachbar von Friedolin Riemenspanner fühlte ich mich berechtigt, ihm die Frage zu stellen, was er mit den gestohlenen Steinen anfangen wolle. Er verweigerte mir hartnäckig eine Antwort, doch gelang es mir wenig später, das Geheimnis zu lüften.

Jan Krüger

Das Ende der Unendlichkeit

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