Читать книгу Block 4.2 - Eric Scherer - Страница 5
ОглавлениеRecht und Pizza
Lea wird diesen Dialekt nie verstehen. Was auch ein Schlaglicht auf ihre eigene große Lebenslüge wirft. Dass sie deswegen Uniform trägt, weil sie näher bei den Menschen sein will, ein echter Freund und Helfer eben. Als Kripo-Beamtin dagegen, was sie dank Abitur und Jurastudium ebenfalls sein könnte, wäre sie ja doch nur dazu da, die Menschen ihren Strafen zuzuführen, denn der Kripo-Beamte tritt immer erst auf den Plan, wenn die schlimmen Taten bereits begangen sind. Der Schupo dagegen, der hat manchmal wenigstens die Chance einzugreifen, wenn noch nicht alles entschieden ist, der kann noch dazwischengehen, zureden, einwirken, das Schlimmste verhindern, vielleicht.
Hat sie diesen Blödsinn tatsächlich irgendwann einmal geglaubt? Dann sollte sie sich spätestens jetzt davon verabschieden. Sie ist über vierzig, leitet eine Polizeiinspektion im tiefsten, schwarzen Wald und versteht die Sprache der Waldbewohner nicht.
Oder kaum.
Die Kernaussagen dieser Anruferin hat sie immerhin ohne Dolmetscher verstanden.
„Da ist ein Unfall passiert. Ein Auto ist von der Straße abgekommen und hat sich überschlagen. Bitte schauen Sie da mal nach. Schnell.“
Die Namen der beiden Ortschaften, zwischen denen der Unfall geschehen sein soll, vermag Lea allerdings nicht zu entschlüsseln. Da muss sie Hoffmann fragen. Der natürlich erst einmal herzhaft lacht, als Lea die Namen, die die junge Frau benutzt hat, in der regionalen Mundart wiederzugeben versucht. Dieses Vernuschelte, das mehr gebrummt als sonstwas daherkommt, das ganze Silben einfach verschluckt, nicht zwischen „ch“ und „sch“ unterscheidet, aus einem „K“ mit Vorliebe ein „G“ macht und Laute wie „F“ am liebsten gar nicht bildet, weil diese Waldbewohner das Zusammenspiel zwischen Zähnen und Lippe als lästig empfinden. Hoffmann vermag das nach seinem Heiterkeitsausbruch jedoch zu übersetzen, jetzt weiß Lea Bescheid.
Mehr hat die junge Frau am Telefon nicht gesagt. Auf die Frage, wer sie sei, hat sie aufgelegt. Wollte anonym bleiben.
Und was sagen diese dürftigen Informationen einer Ersten Polizeihauptkommissarin nun?
Leas Vermutung, die aufgrund ihrer Erfahrungswerte mit einiger Wahrscheinlichkeit zutrifft: Die junge Frau saß auf dem Beifahrersitz des Unfallverursachers, wahrscheinlich ein junger Mann, wahrscheinlich alkoholisiert, wahrscheinlich mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs. Der raste wahrscheinlich einfach weiter, nachdem er den Wagen, der sich dann überschlagen hatte, von der Fahrbahn gerammt hatte. Oder gedrängt. Oder was auch immer.
Die junge Frau verfolgte das Geschehen wahrscheinlich auf dem Beifahrersitz und war wohl erst einmal starr vor Schreck. Mit zunehmender Dauer der Weiterfahrt aber begann sie die Ungewissheit zu plagen, was denn aus den Insassen des verunglückten Wagens geworden sein könnte. Den Fahrer dagegen kümmerte dies weniger, der wollte nach dem Vorfall nur noch seine Promille nach Hause fahren und sich zur Ruhe betten. Und morgen weitersehen, wenn der Alkohol abgebaut war, denn dies muss stets das erste Gebot sein, ehe man in diesen Breiten gegebenenfalls die Polizei einschaltete. Vermutlich lebt er mit der jungen Frau noch nicht zusammen. Er setzte sie zu Hause ab, nuschelte noch irgendwas, sie solle sich keine Gedanken machen, es wäre schon alles in Ordnung, er kümmere sich, und brauste davon. Mit sich allein, wurde die junge Frau alsbald noch heftiger von Gewissensbissen geplagt, sodass sie schließlich die Polizei anrief. Anonym, weil sie ihren Freund nicht rein reißen wollte, ihren „Stecher“, wie die Jungs sagen würden.
Der hirnlose Macho hinterm Steuer und die Frau mit dem weichen Herzen auf dem Beifahrersitz. Die guten alten Rollenklischees, wenn sie sich irgendwo bewahrt haben, dann hier, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen. Das weiß niemand besser als eine Erste Polizeihauptkommissarin, die in diesem Wald Dienst tut. Erfahrungswerte.
Und nun?
Soll sie einen Rettungsdienst verständigen, damit dieser mal nachschaut? Es könnte schließlich um Leben und Tod gehen, wenn der Wagen sich tatsächlich überschlagen hat und die Insassen verletzt sind … Doch wie wahrscheinlich ist es, dass alle Insassen des Wagens so schwer verletzt sind, dass sie bislang selbst noch keinen Notruf absetzen konnten?
Ist es nicht vielleicht wahrscheinlicher, dass alles vielleicht gar nicht so schlimm war, wie die junge Frau glaubte, es wahrgenommen zu haben? Dass der Wagen sich vielleicht gar nicht überschlagen hat, sondern nur ein paar Meter ins Feld gefahren ist, die Insassen dann ein paar Mal ordentlich geflucht, sich dann aber aus dem Staub gemacht haben, weil sie ihrerseits nichts mit der Polizei zu tun haben wollten, da sie ebenfalls stark alkoholisiert waren, also „die Heef“ hatten, wie die Jungs sagen würden?
Auch diesbezüglich hat eine Erste Polizeihauptkommissarin so ihre Erfahrungswerte.
Die motorisierte Dorfjugend in diesen Breiten schüttet an Wochenenden mindestens ebenso viel Alkohol in sich hinein wie Benzin in ihre scheiß Dreier-BMWs oder was auch immer. Immerhin sozialisiert sie sich noch wie ihre Vorväter, kommt an Wochenenden zusammen, um sich gemeinschaftlich zu besaufen und oder in den Fortpflanzungswettstreit zu treten. So war es schon immer und so wird es hier auch immer sein. Anderswo tendiert die derzeit nachwachsende Generation dagegen dazu, vorm heimischen Computer sitzenzubleiben und sich während des mitternächtlichen Pornoseitenstudiums zu Tode zu masturbieren.
Also, Lea, sei froh und dankbar für die, die dir noch etwas zu tun geben in diesen endlosen Nachtdiensten, vorzugsweise an Wochenenden.
Die Frage bleibt: Und nun?
Das Beste wäre, eine Streife zu verständigen, damit die am angegebenen Ort mal nachschaut. Das Problem: Es ist gerade keine Streife unterwegs. Gerade sind die Pizzen eingetroffen, die die Jungs geordert haben. Jetzt ist die gesamte Schicht im Aufenthaltsraum am Spachteln. Drum sitzt Lea ja am Telefon. Sie hat keine Pizza gewollt, wie immer. Das zeugt natürlich nicht unbedingt von Sozialkompetenz, ein guter Vorgesetzter verputzt auch mal Pizza mit seiner Mannschaft, aber sie verträgt so etwas Schweres und Fettes so spät am Abend nicht, und überhaupt, einer muss ja Telefon und Funkanlage im Blick behalten. Doch jetzt in den Aufenthaltsraum zu gehen und zwei zu bestimmen, die rausfahren und diese anonyme Unfallmeldung überprüfen, bekäme ihrer Sozialkompetenz noch weniger. Denn der gemeinschaftliche Pizzaverzehr der diensthabenden Schicht am späten Samstagabend ist ein Ritual, das nicht gestört werden darf.
Es ist sogar mehr als das, es ist die Bestimmung dieser Jungs: Sie kämpfen für Recht und Pizza.
Das ist der Satz, den Lea sich aus dieser Zeichentrickserie behalten hat. Sie schaute sie vor Jahren mit ihrem kleinen Neffen Nils, wenn ihr Bruder sie als Babysitter angeheuert hatte. Der sogar noch die Dreistigkeit besaß, ihr zu beteuern, er frage gar nicht mal aus Verzweiflung, niemanden sonst zu wissen, der auf seinen kleinen Sohn aufpasse, er könne jederzeit für kleines Geld eine Studentin dafür gewinnen – er hoffe vielmehr, Lea „auf den Geschmack“ zu bringen, eigene Kinder in die Welt zu setzen, wenn er sie hin und wieder einen Abend auf Nils aufpassen lasse … Arschloch. Tatsächlich war dieser fette, quengelige, immerfort lärmende Balg das denkbar beste Argument gegen eigene Kinder, eigentlich nur ruhigzustellen mit Ramsch aus der Glotze.
Also sedierte Lea den kleinen Nils mit Zeichentrickserien, die sie dann notgedrungen selbst mit anschauen musste. Und eine davon waren die „Samurai Pizza Cats“. Hauptfiguren waren drei fette japanische Katzen, die in einem futuristischen Tokyo eine Pizzeria betrieben, allerdings nur zur Tarnung, denn tatsächlich waren sie Superhelden, die, sobald ihre Welt von Unholden bedroht wurde, zum Samuraischwert griffen. Lea kennt sogar ihre Namen noch: Speedy Gorgonzola, Guido Casanova und Polly Ester. Zu Beginn jeder Folge stellte eine markige Stimme aus dem Off das Trio vor und erklärte dem Betrachter: „Sie kämpfen für Recht und Pizza.“
Der Satz hat sich in Leas Hirn gebrannt, und schon oft hat sie sich verflucht, weil ihr solche Unsinnssätze nachhaltiger im Gedächtnis bleiben als wirklich wichtige Dinge. So kann sie sich beispielsweise die PIN-Nummer ihrer EC-Karte gerade so merken, nicht aber die ihrer VISA-Karte. Dafür käut ihr Hirn jedes Mal diesen Satz wieder, wenn sich die Jungs ihrem Pizzaritual hingeben. Und wenn sie zum Essen auch noch ihre Schutzwesten anbehalten, was erstaunlich viele tun, erinnern sie noch stärker an die fetten Katzen in ihren kybernetischen Schutzanzügen, nur die Samuraischwerter und die Stirnbänder fehlen.
Manchmal träumt Lea davon, an dem Tag, an dem die Jungs ihre Art von Humor zu verstehen gelernt haben, im Aufenthaltsraum ein Transparent aufzuhängen, auf dem steht: „Sie kämpfen für Recht und Pizza.“
Und noch immer schwebt die Frage im Raum: Was nun?
Es hilft nichts: Das Beste wird sein, sie fährt selbst raus und checkt die anonyme Unfallmeldung. Vielleicht liegt da tatsächlich ein Unfallopfer in seinem Blut. Wäre der Anruf drei Minuten später gekommen, hätte sie Stolte damit beauftragen können. Der nämlich hat sich gerade zur Tanke aufgemacht, weil der Pizzaservice ihm kein Malzbier mitliefern konnte. Die anderen haben alle Wasser und Cola geordert, das war natürlich kein Problem, aber Stolte besteht auf Malzbier. Jemandem, der aus freien Stücken sein samstägliches Pizzaritual unterbricht, um sich einen eigenen, sehr speziellen Getränkewunsch zu erfüllen, dem darf eine Inspektionsleiterin durchaus noch eine zusätzliche Aufgabe mit auf den Weg geben, ohne dass ihre Sozialkompetenz leidet. Schließlich sind wir im Dienst, trotz allem, da muss Recht auch mal vor Pizza gehen. Auch wenn Pizza schneller kalt wird als Recht.
Lea greift nach dem Schlüssel ihres Dienstwagens und erhebt sich. Eigentlich dürfte sie ja gar nicht allein rausfahren. Aber was soll sie sonst tun?
Wenn sie jetzt tatsächlich im Bereitschaftsraum nach einem Freiwilligen fragt, der eventuell bereit ist, sie zu begleiten und seine Pizza erst in einer halben Stunde kalt zu verzehren, wird sich nur Hoffmann melden. Doch wenn sie mit dem losfährt, beflügelt sie die schmuddelige Phantasie der Zurückbleibenden. Sie werden sich ausmalen, wie sie mit Hoffmann in den nächsten Waldweg fährt, um sich ihm hinzugeben, sich „hagge“ zu lassen, wie die Jungs sagen würden. Denn so ein gemeinschaftlich genossenes Pizzaritual braucht auch geistige Nahrung, an der alle teilhaben können, und da die aktuellen Bundesligaergebnisse nicht mehr so anregend zu diskutieren sind, seit de Betze in der Zweiten Liga spielt, ist Klatsch aus der Erotikküche ein ungleich dankbareres Thema. Hoffmann steht nun einmal im Ruf, „scharf“ auf „die Alte“ zu sein, so nennen die Jungs ihre Inspektionsleiterin nämlich, Lea hat das längst aufgeschnappt.
Das Schlimme daran ist: Die Jungs haben vermutlich recht. Hoffmann scheint ihr tatsächlich stärker zugeneigt zu sein, als es einem korrekt geregelten Dienstverhältnis zuträglich wäre. Auch diese Signale hat die Erste Polizeihauptkommissarin längst vernommen, er stellt sich ja auch zu tumb an, doch hat sie absolut keinen Nerv dafür.
Also fährt sie lieber allein.
Lea streift sich ihre Jacke über und gibt den Jungs Bescheid, dass sie auf Telefon und Funkanlage acht geben, sie müsse mal für eine halbe Stunde weg. Ob in dienstlicher oder privater Angelegenheit, lässt sie offen. Kann sie sich leisten als Dienststellenleiterin.
Im Hinausgehen hört sie, wie Hanns und Holbein zu streiten beginnen. Hanns hat sich offenbar die Pizza von Holbein gekrallt, der mit Salami, Pilzen und Zwiebeln geordert hatte – auf dem Exemplar, das Hanns ausgehändigt worden ist, hat dieser jedoch keine Zwiebeln entdeckt, wohl aber auf der Pizza, die Hanns nun vor sich hat. Hanns aber scheint zum Tausch nicht bereit. Lea interessiert nicht wirklich, wie die beiden diesen Konflikt lösen werden. Vernünftig genug, nicht von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen, werden sie wohl sein.
Sie kämpfen manchmal eben leidenschaftlicher für Pizza als für Recht. Da ist es besser, sich rauszuhalten.
Als sie den Ort verlässt, um in den Wald einzutauchen, fallen ihr drei Typen auf, die auf dem Radweg daherkommen, der die Gemeinde mit der benachbarten verbindet. Einer davon sitzt im Rollstuhl. Der Nachbarort ist fast fünf Kilometer entfernt, ganz schön ungewöhnlich, dass drei Einheimische diese Distanz zu Fuß überbrücken, um diese Uhrzeit, am späten Samstagabend, auch noch mit einem Behinderten im Schlepptau. Immerhin: Sie laufen anscheinend lieber, statt sich gegebenenfalls alkoholisiert hinters Steuer zu setzen. Löblich. In solchen Momenten könnte Lea beinahe glauben, in ihrem Zuständigkeitsbereich existiere doch noch so etwas wie gesunder Menschenverstand.
Der eine von den dreien erinnert Lea sogar an jemanden, an eine lokale Größe, mit der die Jungs öfter zu tun haben, an diesen Ex-Boxer, diesen – wie heißt er doch gleich? –, ach ja, Heiner Kühn. Kann er aber kaum sein, denn dass ausgerechnet der zu den Vernunftbegabten in ihrem Zuständigkeitsbereich gehört, kann Lea sich beim besten Willen nicht vorstellen. Liegt gegen diesen Kühn nicht auch aktuell gerade was vor? Egal, sie hat jetzt was anderes zu tun.
+ + +
Stolte überlegt kurz, ob er sich diese drei Milchbärte mal vornehmen soll. Wenigstens die Ausweise könnte er sich zeigen lassen. Stehen da an der Kasse, freitags abends nach elf, decken sich mit Cola-Bier in Dosen, Wodka und Limo ein. Süß muss es also noch sein, wenn sich die Knaben den ersten Alk verabreichen, weil sie halt noch einen kindlichen Gaumen haben. Aber sie wären eben gerne erwachsen, und das heißt für sie, das hohle Hirn zum Drehen zu bringen. Drum wird der Alk unter die Zuckerbrause gemischt, ja, so ist sie, die Jugend von heute. Und dabei wird FIFA gedaddelt, oder DVDs werden geschaut, bis die Augen sich röten und sich irgendwann die Mägen umdrehen, Pornos oder so ein Star-Wars-Scheiß. Allein, dass sie sich den Stoff lieber zu dieser Uhrzeit an der Tanke besorgen, statt zwei, drei Stunden im Voraus zu planen und sich am frühen Abend im Getränkemarkt einzudecken, zeigt doch schon, wie blöd diese Brut ist. Hier bezahlen sie für den Kram glatt das Doppelte. Nicht zu fassen.
Was soll’s, meine Pizza wird kalt, ruft Stolte sich zur Ordnung.
Umständlich fingert er die letzten Flaschen Malzbier aus dem Kühlregal. Viel wird ja nie angeboten, so etwas trinkt außer ihm ja auch keiner mehr. Aber zur Pizza mag Stolte nichts anderes. Cola ist ungesund, Bier muss nicht sein, und Wasser oder Limo sind auch nichts für ihn. Malzbier aber hat Stolte schon als Kind gern getrunken. Damit hat ihn Mama aufgepäppelt, wenn er krank war oder nicht essen wollte. Und er wollte oft nicht essen, keine Ahnung, warum. Stolte ist auch heute noch kein großer Esser. Aber die Pizza am Samstagabend mit den Kollegen, die muss schon sein.
Jetzt müssen die kleinen Dumpfbacken an der Kasse auch noch mit Karte zahlen. Dauert doch nur noch länger. Erst recht, weil sie sich auch noch bei der Eingabe der PIN vertippen? Am Ende hat der Milchbubi die Karte noch seinem Alten geklaut ... Im Ernst, Stolte, das musst du jetzt wirklich nicht nachprüfen, das ist nicht einmal ein Anfangsverdacht, das hast du dir jetzt nur so zusammenfabuliert.
Aber wenn sich jetzt einer von denen auch noch hinter ein Steuer setzt und davonfahren will? Unternimmst du dann was, Stolte?
Ach was. Die Milchbubis haben den Stoff nur gekauft, aber noch nicht konsumiert. Sieht auch nicht so aus, als ob sie bereits angetrunken wären. Riecht vor allem nicht so. Und einen Lappen wird der Fahrer schon haben, weshalb solltest du das also überprüfen. Dass keiner von denen aussieht, als wäre er schon über fünfzehn, heißt doch nichts, diese verweichlichten Jüngelchen rasieren sich doch heute alle erst mit einundzwanzig das erste Mal. Wenn du dir jetzt allen Ernstes die Ausweise zeigen lässt, lachen sie dich aus, dummfrech, wie es ihre Art ist. Also reg dich ab, Stolte, bezahl dein Malzbier und mach dich auf zu deiner Pizza.
Die Bedienung an der Tanke ist ebenfalls noch blutjung, aber fett wie Sau. Tja, Mädel, du wirst wohl auch in zwanzig Jahren noch an Samstagabenden eher Dienst an der Tanke schieben, als mit Jungs loszuziehen.
Jetzt aber nichts wie zahlen und raus hier.
Stolte mag keine Tanken. Vor allem wegen der Neonröhren, deren Surren ihm immer im Kopf nachhallt, wirklich unangenehm ist das. Und wegen des weißen Lichts, das sie abgeben. Es lässt Gesichter aschfahl aussehen, seins insbesondere. Er ist schon von Haus aus ein blasser Typ, oder besser: ein hellhäutiger.
Draußen an den Säulen quetscht sich der milchbärtigste der drei Bubis hinters Steuer eines klapprigen Fort Taunus, vermutlich vom Erzeuger vermacht worden, um anschließend einen Kavaliersstart hinzulegen, der von klappernden Ventilen begleitet wird. Stolte stelzt derweil zu seinem Dienstwagen, als ihm drei weitere Typen auffallen, die des Wegs kommen. Merkwürdiges Gespann: Einer ihm Rollstuhl, ein Dicker, der ihn schiebt, und einer, der eher Stoltes Figur hat.
Moment mal ... Das ist doch Heiner Kühn. Der kühne Heiner.
„Heiner?“, spricht Stolte ihn fast ungläubig an. Alle Schupos im Bezirk duzen den ehemaligen Boxer. Das hat sich im Lauf der Zeit halt so ergeben, so oft, wie sie mit ihm zu tun haben. Da erlaubt Stolte sich das natürlich auch.
Kühn bleibt stehen und blickt seinerseits Stolte an, fast schon entgeistert und mit dem Missmut im Blick, der sich bei Typen wie ihm mit den Jahren einstellt, sobald sie einen Uniformierten erblicken. Seine beiden Begleiter sind ebenfalls stehen geblieben, schauen eher fragend als erschrocken.
Stolte tritt näher.
„Heiner, wo steckst du die ganze Zeit?“, fragt Stolte. „Wir suchen dich schon seit Tagen.“
Statt Antwort zu geben, hebt Kühn nur leicht die Schultern und schüttelt den Kopf.
„Wir waren schon kurz davor, dich zur Fahndung auszuschreiben“, erklärt Stolte.
Auch dem hat Kühn nichts zu entgegnen. Womit er offen lässt, ob ihm nur rätselhaft ist, was sein Gegenüber von ihm will, oder ob er es im Gegenteil nur allzu gut weiß, sich aber dumm stellen will, so lange es geht. Ist ja auch oft genug die beste Masche, den Mund nur aufzumachen, wenn es unbedingt geboten ist. Stolte, der aus dem platten Norden stammt, hat lange gebraucht, bis er kapiert hat, dass diese extreme Maulfaulheit ein typisch einheimisches Verhalten ist und keinesfalls zwingend von beschränktem Intellekt zeugt.
„Du weißt, um was es geht?“, fragt Stolte, um Kühn auf die Sprünge zu helfen. Beziehungsweise um ihm überhaupt einen Ton zu entlocken.
„Keine Ahnung“, entgegnet Kühn kopfschüttelnd und derart nuschelnd, dass dies kaum allein der Mundart geschuldet sein kann. Stolte tippt auf einen Kiefern-Schiefstand, ein Resultat der zahlreichen Brüche, die Kühn während seiner aktiven Zeit als Boxer erlitt.
„Es liegen Anzeigen wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung gegen dich vor“, klärt Stolte ihn auf. „Und zwar seit fast vierzehn Tagen schon. Deswegen wird es langsam Zeit, dass du mal eine Aussage machst.“
Der Dicke blickt entsetzt auf. Der im Rollstuhl dagegen wirkt geistesabwesend.
„Ich hab nichts gemacht“, beteuert Kühn.
Natürlich: Er hat nie was gemacht. Alle haben nie etwas gemacht.
„Der Anzeige zufolge hast du den Dorfkrug auseinandergenommen“, informiert Stolte ihn weiter. „Und zwei seiner Gäste.“
„Die haben angefangen“, wehrt sich Kühn, leicht aufjaulend. Man braucht schon ein gutes Gehör und ordentlich Erfahrung mit dieser Art Sprache, um aus diesem Genuschel richtige Worte herauszuhören.
„Weißt du was, Heiner? Du kommst jetzt einfach mal mit aufs Revier und gibst das Ganze so zu Protokoll, wie du es erlebt hast. Dann sehen wir weiter.“
„Das geht nicht“, mischt der Dicke sich ein. „Wir müssen weiter.“
Stolte blickt ihn genervt an, bleibt aber höflich und korrekt. Das ist die Schupo-Disziplin. Und die Mentalität eines Mannes aus dem Norden.
„Hören Sie, es ist für Heiner besser, wenn er sich umgehend zu dem Vorfall äußert. Wir versuchen, ihn seit Tagen unter seiner gemeldeten Wohnadresse zu erreichen, aber da taucht er ja nie auf. Wenn er jetzt wieder verschwindet, ohne dass er nicht wenigstens mal eine Aussage gemacht hat, handelt er sich nur noch mehr Ärger ein. Wir hätten längst ganz offiziell nach ihm fahnden lassen können, wenn wir ihn nicht so gut kennen würden. Und wenn Sie sein Freund sind, sollten Sie das einsehen – und ihm zureden, mitzukommen.“
„Ich verspreche, ich bring ihn am Montag persönlich bei euch vorbei“, schlägt der Dicke vor. „Jetzt muss er mit uns mitkommen. Unbedingt.“
Stolte schüttelt den Kopf. „Ich fürchte, das kann ich nicht akzeptieren.“ Was bildet dieser Typ sich überhaupt ein? Ihm Vorschläge zu machen …
Zwischen Kühn, Stolte und dem Dicken wechseln einige lange Sekunden lang Blicke hin und her, fragende, verzweifelte, abwartende. Der Rollstuhlfahrer hat mittlerweile den Kopf gehoben und starrt unverwandt Stolte an, so als versuchte er, in dessen Zügen einen alten Bekannten wiederzuerkennen. Von der Tanke weht ein leichter Dieselgeruch herüber.
„Polizei …“, sinniert der Alte.
„Du bist also Beschuldigter einer Straftat“, wendet sich der Dicke dann zunächst an Kühn, dann an Stolte. „Was ist, wenn du jetzt einfach von deinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machst und erklärst, dich demnächst über deinen Anwalt zu äußern?“
„Ich hab kein Geld für einen Anwalt“, stoppt Kühn diesen Versuch, eine sofortige Vernehmung zu verhindern, schon im Ansatz.
„Also, was jetzt?“, fragt Stolte, im Ton etwas schärfer werdend. Dabei baut er Körperspannung auf, legt dabei sogar die rechte Hand auf sein Pistolenhalfter, als wolle er seine Bereitschaft zu ziehen demonstrieren. Das mag jetzt vielleicht etwas übertrieben wirken, ein bisschen zu sehr Sheriff, doch Stolte kann nichts dafür, er tut dies unbewusst.
„Wir kommen aber auch mit“, glaubt der Dicke entscheiden zu können.
„Mein Streifenwagen ist nicht für einen Behindertentransport vorgesehen“, bügelt Stolte ihn mit Blick auf den Rollstuhlfahrer ab.
„Mein Schwiegervater ist nicht permanent auf den Rollstuhl angewiesen“, kontert der Dicke wie aus der Pistole geschossen. „Er kann kürzere Strecken ohne Probleme laufen. Er kann sich also auch bequem hinten in Ihren Wagen setzen. Der Rollstuhl lässt sich prima zusammenklappen und passt dann in jeden Kofferraum. Wenn wir nicht mitkommen dürfen, kommt auch der Champ nicht mit.“
Stolte überlegt noch einem Moment, ob er sich das bieten lassen soll, lenkt dann aber ein. Der alte Mann ist immerhin körperlich eingeschränkt, vielleicht ist der Dicke ja auf Kühns Hilfe angewiesen, um ihn herumzuhieven, sodass es besser ist, die beiden nicht ohne ihn zurückzulassen.
„Also gut“, sagt Stolte daher und unterdrückt ein Zähnekirschen. Wobei er ein bisschen auch auf sich selbst sauer ist, auf seine Gutmütigkeit, aber auch auf seinen verdammten Diensteifer. Seine Pizza wird jetzt kalt werden …
Aber manchmal geht Recht eben auch vor Pizza.
+ + +
Lustig ist das Schutzpolizistenleben ... Und manchmal nur mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus zu ertragen.
Was hat sie sich da nur wieder aufgehalst. Mitten in der Nacht den Fahrbahnrand einer mickrigen Kreisstraße absuchen.
Die Lichtkegel, die die Scheinwerfer von Leas Vectra produzieren, sind nicht breit genug, um die Räume neben der Fahrbahn vernünftig auszuleuchten. Also muss Lea alle hundert Meter anhalten und aussteigen, um die Landschaft mit der Handlampe zu untersuchen.
Die anonyme Anruferin hat leider nicht verraten, in welchem Tempo das Auto von der Fahrbahn abgekommen war, ehe es sich überschlug. Aber allzu weit in die nächtliche Natur hinein kann es den Wagen nicht getragen haben. Bis an den Waldrand sind es fast dreißig Meter.
Ist ja nicht so, dass das Jungvolk in diesen Breiten nicht gerne mal ordentlich Gas gibt. Lea hat schon Unfälle aufgenommen, da waren juvenile Verkehrsteilnehmer nach dem Besuch eines Volksfestes mit zweihundert Sachen auf Kreisstraßen wie dieser unterwegs – und flogen, als es sie vom Asphalt fegte, über zweihundert Meter weit ins Feld.
Zappenduster erhebt er sich da vor ihr, der Wald. Steht schwarz und schweigt, wie im Lied. Wie sagte doch ihr Ex damals, als sie ihm mitteilte, wohin sie sich beworben hatte? Verkriechst du dich jetzt im Wald, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen? Sie hatte dies natürlich unkommentiert gelassen, im Stillen aber gedacht: So ganz unrecht hat er nicht. Nur „verkriechen“ hätte sie es nicht genannt. Doch so was wie „Zurück zur Natur“ war ihr schon im Hirn herumgeschwurbelt, als es sie drängte, künftig auf einer Polizeiwache im tiefsten finstren Wald Dienst zu tun. Der Ehrgeiz, die erste Frau zu sein, die eine Polizeiinspektion hinter den sieben Bergen leiten sollte, trieb sie dagegen kein bisschen um, das versicherte sie auch dem Lokalblattschreiber, der sie an ihrem ersten Tag interviewte. Der gab dies sogar korrekt wieder, nur geglaubt hat es niemand, ihm nicht und ihr erst recht nicht. Sie wollte keine feministischen Duftmarken setzen, sie wollte an den Busen der Natur, in unverbrauchte Luft, zwischen reinen Seelen wieder zu sich finden, ganz so, wie es Stadtflüchtende in Heimatfilmen behaupten.
Doch, so naiv ist sie gewesen, damals.
Und heute? Fühlt sie sich der Jungfrau von der Wegelnburg am nächsten, mit deren Geschichte sie einer der wenigen Verehrer zu betören versuchte, die auf den Plan traten, seit sie sich am Busen der Natur niedergelassen hat. Der Jungfrau von der Wegelnburg sei zu Lebzeiten nie einer recht gewesen, erzählte der passionierte Heimatkundler. Keiner ihrer Freier war ihr gut genug, und es waren nicht wenige, die um sie warben. Drum starb sie unbegattet, und zu allem Überfluss wurde sie auch noch mit einem Fluch belegt, als sie das Zeitliche segnete. Sie musste fortan umgehen, und zwar gleich in drei verschiedenen Gestalten: Mal als warzige Kröte, mal als furchterregende Schlange und mal als die wunderschöne Jungfrau, die sie zeitlebens gewesen war. Erlösen von dem Fluch konnte sie nur, wer es wagte, sie in allen drei Erscheinungsformen zu knutschen, doch da sich nie jemand fand, der sich dazu überwinden konnte, streift die Jungfrau von der Wegelnburg noch heute durch die Wälder ...
Eine gar nicht so blöde Geschichte eigentlich, um ein weibliches Zielobjekt willfährig zu quatschen. Doch Lea nahm den Heimatkundler nicht bei der Hand und führte ihn ins Schlafgemach, um ihm zu zeigen, dass sie die Botschaft verstanden hatte, dazu erschien ihr die Absicht dann doch zu durchsichtig. Mittlerweile aber fühlt sie sich der Jungfrau von der Wegelnburg näher denn je. Sie müsste schon in ihren sämtlichen Erscheinungsformen geküsst werden, um ihr Herz zu verlieren. Doch die Chancen stehen schlecht, denn sie präsentiert sich bisweilen in Erscheinungsformen, die will garantiert keiner küssen..
Ob sie heute Nacht auch umgeht, die Schwester im Geiste, sie sie vielleicht gerade beobachtet, aus dem schwarzen Wald heraus?
Du verträumte dumme Gans, um ein Haar hättest du glatt das Fahrzeugwrack übersehen, über das der Lichtkegel deiner Handlampe soeben geglitten ist.
Tatsächlich. Da liegt er, der Unfallwagen. Und seine Schweinwerfer glotzen dich an wie die toten runden Augen einer Kuh, die sich nach einem letzten Grasen einfach zur Seite fallen ließ, um vor ihren Schöpfer zu treten.
Ein kastenförmiger, japanischer Kleinbus. Nicht, dass Lea Autoästhetin wäre, aber viel Hässlicheres knoddelt sich hierzulande kaum durch den Straßenverkehr. Sieht nicht sonderlich zerbeult aus. Das macht Lea Hoffnung, dass sich vielleicht niemand mehr im Fahrzeuginneren befindet. Kein Schwerverletzter, der komatös vor sich hinblutet, und auch keiner, der bereits alles hinter sich hat. Hat Lea schließlich schon alles gesehen, nach über einem Dutzend Dienstjahren. Das sind Anblicke, die nie so ganz selbstverständlich werden.
Sich die Handlampe neben ihr Gesicht haltend, tritt sie näher. Tatsächlich, der Fahrersitz ist leer, der Beifahrersitz ebenfalls. Als sie den Wagen erreicht, versucht sie, die seitliche Schiebetür zu öffnen, die nun nach oben zeigt. Klappt nicht. Also leuchtet sie durchs Seitenfenster hinein, um sehen zu können, ob sich jemand auf den hinteren Sitzreihen befindet. Auch das ist nicht der Fall.
Die verunfallten Fahrzeuginsassen haben den Wagen also verlassen und sind mit hoher Wahrscheinlichkeit wohlauf, mehr oder weniger jedenfalls. Und sie waren geistesgegenwärtig genug, die Karre wieder abzuschließen, bevor sie sie herrenlos zurückließen.
Und sie haben weder Polizei noch Notarzt noch Feuerwehr gerufen.
Was schließt die erfahrene Erste Polizeihauptkommissarin daraus?
Die Unfallopfer waren genauso breit wie der Unfallverursacher. Drum sind sie nach dem Crash erst einmal nach Hause, um ihren Rausch auszuschlafen, bevor sie weitere Schritte unternehmen. Die vermutlich so aussehen, dass sie nach ihrer Ernüchterung zu ihrem Fahrzeug zurückkehren, um es zu bergen, heimlich, still und leise, weswegen dies mit Bordmitteln erledigt wird. Mit Vettern und Neffen im Schlepptau, die den Wagen aufstellen können, und einem Großonkel, der eine Seilwinde an seinem klapprigen Geländewagen hat. Oder der für diesen Sondereinsatz den alten Trecker aktiviert, der auf seinem Grundstück vor sich hinrostet und Öl verliert.
Ließe Lea die Sache nun einfach auf sich beruhen, könnte sie sicher sein: Wenn sie morgen Abend hierher zurückkehrt, ist diese blecherne Fehlgeburt spurlos verschwunden. Sogar das Wiesengras hätte sich zwischenzeitlich wieder aufgestellt.
Also könnte Lea jetzt einfach zur PI zurückfahren und bis zum Ende ihrer Schicht die Füße unter den Tisch strecken, und morgen wäre wieder alles so, als ob nichts geschehen wäre. Doch so einfach will sie es dieser versoffenen Brut nicht machen. Sie fasst an ihr Funkgerät, das in der Höhe ihres rechten Schlüsselbeins hängt, und lässt den Halter des Fahrzeugs feststellen.
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„Wieder mal besoffen, und zugekokst wahrscheinlich auch. Einfach nicht zu fassen. Was war das mal für ein Sportler. Eine Schande.“
Albin kann nur die Stimme des Polizisten hören, der da gerade redet, sich aber lebhaft ausmalen, wie dieser gerade den Kopf schüttelt. Er sitzt im Flur der Polizeiwache, vor kahlen Wänden, die nach Gips riechen. Neben ihm Anton, der wieder weggedämmert ist. Hoffentlich war das Bier nicht zu viel für ihn. Aber was hätte Albin sonst tun sollen, um ihn zu beruhigen? Er tut das alles doch nur wegen Anton. Weil der nicht uff de Betze will, sondern muss.
Die Tür rechts neben der Bank, auf der Albin und Anton sitzen, steht offen. Er führt zum Aufenthaltsraum der diensthabenden Polizisten. Zwei von ihnen unterhalten sich angeregt über die soeben eingetroffene Kundschaft. Der Champ ist schließlich ein guter Bekannter.
„Der Bimbo würd den mittlerweile glatt umhauen“, sagt der, der gerade den Niedergang des Champ bedauert hat.
„Der Bimbo? Glaub ich nicht.“
„Du hast keine Ahnung.“
Den Champ hat der rothaarige Beamte in den Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges geführt. Den Vernehmungsraum vermutlich. Dessen Tür ist verschlossen.
Zu verstehen ist von der Vernehmung nichts. Nur wenn der Champ die Stimme hebt, dringt diese bis auf den Flur hinaus. Ihr Tonfall ist klagend, was genau der Champ sagen will, kann selbst Albin nicht heraushören. Der Champ hat nun einmal seine eigene Sprache, und selbst wenn er sie für fremde Ohren wenigstens ansatzweise ins Hochdeutsche modulieren könnte: Länger zurückliegende Handlungsabläufe darzustellen, das ist erst recht nicht seine Sache, da fängt er an zu stammeln, aus Hilflosigkeit eigentlich, aber wer außer Albin weiß das schon.
Wenn der Champ sich zu Unrecht beschuldigt fühlt, versucht er zunächst, seine Formulierungsschwäche mit Lautstärke zu überspielen. Irgendwann fängt er an zu schreien, und wenn er dann weiter genötigt wird, auszudrücken, was er nicht auszudrücken vermag, kann er bald nicht mehr, dann muss er körperlich reagieren. Zunächst wirft er etwas an die Wand oder tritt gegen einen Stuhl, und wenn er dann immer noch nicht in Ruhe gelassen wird, schlägt er zu. Nicht, weil er übermäßig aggressiv ist, sondern weil er verzweifelt ist, weil es schlussendlich seine Art ist, sich auszudrücken, sein letztes Mittel der Kommunikation.
Doch das weiß wirklich niemand außer Albin. Schon gar nicht der rothaarige Polizist, für den mit jeder Frage, die den Champ rhetorisch überfordert, ein Schlag ins Gesicht näher rückt.
Und wenn der Champ erst einmal angefangen hat zu schlagen, ist alles zu spät. Er wird erst den rothaarigen Polizisten niederschlagen, als Nächstes die zwei, drei Kollegen, die ihm zu Hilfe eilen, anschließend wird der Rest der Schicht anrücken, von denen wird er auch noch den ein oder anderen zu Boden schicken, bis sie ihn irgendwann niederringen, ihm Handschellen anlegen und ihn einsperren. Albin und Anton werden sie irgendwann gehen lassen, doch wie soll es dann für sie beide weitergehen, ohne den Champ? Albin kann seinen Schwiegervater unmöglich allein durch den Wald schaffen, in der Nacht schon gleich gar nicht, wo doch der Alte möglicherweise getragen werden muss, so betrunken kann nicht einmal Albin sein, dass er sich das zutraut, abgesehen davon ist sein Alkoholpegel in der vergangenen Stunde ein wenig gefallen, sodass ihm sein Plan, es bis morgen, vierzehn Uhr, uff de Betze zu schaffen, ohnehin wieder einen Tick verwegener erscheint, zu verwegen eigentlich, doch das kann, das darf er nun nicht mehr eingestehen, nicht einmal sich selbst, er muss es jetzt durchziehen, schon allein Anton zuliebe.
Aber ohne den Champ?
Kann der denn nicht einfach diese blöde Aussage machen, die Polizisten brauchen sie doch nur für ihren Papierkram, um diesen anschließend weiter zur Staatsanwaltschaft durchzureichen? Er müsste den vorliegenden Anschuldigungen nur kurz und knapp widersprechen, von wegen, stimmt alles nicht, ich bin gezielt provoziert worden, oder, noch besser, die haben als Erste zugeschlagen. Und dann? Müssen die Polizisten das so aufnehmen und ihn ziehen lassen. Weil keine Gefahr in Verzug ist und auch keine Flucht- und Verdunkelungsgefahr besteht. Alles Weitere dann am Montag, frühestens.
Und der Weg uff de Betze wäre frei.
Aber so tickt der Champ leider nicht, doch wer weiß das schon außer Albin. Also muss ihm jetzt unbedingt was einfallen, bevor der Champ den Punkt erreicht hat, an dem er nur noch körperlich kommuniziert.
Aber was, in drei Teufels Namen, soll er tun?
„Der hat doch nichts mehr drauf, der Champ“, lästert der eine Polizist weiter. „Der Alk und der Koks haben ihn längst kaputtgemacht.“
„Trotzdem. Ein Boxer bleibt ein Boxer“, hält der andere beharrlich dagegen.
„Der Bimbo ist aber auch ein Boxer. Stimmt’s, Bimbo?“
Besagter Bimbo sitzt also auch mit im Raum. Nur ist er klug genug, den Mund zu halten. Sich nicht zu beteiligen an dem dummen Gebabbel.
Alk? Okay.
Aber Koks? Ist doch vorbei, lange vorbei. Der Champ hat doch gar keinen Kontakt mehr zu den Loddeln, die ihm das Pulver besorgt haben. Als seine Ellen auf und davon ist, wollte er auch gar keins mehr. Der Champ hat doch nur wegen Ellen gekokst. Aber wer weiß das schon außer Albin.
Denn der Champ hat es ihm einmal erklärt, weil Albin sein Freund ist, sein einziger wirklich wahrer Freund. Die Ellen habe es doch überhaupt nur so lange mit ihm ausgehalten, weil er besser hagge konnte als jeder andere, berichtete der Champ. Doch so richtig gut hagge können habe er nur, wenn er gekokst hatte, erklärte er und fragte mit leicht anklagendem Blick zum Himmel, was also ihm anderes übrig geblieben sei als zu koksen.
Natürlich hat Albin argumentiert, es sei doch genau anders herum: Er habe mit Ellen Probleme, weil er permanent am Saufen und Koksen sei. Ob er denn überhaupt schon mal versucht habe, sie zu hagge, ohne vorher gekokst zu haben. Das wäre doch wenigstens mal einen Versuch wert.
Doch der Champ blieb stur. Es gehe immer nur ums Hagge und sonst um nichts, beharrte er und wiederholte es nach jedem Widerwort immer und immer wieder, bis Albin die Diskussion abbrach. Zugegeben, auch, weil die Vorstellung, der Champ könne recht haben, Albin kleinlaut machte, da er unweigerlich an sich und Heidrun denken musste.
Denn sie hat er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehaggt.
Albin muss in diesen Tagen oft an seinen Freund Lothar denken. Der hatte, als er seine spätere Ehefrau kennengelernt hatte und die erste Male mit nach Hause nehmen durfte, von seinen Schwiegereltern in spe die strenge Order erhalten, die Tochter an Samstagabenden nach dem aktuellen Sport-Studio unbedingt nach Hause zu bringen, denn die Eltern waren streng katholisch und duldeten nicht, dass die Tochter die ganze Nacht über fortblieb. So wurde es dem jungen Glück zur Gewohnheit, an Samstagabenden auf der Fernsehcouch, während das „aktuelle Sportstudio“ lief, noch einmal tüchtig zu hagge, ehe sie sich trennen mussten.
Was mit der Zeit dazu führte, dass seinem Freund Lothar eine Erektion erstand, sobald er die Titelmelodie des aktuellen Sportstudios erklingen hörte. Dies sei bis heute so geblieben, gestand der Freund Albin vor einigen Wochen erst. Konditionierung im besten Sinne also. Ob Lothar seine Erektion allerdings nach wie vor nutzt, um seine nunmehrige Ehefrau zu hagge, mit der er jetzt bald zwanzig Jahre verheiratet ist, ließ er offen.
Seither hat Albin sich schon manches Mal gewünscht, auch für Heidrun und ihn gäbe es eine Melodie mit solch konsequenter Wirkung. Und einmal ist er sogar schon darüber ins Philosophieren gekommen, wie schön es wäre, wenn für jedes lange verheiratete Paar eine solche Weise existierte …
Aber genug. Besser gar nicht weiter drüber nachdenken.
Jedenfalls weiß Albin definitiv, dass der Champ nicht mehr kokst, seit Ellen ihn verlassen hat. Weil es sich für ihn seitdem auch mit dem Hagge erledigt hat. Dieser Polyp redet Blödsinn.
„Nimm’s nicht persönlich, Bimbo“, sagt der andere Polizist. „Ich bin sicher, du hast was drauf. Aber ich hab den Champ boxen gesehen, als er noch richtig gut war. Vor allem technisch war er richtig gut. Er verfügte über eine Grundtechnik, die verlernt ein Boxer nicht, das ist wie Schwimmen und Fahrrad fahren. So was kriegst du auch mit Alk und Koks nicht kaputt.“
Im Vernehmungszimmer röhrt der Champ derweil wieder auf. Der Rothaarige hat ihm wieder eine Frage gestellt, für deren Antwort er keine Worte findet. Das geht nicht mehr lange gut.
Was hat er eigentlich angestellt?
Albin hat sich vorhin noch schnell informiert, bevor der Rothaarige mit dem Champ in diesem Kabuff verschwunden ist. Vor über zwei Wochen schon war die Polizei in den Dorfkrug gerufen worden. Als die beiden Beamten eintrafen, stand der Champ auf dem Tresen und urinierte auf zwei Gäste des Lokals, die am Boden lagen und die er zuvor offenbar niedergeschlagen hatte. Und während er auf die Unterlegenen schiffte, sang der Champ „We are the Champions“. Seinen Pimmel ließ er dabei im Takt hin und her schwingen.
„Er hat gar nicht mal schlecht gesungen“, berichtete der rothaarige Polizist, so süffisant, wie Albin es ihm nicht zugetraut hätte. Anscheinend war er selbst einer der Beamten vor Ort gewesen.
Doch da der Champ so „hackedicht“ war, dass eine Vernehmung keinen Sinn machte, er sich aber auch nicht weiter gewalttätig zeigte, ließen ihn die Beamten noch in der Nacht wieder laufen und bestellten ihn für den nächsten Tag aufs Revier, um seine Aussage aufzunehmen. Er kreuzte aber einfach nicht mehr auf, auch zu Hause war er in den Tagen nicht mehr anzutreffen. Drum habe er bei der zufälligen Begegnung an der Tanke prompt reagiert und ihn mitgenommen, erklärte der Rothaarige.
Der Aussage der übrigen Beteiligten zufolge hatte der Champ sie natürlich vollkommen grundlos verprügelt. Das aber könne ja wohl nicht sein, daher müsse der Champ unbedingt seine Sicht der Dinge schildern. „Wir meinen es doch auch nur gut mit ihm“, versicherte der Rothaarige.
Das mag ja sein. Aber sie müssen weiter. Uff de Betze. Und zwar mit dem Champ. Denn ohne ihn schaffen sie es nicht.
+ + +
„Das dumme Arschloch.“
Doch, nichts anderes hat sie eben gesagt. Es hat auch nicht so geklungen, als sei es ihr im ersten Moment der Überraschung nur so rausgerutscht. Sondern es klang wie eine Feststellung, die nüchterne Erkenntnis aus dem eben Gehörten.
Das dumme Arschloch.
Nicht, dass solche Ausfälle für Lea ungewöhnlich wären. Es kommt öfter vor, dass sich Eheleute ihr gegenüber abfällig übereinander äußern, sogar im Beisein des Gescholtenen. Ist auch schon vorgekommen, dass sie aufeinander losgegangen sind und Lea die beiden voneinander trennen musste. Szenen einer Ehe eben. In über einem Dutzend Dienstjahren erlebt eine Erste Polizeihauptkommissarin so allerlei.
In diesen Breiten sind sie halt weniger dialoglastig als anderswo, diese Szenen einer Ehe. Sie ziehen sich eher stumm und zäh dahin. Bis das Schweigen eines Tages bricht, und dann wird es oft gleich richtig laut und nicht selten körperlich, sinnlos, hirnlos, brutal. Wie gesagt, Lea hat da so ihre Erfahrungswerte.
Aber: das dumme Arschloch? So unvermittelt aus dem Mund dieser Frau? Dieser feingliedrigen, angenehm zurückhaltend wirkenden Person, die zwar abgekämpft, aber noch lange nicht besiegt wirkt, allenfalls allmählich bedroht vom Verlust der inneren und äußeren Form?
Das ist Heidrun Schmitter.
Lea erschrak fast, als die junge Frau die Tür öffnete, war es ihr sofort, als stehe sie vor einem zehn Jahre jüngeren Abbild ihrer selbst. Und auch Heidrun Schmitter schaute nicht irritiert, weil die Polizei vor ihrer Haustür stand, sondern weil die ihr auf Anhieb sympathische Person da vor der Tür in einer Polizeiuniform steckte, so kam es Lea jedenfalls vor … Obwohl, da hat sie sich wahrscheinlich nur mal wieder viel zu schnell etwas zusammengereimt.
Und das ist eigentlich gar nicht gut. Eine Erste Polizeihauptkommissarin sollte einer Person, die ihr im Rahmen ihrer Polizeiarbeit begegnet, nicht so spontan mit so viel Wohlwollen begegnen. Aber es ist eben zu verrückt: Diese müden Augen, diese schmale Ober- und die volle Unterlippe, dieses schmale Gesicht, das so leicht zum Strahlen zu bringen wäre, wenn da nur was wäre, was es zum Strahlen brächte, das alles kommt Lea sofort so vertraut vor. Hat sie es selbst doch so oft schon gesehen, öfter sogar, als er ihr lieb ist, morgens im Spiegel nämlich.
„Frau Schmitter, wer hat Ihr Auto heute Abend benutzt?“, hat Lea die junge Frau gefragt, um sie nicht länger nur zu betrachten, sondern um auch mal etwas zu tun.
„Mein Mann, wieso?“, hat sie geantwortet, direkt besorgt. Fast ohne Anflug von Dialekt. Hört man nicht oft in der Gegend bei einer Ermittlung, zu diesem Anlass, zu dieser Uhrzeit sogar noch seltener.
„Weil wir Ihren Wagen an der Kreisstraße gefunden haben. Auf der Seite liegend, abgeschlossen und verlassen. Er ist offenbar von der Fahrbahn abgekommen und umgekippt. Ist Ihr Mann denn mittlerweile ohne Auto nach Hause gekommen?
Worauf es Heidrun Schmitter unmittelbar entfuhr: „Das dumme Arschloch.“
Gut, dass Lea keinen von den Jungs dabei hat. Denn wenn einer von denen nun neben ihr stünde, könnte sie sein Grinsen jetzt spüren, und das wäre einfach unprofessionell.
„Das klingt, als wäre er noch nicht zu Hause“, erwidert Lea trocken.
„Nein, ist er auch nicht“, erklärt Heidrun Schmitter. „Und nach dem, was Sie mir da gerade erzählt haben, wird er sich hüten, nach Hause zu kommen.“
Lea spürt, dass die Wut in der jungen Frau noch am Hochkochen ist und längst nicht die Temperatur erreicht hat, die den Deckel vom Topf fliegen lässt.
„Unter Umständen auch gar nicht?“
„Möglich. Das ist schließlich mein Auto, das er da kaputtgefahren hat, das dumme Arschloch.“
„Zu Ihrer Beruhigung: So kaputt ist Ihr Wagen gar nicht, soweit ich das beurteilen kann. Und was genau geschehen ist, wissen wir ja noch gar nicht. Es könnte sogar sein, dass Ihr Mann den Unfall gar nicht verursacht hat. Um das herauszufinden, bin ich ja hier. Darf ich reinkommen?“
„Natürlich.“
Es ist kein großes Haus, in dem die Schmitters wohnen. Von vorne sieht es aus wie die Zeichnung eines Kindes: Ein Quadrat, auf das ein gleichschenkliges Dreieck gesetzt ist. In der Mitte die Haustür, links und rechts davon Fenster, und noch ein Fenster oben in der Mitte. Sechziger Jahre, mit Bausparvertrag finanziert. Freistehend, giebelständig, direkt an der Straße, die Fassade muss schon lange mal wieder abgestrahlt werden, der Garten erstreckt sich nach hinten raus.
Lea folgt Heidrun Schmitter und dem Geruch von Möbelpolitur ins Wohnzimmer. Nussbaum furniert. Das teuerste Möbelstück ist der Flachbildfernseher, 46 Zoll. An der Wand der gescheiterte Versuch, einen modernen Akzent zu setzen: Salvatore Dalí, die zerfließenden Uhren, mehr Metapher geht fast schon nicht mehr. In der Ecke ein Gummibaum, der noch immer überzeugt davon ist, dass er mal ein ganz Großer werden könnte, wenn er nur genug Licht bekäme.
„Möchten Sie einen Schnaps?“
„Danke, nein.“
Das Bin-im-Dienst erspart sich Lea. Sie kann allerdings gut verstehen, dass Heidrun Schmitter einen braucht. Sie öffnet eine Glasvitrine, holt ein tropfenförmiges Glas hervor, greift eine kegelförmige Flasche aus dem Globus, dessen obere Hälfte aufgeklappt ist. Die Hausbar.
Roter Weinbergspfirsich. Ja, der würde der Ersten Polizeihauptkommissarin auch schmecken. Wenn sie nur nicht immer so gottverdammt professionell auftreten müsste.
„Ich habe einen anonymen Anruf erhalten, der meiner Vermutung zufolge von der Begleiterin des Unfallschuldigen kam“, setzt Lea das Gespräch fort, nachdem sie sich in die bereitstehenden Polstermöbel gepflanzt haben, Heidrun Schmitter aufs Dreiersofa, Lea in den Sessel. „Für mich sieht es eher so aus, als ob Ihr Mann von einem anderen Verkehrsteilnehmer von der Fahrbahn gedrängt worden wäre.“
„Na wunderbar“, kommentiert Heidrun Schmitter und kippt den Weinbergspfirsich mit einem sanften Ruck in sich hinein.
„Das Dumme ist nur, wenn Ihr Mann selbst lieber das Weite sucht, statt den Unfall anzuzeigen, verringern sich auch unsere Chancen, den Schuldigen zu finden. Und dafür zu sorgen, dass der entstandene Schaden gerecht reguliert wird.“
Heidrun Schmitter blickt Lea lange an, aus Augen von kaum definierbarer Farbe, eine Art Blaugrüngrau. Es ist, als wolle sie sagen: Wir brauchen uns doch nicht ernsthaft was vormachen, oder? Wir sind doch verwandte Seelen.
„Und was glauben Sie, weshalb er das Weite sucht, obwohl er unschuldig ist?“, fragt sie, und es klingt, als wolle sie nur bestätigt haben, was ihr selbst bereits sonnenklar ist.
„Ich glaube, dass Ihr Mann selbst unter Alkoholeinfluss gefahren ist“, tut Lea ihr den Gefallen, ohne dem Blick ihres Gegenübers auch nur einen Lidschlag lang auszuweichen. „Wahrscheinlich will er warten, bis sein Alkoholspiegel ins Unbedenkliche gesunken ist, und sich dann melden. Und da er denkt, dass wir, falls wir doch auf den verunfallten Wagen aufmerksam werden, als Erstes bei Ihnen vorbeischauen, pennt er seinen Rausch jetzt bei einem Bekannten aus.“
Lea könnte glatt den Kopf über sich selbst schütteln. Sie hat soeben tatsächlich „verunfallt“ gesagt. Das bescheuertste Wort Uniformiertendeutsch, das jemals einem Uniformierten eingefallen ist.
Heidrun Schmitter nickt. „Einerseits haben Sie recht. Er hat wohl den Kanal voll. Andererseits: Das ist nicht der Grund, weswegen er sich nicht nach Hause traut.“
„Sie meinen, es ist nicht die Angst vor dem Donnerwetter, das er von Ihnen erwarten darf?“ Jetzt schmunzelt Lea auch noch. Unprofessioneller geht’s jetzt nicht mehr.
„Nein. Es ist wegen meinem Vater.“
„Ihrem Vater?“
Heidrun Schmitter schenkt sich einen weiteren Weinbergspfirsich ein.
„Er ist mit meinem Vater unterwegs. Und einem seiner Kumpels. Er will mit den beiden morgen uff de Betze. Und er weiß genau: Wenn er nach Hause kommt, nachdem er unser Auto zu Schrott gefahren hat, kann ich ihm zwar nicht verbieten, sich morgen dennoch irgendwie uff de Betze zu schaffen, aber eins wird er sich an fünf Fingern abzählen können: Meinen Vater vertraue ich ihm nicht noch einmal an, diesem dummen Arschloch. Deswegen kommt er nicht nach Hause.“
„Ich fürchte, das verstehe ich jetzt nicht ...“
„Mein Vater ist dement. Parkinson. Noch nicht im weiter fortgeschrittenen Stadium, noch ist er die meiste Zeit einigermaßen klar im Kopf, er kann auch noch laufen, aber keine längeren Strecken mehr. Darum haben sie auch einen Rollstuhl dabei.“
„Einen Rollstuhl? O Gott.“ Lea erinnert sich an die Begegnung, die sie vorhin am Ortsausgang hatte. Drei Männer, einer davon im Rollstuhl.
„Ich wollte es meinem Vater ohnehin schon längst verbieten, mit uff de Betze zu gehen. Aber es hat ihm so viel bedeutet.“
„Sie sagten, Ihr Mann hätte auch einen seiner Kumpels dabei. Um wen handelt es sich da?“
„Den Champ.“
„Den Champ?“
„Dieser ehemalige Boxer. Den kennt doch jeder hier. Heiner Kühn.“
Lea hält die Luft an. Tatsächlich: Das war Heiner Kühn, den sie da vorhin am Ortsausgang gesehen hat. Das waren die drei Gesuchten, und sie ist einfach an ihnen vorbeigefahren. Mist, verdammter. Andererseits: Das hat sie ja nun wirklich nicht ahnen können. Also egal. Weiter. Nächste Frage.
„Kommen wir zur Kernfrage: Wo könnte Ihr Mann mit Ihrem Vater denn die Nacht verbringen wollen?“
„Keine Ahnung.“ Heidrun Schmitter stürzt sich das nächste Gläschen Weinbergspfirsich in den Unterkiefer. Scheint guter Stoff zu sein.
„Würden Sie mir es denn sagen, wenn Sie einen konkreten Verdacht hätten?“
„Natürlich.“ Jetzt schafft sie es sogar, Lea anzulächeln. Ist das der Alkohol oder die gute Chemie zwischen ihnen?
„Wissen Sie denn, wo dieser Champ wohnt? Ist doch naheliegend, dass sie bei ihm unterschlüpfen.“
„Ich glaube kaum, dass der Champ über eine menschenwürdige Behausung verfügt, in der er so mir nichts, dir nichts zwei spontane Gäste beherbergen kann. Dem Champ geht’s nämlich ziemlich dreckig, soweit ich weiß.“
Lea erinnert sich an die Geschichten, die die Jungs über den Champ erzählen. Er soff und kokste, bis seine Boxkarriere den Bach runterging, und nachdem es damit endgültig vorbei war, war bald darauf auch die letzte Frau weg, die es noch mit ihm ausgehalten hatte. Eine Zeitlang verdiente er sich die Kröten, die er zum Weitersaufen und -koksen brauchte, als Rausschmeißer im Rotlichtmilieu, bis sich auch die Zuhälter nicht mehr auf ihn verlassen konnten, obwohl sie selbst es ja waren, die ihm den Koks besorgten, während für den Suff ihm jede Tanke der Gegend den Stoff bereithielt. Seither hartzte der Champ vor sich hin.
„Aber irgendwo muss Ihr Mann Ihren Vater doch hinbringen“, hakt Lea nach. „Haben Sie wirklich keine Idee?“ Eigentlich ist es idiotisch, von der jungen Frau zu verlangen, dass sie ihren eigenen Macker verrät und ihn so mit hoher Wahrscheinlichkeit um seinen Führerschein bringt. So sehr sie auch betont, dass er ein dummes Arschloch sei. Aber vielleicht ist es ihr ja wichtiger, dass ihr Vater möglichst schnell gefunden wird.
„Also, wie ich Albin kenne, ist er aus dem Wagen gekrabbelt, hat meinen Vater in seinen Rollstuhl gesetzt und ist zu Werner zurückgelatscht. Werner besorgt ihm schließlich auch sonst alles. Also kann er ihm auch ein Bett für die Nacht beschaffen, und morgen früh bestimmt eine Fahrgelegenheit uff de Betze. Alles andere hat Zeit, bis das Spiel vorbei ist. So ist er halt, mein Albin.“
„Kennen Sie die Adresse von diesem Werner?“
Heidrun Schmitt kennt zumindest die Straße, in der sich Werners Lokal befindet. Dürfte nicht schwer zu finden sein.
„Und dieser Werner ist der Kumpel Ihres Mannes und zugleich sein Wirt?“
Heidrun Schmitter nickt. „Er ist sein Fixstern. Zu ihm sind sie auch heute Abend gefahren. Zum Vorglühen, aber auch, um die Wegzehrung für morgen einzuholen. Denn auch für die ist Werner zuständig. Er versorgt sie mit Dosenbier, Zwiebelbrot und einer fetten Wurst, von der nur Werner weiß, welcher gottgefickte Metzger in welchem gottverlassenen Kaff sie immer noch zubereitet, nach Originalrezepten, die andernorts längst verschollen sind. Und meinem Vater hat Albin den Floh ins Ohr gesetzt, er müsse auf die Tour zu Werner mitkommen, das gehöre zum Ritual. Darauf hat mein Vater so lange genervt, bis ich nicht mehr nein sagen konnte. Er ist mittlerweile wie ein kleines Kind. Und ich kann manchmal einfach nicht mehr ...“
Keine Frage: Die Frau braucht Trost. Zeit, dass die Erste Polizeihauptkommissarin das Vorurteil bestätigt, Frauen in Uniform verfügten über ein besseres Einfühlungsvermögen.
„Es wird schon nichts Schlimmes passiert sein. Und andererseits ist es doch auch schön, dass Ihr Mann so bemüht ist, seinem Schwiegervater eine Freude zu machen.“
Heidrun Schmitter zieht eine Grimasse.
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es diesem Arschloch ums Wohl meines Vaters geht.“
„Um was denn sonst?“
„Sie sind wohl nicht von hier, was?“
„Nö. Bin ich nicht.“
„Und auch noch nicht lange genug hier, um dieses merkwürdige Volk hier zu begreifen, was?“
Lea lässt die Frage unbeantwortet. Sondern schaut ihr Gegenüber einfach so lange an, bis es fortfährt.
„Albin ist überzeugt, dass de Betze morgen nur gewinnen kann, wenn Anton im Stadion ist. Egal, in welchem Zustand, er muss dabei sein. Denn de Betze muss morgen gewinnen. Das ist so eine ganz bescheuerte Art von Voodoo. Und glauben Sie nicht, dass mein Mann der Einzige ist, der so drauf ist, wenn es um de Betze geht. Auch wenn er ein dummes Arschloch ist.“
+ + +
„Es ist eben nicht nur die Grundtechnik. Es sind die Reflexe, die einen Boxer ausmachen. Und die Reflexe gehen vor die Hunde, wenn du vom Alk und vom Koks nicht lassen kannst.“
„Du glaubst, du weißt alles besser, was?“
„Alles bestimmt nicht. Aber wenn ich was weiß, dann das.“
Können die beiden nicht endlich mal das Maul halten? Einfach nur das Maul halten?
Aus dem Verhörzimmer sind wieder Klagelaute zu hören, lauter denn je. Der Champ leidet. Lange kann das nicht mehr gutgehen. Gleich fliegt irgendwas an die Wand. Ein Stuhl oder so.
Wahrscheinlich zählt der Rothaarige gerade auf, was alles kaputtgegangen sein soll während der Schlägerei, die sich der Champ mit den beiden Gästen geliefert hat. Gläser, Barhocker, ein Spiegel, jede Menge noch mindestens halbvolle Flaschen, gefüllt natürlich mit edelstem Cognac und exklusivem Whisky … Ist doch klar, dass der Wirt noch einiges zusätzlich draufgepackt hat auf seine Schadensaufstellung, die Gelegenheit muss er doch nutzen, um ordentlich was in Rechnung zu stellen, endlich kann er sich sämtliche Schäden und Mängel der letzten fünfundzwanzig Jahre vergüten lassen, so eine zünftige Schlägerei mit viel Bruch ist doch das Beste, was einem Wirt passieren kann, weiß man doch, kennt man doch, sind doch alles Gauner. Außer Werner natürlich.
Kann man dem Champ überhaupt verübeln, dass er ausflippt, wenn er hört, dass er durch diese Bumsbude hindurchgepflügt sein soll wie Godzilla durch Japan?
Albin hält sich Mund und Nase zu, um nicht loszuschreien. Vor Wut, vor Verzweiflung, vor was auch immer.
Er braucht eine Idee. Jetzt. Eine, auf die sonst keiner kommt. Eine, mit der sich doch noch gewinnen lässt, wenn sonst keiner mehr dran glaubt. So wie Kalli einundneunzig. Einundreißigster Spieltag, de Betze gewinnt gegen Bochum viereins, aber Stumpf und Kadlec verletzen sich schwer, fallen beide für den Rest der Saison aus, beide Abwehrcracks auf einmal, nicht zu fassen, drei Spieltage vor Schluss, die Lederhosen feixen schon, jetzt werden sie doch Meister. Und was macht Kalli? Er lässt Kuntz Libero spielen. Kuntz, den Stürmer. Da muss man erst mal drauf kommen. Die Woche drauf gewinnt de Betze in Bremen. Drei Wochen später ist er Meister.
So eine Idee brauchst du jetzt auch, Albin.
„Der Bimbo, der hat die Reflexe. Die hat er schon lange, aber jetzt ist er so weit, sie richtig koordiniert einzusetzen. Blitzschnell ausweichen und zurückschlagen, blitzschnell, Reaktion und Aktion in einer einzigen, fließenden Bewegung. Beherrscht er jetzt. Hab ich mich selbst von überzeugt.“
„Wenn du das sagst“, näselt der andere. Anscheinend hat er langsam genug von der Diskussion.
Moment mal.
Das ist die Lösung. Doch, das ist sie.
Denk einfach nicht mehr lange drüber nach. Mach’s einfach. Fass den Geistesblitz und schleudere ihn, als wär’s ein Speer. Nicht warten, bis die Bedenken kommen. Sieger zweifeln nicht, Zweifler siegen nicht, sagt wer? Nicht Kalli, aber Gerry.
Albin springt auf und tritt durch die Tür des Bereitschaftsraumes. Da sitzen sieben Polizisten vor leergefutterten Pizzakartons. Und Cola- und Wasserpullen. Kaum zu glauben, aber wahr: Keiner hat eine Flasche Bier vor sich stehen, was sind das denn für Bullen? Im Zentrum zwei ältere Exemplare, ein eher gedrungenes mit kurzen, an den Schläfen nun zurückweichenden Löckchen, die in den Siebzigern mal einen tierischen Afro hergegeben haben könnten, und ein breitbrüstiges mit Bürstenschnitt und rotem Gesicht, dem man den Wichtigtuer schon von Weitem ansieht, das müssen die sein, die sich über den Champ und das boxende Nachwuchstalent ausgetauscht haben. Neben dem Breitbrüstigen sitzt ein gutaussehender Cappuccinobrauner mit perfekter Figur, das muss Bimbo sein. Der Rest ist mittelalterlich bis jung und hat derart nichtssagende Bullengesichter aufgesetzt, dass Albin keine Sekunde überlegen muss, an wen er sich wenden soll.
„Du glaubst tatsächlich, dass dein Bimbo meinen Champ umhaut?“, erklärt er mit fester Stimme. Breitbeinig baut er sich vor dem Breitbrüstigen auf: „Das will ich sehen.“
Der Breitbrüstige schaut ihn völlig unbewegt an. Ob er über Albins Worte nachdenkt oder er ihn einfach nur für durchgeknallt hält, ist noch nicht raus.
Also weiter.
„Lassen wir die beiden gegeneinander antreten“, hakt Albin nach. „Jetzt und hier. Wenn der Champ gewinnt, lasst ihr ihn gehen. Das ist der Deal. Sonst verlangen wir nichts.“
Ein paar Sekunden herrscht Stille. Der Breitbrüstige verzieht weiterhin keine Miene. Das Lockenköpfchen lacht auf, kurz und trocken, und schüttelt grinsend den Kopf.
„Was?“, blafft Albin ihn sofort an, denn jetzt heißt es, nicht nachzulassen. „Dir stinkt’s doch selbst, dass dein Kollege immer recht haben will. Dann lass uns doch mal austesten, ob er tatsächlich immer recht hat.“
Als Nächstes ist der Breitbrüstige wieder dran: „Was ist? Kneifst du?“, stichelt Albin. Und dann zum Cappuccino: „Oder du?“
Lockenköpfchen spürt, dass es in seinem Kollegen, der offenbar die Autorität im Raum hat, zu gären beginnt.
„Das kannst du nicht machen“, erklärt er leise, aber bestimmt in Richtung seines Kollegen.
„Warum nicht? Wär doch mal ein echtes Highlight“, antwortet der Breitbrüstige, so leise, als spräche er zu sich selbst, aber ohne den Blick von Albin zu nehmen.
„Fang nicht an zu spinnen“, wettert Lockenköpfchen, ein wenig nachdrücklicher nun. „Was ist, wenn die Alte zurückkommt?“
„Die hat vorhin angerufen“, hält der Breitbrüstige dagegen. „Die ist noch eine Weile unterwegs, klärt ’ne Unfallflucht auf.“
Albin schluckt. Und muss sich zusammennehmen, um seinen entschlossenen Gesichtsausdruck aufrechtzuerhalten. Tatsächlich weiß er nämlich nicht, ob er lachen oder weinen soll.
Es klappt. Es klappt tatsächlich. Er kommt tatsächlich durch mit seiner Irrsinnsidee. Er ist ein gottverdammtes Genie. Wie Kalli.
Leider hat das außer ihm noch nie jemand erkannt.