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Olga
ОглавлениеDie Beichte eines Kindermädchens
Sie stand eines Tages bei der Familie Fischer vor der Tür und sagte: „Guten Tag, ich habe gehört, dass sie ein Kindermädchen suchen.“
Frau Fischer sah die junge Frau, - oder war es noch ein junges Mädchen, - erstaunt von oben bis unten an. Sie war hübsch, aber nicht sehr vorteilhaft gekleidet. Unter ihrer Strickmütze quollen blonde Haare hervor, die zu einem langen sauberen Zopf geflochten waren. Sie trug eine Windjacke, einen dreiviertellangen Rock und handgestrickte Socken, die in derben Straßenschuhen steckten.
„Bin ich hier richtig?“, fragte sie.
Frau Fischer registrierte den ausländischen Akzent in ihrer Sprache. Osteuropäisch, dachte sie, polnisch oder russisch. Aber man soll ja keine Vorurteile gegen Ausländer haben. Manche sollen ganz fleißig sein und billiger als deutsche Arbeitskräfte sind sie auch.
„Kommen Sie doch erst einmal herein“, sagte sie.
Die junge Frau streifte die Schuhe auf der Fußmatte ab.
„Oder soll ich sie ausziehen?“, fragte sie.
„Nein, nein“, antwortete Frau Fischer, „das sollen die Männer machen, wenn sie vom Hof hereinkommen. Aber die tun es meistens nicht.“
Frau Fischer ging voran in Richtung Küche. Gut erzogen scheint sie ja zu sein, dachte sie und bot ihrem Gast einen Stuhl an. Sie selbst setzte sich auf die Eckbank. Das Mädchen setzte sich auf den Rand des Stuhls und legte die Hände in den Schoß.
„Möchten Sie einen Kaffee oder lieber einen Tee?“
„Lieber einen Tee“, sagte sie etwas schüchtern.
Während Frau Fischer mit dem Wasserkocher den Tee zubereitete fragte sie halb über die Schulter: „Wie heißen Sie eigentlich?“
„Olga“, sagte ihr Gast, „genügt Ihnen das? Mein Nachname ist so unaussprechlich, dass ich ihn meistens weglasse. Sie können auch gleich `Olga´ und `Du´ zu mir sagen.“
„Ja, ist mir recht. Wo kommen Sie, ich meine, wo kommst du denn her?“
„Aus Russland. Ich bin an der Wolga, in der Nähe von Engels aufgewachsen. Unsere Oma war Deutsche.“
„Und deshalb sprichst du so gut Deutsch.“
„Ja, unsere Oma hat zu uns Kindern gesagt: `Ich bin Deutsche und ich spreche Deutsch, wenn ihr mich nicht versteht, dann ist es euer Problem´. Und so haben wir Deutsch gelernt. Wir liebten unsere Oma und wollten sie natürlich verstehen. Denn sie war eine sehr liebe Frau.“
„Und warum bist du jetzt hier?“
„Nach dem Tod unserer Oma wollte ich das Land kennen lernen, von dem sie uns so viel erzählt hatte. Sie hat nur Gutes über Deutschland und die Deutschen gesagt. Die Russen mochte sie nicht.“
„Und was ist mit deinen Eltern?“
Frau Fischer hatte inzwischen Tee eingegossen und ein paar selbstgebackene Plätzchen auf den Tisch gestellt. Olga probierte einen der Kekse und sagte dann: „Oh, die sind genau so lecker wie bei meiner Oma. Sie hat gerne gebacken, aber leider gab es bei uns nicht immer die richtigen Zutaten.“
„Und was ist mit deinen Eltern?“, hakte Frau Fischer nach.
„Meine Mutter ist auch noch in Deutschland geboren, aber schon als kleines Kind mit ihren Eltern ausgewandert. Später hat sie dann einen russischen Mann geheiratet. Meine Eltern haben nur Russisch gesprochen. Und in der Schule haben wir auch nur Russisch gelernt.“
„Hast du denn schon einmal in einem Haushalt gearbeitet?“
„Nur zu Hause. Aber ich kann kochen und putzen. Und ich habe immer gerne mit den Kindern in der Nachbarschaft gespielt. Ich liebe Kinder.“
„Das ist uns auch wichtig. Unsere Kinder sind noch klein. Saskia ist fünf und Max gerade drei. Vormittags sind sie im Kindergarten. Da müsstest du sie abholen und eine Kleinigkeit zu Essen für sie machen. Gegen 18 Uhr essen wir dann alle gemeinsam. Wir würden immer einen Speiseplan machen, denn für das Kochen wärest du meistens zuständig, weil ich tagsüber im Büro unseres Betriebes arbeite. Du könntest bei uns wohnen. Oben hättest du dein eigenes Zimmer. Aber über Geld musst du mit meinem Mann sprechen. Dafür ist er zuständig.“
Olga hatte aufmerksam zugehört und nickte zustimmend.
„Wann könntest du denn anfangen?“
„Wenn Sie wollen sofort. Ich müsste nur noch meinen kleinen Koffer vom Bahnhof abholen“.
„Gut“, sagte Frau Fischer abschließend, „da kann Joseph nachher mit dir hinfahren. Joseph ist unser Lagerarbeiter. Er ist sehr nett, du wirst sehen. Und um ein Uhr musst du dann die Kinder vom Kindergarten abholen. Joseph wird dir den Weg zeigen. Ich rufe ihn gleich. Ach, noch eins, montags hättest du deinen freien Tag. Da kümmere ich mich selbst um alles. Da muss mein Mann sehen, wie er allein klarkommt.“
"Harmonie"
Kriminalhauptkommissar i.R. Walter war ziemlich planlos unterwegs. Jetzt, als Pensionär, hatte er viel Zeit, jeden Tag frei und niemanden, um den er sich hätte kümmern müssen. Er war mit seinem Wagen am Rhein unterwegs, von Köln aus rheinaufwärts. Ganz gemütlich zuckelte er auf Nebenstraßen Richtung Süden. Plötzlich stutzte er. Was hatte da auf dem Wegweiser gestanden? Er bremste und setzte zurück. Und da stand es groß und deutlich, schwarz auf gelb: Harmonie 2 Km. Den Ort sehe ich mir mal an, dachte er, bog von der Kreisstraße ab und erreichte kurz darauf den Ort Harmonie – oder war es doch eher schon eine Stadt?
Er ließ seinen Wagen langsam durch den Ort rollen und parkte schließlich auf dem Marktplatz, gleich neben der Kirche. Der Platz sah aus als sei hier schon jahrhundertelang Wochenmarkt abgehalten worden. In einem großen Kreis standen die alten Häuser eng aneinandergeschmiegt rund um die Kirche. In den unteren Stockwerken der Häuser gab es kleine Geschäfte: eine Bäckerei, einen Frisör, eine Apotheke, die Poststelle, eine Bankfiliale, eine Arztpraxis und in einem größeren Gebäude die Gastwirtschaft „Zur Traube“. „Zimmer frei“ stand auf dem Plakatständer neben der Eingangstür. Das passt gut, dachte Walter, vielleicht bleibe ich ein paar Tage und sehe mich hier ein bisschen um.
Es war kurz nach Mittag. Walter setzte sich an einen der Tische vor der Gastwirtschaft. Nach kurzer Zeit kam ein junges Mädchen heraus und fragte ihn nach seinen Wünschen. Er bestellte ein Bier. Als sie es brachte, fragte Walter, auf das Schild deutend: „Ist heute auch noch ein Zimmer frei?“
„Ja, sicher“, sagte sie mit einem deutlichen Ausrufezeichen, „aber da müssen Sie auf unsere Chefin warten, denn die ist für die Zimmer zuständig. Sie kommt so gegen sechs Uhr.“
Während er das Bier trank, betrachtete Walter die Menschen um sich herum. So sehen also die Bewohner des Ortes mit dem schönen Namen Harmonie aus, dachte er. Nach einiger Zeit stellte er fest, dass sie auch nicht anders aussahen, als in anderen vergleichbaren Orten. Als er das Bier bezahlte, fragte er das junge Mädchen, was man an einem so schönen Nachmittag hier noch unternehmen könnte.
„Sie können ja wandern“, sagte sie, „vielleicht oben zur Teufelskanzel.“
Walter bedankte sich und ging in die Richtung, in die das Mädchen gezeigt hatte. Am Stadtrand fand er eine Informationstafel, auf der alle Wanderwege eingezeichnet waren, auch der „Teufelskanzel-Rundweg“, den man nach Eintragung der Wanderfreunde in etwa zwei Stunden umrundet haben könnte. Und er wäre durch stilisierte Teufelsköpfe gekennzeichnet.
Der Weg führte zunächst durch Mais- und Rapsfelder. Oberhalb der anschließenden Wiesen begann der Wald, Laub- und Nadelbäume, gemischt, dazwischen Unterholz, so wie sich nach neuesten Erkenntnissen ein natürlicher Wald selbst entwickeln sollte. Es ging stetig bergauf. Er ließ es langsam angehen, pflückte ein paar Blaubeeren, betrachte Pilze am Wegesrand, lauschte dem Gesang der Vögel und hatte schon bald die „Teufelskanzel“ erreicht. Es war die obere Kante eines alten Steinbruchs. Wahrscheinlich hatten hier vor Jahren die Menschen der umliegenden Orte die natürlichen Steinbrocken für die Fundamente ihrer Häuser genutzt. Das musste aber schon längere Zeit zurück liegen. Inzwischen wuchsen im Steilhang schon wieder Büsche und kleine Bäume. Ein provisorisches Geländer sollte wohl Wanderer vor dem Absturz bewahren. Aber diese Funktion erfüllte es schon lange nicht mehr. Die Stangen und Pfosten waren morsch und brüchig und gerade in der Mitte, der gefährlichsten Stelle, war es schon durchgebrochen. Walter trat ein paar Schritte vor und blickte vorsichtig hinunter. Es ging etwa zehn bis zwölf Meter in die Tiefe. Unten war ein freier Platz, etwa von der Größe eines Hauses. In der Mitte befand sich eine aus Natursteinen aufgeschichtete runde Feuerstelle. Wahrscheinlich feiern dort Jugendliche im Schein lodernder Flammen wilde Partys, überlegte er. Etwas oberhalb stand eine Bank die ihm sehr gelegen kam. Eine Pause konnte er jetzt gut gebrauchen. Er setzte sich und genoss die Aussicht. Warum dieser Platz hier oben „Teufelskanzel“ hieß, erschloss sich ihm allerdings nicht. Ich frag nachher mal das Mädchen vom Gasthof, beschloss er.
Hätte Walter zu diesem Zeitpunkt geahnt welch wesentliche Rolle dieser ausgediente Steinbruch mit seiner Abbruchkante in den nächsten Tagen in seinem Leben spielen sollte, er hätte wahrscheinlich nicht so versonnen ins Tal blicken können. Noch lag der Ort im Tal in der Abendsonne friedlich zu seinen Füßen. Er beendete seine Pause und machte sich auf den Rückweg. Da es ja ein Rundweg war, ging es jetzt kontinuierlich bergab. Während er noch über die Teufelskanzel nachdachte, die so gar nicht zu dem Ortsnamen Harmonie passen wollte, kam ihm eine Person entgegen. Offensichtlich ein Mann, wie Walter trotz der Entfernung deutlich erkennen konnte. Aber es war nicht der Förster und auch kein Jäger. Dazu fehlte ihm die übliche Ausstattung, Gewehr, Hut und Hund. Es schien aber auch kein Wanderer zu sein, denn einen Rucksack hatte er auch nicht bei sich. Eher ein Spaziergänger, so wie er selbst, dachte er. Gibt es hier Urlauber oder Feriengäste? Welcher Mensch der arbeitenden Bevölkerung kann es sich leisten, am Nachmittag eines Wochentages hier oben spazieren zu gehen? Als sie sich begegneten, trafen sich ihre Blicke für Bruchteile von Sekunden. Aber es reichte Walter, um sich ein umfassendes Bild des Fremden zu machen. Er mochte etwa 50 bis 55 Jahre alt sein, groß und kräftig gebaut, ein raues, etwas verwildertes Gesicht, Dreitagebart, Jeans, Anorak, Straßenschuhe. Als sie sich begegneten, grüßte Walter ihn, aber der andere nickte nur.
Walter war um halbsechs wieder an der Wirtschaft, wie er durch einen Blick auf die Kirchturmuhr feststellen konnte. Er setzte sich wieder an einen der Tische im Biergarten. Dasselbe junge Mädchen erschien und fragte: „Darf´s was sein, vielleicht wieder ein Bier?“
„Ja gern“, antwortete Walter.
Als sie das Bier brachte, sagte Walter: „Ich hätte da noch eine Frage. Ich bin ja Ihrer Empfehlung gefolgt und den Teufelskanzel-Rundweg gewandert. Warum heißt diese Felskante da oben eigentlich Teufelskanzel?“
„Ach, da gibt es viele Geschichten. Eine alte Frau soll mal erzählt haben, dass ihr der Teufel dort eine Predigt gehalten habe, weil sie am Sonntag nicht in der Messe war, sondern stattdessen da oben Holz gesammelt hat. Andere sagen, dass man in der Walpurgisnacht dort oben den Teufel persönlich predigen hören kann. Das wird halt so erzählt. In Wirklichkeit weiß wahrscheinlich niemand, wo der Name herkommt. Aber es ist manchmal schon ganz schön gruselig, wenn wir da oben an der Feuerstelle Partys feiern und der Schein der lodernden Flammen eigenartige Schatten auf die Felswand wirft.“
Das klingt ja wie aus einem klassischen Schauspiel, dachte Walter und er sagte: „Danke, das reicht mir schon.“
Sie putzte die Tische mit einem feuchten Tuch ab und wischte sie mit einem anderen Tuch trocken.
„Das ist ganz schön gefährlich da oben“, nahm Walter das Gespräch wieder auf, „ist da noch nie etwas passiert?“
„Nein“, sagte sie, „wenn wir da oben feiern, dann gehen wir ja sowieso nur bis zu der Feuerstelle.“
Vom Kirchturm schlug es sechs Uhr. Walter ging in den Schankraum und setzte sich so, dass er alles überblicken konnte, in die hintere Ecke, mit dem Rücken zur Wand. Zuerst erschien die Wirtin, groß und stämmig, wie man sich eine echte Wirtin vorstellt. Offensichtlich hatte das Mädchen sie schon informiert, denn sie hatte bereits den Anmeldeblock in der Hand.
„Wie lange wollen Sie denn bleiben?“, fragte sie geradeheraus.
„Ach, ich weiß es noch nicht. Vielleicht ein paar Tage.“
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.
„Wie heißen Sie denn?“
„Walter – so wie der Fritz.“
„Welcher Fritz?“
„Na, der Fritz Walter, der frühere Fußballbundestrainer.“
„Und, heißen Sie auch Fritz?“
„Nein, ich heiße Stephan. Brauchen Sie meinen Ausweis?“
„Ja, irgendwann schon.“
„Ich bringe ihn nachher gleich vorbei.“
„Ich gebe Ihnen Zimmer Nummer sieben. Es ist ein Eckzimmer. Da sieht man den halben Ort.“
„Ja, danke. Kann ich bei Ihnen auch etwas essen?“
„Natürlich, aber da ist mein Mann zuständig. Ich schicke ihn vorbei.“
Der Wirt erschien. Ebenso groß und kräftig gebaut, mit Halbglatze und dunkelweißer Schürze.
„Was soll ich denn für Sie brutzeln?“, fragte er salopp.
„Was ist denn Ihre Spezialität?“
„Alle Schnitzelarten, mit Pommes und Salat.“
„Also gut, einmal Jägersschnitzel mit Pommes und Salat und dazu ein Bier.“
„Kommt sofort, der Herr“, schnurrte er und verschwand hinter der Theke.
Um diese Zeit war es noch ruhig in der „ Traube“. Lediglich zwei Männer saßen an der Theke und tranken ein Bier zum Feierabend.
Während Walter auf das Essen wartete, kam ein weiterer Mann herein. Er setzte sich auch an die Theke, allerdings in einem gewissen Abstand und würdigte die anderen keines Blickes. Er bestellte ein Bier und einen Schnaps, kippte beides hinunter und bestellte sofort noch mal das gleiche. Bevor Walter mit dem Essen fertig war, hatte der neue Gast drei Bier und drei Schnäpse getrunken.
Die anderen beiden steckten die Köpfe zusammen. Plötzlich brüllte der dritte: „Ihr braucht gar nicht zu flüstern. Ich weiß genau, was ihr da zu reden habt. Aber ihr bekommt die Hütte nicht. Meine Mutter wollte es nicht und von mir kriegt ihr sie auch nicht. Nur über meine Leiche!“
„Das kannst du haben“, antwortete einer der anderen. Und eh´ Walter sich versah, war eine heftige Schlägerei ausgebrochen. Der dritte Gast stürzte sich auf einen der anderen und stieß ihn mit dem Barhocker um. Dessen Freund wollte ihm zu Hilfe kommen, stürzte dabei aber selbst und riss die beiden Biergläser von der Theke. Das Geräusch des splitternden Glases alarmierte den Wirt. Er kam aus der Küche gerannt, packte den Störenfried von hinten an der Jacke und bugsierte ihn zum Ausgang.
„Lass dich heute nicht noch einmal hier blicken“ schrie er und stieß ihn ziemlich unsanft zur Tür hinaus. „Und vergiss morgen nicht deine Rechnung zu bezahlen“, rief er ihm noch nach. Nachdem der Wirt die Scherben beseitigt hatte, kam er zu Walter an den Tisch, entschuldigte sich für den Zwischenfall und sagte: „Es gibt überall so Rüpel, die immer gleich raufen müssen, auch bei uns in Harmonie.“
Die anderen zwei hatten sich immer noch nicht beruhigt. Offensichtlich waren sie noch mit dem Inhalt des Streites beschäftigt und gestikulierten dabei wild mit Händen und Füßen. Walter hatte alles aus der Distanz beobachtet und überlegte, ob er den Wirt wohl nach dem Grund des Streites fragen sollte. Aber er unterließ es, schließlich war er hier ja im Urlaub.
Olgas Tod
Olga lag auf dem Fußboden. Die geöffneten Augen waren hervorgetreten. Sie hatte gekämpft, hatte schreien wollen, aber der Knebel in ihrem Mund hatte es verhindert. Die Schlinge um ihren Hals hatte sich zugezogen, sie war erstickt. Sie atmet noch, dachte er als er sie losband, sie ist nur bewusstlos, sie lebt noch. Aber Olga war tot. Das Spiel war zu Ende, es gab kein Zurück. Als er merkte, dass es vorbei war, schloss er ihr ganz vorsichtig die Augen. Lange saß er neben ihr und dachte nach, was zu tun sei. Hier im Haus konnte er sie nicht verstecken, ein paar Tage vielleicht, aber irgendwann musste er doch eine endgültige Lösung finden. Sie im Garten zu vergraben erschien ihm auch keine gute Idee. Man würde sie ja vermissen, man würde nach ihr suchen. Womöglich würden Suchhunde eine Spur finden, die zu ihm führt. Er musste sie loswerden. Keine Leiche, kein Beweis. Am besten wäre es, wenn man sie irgendwo finden würde, draußen, im Wald. Er durfte nur keine Spuren hinterlassen. Dann sollte die Polizei ruhig suchen. Von seinem Versteck wusste niemand hier im Ort. Und solange man die Tote nicht mit ihm in Verbindung bringen konnte würde ihn auch niemand verraten.
Sein Auto stand hinter dem Haus. Der Kleinwagen war sicher nicht für den Transport einer Leiche geeignet, aber es musste sein. Als er sie in den Kofferraum legen wollte stieß er mit ihrem Kopf gegen den Kofferraumdeckel. Es durchzuckte ihn als ob er sich den Schmerz selbst zugefügt hätte. Als er noch über einen geeigneten Lagerplatz nachdachte fiel ihm die Feuerstelle unterhalb der Teufelskanzel ein. Das ist eine gute Idee dachte er. Man wird vermuten, dass sie dort hinuntergestürzt sein könnte.
Die Nacht neigte sich bereits ihrem Ende zu. Die Dämmerung kroch schon durch die Bäume. Er parkte seinen Wagen in einer kleinen Ausbuchtung weit vor der Feuerstelle und trug Olga das letzte Stück auf der Schulter. Sie war leicht wie eine Feder. Er bettete sie auf der Feuerstelle. Dann fiel ihm ein, dass sie es nicht gemocht hatte, wenn ihr die Sonne ins Gesicht schien. Darum drehte er sie vorsichtig um. Aber noch bevor er sich gebührend von ihr verabschieden konnte, hörte er ein Geräusch. Es kam vom oberen Weg. Er eilte zurück zu seinem Wagen und sah dort oben einen Mann. Gott sei Dank war es war nicht der Förster, denn dessen Hund hätte ihn bestimmt aufgespürt. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob der Mann ihn von dort oben nicht doch gesehen hatte. Also schlenderte er mit gespielter Ruhe den Weg zurück, bückte sich nach einem Pilz und wartete, bis die Person da oben weitergegangen war. Dann ging er zu seinem Auto und ließ es den Weg hinab rollen. Erst kurz hinter dem Forsthaus schaltete er das Licht ein und ließ den Motor an.
Pilze
Es ist schon recht kühl für einen der ersten Herbsttage, dachte Hans Herwig und zog den Reißverschluss seiner Regenjacke nach oben. Aber Pilze gab es wenigstens reichlich. Das war seine Zeit. Schon seit Jahren kam er mit seiner Familie in den Herbstferien nach Harmonie. „Was für ein eigenartiger Name“ hatte seine Frau bei ihrem ersten Besuch gesagt. Aber der Ortsname war ihm egal. Er fuhr wegen der Pilze immer wieder hierher. So auch in diesem Jahr.
Es dämmerte erst, als er seinen Wagen am Forsthaus auf dem Parkplatz abstellte. Er nahm den oberen der beiden Wege, der zur Teufelskanzel führte. Er kannte sich hier ja inzwischen gut aus. Er wusste, dass es oben im Buchenwald Pfifferlinge gab und weiter hinten, in den Moospolstern unter den halbhohen Fichten, hatte er immer wieder prächtige Steinpilze gefunden.
Er war noch auf dem Weg, als er einen Eichelhäher krächzen hörte. Aber der Warnruf galt nicht ihm. Dafür war es zu weit entfernt. Es musste noch eine andere Person unterwegs sein, vermutlich weiter unten auf dem Weg zur Feuerstelle. Er blieb stehen und schaute nach unten. Und da sah er jemanden, kaum mehr als einen Schatten. Es war ein Mann in einem Mantel und einem Hut auf dem Kopf. Aha, dachte er, die Konkurrenz. Aber man kam sich ja nicht in die Quere. Er ging bergauf und der andere bergab.
Es schien ein gutes Pilzjahr zu sein. Pfifferlinge konnte er schon reichlich ernten. Steinpilze gab es erst nur vereinzelt Darum durchstreifte er den Wald bergauf Richtung Teufelskanzel. Es war doch anstrengend gewesen und darum war er froh, auf der alten Holzbank eine Pause machen zu können. Es musste kurz vor Sonnenaufgang sein. Der Nebel lag noch über dem Tal, aber hier oben war es schon taghell. Er saß gerne hier, nicht nur wegen der schönen Aussicht, sondern auch wegen der nahen Steilkante. Wenn er hinuntersah, stellte sich bei ihm immer ein eigenartig kribbelndes Gefühl in der Magengegend ein. Auch heute wollte er es wieder verspüren. Er trat an den Rand des kleinen Plateaus, blickte hinunter und erstarrte. Denn was er dort sah erschreckte ihn so sehr, dass er fast hinunter gestürzt wäre. Untern auf der Feuerstelle lag eine Person, eine Frau, wie er auf den ersten Blick erkennen konnte. Sie trug ein weißes T-Shirt, einen roten Minirock, keine Schuhe und lange blonde Haare. Sie lag nicht so da, als ob sie schlief, dazu wäre es an diesem Morgen auch zu kalt gewesen. Dann wurde es ihm schlagartig klar: Da unten lag eine Tote. Er trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück und überlegte, was zu tun sei. Natürlich müsste er als erstes die Polizei benachrichtigen. Aber nicht von hier aus, besser erst aus der Pension . Nicht, dass man ihn noch mit der Toten in Verbindung brachte. Aber halt, schnell noch ein Foto mit dem Handy. Dann lief er zu seinem Auto und fuhr zurück. Erst vor seiner Haustür, noch vom Auto aus rief er den zuständigen Polizeibeamten an und informierte ihn über den gruseligen Fund. Seiner Familie sagte er nichts davon, denn er wollte sie nicht beunruhigen.
Kommissar Walter wurde am nächsten Morgen ziemlich unsanft aus dem Schlaf gerissen. Jemand klopfte sehr energisch an seine Zimmertür. Er setzte sich im Bett auf, schaltete die Nachttischlampe ein und stellte fest, dass es gerade erst kurz nach sechs Uhr war. „Was ist los?“, rief er.
„Ich bin´s“, meldete sich eine Männerstimme, „der Wirt. Hier ist ein Anruf für Sie.“
Walter verstand die Welt nicht mehr. Niemand konnte wissen, dass er sich hier aufhielt.
„Warten Sie, ich komme“, rief er noch vom Bett aus. Barfuß öffnete er die Tür.
„Entschuldigen Sie, Herr Walter, aber es muss sehr dringend sein“, sagte der Wirt und reichte ihm das Telefon. Walter meldete sich mit seinem Namen. Am anderen Ende sagte eine männliche Stimme: „Spreche ich mit Kriminalhauptkommissar Walter?“
„Ja“, antwortete er, „aber a.D. wenn´s recht ist.“
Der Anrufer reagierte nicht darauf sondern antwortete mit einem Redeschwall: „Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung. Hier ist Hauptwachtmeister Schuster von der örtlichen Polizei. Ich habe ein Problem. Bei mir ist eben ein Leichenfund gemeldet worden, im Wald oben an der Feuerstelle. Ich habe aber noch nie etwas mit einem Gewaltverbrechen zu tun gehabt. Und ich dachte, sie könnten mir mit Ihrer Erfahrung helfen, weil ich …“
Walter hörte kaum noch zu und dachte kurz nach. Eigentlich wollte er mit Verbrechen und deren Ermittlungen nichts mehr zu tun haben. Aber der Kollege schien wirklich verzweifelt zu sein. Na gut, dachte er, ich kann mir die Sache ja mal ansehen. Vielleicht kann ich ihm ja ein bisschen unter die Arme greifen.
„Holen Sie mich in 15 Minuten ab“, knurrte er und hatte es im selben Augenblick auch schon wieder bereut. Eine Viertelstunde später fuhr der Kollege mit Blaulicht und Martinshorn vor.
Als Walter die Beifahrertür geöffnet hatte sagte er als erstes: „Stellen Sie bitte sofort diesen Krach ab.“ Augenblicklich erstarb das Geheul und das Blaulicht erlosch. Walter stieg ein. Sie gaben sich flüchtig die Hand. „Guten Morgen“, sagte Walter. „Ja, ja“, antwortete der Kollege fahrig. Er fuhr los und schon nach wenigen Metern schimpfte er: „So eine Scheiße!“ Walter wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er sah sich den jungen Kollegen von der Seite an. Er mochte etwa 40 Jahre alt sein, war gut gebaut und trug eine Polizeiuniform.
„Spusi und Pathologe unterwegs?“, fragte Walter.
„Ja, natürlich“, antwortete Schuster, „aber es wird sicher etwas dauern, bis die hier sind.“
Sie bogen am Forsthaus links ab und erreichten nach etwa 3oo Metern den Platz unterhalb der Teufelskanzel. Auf der Feuerstelle lag bäuchlings ein lebloser Frauenkörper. Das lange blonde Haar auf ihrem Rücken sah aus wie ein goldener Wasserfall. Walter schauderte. Er hatte in seiner Dienstzeit schlimmere Bilder an Tatorten gesehen. Es sah fast friedlich aus, aber es hatte etwas Diabolisches. Es erinnerte an Hexenverbrennungen aus dem Mittelalter. Aber doch nicht heute und hier. Er ging in einem großen Bogen um den Fundort herum, um keine Spuren zu verwischen. Dabei fiel ihm eine Platzwunde am Kopf der Toten auf.
„Kann sie hier herunter gestürzt sein?“, fragte Walter und zeigte mit der Hand nach oben zur Teufelskanzel.
„Ja, das kann durchaus sein“, antwortete Schuster, „dabei könnte sie sich auch die Kopfverletzung zugezogen haben.“
„Oder jemand hat sie umgebracht und sie dann hierher gelegt, damit man genau das denken soll“, entgegnete Walter.
„Kennen Sie die Tote eigentlich?“
„Natürlich, die kennt hier im Ort jeder. Das ist Olga. Sie ist, oder besser gesagt, sie war das Kindermädchen bei Fischers, der Spedition im Industriegebiet.“
„Warum brauchten die ein Kindermädchen?“
„Na, wegen Saskia und Max, den zwei kleinen Kindern. Elvira, ich meine Frau Fischer, arbeitet nämlich in der Firma mit. Sie erledigt im Büro den ganzen Schreibkram. Und da ist es ihr irgendwann einfach zu viel geworden mit Haus und Büro und zwei Kindern. Und leisten können sie es sich ja. Der Betrieb läuft gut, fahren viel ins Ausland, sogar bis nach Russland.“
„Wie lange war Olga denn schon bei Fischers?“
„Schon ein paar Jahre.“
Langsam kroch die kühle Herbstluft die Hosenbeine hinauf. „Ich war gestern schon einmal hier. Allerdings da oben“, sagte Walter und zeigte zur Teufelskanzel hinauf. Schuster reagierte gar nicht. Er blickte wie versteinert auf die Tote. Endlich kam die Spurensicherung. Es waren drei Männer in weißer Schutzkleidung mit allerlei Koffern und Gerätschaften. Sie nickten nur zum Gruß und machten sich an die Arbeit.
„Sie haben hier nichts angefasst?“, fragte der Chef der Truppe.
„Natürlich nicht“, sagten beide fast gleichzeitig.
„Und Sie sind da auch noch nicht bis zur Feuerstelle hinaufgestiegen?“
„Nein“, sagte Walter, fast schon ein bisschen beleidigt, „ ich bin lediglich einmal im großen Bogen drum herumgegangen.“
Sie waren ein eingespieltes Team. Jeder wusste, was er zu machen hatte. Einer stellte mehrere kleine Tafeln mit deutlich sichtbaren Zahlen auf und fotografierte alles. Ein anderer hob am Boden Stöckchen und Steine auf und verstaute sie in beschrifteten Plastiktüten. Der Dritte suchte den Boden und den Weg nach Fußspuren ab. Walter war der Anblick so vertraut wie Essen und Schlafen. Kollege Schuster sah dem Treiben aufmerksam zu.
Dann kam der Pathologe, oder besser gesagt die Pathologin, eine etwa 60 Jahre alte, große und schlanke Frau. Sie stellte ihren Koffer ab und zog als erstes die obligatorischen Einweghandschuhe an. Sie grüßte Schuster mit einem Nicken und blickte dann zu Walter hinüber. „Ist schon okay“, sagte Schuster, ihrer Frage zuvorkommend, "das ist Hauptkommissar Walter a.D. Er ist zufällig gerade hier in Harmonie und ich habe ihn gebeten, mich ein bisschen zu unterstützen. Ist es Ihnen recht?“
Sie antwortete nicht. Sie wandte nur ihren Blick von Walter ab und suchte den Chef der Spusi.
„Kann ich?“, rief sie, als sie ihn erblickte.
„Ja“, rief er zurück, „wir sind hier soweit fertig.“
Frau Doktor ging mit ihrem Koffer zu der Toten und betrachtete sie einen Moment von allen Seiten. Dann sagte sie zu Schuster: „Kommen Sie, Schuster, helfen Sie mir sie umzudrehen.“
Als die Tote auf dem Rücken lag, sah Walter erst, wie hübsch sie war, selbst jetzt noch. Sie trug ein enganliegendes weißes T-Shirt, keinen BH, wie er eindeutig erkennen konnte, einen roten Minirock, der etwas nach oben gerutscht war, sodass man den weißen Slip sehen konnte. Schuhe trug sie keine, Strümpfe auch nicht. Ihre Augen waren geschlossen. Sie lag da, als ob sie schlafen würde. Niemand sagte etwas. Nach einer Weile fing Frau Doktor von sich aus an zu reden und sagte zu Schuster, ohne Walter auch nur eines Blickes zu würdigen: „Sie können davon ausgehen, dass der Fundort nicht der Tatort ist. Die Platzwunde am Kopf kann sie sich durchaus hier an einem der Steine zugezogen haben, allerdings erst post mortem – also, als sie schon tot war, denn die Wunde hätte sonst mehr geblutet. Die Frau ist erdrosselt worden, vielleicht mit einem Seil oder einem Gürtel. Sehen Sie hier“, sagte sie und zeigte auf die Streifen am Hals der Toten. „Und sie hat leichte Fesselmale an Hand- und Fußgelenken. Alles weitere nach der Obduktion.“
Wie oft hatte Walter diesen Satz schon in ähnlichen Situationen gehört. Schuster fragte: „Wie lange ist sie denn schon tot?“
„Nach Ausbildung der Leichenflecke und der Leichenstarre etwa vier bis fünf Stunden, aber, wie gesagt …“ Schuster nickte bestätigend und Walter schloss sich ihm an. Der Leichenwagen kam und transportierte die Tote ab.
„Zu mir in die Rechtsmedizin“, sagte die Pathologin.
„Ist doch klar, Frau Doktor“, bestätigte der Fahrer die Anweisung.
Irgendwann standen nur noch Walter und Schuster am Fundort. Alles sah wieder vollkommen friedlich aus. So, als ob nichts geschehen wäre. Als Walter mit dem neuen Kollegen im Dienstwagen auf dem Heimweg war, fragte er: „Wer hat die Tote eigentlich gefunden?“
„Ein Tourist, ein Gast vom Metzger Thomsen. Der hat da hinten eine alte Scheune ausgebaut und vermietet jetzt die Räume an Feriengäste. Der Mann wollte Pilze sammeln. Da hat er sie gesehen. Aber er hatte sein Handy nicht dabei. Deshalb ist er erst zu sich nach Hause gefahren und hat mich von dort aus angerufen. Er wollte unter keinen Umständen noch mal da hin. Ich glaube, der stand richtig unter Schock, so fertig war der. Ist ja auch kein Wunder, will Pilze sammeln und findet eine Leiche. So etwas kann einen schon mitnehmen, oder?“
Walter nickte, dann fragte er: „Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen?“
„Ja, das ist eine längere Geschichte. Also, als Sie in der Traube abgestiegen sind hat der Wirt mich angerufen und gefragt, was das für ein Kennzeichen an Ihrem Auto ist. Da hab‘ ich ihn gefragt, wie Sie denn heißen. Und er hat gesagt, seine Frau hätte die Art und Weise, wie Sie sich vorgestellt haben, ganz witzig gefunden, `Walter, so wie der Fritz, der alte Fußballnationaltrainer´. Das kam mir irgendwie bekannt vor. Deshalb hab‘ ich einen Kollegen angerufen und der hat mir erzählt, wer Sie sind, weil er Sie von einer Fortbildung kannte. Er hat noch gesagt, dass Sie den Spitznamen „Puzzler“ haben. Warum eigentlich?“
„Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte Walter sibyllinisch.
Schuster fuhr fort „Als dann die Meldung von der Leiche im Steinbruch bei mir ankam, hab ich gleich an Sie gedacht. Ich meinte, dass so ein alter Hase, Verzeihung, dass ein Mann mit so reicher kriminalistischer Erfahrung wie Sie für mich in dieser Situation hilfreich sein könnte.“
Walter dachte nach. Einerseits hatte er sich geschworen, nie wieder zu ermitteln, andererseits brauchte der junge Kollege offensichtlich Hilfe. Und wenn er sich nun schon mal an ihn gewandt hatte, dann müsste er ihm eigentlich auch helfen. Er steckte ja schon mittendrin in den Ermittlungen. Außerdem interessierte ihn der Fall jetzt auch.
„Also gut, wenn Sie es wollen, dann werde ich Ihnen ein bisschen unter die Arme greifen. Aber was ist mit der Pathologin? Die mag mich anscheinend nicht. Hat sie was gegen Männer?“
„Nein, im Prinzip nicht. Eher was gegen Polizisten.“
„Warum?“
„Sie war mal mit einem verheiratet. Und sie gibt sich immer etwas misstrauisch gegenüber Fremden. Aber fachlich ist sie sehr kompetent.“
„Das ist das was wirklich zählt“, stellte Walter abschießend fest, als er an der Traube aus dem Auto stieg.
„Wir sehen uns dann später. Jetzt muss ich erst einmal frühstücken. Ich komme dann zu Ihnen aufs Revier.“
„Ja, gut, also bis gleich“, sagte Schuster und Walter meinte ihm eine gewisse Erleichterung angemerkt zu haben.
Als Walter die Wachstube der kleinen Polizeistation betrat, stand Schuster am Fenster und sah gedankenverloren hinaus. Als er sich umdrehte sagte er: „Ach, Sie sind das. Kommen Sie doch herein.“ Er bot seinem Gast einen Sessel an und setzte sich selbst gegenüber an den Schreibtisch.
„Erzählen Sie mir von Olga“, sagte Walter, „ich möchte mir ein Bild von ihr machen. Vielleicht hilft uns das weiter.“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, meinte Schuster, „bis gestern wusste ich ja selbst kaum etwas über sie. Jetzt hab‘ ich einiges zusammengetragen, von der Gemeinde, vom Einwohnermeldeamt und das, was sie Frau Fischer so erzählt hat. Also, sie heißt Olga Zchernichsowa.“ Er schrieb den Namen in Druckbuchstaben auf einen kleinen Zettel. „Fragen Sie mich nicht, wie das ausgesprochen wird. Sie ist in einem kleinen Dorf in Russland, irgendwo an der Wolga geboren. Ihre Oma war Deutsche. Von der hat sie die deutsche Sprache gelernt. Ihre Mutter soll auch noch in Deutschland geboren sein. Sie, also die Mutter, heiratete dann später einen Russen. Aus dieser Ehe stammten zwei Kinder, nämlich Olga und ihre kleinere Schwester Irina. Diese Ehe scheiterte, warum auch immer, aber die Mutter heiratete später noch einmal, eben diesen Herrn Zchernichsowa. Der adoptierte die beiden Mädels und deshalb tragen sie seinen Namen. Was aus dem ersten Mann geworden ist, weiß man nicht. Eines Tages stand Olga dann vor der Tür bei Frau Fischer und hat sich um die Stelle als Kindermädchen beworben. Auf die Frage von Frau Fischer, warum sie nach Deutschland gekommen sei, hat sie gesagt, sie habe das Geburtsland ihrer Oma kennen lernen wollen.“
„Wie war Frau Fischer denn mit ihr zufrieden?“
„Anscheinend sehr gut. Sie hat sich nur positiv über ihren Fleiß und ihre Sauberkeit geäußert.“
„Hatte sie denn Kontakt zu der übrigen Bevölkerung?“
„Zunächst kaum. Ausländer haben es in einem so konservativen Ort wie diesem nicht ganz leicht. Aber nach und nach wurde sie akzeptiert.“
„Ja, gut“, meine Walter, „aber irgendetwas muss da noch gewesen sein. Es muss doch einen Grund dafür geben, dass sie umgebracht worden ist.“
Schuster druckste ein bisschen herum. Dann sagte er: „Na ja, da ist noch etwas. Als sie hier ankam, sah sie in ihren russischen Klamotten aus wie eine graue Maus. Aber von ihrem ersten Geld hat sie sich neu eingekleidet. Sehr flott, nicht wiederzuerkennen. Meiner Meinung nach für unseren Ort zu sexy. Die Männer waren hinter ihr her, wie der Teufel hinter der armen Seele, wie man hier so sagt. Und es gab sogar Gerüchte, dass sie die Männer verführt hat, nicht umgekehrt. Aber nicht für Geld. Es schien ihr einfach nur Spaß zu machen.“
„Da kann es auch schon mal böses Blut gegeben haben“, meinte Walter.
„Und Eifersucht war schon immer ein starkes Mordmotiv.“
„Und sicher nicht nur bei Männern“, ergänzte Schuster.
„Richtig, bei Frauen nicht minder. Olga war nicht sehr groß und wog auch nicht sehr viel. Eine kräftige Frau hätte sie auch zur Teufelskanzel bringen und dort hinunter-werfen können.“
„Und eine kräftige Frau hätte ihr auch eine Schlinge um den Hals legen und zuziehen können.“
„Damit hat sich soeben die Zahl der Verdächtigen so gut wie verdoppelt“, konstatierte Walter. „Aber ich denke, wir kommen heute hier nicht weiter. Lassen Sie uns die Ergebnisse der Spusi und der Frau Doktor abwarten. Vielleicht sehen wir dann mehr.“
Walter machte einen Spaziergang durch den Stadtpark. Das brauchte er, wenn er über eine Sache nachdenken wollte: Frische Luft, Bewegung und niemanden, der zwischendurch redete oder gar irgendwelche Fragen stellte.
Für ihn passte einiges nicht zusammen. So wie er und der neue Kollege Schuster die Tote vorgefunden hatten sah es nicht so aus, als sei sie aus einer Höhe von zehn oder gar fünfzehn Metern hinabgestürzt. Außerdem hätte sie sich dabei mit Sicherheit einige Knochen gebrochen. Und das hätte die Pathologin auch schon bei oberflächlicher Untersuchung festgestellt, aber davon war nicht die Rede gewesen. Er erinnerte sich, dass er als erstes den Eindruck gehabt hatte, als sei die Tote auf der Feuerstelle förmlich drapiert worden und nicht, als sei sie aus großer Höhe abgestürzt. Er hatte da so eine Idee, aber darüber würde er mit der Frau Doktor sicher nicht reden können, noch nicht.
Als Kommissar Walter am nächsten Vormittag auf das Revier kam, schien Kollege Schuster total verwirrt zu sein. „Gut, dass Sie kommen, Chef“, sagte er, „Sehen Sie sich das bloß einmal an.“
Walter überging die Anrede. Auf dem Schreibtisch waren die Fotos vom Fundort ausgebreitet. Aber auf den ersten Blick konnte Walter nichts Aufregendes erkennen.
„Nein, hier“, sagte Schuster und zeigte auf den Tisch in der Sitzecke. Dort lag die Lokalzeitung. Auf dem Titelblatt prangte ein riesiges Foto von Olgas Leiche, so wie sie aufgefunden worden war.
Walter setzte sich in den Sessel und betrachtete das Bild.
„Da muss einer vor uns dagewesen sein. Irgendein Presseheini oder so ein Schnüffler.“
„Von der Spusi haben die das nicht. Die dürfen das nicht. Und außerdem müssten wir dann auch mit auf dem Bild sein“, stellte Schuster fest.
„Und was ist mit unserem Pilzsammler?“, fragte Walter.
„Der hatte doch sein Handy nicht dabei.“
„Sagt er. Und was ist mit einem Fotoapparat?“
„Darüber haben wir nicht gesprochen.“
„Ärgerlich, diese Geschichte“, sagte Walter, „aber nicht zu ändern.“
Der Text war lächerlich „Grausiger Leichenfund in Harmonie, junge Frau tot auf dem Altar der Teufelskanzel, die Polizei tappt vorerst im Dunkeln was den Täter oder ein Motiv anbelangt, die Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang.“ Es folgte das übliche Geschwafel.
Er legte die Zeitung beiseite, stand auf, ging zum Schreibtisch und betrachtete die Bilder der Spusi genauer.
„Irgend was Auffälliges?“
„Nee, Chef, nicht mehr als gestern.“
Jetzt hakte Walter ein: „Wenn Sie weiter Chef zu mir sagen, dann nenne ich Sie ab sofort nur noch den Juniorpartner, oder einfach nur Junior.“
„Okay, Chef“.
„Okay, Junior.“
„Schon was von Frau Doktor gehört?“
„Nee, Chef.“
Er hatte sich schon wieder daran gewöhnt. So lange war es ja auch noch nicht her, dass er täglich mehrfach so angeredet worden war.
„Junior, haben Sie eigentlich irgendwo den Namen unseres Pilzsammlers?“
Schuster zückte sein Notizbuch. „Hier Chef, er heißt Egon Herwig und wohnt im Gästehaus Thomsen, am westlichen Ortsrand, hinter der Kirche links und dann immer geradeaus.“
„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich dem Herrn einen Besuch abstatte?“
„Nein, Chef, warum sollte ich. Aber was haben Sie denn vor?“
„Ich will mal auf den Busch klopfen, oder auf den Pilz. Mal sehen, wer oder was da herausspringt.“
Walter verließ das Polizeirevier. Mit dem Ergebnis der Obduktion war sicher frühestens am nächsten Tag zu rechnen. Er ging, wie vom Junior beschrieben, an der Kirche links und dann immer geradeaus. Die zur Ferienwohnung ausgebaute Scheune war nicht zu übersehen. Davor, auf einem anscheinend extra dafür angelegten Spielplatz, liefen ein paar Kinder herum.
„Weiß denn jemand von euch, wo der Herr Herwig wohnt?“, fragte er aufs Geradewohl.
„Ja“, sagte eines der Kinder, „der Papa sitzt hinten im Garten im Liegestuhl und liest.“
„Meinst du, dass ich ihn mal besuchen darf?“
„Was willst du denn von ihm?“
„Ich will ihn was wegen der Pilze fragen.“
„Ach sooo, da hat der Papa sicher nichts dagegen. Komm, ich bring dich hin.“
Der etwa achtjährige Junge lief um das Haus und rief: „Papa, da ist Besuch für dich. Der will dich was fragen, wegen Pilzen.“
Walter war dem Jungen gefolgt. Herr Herwig versuchte gerade zu flüchten, aber so schnell kam er nicht aus dem Liegestuhl heraus. Also ließ er sich wieder hineinfallen. Er sah Walter bösartig an und sagte: „Was wollen Sie? Was soll mit meinen Pilzen sein?“
Er war etwa 55 bis 60 Jahre alt, a:ber schon ein bisschen korpulent. Auch das Haupthaar war schon ein wenig gelichtet. Er trug Freizeitkleidung, Shorts, T–Shirt und Sandalen. Walter trat so nah an den Liegestuhl heran, dass er ihm die Hand geben konnte.
„Ich bin Stephan Walter, Kriminalbeamter a. D. Herr Schuster, mit dem Sie ja gestern telefoniert haben, bat mich, ihm bei der Ermittlung in dem Fall der Toten an der Feuerstelle behilflich zu sein.“
„Ja, natürlich weiß ich worum es geht. Aber ich habe doch schon alles gesagt.“
„Na ja, mag schon sein. Ich hätte da nur noch eine Frage wegen dieses Fotos.“
Walter zog die Zeitung aus der Tasche und hielt sie Herrn Herwig vors Gesicht. Die Wirkung war nicht zu übersehen. Walter legte nach.
„Das muss sehr früh am Morgen aufgenommen worden sein. Es ist noch neblig, die Spinnenweben glänzen vom Tau und die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Und außer Ihnen ist zu diesem Zeitpunkt niemand da oben gewesen. Und die Spurensicherung hat eindeutige Fußspuren sichergestellt. Was meinen Sie, wenn wir die mit Ihren Schuhen vergleichen, was da wohl …“
„Ja, ist ja gut“, sagte er aufbrausend, „ja,ich habe das Foto gemacht. Aber ich hab es nicht der Polizei gegeben sondern an die Zeitung verkauft. Ist ja auch nicht verboten oder?“
„Na, ganz legal ist es nun auch wieder nicht. So etwas könnte man als Unterschlagung von Beweismaterial auslegen. Aber wir würden darüber hinwegsehen, wenn Sie uns noch ein bisschen mehr von dem entsprechenden Morgen erzählen. Denken Sie mal genau nach. War da noch irgendetwas?“
Er dachte tatsächlich einen Moment nach und sagte dann: „Nein, außer mir und dem anderen Pilzsammler war da niemand.“
„Welcher andere Pilzsammler?“
„Na da unten auf dem Weg, da war ein Kollege von mir, der hat auch Pilze gesammelt.“
„Können Sie den Mann beschreiben? Groß oder klein, dick oder dünn?“
„Nee, dafür war er zu weit weg. Ich hab nur gesehen, dass er ähnlich angezogen war wie ich und einen dunklen Hut aufhatte.“
„Meinen Sie, dass er Sie auch gesehen hat?“
„Ich glaube schon, denn er ist dann gleich in die andere Richtung gegangen. Wissen Sie, bei uns Pilzsammlern gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Wenn man sich zufällig begegnet, dann geht jeder in die entgegengesetzte Richtung. So geht man sich aus dem Weg und sucht nicht an Stellen nach Pilzen wo schon ein anderer geerntet hat, verstehen Sie? Und ich habe noch genau gesehen, dass er sich gebückt hat, um Pilze zu sammeln.“
„Das haben Sie gesehen?“
„Ja, ganz genau.“
„Meinen Sie, dass Sie den Mann bei einer Gegenüberstellung wiedererkennen würden?“
„Nein, ich glaube nicht. Ich habe ihn ja nur von hinten gesehen. Und es war nebelig und der Mann war ziemlich weit weg.“
„Ist Ihnen eigentlich nie der Gedanke gekommen, dass dieser Mann etwas mit der Leiche zu tun haben könnte“
„Nein, nie, Herr Kommissar, Pilzsammler bringen doch niemanden um.“
Walter gab auf, da war wohl nichts mehr zu holen. „Vielen Dank“, sagte er, „und das nächste Mal machen Sie keine verbotenen Fotos, versprochen?“
Herr Herwig nickte. Walter verabschiedete sich und ging. Wieder auf dem Revier erzählte er Schuster von seinem Erfolg.
„Aber Chef, da waren doch gar keine Fußspuren.“
„Na und? Das war ein Schuss ins Blaue. Und es hat geklappt. Ich habe zwei Puzzlesteine, die wir heute Morgen noch nicht hatten. Erstens wissen wir jetzt, wo die Zeitung das Foto her hat und zum anderen wissen wir auch, dass an dem Morgen noch eine weitere Person da oben im Wald war.“
Schuster überlegte, ob diese Tatsache sie entscheidend weiter bringen würde. Walter unterbrach seine Überlegungen mit einem völlig anderen Thema. „Übrigens, haben Sie von der Schlägerei in der Wirtschaft gehört?“
„Na klar, Chef, das spricht sich doch sofort herum.“
„Worum ging es dabei eigentlich ganz genau?“
„Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie sie hören?“
„Klar, sonst hätte ich nicht gefragt.“
„Also: Der Blume-Torsten und der Mischner, das sind Parteifreunde. Und der Mischner hat irgendwo einen reichen Freund, der auf dem Grundstück vom Blume-Torsten gerne ein Hotel bauen möchte, so mit Wellness und allem. Aber das Grundstück ist zu klein. Nebenan steht das Elternhaus vom Rosenbauer. Das ist der Dritte der Raufbolde. Der hatte nämlich damals in den Brunnenhof eingeheiratet wo er jetzt auch noch wohnt. Und deshalb haben die ersten beiden seit Jahren schon versucht, der Mutter vom Rosenbauer die Hütte abzuschwatzen, aber ohne Erfolg. Es war nämlich durchgesickert, dass es ihnen gar nicht um die Hütte ging, sondern um das Grundstück. Und weil die alte Frau Rosenbauer nicht wollte, dass ihr Elternhaus abgerissen wird, hat sie nicht verkauft. Aber seit ihrem Tod steht das Haus leer. Dass der Rosenbauer jetzt nicht verkauft, hat aber letztendlich einen anderen Grund. Der Metzger Thomsen, der Besitzer des Ferienhauses, ist wiederum ein Parteifreund vom Rosenbauer, natürlich von der anderen Partei, versteht sich. Der will verhindern, dass da oben ein Hotel gebaut wird, weil er befürchtet, dass er dann seine Ferienwohnungen nicht mehr vermieten kann. Also zahlt er dem Rosenbauer jährlich ein paar Hundert Euro, natürlich unter der Hand, damit der seine Hütte nicht verkauft. Und deshalb geraten die drei sich immer wieder mal in die Haare.“
„Und was ist mit der Drohung?“
„Ach, Chef, Sie wissen doch wie das ist, dummes Geschwätz, das wird halt so dahergeredet. Aber da passiert schon nichts.“
„Sagen Sie das nicht. Ich spreche ja nicht unbedingt von Mord, aber im Affekt ist schon manche Drohung dann tatsächlich passiert. Sehen Sie, in meiner aktiven Dienstzeit habe ich bei vielen Verhören Menschen vor mir auf dem Stuhl gehabt – Männer, aber auch Frauen – die im Affekt einen anderen Menschen getötet haben, die aber unter normalen Umständen noch nicht einmal einer Fliege etwas zu Leide tun würden. Und so wie die Streithähne aufeinander losgegangen sind hätte da schon etwas passieren können. Stellen Sie sich vor, einer von denen wäre unglücklich gefallen und hätte sich den Kopf irgendwo angeschlagen. Das kann schon zum Tode führen.“
Schuster hatte aufmerksam zugehört. Dann nickte er und sagte gedehnt: „Ja, das könnte hier auch passieren.“
Die erste Beichte
„Du bist zum ersten Mal hier, meine Tochter“, stellte der Pfarrer fest, als Olga im Beichtstuhl Platz genommen hatte.
„Ja, Hochwürden.“
„Aber du bist katholisch, oder?“
„Ja, Hochwürden. Jedenfalls hat unsere Oma das immer gesagt.“
„Gut, dann beginne, mein Kind“
Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte Olga: „Ich habe ein paarmal gelogen. Als mir eine Tasse heruntergefallen war habe ich gesagt, dass es die Katze gewesen ist. Als ich einmal verschlafen hatte, habe ich gesagt, dass der Wecker nicht geklingelt hatte. Aber das stimmte auch nicht.“
„Ja, das ist nicht recht, meine Tochter, du weißt, du darfst nicht lügen. Aber das sind lässliche Sünden. War sonst noch etwas?“
Olga druckste herum. „Ja, da war schon noch was, aber ich weiß nicht, ob ich das hier sagen darf.“
„Liebes Kind, mir darfst du alles sagen. Dafür gibt es doch die Beichte.“
„Und Sie sagen es bestimmt keinem anderen, Hochwürden?“
„Aber nein, auf keinen Fall, dazu verpflichtet mich doch das Beichtgeheimnis. - also?“
„Na gut, es hat etwas mit Joseph zu tun.“
„Ach, der junge Mann, der auch bei Fischers arbeitet.“
„Ja, genau der. Wir haben uns von Anfang an gut verstanden. Einmal hat er mir alle seine Bilder gezeigt. Der Joseph kann gut fotografieren. Und dann hat er gesagt, dass er Modelaufnahmen von mir machen will. Deshalb hab ich mich so hingestellt und so hingelegt, wie ich das aus den Zeitschriften von den echten Fotomodels so kenne, und Joseph hat Fotos gemacht. Später hat er dann gesagt, dass ich mal mein T-Shirt ausziehen sollte. Dann hat er wieder Fotos gemacht. Und dann hab ich mich ganz ausgezogen und Joseph hat weiter fotografiert. Und dann haben wir uns auf mein Bett gesetzt und uns die Bilder angesehen. Ich muss sagen, die Bilder haben mir wirklich gut gefallen.“
„Hast du dich denn nicht geschämt, so nackt vor einem Mann zu stehen?“
„Nein, Hochwürden. Joseph hat auch gesagt, dass ich mich nicht zu schämen brauchte. Adam und Eva waren im Paradies ja auch nackt und haben sich nicht geschämt. Steht extra da, in der Bibel, hat der Joseph gesagt. Und der kennt sich aus in der Bibel. Der liest da nämlich immer drin.“
„Ja, ich weiß“, sagte der Pfarrer, „und, war´s das jetzt?“
„Nein, noch nicht ganz, Hochwürden. Denn als wir uns die Bilder angesehen haben, da hat der Joseph so ein bisschen an mir rumgefummelt und dann ist es passiert“
„Du meinst, ihr habt …“
„Ja, wir haben es gemacht. Und es war sehr schön.“
„War es das erste Mal, meine Tochter?“
„Ja, mit dem Joseph schon. Aber das erste Mal war bei uns zu Hause in Russland. Da war ich gerade dreizehn. Es war einer der größeren Jungen aus unserer Schule. Wir hatten den gleichen Schulweg. Und einmal im Sommer, da hat er es gemacht, auf dem Heimweg in einem Kornfeld. Aber ich fand es nicht schön und hab es auch nicht wieder getan. Bis letztens mit Joseph. Aber das war sehr schön. War das jetzt eine Sünde, Hochwürden?“
Der Herr Pfarrer schien nachzudenken. Dann sagte er: „Nun, der Akt der körperlichen Vereinigung zweier Menschen dient eigentlich der Zeugung von Nachwuchs und nicht dem Spaß.“
„Aber Hochwürden, dabei haben doch alle Spaß, oder? Ach, Entschuldigung, das können Sie ja nicht wissen.“
Nach einer längeren Pause sagte der Pfarrer: „War´s das jetzt, meine Tochter?“
„Nein, noch nicht ganz. Weil, der Joseph, der hatte noch so ein Heft dabei, mit so Bildern, was man alles machen kann. Und da haben wir ausprobiert, ob wir das auch können. Und der Joseph hat das dann fotografiert. Manchmal mussten wir eine Stellung ein paar Mal wiederholen, wenn das Bild nicht gut geworden war. Wir haben viel gelacht dabei. Ist das verboten, Hochwürden?“
„Nein, mein Kind, verboten ist das nicht. Aber wenn du schon so intim mit dem Joseph bist, dann solltet ihr vielleicht mal übers Heiraten nachdenken.“
„Ist recht, Hochwürden, ich werde mit Joseph darüber reden.“
„Und nun gehe hin in Frieden. Vergiss nicht den Rosenkranz zu beten und immer brav in die Kirche und zur Beichte zu gehen.“
„Ich danke Ihnen, Hochwürden.“
Am nächsten Morgen war gerade der Obduktionsbericht von Olgas Leiche angekommen. Schuster und Walter lasen ihn schweigend.
„Das ist ja nicht viel“, meinte Schuster.
„Aber immerhin etwas Entscheidendes, unsere Tote war nämlich schwanger.“
„Das musste ja irgendwann mal passieren“, bemerkte Schuster.
„Und das war sicher ein Versehen.“
„Das sehe ich auch so.“
Beide dachten nach.
„Könnte es sein, dass jemand etwas dagegen hatte Vater zu werden?“, begann Walter seine Gedanken in Worte zu fassen.
„Das könnte sogar gut sein. Und das könnte auch durchaus ein Mordmotiv sein, oder?“, fragte Schuster.
„Das wäre nicht der erste Fall dieser Art“, bestätigte Walter.
„Eine solche Schwangerschaft könnte eine Ehe gefährden.“
„Oder eine politische Karriere.“
„Oder einen ganzen Betrieb ruinieren.“
Die Zahl der Verdächtigen stieg.
Walter nahm den Bericht noch einmal zur Hand.
„Die Frau Doktor schreibt hier, dass das Tatwerkzeug wohl am ehesten ein Gürtel oder ein Riemen war, wegen der scharfen Ränder, keinerlei Abwehrspuren, keine Kratzer, keine Hautpartikel unter den Fingernägeln. Außer den schwachen blauen Fesselmalen an Hand- und Fußgelenken, die die Frau Doktor sich aber auch nicht erklären kann.“
Schuster hatte eine Idee. „Vielleicht hat der Täter die Tote ja zu einer Art Paket verschnürt, damit er sie besser transportieren konnte.“
Walter konnte sich dieser Vorstellung nicht anschließen, hatte selbst aber auch keine bessere Erklärung.
„Aber hier“, sagte er, „schwache Narben auf dem Rücken, allerdings älteren Datums. Sie muss also früher mal von irgendjemandem geschlagen worden sein.“
„Ich würde Frau Doktor gerne noch etwas fragen“, sagte Walter.
„Dann rufen Sie sie doch an.“
„Meinen Sie?“
„Ja doch, mehr als auflegen kann sie ja nicht.“
Walter rief an. „Ich hätte da noch eine Frage, Frau Doktor“ sagte er.
„Sind Sie dazu autorisiert?“
„Schuster meint, ja.“
„Geben Sie ihn mir mal.“
Walter reichte Schuster den Hörer und der sagte nach längerem Zuhören lediglich: „Ja, ich stimme dem zu.“
Dann gab er den Hörer zurück. Walter überging seinerseits das offensichtlich bestehende Misstrauen und sagte: „Es geht mir um den Zeitpunkt, an dem die Tote dort oben abgelegt worden ist. Kann das auch erst gegen Morgen gewesen sein?“
„Ach, Sie meinen sie sei nachts ermordet und erst morgens dort, wie Sie es nennen, abgelegt worden.“
„Ja, als Kollege Schuster und ich die Tote fanden sah es nicht so aus, als sei sie achtlos weggeworfen worden, so als ob man eine Leiche entsorgen wollte.“
„Ja, das war auch mein Eindruck. Aber daraus kann ich als Pathologin keine Schlüsse ziehen, das ist dann doch wohl eher die Aufgabe der Polizei.“
Eine längere Pause entstand. Walter überlegte, wie er das Gespräch fortsetzen konnte.
„Nun, hinabgestürzt oder gestoßen worden ist sie ja offensichtlich nicht. Sonst hätte sie sich doch sicher einige Brüche zugezogen“, stellte Walter klar.
„Warum wollen Sie das denn unbedingt wissen?“
„Ach, ich hab da so eine Idee. Unser Pilzsammler hat nämlich am Morgen noch eine zweite Person dort oben gesehen. Er meinte zwar, das sei auch ein Pilzsammler gewesen, aber wer weiß.“
„Also gut, wenn die Tote dort an der Feuerstelle lediglich abgelegt worden ist, dann stellt sich natürlich die Frage nach der Ursache der Kopfverletzung.“
„Richtig“, sagte Walter, „darüber müssten wir dann noch mal nachdenken.“
Die Pause, die jetzt entstand, war irgendwie spannungsgeladen.
„Also um es mal klar zu sagen, von einem der Steine am Fundort stammte sie nicht. Denn dann hätte ich in der Wunde zumindest Schmutz oder Sand oder sonst irgendwelche erkennbaren Rückstände gefunden. Es muss ein sauberer, harter, relativ scharfkantiger Gegenstand gewesen sein. Es war ja fast eher ein Schnitt als eine Platzwunde.“
„Sie sagten nach dem ersten Eindruck am Fundort, dass sie ihr erst post mortem zugefügt worden ist.“
„Ja, Herr Kommissar“, sagte sie spitz „und das hat sich auch bei der genaueren Untersuchung in meinem Labor bestätigt.“
Walter merkte, dass das Gespräch zu Ende war. „Ich bedanke mich für Ihre Unterstützung“, sagte er so liebenswürdig wie möglich und legte auf.
„Ist die immer so empfindlich?“, fragte er dann.
„Nein, nur wenn ihre Kompetenz angezweifelt wird.“
„Hab ich das denn gemacht?“
„Ja, allerdings.“
„Ich habe doch nur nach Fakten gefragt.“
„Ja, aber es war wohl mehr die Art und Weise wie Sie gefragt haben.“
Beide schwiegen, aber Walter dachte daran, sich bei passender Gelegenheit für sein Verhalten zu entschuldigen.
Die Presse
„Was sagen wir denen nur“, fragte Schuster mit schlotternden Hosen.
„Ach was, das sind auch nur Menschen. Die beißen schon nicht“, antwortete Walter.
Eine Pressekonferenz war anberaumt. Die Reporter stürzten sich wie die Aasgeier auf die zwei Personen, die rechts und links neben dem Staatsanwalt saßen.
„Ich schlage vor, dass Sie, Kollege Schuster, als zuständiger Ortspolizist die Fragen der Damen und Herren beantworten“, hatte der Staatsanwalt in der Vorbesprechung gesagt.
Schuster wurde abwechselnd blass und rot.
„Keine Angst, Kollege, Sie schaffen das schon. Sagen Sie einfach, was Sie in Ihrer Ausbildung für eine solche Situation gelernt haben. Und notfalls bin ich ja auch noch da.“
„Und ich auch“, ergänzte Walter.
Und es begann gleich heftig.
„So geht es doch nicht weiter!“, brüllte der Vertreter der `Rechtsrheinischen Zeitung´. „Wir können unsere Leser doch nicht mit Vermutungen abspeisen. Es ist immerhin ein Mord an einer unserer Mitbewohnerinnen geschehen. Und da will die Bevölkerung über die Zusammenhänge auf dem Laufenden gehalten werden.“
Der Vertreter des `Kreisanzeigers´ pflichtete ihm bei und ergänzte noch: „Da muss doch mal von höherer Stelle was passieren. Man kann eine Ermittlung in einem Mordfall nicht einem jungen – in allen Ehren, Herr Schuster – unerfahrenen Ortspolizisten und einem pensionierten, nicht autorisierten ehemaligen Kriminalkommissar überlassen.“
Schusters Zornesader schwoll an. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot. Walter saß ganz gelassen da. Im Grunde hatte der Reporter ja Recht. Er, Walter, war tatsächlich nur ein besserer Hilfspolizist ohne Rechte und Befugnisse.
Und er kannte solche Situationen aus seiner bisherigen Laufbahn, wenn die Presse versuchte die Polizei unter Druck zu setzen, um an Informationen zu kommen. „Wir leben schließlich davon“, hatten sie ihm immer wieder gesagt.
„Welche Fakten haben Sie denn bisher?“, fragte der Vertreter der `Unabhängigen´ den Staatsanwalt.
Genau, dachte Walter, die wollen immer gleich Fakten haben. Dabei haben wir selbst noch nicht einmal welche.
Der räusperte sich und sagte: „Nun, wir wissen, dass die Tote eine Russlanddeutsche war, also deutsche Vorfahren hatte, dass sie hier im Ort bei der Spedition Fischer als Kindermädchen gearbeitet hat, dass sie von Frau Fischer als sehr fleißige Haushaltshilfe beschrieben worden ist, dass sie nicht eines natürlichen Todes gestorben ist und dass…“
Der Reporter der `Rechtrheinischen´ meldete sich. Der Staatsanwalt erteilte ihm das Wort.
„Aber das wissen wir doch alles schon, Herr Staatsanwalt. Wir wollen wissen, wie der aktuelle Stand der Ermittlungen ist, ob es schon einen Verdächtigen gibt oder wenigstens ansatzweise eine Spur?“
Der Staatsanwalt sah Walter an, Walter sah Schuster an. Der riss sich zusammen. Man sah förmlich, wie ein Ruck durch seinen Körper ging. Dann gab er die einzig richtige Antwort, so, wie er es in seiner Ausbildung gelernt hatte: „Über Ergebnisse in einem laufenden Verfahren dürfen wir keine Auskunft geben, um den Fortgang der Ermittlungen nicht zu gefährden.“
Schallendes Gelächter war die Folge. Schuster sah Walter fragend an, aber der nickte zustimmend.
„Aber meine Herren“, rief der Staatsanawalt die Versammlung zur Ordnung.
„es ist völlig korrekt, was der junge Kollege gesagt hat. Und wir hätten dem Kollegen vor Ort längst Verstärkung geschickt, wenn wir nicht an allen Ecken und Enden personell permanent unterbesetzt wären. Darauf sollten Sie mal Ihr Augenmerk richten und entsprechend an höherer Stelle Druck ausüben. Die Mitarbeiter hier machen ihren Dienst so gut es geht, glauben Sie mir.“
Damit war dem ersten Angriff der Wind aus den Segeln genommen. Doch der Vertreter der `Unabhängigen´ meldete sich noch einmal zu Wort: „Wie wollen Sie denn nun weiter vorgehen?“
Der Staatsanwalt beugte sich vor, legte die Unterarme auf den Tisch und sagte beruhigend: „Lassen Sie die Beiden doch erst mal ihre Arbeit machen. Ich versichere Ihnen, dass wir in Hauptkommissar Walter einen fachlich kompetenten qualifizierten Helfer haben, der in seiner aktiven Laufbahn manchen Verbrecher zur Strecke gebracht hat. Ich persönlich halte die beiden für ein gutes Team. Die Dynamik der Jugend gepaart mit der Erfahrung und der Abgeklärtheit des Alters. Das ist eine gute Kombination.“
Danke, dachte Walter, das reicht, sonst kommen mir gleich die Tränen.
„Und ich verspreche Ihnen“, fuhr der Staatsanawalt fort, „dass ich mich für Ihre Belange einsetzen werde und selbstverständlich werden Sie sofort informiert, wenn wir konkrete Ergebnisse vorweisen können.“
Die üblichen Erklärungen, dachte Walter. Wie oft habe ich das schon in meiner Laufbahn gehört. Geschehen ist dann meistens nichts. Immerhin hat er uns damit die Pressefritzen vom Halse gehalten. Aber Reporter können bekanntlich hartnäckig sein.
Walter erkundete das Industriegebiet. Es gab am Ortsrand schon etliche Ansiedelungen. Da war eine Metallverarbeitung, ein Abschleppdienst, der Elektrogroßhandel der Familie Meixner und die Spedition Fischer. Die war sein eigentliches Ziel gewesen. Der Betrieb bestand aus zwei Großgaragen, zwei Lagerhallen und einem zweistöckigen Wohnhaus, in dem anscheinend auch gleich das Büro und die Verwaltung untergebracht waren. Ein bisschen Grün drum herum, eine kleine Blumenrabatte, ein paar Ziersträucher, kein richtiger Garten. Jedenfalls wurde da sicher kein Gemüse angebaut. Hinter dem Haus standen ein paar Spielgeräte, ein Sandkasten, eine Schaukel, eine kleine Rutsche, was man eben für zwei Kleinkinder so braucht. Das Dachgeschoss war ausgebaut. Wahrscheinlich hat dort Olga gewohnt, dachte er. Der Anblick des Hauses brachte ihn in dem Fall auch nicht weiter. Aber das Haus barg ein Geheimnis. Und das wollte er lüften.
Er schlenderte zurück zum Ort, sah sich die Häuser an, blieb gelegentlich stehen und erreichte so irgendwann die Kirche. Er trat ein. Im Inneren war es still. Durch die alten bunten Glasfenster flutete das volle Tageslicht herein. Schön, dachte er, nicht so dunkel und muffig wie die meisten alten Kirchen. Gerade trat der Pfarrer aus dem Beichtstuhl.
„Guten Tag“ sagte Walter.
„Grüß Gott“ sagte der Pfarrer, „welcher Glanz in unseren bescheidenen Mauern.“
Von Bescheidenheit konnte bei all dem Prunk wohl kaum die Rede sein, dachte Walter. „Woher kennen Sie mich?“
„Ich bitte Sie, so eine bedeutende Persönlichkeit in unserem kleinen Ort bleibt mir doch nicht verborgen. Sind Sie katholisch oder evangelisch?“
„Evangelisch“, meinte Walter kurz und bündig.
„Macht nichts“, sagte der Pfarrer, „im Haus Gottes stehen jedem die Türen offen.“
Ja, dachte Walter, mit einer solchen Antwort hatte ich schon gerechnet.
Der Herr Pfarrer schien zum Plaudern aufgelegt.
„Eine schreckliche Sache, die da passiert ist mit unsrer Olga“, sagte er und blickte hinauf zu den bunten Glasfenstern. „Wann können wir denn die arme Seele beerdigen?“
„Das hängt davon ab, wann der Staatsanwalt die Leiche freigibt. Und das kann dauern. Die Ermittlungen sind kompliziert und wir stehen noch ganz am Anfang.“
„Kommen Sie denn voran, Herr Kommissar?“
„Nicht so richtig. Uns fehlen die entsprechenden Informationen.“
„Ja, da muss ich Sie leider enttäuschen, Herr Kommissar. Selbst wenn ich etwas wüsste, dürfte ich Ihnen nichts sagen. Sie wissen ja …“
„Das Beichtgeheimnis“, fiel Walter ihm ins Wort. „Ja, das gibt es in der evangelischen Kirche auch, selbst wenn es dort keine offizielle Beichte gibt.“
„Aber sonst“, sagte der Geistliche, „ wenn Sie seelischen Beistand brauchen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“ Dabei schaute er wieder nach oben zu den farbigen Fenstern.
„Gibt es in eurer Kirche eigentlich Stammplätze?“ fragte Walter seinen jungen Kollegen am Nachmittag.
„Nein, wieso?“
„Wegen der verschiedenen Kissen auf den Bänken.“
„Ach die. Ja, das hat etwas mit Tradition zu tun. Es wird erzählt, dass eine Kirchenbesucherin schon vor 100 Jahren einmal im Winter ein Kissen mit in die Kirche genommen hatte, weil die Sitzbänke so kalt waren. Leider hat sie es dann beim Heimgang in der Kirche vergessen. Weil das Kissen am folgenden Sonntag noch an derselben Stelle lag, hat sie sich wieder dort hingesetzt. Und so ging es von Sonntag zu Sonntag weiter. Als einige andere Frauen davon erfuhren, haben sie sich auch Kissen mitgenommen und auf ihrem Platz liegengelassen. Und so hat sich im Laufe der Jahre eine feste Gewohnheit daraus entwickelt. Das ging sogar so weit, dass die Stammplätze einschließlich der Kissen testamentarisch von Generation zu Generation weitervererbt wurden. Vor Jahren wollte ein Kirchenvorsteher, dessen Frau keinen Stammplatz hatte, diese Unsitte, wie er es nannte, abschaffen. Das hat fast eine Revolution gegeben. Und darum ist alles beim alten geblieben, bis auf den heutigen Tag.“
„Was würde denn passieren, wenn ich mich auf eines der Kissen setzen würde?“
„Das wäre eine Sünde, die zur Exkommunikation führen könnte.“
„Bei mir nicht. Ich bin ja evangelisch.“
„Lassen Sie es lieber nicht darauf ankommen. Sie könnten öffentlich gelyncht werden.“
„Durch Ersticken mit Kissen?“, sagte Walter lachend, „oder wie? Aber ich hätte da noch eine Frage. Als ich am ersten Tag da oben den Teufelskanzelrundweg gegangen bin, da ist mir auf dem Rückweg ein Mann entgegengekommen. Es war schon eigenartig, denn es war kein Förster und kein Jäger, aber auch kein Wanderer oder Spaziergänger, so wie ich.“
Nachdem Walter den Mann beschrieben hatte, sagte Schuster: „Das könnte Peter gewesen sein.“
„Wer ist Peter?“
„Das ist ein Fernfahrer, der auch für Fischer fährt. Er arbeitet auch manchmal bei Fischer, wenn er hier ist und es viel zu tun gibt. Der vertritt sich manchmal da oben die Füße zwischen zwei Fahrten, bevor er dann wieder stundenlang in seinem Führerhaus sitzen muss.“
Neid und Missgunst
Die öffentliche Gemeindevertretersitzung in Harmonie ging ihrem Ende zu. Es war nicht gerade aufregend gewesen. Alle eingereichten Anträge wurden von den Gemeindevertretern nach kurzer unbedeutender Diskussion entweder mehrheitlich abgelehnt oder angenommen. So wurde dem Antrag eines Bürgers zugestimmt, Hundebesitzer darauf hinzuweisen, dass sie ihre Vierbeiner dazu anhalten müssen, ihr „Geschäft“ nicht auf Bürgersteigen, in öffentlichen Anlagen oder gar in privaten Vorgärten zu erledigen. Der Besitzer sei dazu verpflichtet, die Hinterlassenschaften seines Hundes sachgemäß zu entsorgen. Falls dies nicht geschehe, könne er mit einer Ordnungsstrafe von bis zu 100 Euro belegt werden.
In einer anderen Anfrage wurde entschieden, dass der Winterdienst bei einer sogenannten Mischstraße – das ist eine Straße, in der es nur auf einer Seite einen Bürgersteig gibt – in Jahren mit geraden Zahlen von den Anwohnern mit ungeraden Hausnummern ausgeführt werden muss und in ungeraden Jahren von den Anwohnern mit geraden Hausnummern. Eine Wortmeldung eines Zuhörers, ob man es nicht umgekehrt machen könne, kam zu spät, da der Tagesordnungspunkt schon abgehakt war.
Doch bei Tagesordnungspunkt 11 „Öffentliche Finanzen“ kam es zu einer heftigen Debatte, als der Herr Bürgermeister erklärte, dass auf Grund der angespannten Finanzlage (der öffentlichen Hand) die alljährlichen Zuschüsse der Gemeinde an die örtlichen Vereine im kommenden Jahr um die Hälfte gekürzt werden müssten. Es entstand eine allgemeine Unruhe unter den Zuhörern, denn jeder im Saal gehörte mindestens einem der betroffenen Vereine an.
Zuerst meldete sich der erste Vorsitzende des Sportvereins zu Wort und erklärte lang und breit, wie wichtig die Arbeit des Vereins für den Ort sei und vor allem die Kinder und Jugendlichen würden darunter zu leiden haben, da bei einer solchen Kürzung der Trainingsbetrieb nicht mehr in vollem Umfang aufrecht erhalten werden könne. Ähnlich äußerte sich dann auch der Ortsbrandmeister und begründete seinen Einspruch damit, dass die Feuerwehr ohne den vollen Zuschuss ihre wichtige Aufgabe womöglich nicht mehr erfüllen könne. Er schloss mit den Worten „Nicht, dass es irgendwann mal zu einer Katastrophe kommt, weil wir mangelhaft ausgerüstet sind.“ Natürlich ließ es sich auch der Vorsitzende des Heimatvereins nicht nehmen darauf hinzuweisen, wie wichtig ihre Arbeit für das Ansehen des Ortes sei. „Kürzen Sie wo Sie wollen, aber nicht bei uns.“ Wieder machte sich allgemeine Empörung breit. Der Bürgermeister musste mit der Glocke zur Ordnung rufen und beruhigte die Gemüter einigermaßen, indem er in Aussicht stellte, dass die Zuschüsse im Jahr darauf eventuell wieder erhöht werden könnten „falls unsere Finanzlage es zulässt. Und nun kommen wir zu Punkt 12 unserer Tagesordnung: Verschiedenes.“
Als erster meldete sich der Weber von den Grünen und fragte, ob an dem Gerücht etwas dran sei, dass an der Autobahnabfahrt eine Tank- und Raststätte gebaut werden soll. „Wir von den Grünen sind entschieden dagegen, wegen der vielen Bäume, die dann gefällt werden müssten, wegen der zusätzlichen Umweltbelastung und wegen der Luftverschmutzung durch parkende Autos.“ Noch bevor der Bürgermeister antworten konnte, bekam der Redner schon eine Antwort aus dem Publikum. Der Weirer hatte sich erhoben „Schorsch, was bist du doch für ein erbärmlicher Heuchler. Wir alle wissen doch genau, dass es dir weder um die Bäume noch um Luftverschmutzung geht. Es geht dir doch lediglich um deinen Parteifreund Solm, weil der Angst hat, dass er seine Tankstelle zumachen kann, wenn da oben eine Autobahntankstelle gebaut wird. Ich kann solche Pläne nur befürworten. Das könnte auch unseren Bemühungen um mehr Tourismus sehr entgegenkommen.“ Er war noch nicht ganz fertig, als ihm schon der Bergner ins Wort fiel „Wer ist denn hier der Heuchler, was? Wir alle wissen doch, dass das Land da oben deinem Parteifreund Brenner gehört. Und wenn der sein billiges Ackerland als teures Bauland verkaufen könnte, wäre sicher eine dicke Spende für eure Parteikasse drin.“ Für diesen Einwand bekam er lautstarken Beifall von seinen Parteifreunden. Aber Weirer war noch nicht am Ende. „Wenn da oben eine Tank- und Raststätte gebaut würde, kämen dann die Einnahmen der Gewerbesteuer nicht unserer Gemeinde zugute?“ Allgemeines Kopfnicken der Gemeindevertreter. Noch einmal hakte der Vertreter der Grünen nach „Und dann setzt ihr uns da oben wahrscheinlich eine amerikanische Fastfoodkette vor die Nase, mit Hamburgern und Cola.“ Ein Zwischenruf aus dem Saal war zu hören „Du kannst ja mal unseren Wirt fragen, ob der den Laden übernimmt.“ Darauf ein anderer „Ich glaube kaum, dass die Reisenden mit Schnitzel und Pommes zufrieden wären.“ Allgemeines Gelächter.
Der Bürgermeister rief erneut mit der Glocke zur Ordnung „Aber meine Herren, Sie können doch alle Ihr „Für“ und „Wider“ zu diesem Thema schriftlich bei uns einreichen. Und ich verspreche Ihnen, dass wir alles parteiunabhängig und objektiv prüfen und beurteilen werden.“
Jemand aus dem Saal rief „Wer´s glaubt wird selig.“ Darauf konterte der Bürgermeister „Für Glaubensangelegenheiten bin ich nicht zuständig. Da müssten Sie sich an unseren Herrn Pfarrer wenden.“ Damit hatte der Bürgermeister wieder einmal die Lacher auf seiner Seite und schloss die Sitzung mit den besten Wünschen für den Heimweg.
Am Sonntag war die Kirche so gut besucht wie selten. Jeder wollte sehen, wie der Herr Pfarrer auf die Anspielung des Bürgermeisters aus der Gemeindevertretersitzung reagieren würde. Denn natürlich hatten sich die Streitigkeiten in Windeseile auch bis zum Pfarrer herumgesprochen. Und es war bekannt, dass er und der Bürgermeister nicht gerade die besten Freunde waren.
Als der Pfarrer die Kanzel betrat war es totenstill in der Kirche. Alle warteten auf das große Donnerwetter. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen las der Pfarrer ein paar Verse aus dem 1. Johannesbrief vor, in denen es darum ging, wie Christen miteinander umgehen sollen. Und er schoss mit den Versen „Meine Kindlein, lasset uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. So jemand spricht: „ Ich liebe Gott!“ und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe. Amen, ja, so sei es.“
Alle hielten den Atem an. War das alles? Als der Pfarrer die Kanzel bereits verlassen wollte, hielt er inne, kam noch einmal zurück und sagte „Übrigens, es heißt nicht `Wer´s glaubt wird selig´ sondern `Wer da glaubt, der wird selig.´Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort „Wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden!“ brüllte er und schlug mir der Faust auf die Kanzel. „Meine Herren, ja, ich sage bewusst meine Herren, denn ihr seid es nicht wert, dass ich euch Brüder nenne. Ich glaube, ihr habt im Kommunionunterricht nicht richtig aufgepasst. Erinnert ihr euch nicht daran, was ich euch aus der Bergpredigt eingebläut habe, in der Jesus gesagt hat „Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen.“ Und was höre ich von euch? Hauen und stechen. „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Das ist Rückfall ins tiefste Alte Testament. Und das in einem Ort mit dem schönen Namen Harmonie. Ihr jedenfalls habt diesen Namen nicht verdient. Ihr Ottern und Schlangengezücht. Wer hat euch verheißen, dass ihr dem ewigen Zorn Gottes entrinnen werdet?“ brüllte er. Dann verließ er grußlos die Kanzel. Zack, das hatte gesessen.
Man sah den Gottesdienstbesuchern an, dass die Schlussworte des Pfarrers ihre Wirkung nicht verfehlt hatten. Schuldbewusst verließen sie die Kirche.
Olgas Beerdigung stand bevor. Die Staatsanwaltschaft hatte die Leiche freigegeben weil man der Meinung war, dass weitere Untersuchungen keine neueren Erkenntnisse über die Tat und den Täter ergeben würden. Da man keine Angehörigen ermitteln konnte, hatte der Pfarrer beschlossen, Olga auf dem örtlichen Friedhof beizusetzen. „Aber nicht im großen Feld für die Allgemeinheit“, hatte ein Kirchenvorsteher sofort gefordert. „So eine kommt nicht in eine Reihe mit den angesehenen Bürgern unseres Ortes. Da hinten in der Ecke, neben dem Weg zum Abfallbehälter, da wäre noch Platz, wenn es denn unbedingt sein muss.“ Die übrigen Mitglieder des Kirchenvorstandes hatten ihm beigepflichtet. „Also, ich hätte etwas dagegen, wenn die neben meiner Mutter oder neben meinem Vater zu liegen käme“, sagte einer. Und ein anderer meinte „Und ich wollte auch nicht neben so einer beerdigt werden.“ Und so bekam Olga ein Plätzchen am Weg, gleich neben den öffentlichen Gießkannen. Der Pfarrer war anderer Meinung, aber er hatte sich nicht durchsetzen können. Er hatte allerdings darauf bestanden, dass die Tote zur Trauerfeier in der Kirche aufgebahrt wurde. „Sie war schließlich ein praktizierendes Mitglied unserer Kirchengemeinde.“
Am Tag der Beerdigung war in der Kirche kein Platz mehr frei. Der ganze Ort war zusammengeströmt, weniger aus Anteilnahme als vielmehr aus Neugier darüber, was der Pfarrer wohl sagen würde. Aber er sagte nichts Außergewöhnliches. Er las lediglich die Geschichte von der großen Sünderin vor und schloss mit den Worten „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Unser Herr freut sich mehr über einen Sünder, der Buße tut, als über tausend Gerechte. Amen“
Als der Sarg und der Trauerzug die Kirche verließen, standen Walter und Schuster ein wenig abseits und beobachteten das Geschehen. „Es kommt häufig vor, dass der Täter die Beerdigung seines Opfers besucht“, hatte Walter seinem Kollegen zuvor erklärt. Aber niemand fiel aus der Rolle, kein verräterisches Verhalten, kein unsicherer Seitenblick.
„Ist jemand Fremdes dabei, Junior?“
„Die meisten kenne ich schon, aber garantieren kann ich dafür nicht, Chef“
Familie Fischer hatte ersatzweise die Rolle der `Eltern´ übernommen, da Olgas Angehörige in der Kürze der Zeit nicht hatten festgestellt werden können. Darum standen Herr und Frau Fischer am Grab, dazu Saskia und Max, die hemmungslos weinten, und ein junger Mann, den Walter nicht kannte. „Wer ist der Mann neben der Familie Fischer?“
„Das ist Joseph, der Lagerarbeiter in der Spedition.“
Walter hatte den Eindruck, dass er mehr betroffen war als alle anderen. Aber daraus ließ sich ja kaum ein Mordmotiv ableiten.
Der Pfarrer verlas den Psalm 103 „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras. Er blüht wie eine Blume auf dem Felde. Wenn der Wind darüber weht, ist sie nicht mehr da und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. Aber die Gnade des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit.“
„Eine seltsame Beerdigung“, sagte Walter auf dem Heimweg. „Was hat der Pfarrer eigentlich über Olga gesagt? Nichts, gar nichts. Und dabei weiß er sicher mehr über sie als wir alle zusammen.“
„Das Beichtgeheimnis, Chef, das Beichtgeheimnis.“
„Ja, ich weiß. Ich gäbe viel darum, an seine Informationen zu kommen. Es könnte sein, dass wir danach ein fertiges Puzzle hätten.“
„Sie geben doch nicht etwa auf, Chef?“
„Nein, Junior, wir müssen uns die Teile nur mühselig zusammensuchen.“
Beim anschließenden Leichenschmaus in der „Traube“, der übrigens aus der Spendenkasse der Kirchengemeinde bezahlt wurde, gab es große Diskussionen. Wie denn der Herr Pfarrer das gemeint hätte und wem das wohl gegolten hätte und so schlimm seien wir hier in Harmonie doch nicht, oder?
„Hier ist doch nicht Sodom und Gomorra“, sagte Frau Fischer zu Frau Rosenbauer.
„Genau“, pflichtete die ihr bei, „obgleich, so gewisse Leute …“
Walter machte sich so seine eigenen Gedanken. Die biblische Geschichte von der großen Sünderin war ja schon bezeichnend und stimmte überein mit dem, was Schuster über Olgas Privatleben gesagt hatte. Und der Pfarrer wusste es auch. Aber ein Mord wäre natürlich schon eine heftige Reaktion und passte in seiner Art weder zu einem Eifersuchtsdrama noch zu privater Rache. Und es sah auch nicht nach einer Tat im Affekt aus, vorausgesetzt die blauen Flecke an den Hand- und Fußgelenken waren zeitlich identische mit den Würgemalen am Hals.
Man konnte allerdings davon ausgehen, dass der Täter Ortskenntnisse besaß, was nicht bedeutete, dass er in Harmonie wohnen musste. Es sind einfach noch zu viele offene Fragen dachte Walter noch kurz vor dem Einschlafen.