Читать книгу Zu dramatischen Ereignissen - Erich Honecker - Страница 3
I. Einleitung
ОглавлениеDa in dem von mir nicht autorisierten Buch und in einigen anderen Veröffentlichungen, auf die ich keinen Einfluss hatte, Entstellungen und Fälschungen enthalten sind, halte ich es schon aus Gründen der politischen Kultur für erforderlich, mich zu äußern. Vor allem jedoch entspricht das meiner politischen Verantwortung.
Ich weiß, dass es auch wohl gemeinte Ratschläge von Freunden gibt, überhaupt auf öffentliche Erklärungen zu verzichten, da sie in jedem Falle für neue Hetztiraden benutzt werden können. Das ist nach den jüngsten Erfahrungen auch keineswegs von der Hand zu weisen, aber andererseits kann man mir nicht zumuten, zu all den tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu schweigen.
Ich halte es einfach für meine Pflicht, mich zu den dramatischen Ereignissen seit November 1989 zu äußern. Schließlich gibt es nicht nur jene, die nur allzu schnell ihre früheren Ideale und Freunde verraten und ihre politische Gesinnung gewandelt haben, sondern auch unzählige ehrliche ehemalige Mitstreiter, vernünftige und anständige Menschen in aller Welt, die trotz kritischer Bewertung der Vergangenheit ihre Hoffnung auf eine neue, eine von kapitalistischer Ausbeutung freie moderne sozialistische Gesellschaft trotz alledem nicht aufgegeben haben. An sie wende ich mich in erster Linie.
Von der Bühne der Geschichte abzutreten, ohne meinen Standpunkt zu den erdbebenartigen Entwicklungen der letzten Zeit darzulegen, das hielte ich für ehrlos, nicht nur für mich persönlich, sondern auch für die deutsche und internationale kommunistische Bewegung.
Ich bin fest entschlossen, soweit meine Kräfte reichen, mich von den heutigen Siegern ebenso wenig mundtot machen zu lassen, wie einst von der faschistischen Gestapo. Das bin ich meinem ganzen Leben als Kommunist schuldig.
Zunächst möchte ich sagen: die Ereignisse seit meinem Rücktritt als Staatsratsvorsitzender und Generalsekretär, die sich in der DDR vollzogen, haben mich tief erschüttert. Ich kann aber nicht sagen, »dass in mir eine ganze Welt zusammengebrochen sei«. Der Untergang der DDR hat aber mir und anderen Kampfgefährten nicht den Glauben an den Sozialismus als der einzigen Alternative für eine menschliche Gesellschaft genommen. Es ging beim »Zurückrollen« des Sozialismus in den Kapitalismus nicht um mich, sondern um alle, die tatkräftig mitgebaut haben an der Errichtung und Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft. Ich verstehe sehr gut all jene, die sagen, es kann doch wohl nicht wahr sein, dass wir 40 Jahre umsonst gearbeitet haben. Sie haben recht! Was wir in 40 Jahren, jeder an seinem Platz, unter schwierigen Bedingungen für ein Leben im Sozialismus auf deutschem Boden geleistet haben, wird fortbestehen in den Kämpfen der Zukunft. Ich denke dabei insbesondere an die durch die sozialistischen Produktionsverhältnisse bedingte soziale Sicherheit für alle, an solche verwirklichten Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf gleiche Bildung, die Gleichberechtigung der Frau, an all die Errungenschaften, die vielen schon selbstverständlich erschienen, heute jedoch rigoros zerschlagen werden. Arbeiter, Bauern, Wissenschaftler, Lehrer, Männer und Frauen und die Jugend, viele heute ohne Arbeitsplatz, ohne Lebensperspektive werden nur im Kampf zurückgewinnen können, was ihnen an Rechten schon garantiert war in unserem ehemals sozialistischen Land. Bei dem schier Unverständlichen des Zusammenbruchs der sozialistischen Gesellschaft, bei all dem Verrat, bei aller Erbärmlichkeit, die wir erleben mussten, bleibt es dabei: Der Aufbruch in eine neue Welt ist nicht aufzuhalten. Diese Erkenntnis erschließt sich für jeden, der Marx und Engels und Lenin nicht nur gelesen, sondern auch verstanden hat. Die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft sind objektiv. Der Hauptwiderspruch der Welt des Kapitals, so sehr sich der Kapitalismus auch zu »wandeln« in der Lage ist, er existiert und bleibt bestehen. Erst wenn der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und privater Aneignung aufgehoben wird, werden die Bedingungen für den Einzelnen, für ein menschenwürdiges Leben geschaffen werden können. Die Grenzen, an die die kapitalistische Gesellschaft schließlich stoßen wird, machen den Weg frei für den Sozialismus.
Trotz der jetzigen Niederlage bin ich wie viele Gleichgesinnte von der Gewissheit erfüllt, dass die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft durch eine wie auch immer konkret ausgestaltete sozialistische Gesellschaft unvermeidlich ist, weil sich die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte nicht außer Kraft setzen lassen. Deshalb beurteile ich die Dinge aus historischer Sicht nicht so pessimistisch, wie das nach dem Schock des Jahres 1989 von vielen getan wird.
Schließlich gruppieren sich doch alle Fragen, die das Leben der Menschen erst lebenswert machen, primär um solche Werte wie soziale Sicherheit. Aber dafür ist in der Ellbogengesellschaft, in die wir gestoßen wurden, keinerlei Platz. Die Wolfsgesetze des Manchester-Kapitalismus, die heute in der ehemaligen DDR herrschen, stellen doch wohl keinesfalls eine Alternative zu einer sozial gerechten Gesellschaft dar. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass die Entwicklung längst nicht an einem Schlusspunkt angelangt und die sozialistische Idee keinesfalls tot ist. Manche nennen das realitätsfernes altes Denken und beweisen damit nur ihr Unverständnis für historische Prozesse und zugleich ihre tiefe Gegnerschaft gegenüber der marxistischen Theorie.
Mein Rücktritt vollzog sich, wie die Ereignisse bestätigen, auf dem Hintergrund von Vorgängen, die nicht von heute auf morgen eintraten. Dem gingen langfristig angestrebte Veränderungen auf der Weltbühne voraus, Veränderungen, die, wie sich bald zeigen sollte, das Antlitz Europas veränderten. Die heutigen Begebenheiten, so äußerte ich mich bereits im Frühjahr 1990, bezeugen das leider in einem Umfang, den man damals noch nicht voll einschätzen konnte. 1987 erhielten wir Informationen aus Washington, die besagten, dass die DDR der »Preis« für das Haus Europa sein würde. Diese Information war offensichtlich von der Befürchtung getragen, dass die USA aus Europa heraus gedrängt werden sollten. Und es war das Jahr 1987, als einige namhafte, oder sich mit diesem »Ruhm« schmückende sowjetische Autoren in den westlichen Medien auftraten, die die Überwindung der deutschen »Zweistaatlichkeit« als politische Tagesaufgabe »verkündeten«.
War es da nur ein Zufall, dass Reagan etwa zur gleichen Zeit am Brandenburger Tor forderte, die Mauer fallen zu lassen? Dass die Überwindung der deutschen »Zweistaatlichkeit« nach Lage der Dinge nur durch einen Systemwechsel in der DDR zu bewerkstelligen war, war nur logisch. Aber daran zu glauben, kam uns damals nicht in den Sinn. Wir glaubten an die gegenseitigen Bündnisverpflichtungen, die niemandem das Recht gaben, die DDR aufzugeben und wir glaubten an die Festigkeit dieses Bündnisses, an die Ehrlichkeit der Verbündeten, die mit uns nie und nirgendwo über die Möglichkeit der Aufhebung der deutschen »Zweistaatlichkeit« sprachen. Die Ereignisse seit dem Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der SED am 11. Oktober 1989 zur Wende, meinem Rücktritt auf dem 9. Plenum des Zentralkomitees am 18. Oktober 1989 verliefen folgerichtig in Richtung Systemwechsel. Die DDR wurde der BRD ausgeliefert und von der BRD okkupiert, auch wenn man das freiwilligen Anschluss nennt. Und heute zeigt sich, dass das nicht des Volkes Wille war, auch wenn später die Mehrheit die CDU/CSU wählte.
Diesen Irrtum muss das Volk teuer bezahlen. Die Opferung der DDR ist das Schmerzlichste in meinem Leben, aber es bleibt die Zuversicht, die mit mir viele Menschen teilen: Der Sozialismus ist nicht von der Weltbühne verschwunden und er wird von ihr nicht abtreten.
Trotz des vorläufigen Scheiterns des Versuchs der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft, trotz der gegenwärtigen politischen Verwirrungen wird der Wille zur Errichtung einer von Ausbeutung freien, gerechten und friedlichen Welt nicht zu brechen sein. Das Wichtigste ist und bleibt, dass unsere Bewegung nach ihrer größten Niederlage seit ihrer Existenz, dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder in Mittel- und Osteuropa und der gegenwärtigen komplizierten Lage in der UdSSR und der damit eingetretenen Schwächung ihrer Position in der Welt neue Kräfte sammelt, dass sich die marxistischen Parteien wieder festigen, denn nur sie sind in der Lage, eine Politik in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzen auszuarbeiten, auf die neu entstandenen Bedingungen und Probleme Antwort zu finden und trotz aller Widrigkeiten die sozialistische Idee in den Massen zum Tragen zu bringen.
Der Sozialismus ist keine Utopie, er ist eine Wissenschaft, daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es in Deutschland, dem Land, aus dem die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus stammen, »modern« geworden ist, dass »sozialistische Theoretiker« das in Frage stellen. Niederlagen muss man mit der Marxschen Methode analysieren, nur so lassen sich Lehren ziehen. So werden und können, wie Karl Liebknecht kurz vor seiner Ermordung schrieb, Niederlagen auch Siege sein, Niederlagen zu neuen Siegen führen.
Natürlich war mir in den Oktobertagen des Jahres 1989 nicht so klar wie heute, dass durch die Verschiebung der weltpolitischen Konstellation für das Sein oder Nichtsein der DDR eine neue Situation eingetreten war. Das möchte ich auch den Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros und des Zentralkomitees zugute halten. Denn sie konnten so wenig wie ich das Spiel durchschauen, das zu einer völligen Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt führte. Ich bin mir gerade heute, wie bereits in der Sitzung des Politbüros vom 10. und 11. Oktober 1989, darüber im klaren, dass der in meiner Abwesenheit vorbereitete Beschluss für die »Wende« falsch war. Weder die Beschlüsse des 9. Plenums noch des 10. Plenums des Zentralkomitees der SED konnten die Lage positiv beeinflussen, da der DDR, die ein Ergebnis des 2. Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung war, bereits der Boden für ihre Existenz entzogen war. Sowohl die Partei als auch die staatlichen Organe wurden durch den Beschluss und seine Begleitumstände irritiert. Die dann eingeleitete Verleumdungskampagne gegen die »SED-Spitzen« auf den verschiedensten Ebenen hat für den »Systemwechsel« günstigen Boden bereitet. Das war nun das Verdienst der »demokratischen Sozialisten« in der Partei, die mit ihrem Ruf nach mehr »Demokratie«, was der Springer-Presse besonders gefiel, dazu beitrugen, die DDR in den Abgrund zu stürzen.
Natürlich trugen unsere Fehler, unsere Mängel zu der eingetretenen Entwicklung bei. Beim Rückwärtsblicken sind sie heute auch klarer erkennbar. Klarer ist aber auch ersichtlich, dass der Warschauer Pakt die Aufgabe aufgeben wollte, zu deren Zweck er gegründet wurde: die Verteidigung der im Ergebnis des 2. Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung in Europa entstandenen sozialistischen Staatengemeinschaft gegenüber der aggressiven subversiven Politik der NATO, einschließlich ihrer Geheimorganisation, der »Gladio«. Leider fehlte es an der Bereitschaft, rechtzeitig über solche Pläne offen im politisch beratenden Ausschuss zu sprechen. Auch nicht, als es 1987 während der Kommandostabsübung »Meisterschaft« klar wurde, dass mit der neuen Militärdoktrin der Sowjetunion, der Doktrin der Konfliktvermeidung, der hinlänglichen Verteidigung im Ernstfall, die DDR der NATO preisgegeben würde. Unser Protest gegen eine solche Variante der Verteidigungsdoktrin wurde als Missverständnis, als eine irrtümliche Auslegung der neuen Militärdoktrin abgewehrt.
Hinzu kommt, dass alle möglichen inneren und äußeren Gegner durch die in der Sowjetunion erneut aufgeworfenen Frage »Wer – Wen« zu noch massiveren Attacken gegen den Sozialismus ermuntert wurden. Es musste zu den großen Enttäuschungen der Menschen kommen, die ihre Zukunft, ihre Hoffnungen mit dem Sozialismus in der DDR verbanden.
Trotz allem darf man die Situation, in der wir uns befinden, nicht verkennen. Neofaschistische Pogrome, nationalistische Exzesse, eine beispiellose antikommunistische Hexenjagd, nicht zuletzt auch Verrat an unserer Sache, dürfen den Blick nicht trüben für das, was sich gegenwärtig auf deutschem Boden, in Europa und in der Welt vollzieht.
Aus Gründen des Profits und kapitalistischer Konkurrenz wurde bewusst der Ruin der DDR-Wirtschaft, der gewollte Zusammenbruch des Marktes organisiert: neben solchen Betrieben, die ohne staatliche Hilfe und andere Stimuli in der Marktwirtschaft nicht existenzfähig wären, werden massenweise auch technisch hochmoderne, nicht selten von westlichen Firmen errichtete leistungsfähige Betriebe regelrecht vernichtet. Der sich krass abzeichnende soziale Massenexitus, die Vernichtung sozialer Existenzen in Größenordnungen, der Zerfall von Ehen und Familien, die sich in der westlichen Lebensweise, die ihnen über Nacht übergestülpt wurde, nicht zurechtfinden, führt zu einer Explosion der Kriminalität und zu einer Besorgnis erregenden regelrechten Suizid-Epidemie. Der Zusammenbruch ganzer gesellschaftlicher Bereiche, wie zum Beispiel des Gesundheitswesens, der Kinder-, Jugend- und Altenbetreuung, die Abwicklung von Wissenschaft, Kultur und Volksbildung – all das steht in scharfem Kontrast zu den verlogenen Versprechungen der Herrschenden sowie zu den von den Medien geschürten, hochgeschraubten Erwartungen und falschen Hoffnungen einer großen Mehrheit. Noch gelingt es den Herrschenden in Bonn, soziale Proteste abzuwiegeln und einzudämmen. Die Staffelung der Maßnahmen zum rigorosen Sozialabbau und Teilzugeständnisse, die den Unternehmern abgerungen wurden, haben zu einer vorübergehenden Ruhe vor dem Sturm geführt – der aber ist unausbleiblich. Und niemand weiß, wo eine Radikalisierung enden könnte.
Angesichts des politischen und ökonomischen Desasters, das sich am augenscheinlichsten in der ungeheuren Zahl von 3 Millionen Arbeitslosen in der ehemaligen DDR ausdrückt, fällt es der Kohl-Regierung immer schwerer, die Verantwortung auf DDR-Zeiten abzuwälzen. Der Protest lässt sich trotz der massiven Propaganda nicht mehr völlig nach hinten kanalisieren. Das mit Worten kaum qualifizierbare Auftreten bestimmter Wessis in der ehemaligen DDR, ihre Kolonialherren-Arroganz tun ihr Übriges, um immer mehr Menschen die Augen zu öffnen. Wenn die missbrauchten Mitläufer des November 1989 sagen, dass sie das alles nicht so gewollt haben, kann man ihnen glauben. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung und der noch bevorstehenden Talsohle der Krise wird doch immer durchschaubarer, dass es sich bei den uns alle tief bewegenden Ereignissen in Mittel- und Osteuropa um die Jahreswende 1989/90 um eine Konterrevolution handelte, deren Sieg durch den systematischen Abbau des Einflusses von marxistischen Parteien erleichtert wurde. Leider kommt diese Erkenntnis zu spät. Aber nicht zu spät, um Lehren für die Zukunft und für jetzt erforderliches entschlossenes Handeln innerhalb und außerhalb des Parlaments zu ziehen. Das Recht auf Arbeit, gleicher Lohn für gleiche Arbeit ohne Unterschied des Alters und Geschlechts, das Recht auf Bildung und Erholung, für jeden eine Wohnung – alles Dinge, die ich bereits 1945/46 für die junge Generation forderte. Diese Forderungen gelten für alle – heute erst recht.