Читать книгу Heideblues - Kriminalroman - Erich Virch - Страница 6

2. Kapitel

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Als ich um den alten Golf herumgehen wollte, um einzusteigen, hielt Karl meinen Arm fest. Ich sah ihn fragend an, doch er schaute nur entzückt auf Walter. Der Dicke hatte sich mühsam durch die Tür auf den Fahrersitz gequetscht und warf sich nun – zwecks besserer Verteilung der Massen – wild hin und her, so daß das ganze Auto schaukelte. Ein eindrucksvolles Bild. Nun tastete er keuchend nach dem Sicherheitsgurt, zerrte an seiner verrutschten Garderobe, rückte am Innenspiegel, glühte den Diesel vor und wandte sich uns schließlich auffordernd zu. Karl kroch grinsend nach hinten, ich drückte mich auf den Beifahrersitz. Trotz seines Umfangs gehörte Walter zu den vornübergeneigten Fahrern, die mit der Nase an der Frontscheibe kleben. Ruckelnd steuerte er das Vehikel erst ein Stück die Hauptstraße entlang, dann bog er rechts ab. Im Scheinwerferlicht tauchte die Backsteinwand der Friedhofskapelle auf, danach durchquerten wir ein kleines Waldstück. Walter zeigte mit dem Finger auf einen tiefen Graben, der sich links des Weges erstreckte. „Seit Jahren völlig trocken, der Peerbeek hier”, erklärte er wichtig. „Peerbeek heißt Pferdebach. Früher mal ist da die ganze Feuchte aus dem Sumpf hinter der Fehnkoppel längsgeflossen, bis sie 1816 alles in die Niddau reingeleitet haben, damit das Dorf für den Brandfall genug Löschwasser haben sollte. Das ist historisch. Hab ich letztes Jahr wissenschaftlich erforscht, für die Festschrift von der Freiwilligen Feuerwehr.”

„Donnerwetter”, sagte ich höflich.

„Ja, da drüber gibt es sogar ein Gerichtsurteil aus dem Jahre 1867, das besagt: die Niddau hat Anspruch auf zwei Drittel vom Peerbeekwasser!” Was aus dem dritten Wasserdrittel geworden war, blieb im Dunkeln, denn Karl sagte unvermittelt: „Du, Paul – weißt’ überhaupt, wen wir morgen im Studio haben werden? Die Nina Simon!”

Ich pfiff durch die Zähne. Nina Simon war nicht irgendwer. Sie war ein internationaler Musical-Star; ihr hatte ganz Paris zu Füßen gelegen, in den USA galt sie als Fräuleinwunder. Soweit ich wußte, ließ sie sich gerade von einem millionenschweren Wall-Street-Broker scheiden.

Bevor ich Karl über die geplante Session ausfragen konnte, passierten wir zwei pseudoantike Kutschlaternen, die ein Bewegungsmelder klickend einschaltete, und da lag der Eichenhof, ein großes Backsteinhaus unter mächtigen Bäumen. Es präsentierte sich mit seinen Nebengebäuden und den hellen Fenstern äußerlich durchaus einladend. Direkt davor stand ein schwarzer Porsche. Auf einem kleinen, kiesbestreuten Parkplatz unter den Bäumen standen ein silberfarbener BMW-Geländewagen, Didiers großer Audi Quattro, der Mercedes-Kombi seiner Frau und ein dunkler 7er BMW. Walter eilte voraus, um uns die Haustür aufzuhalten, auf der ein Plastikschild prangte: Kulturkreis Niederholt e.V. – der Doktor nutzte das Anwesen für ein privates Steuersenkungsprogramm.

Das Gebäudeinnere war weniger einnehmend. Wie in vielen norddeutschen Bauernhäusern der Jahrhundertwende waren die Zimmer hoch, aber klein. Deshalb hatte Didier in der Wand zwischen dem engen Treppenhaus und der ehemaligen Wohnstube einen Durchbruch schaffen lassen, so daß ein größerer Raum, eine Art Diele entstanden war, wo es trotz neuer Kunststoffenster scheußlich zog. Der Kohleofen war durch einen Ölofen ersetzt worden, die alten Dielen mit Laminatplatten im Kiefernholz-Look beklebt. Ein Adventskranz baumelte an einem dünnen Draht unter der Deckenlampe.

An der Rückwand des Raumes stand verloren ein modisches Sofa, und darauf saß, noch verlorener, ein kleiner Mann mit braunen Locken und freundlichem Clownsgesicht. Wie es sich für einen Clown gehörte, sah er zutiefst melancholisch aus, aber in diesem Zimmer alleingelassen mußte jeder trübsinnig werden.

„Dem Himmel sei Dank!” Der kleine Mann sprang auf und kam auf uns zu; „Menschliche Antlitze!” Er boxte mir vertraulich auf den Arm. Wir umarmten uns. Dann sah er mir ins Gesicht: „Na ja, fast menschlich!” Er reichte Karl die Hand.

„Ja, da schau her, der Pelle”, sagte Karl; „was machst denn du hier? Warum bist denn net ins Wirtshaus kommen?! Was macht Köln? Und wo ist überhaupt der Doktor?”

„Ins Wirtshaus bin ich nicht gekommen, weil mir heute nicht nach Angestarrtwerden ist”, sagte Pelle, „Köln macht mal wieder Karneval, und der Doktor ist mit der großen Nina Simon oben im Büro.”

„Darf ich mich vorstellen, Herr Schmitz”, räusperte sich Walter, die Hände an der Hosennaht, „mein Name ist Lübbers.” Und als ob das seine Anwesenheit erkläre, fügte er stolz hinzu, wobei er den Blick mit flatternden Wimpern zur Decke richtete: „Dies hier ist nämlich mein Elternhaus.”

Pelle Schmitz nickte verbindlich, tat Walter aber nicht den Gefallen, auf dessen Eröffnung einzugehen. Pelle gehörte seit vielen Jahren zum Ensemble von Acht nach Acht, einer wöchentlichen Comedy-Show, die mit regelmäßigen fünf Millionen Zuschauern zu den erfolgreichsten Fernsehsendungen Europas zählte. Er war es gewohnt, der „Kundschaft” bereitwillig Autogramme zu geben und allzu dumme Fragen und Bekenntnisse verständnisvoll zu ignorieren.

Lübbers setzte mit Grabesstimme nach: „Mein Bruder ist letzte Woche verstorben.”

Nun war Pelle doch irritiert. „Das tut mir leid.” Er fixierte Lübbers prüfend, dann sah er mich schief an wie ein verwirrter Foxterrier. Ich mußte lachen. Ich war schon immer Pelles dankbarster Fan gewesen. Neben seinem komischen Talent hatte er beachtliche musikalische Fähigkeiten, spielte ein rasantes Akkordeon und konnte damit jeden Saal zum Kochen bringen. Ich hatte einige Platten für ihn produziert, die sich aber allesamt nicht verkauft hatten. Vermutlich deshalb, weil wir uns gegenseitig zu allzu schrägen Ideen anstachelten.

Lübbers sah verunsichert von einem zum anderen. Ich wechselte das Thema. „Hat jemand eine Ahnung, was eigentlich anliegt? Und wer noch alles kommt?”

Karl war überrascht. „Ich hab gedacht, das wüßtest du! Es geht um dem Böckelfeld seinen neuen Radiosender: Radio4Fun.” Karl sprach es englisch aus: „Radio for fun, verstehst, und ›for‹ wie ›four‹ geschrieben, vier, als Ziffer. Irrsinnig originell. Der Doktor hat a Lizenz, und jetzt will er jedem seiner Schäfchen die Chance geben zu investieren.”

„Tja, bei mir gibts nichts zu scheren”, sagte ich, „aber du könntest Haare lassen, Pelle.”

Pelle nickte. „Wer weiß – vielleicht lohnt es sich. Von Geld versteht unser Doktor schließlich was. Aber große Lust hab ich nicht. Irgendwie hab ich sowieso schon viel zu viele Verträge mit ihm.” Er rieb sich fröstelnd die Hände. „Sagt mal, gibt es hier irgendwann noch was zu essen? Ich hab vier Stunden im Auto gesessen, mir hängt der Magen auf die Knie!”

Karl und ich nickten lebhaft. „Es wartet ein Festmahl auf dich”, sagte Karl, „von der Hausherrin mit eigener Hand bereitet: Kürbisbrot, Tofu-Würsterl und auf jedem Avocadoschnitz a Weimberl – eine Weintraube.” Ich grinste. „Karl und ich haben leider bereits gegessen.”

„Mistbock!” kam es von der Treppe. Ein langes, schlankes Beinpaar in schlabberigen Nike-Pants wurde sichtbar. Es gehörte Nina Simon. Karl pfiff leise durch die Zähne. Direkt hinter ihr zeigte sich, gleichfalls sportlich behost, der Mistbock – Dr. Günther Didier.

„Zicke!” antwortete er und bekam ein „Chauvi!” zurück. Zwei weitere Beine erschienen; diese in konventionellem, dunkelblauem Zwirn. Der Besitzer erwies sich als sehr großer, kräftiger, blasser Mann mit Geheimratsecken. Didier zog Nina Simon an den Haaren: „Blöde Tussi!” Sie warf neckisch den Kopf zurück: „Penner!”

Pelle verzog unangenehm berührt das Gesicht und sah mich an: „Was soll das? Proben die für‘s Ohnsorg-Theater?”

„Sieht so aus”, sagte ich, „ist aber nur Günthers Art, der Welt mitzuteilen, daß er eine neue Eroberung gemacht hat.”

Es gibt unzählige Agenten und Verleger und Marketingleute und andere Figuren im Showgeschäft, denen man von weitem anmerkt, daß sie im Grunde verhinderte Künstler sind, aber der Doktor war ein besonders krasser Fall. Er spielte ständig irgendwelche Rollen, war ständig auf seine Außenwirkung bedacht. Nach seiner Heirat mit Iris Didier hatte er sich sofort edles Bütten mit dem Briefkopf Dr. Günther Böckelfeld-Didier bedrucken lassen. Als sich alles darüber schlapplachte, beschränkte er sich widerstrebend auf Dr. Günther Didier.

Er kostümierte sich zu gern, paßte seine Kleidung jedem Anlaß und jedem Publikumsgeschmack an: auf Schlagergalas glänzte er in italienischen Seidenanzügen, bei Gewerkschaftsveranstaltungen erschien er mit blaukariertem Hemd, die Rapperszene beehrte er mit Wollmütze und offenen Schnürsenkeln. Er besaß sogar unterschiedliche Brillen. Zu Autorenlesungen trug er ein Horngestell, zu linken Kundgebungen eine Nickelbrille, bei Verleihungen goldener Schallplatten kamen Dior, Prada oder Gucci zum Einsatz. Nur wenn pure Jugendlichkeit gefragt war, trug er gar keine Brille (er brauchte schließlich auch keine). Und das Verrückteste: er glaubte ernsthaft, überall gleichermaßen authentisch zu wirken.

„Was findt’ a Frau wie die Nina Simon bloß an so am g’schertn Einedrahra?” murmelte Karl kopfschüttelnd.

Die naheliegende Antwort war Didiers Äußeres. Er sah bemerkenswert gut aus. Etwas über mittelgroß, schlank, gepflegt, volles schwarzes Haar, glatte Haut, ein ebenmäßiges Gesicht mit ausdrucksvollen braunen, wenngleich leicht vorstehenden Augen. Ein kräftiges Kinn, weiße Zähne hinter wohlgeformten Lippen, darüber eine perfekt gerade Nase. Als ich ihn vor Jahren zum erstenmal traf, hatte er noch einen ziemlich krummen Zinken im Gesicht. Damals saß ihm gerade ein Lokalblatt wegen irgendwelcher krummer Geschäfte im Nacken, was er seinerseits als „Hetzkampagne der reaktionären Presse und Aufforderung zur Gewalt” anprangerte. Und wirklich wurde er danach überraschend Opfer einer Gewalttat: seiner Schilderung zufolge fing ihn eines Abends vor seinem Haus ein finsterer Vermummter ab, der „Böckelfeld, du linke Sau!” schrie und ihm sodann aufs Nasenbein schlug. Von dem Unhold fand sich nie eine Spur, doch das Opfer lief eine ganze Weile ostentativ leidend mit verpflastertem Gesicht umher, und das Lokalblatt mußte sich entschuldigen. Als der Doktor die Nase schließlich wieder offen trug, sah sie tatsächlich ganz anders aus als vorher. Das war wohl das erstemal in der Geschichte der Presse, daß eine Zeitung mittels chirurgischer Nasenkosmetik von der Enthüllung peinlicher Zusammenhänge abgehalten wurde.

„Petzi, Pelle und Pingo!” Mit ausgebreiteten Armen stand Didier auf der untersten Treppenstufe und sonnte sich in seinem Witz: Petzi, Pelle und Pingo! Ich empfand es mal wieder als höhere Gerechtigkeit, daß der schöne Doktor mit dieser schrillen Stimme geschlagen war. „Petzi, Pelle und Pingo”, schepperte es, „Petzi, der Held der Saiten, Pelle, der Meister der Komik und Pingo, der Beherrscher des Lötkolbens!”

Ich lachte pflichtschuldig und ärgerte mich im selben Augenblick darüber. Ich würde mich jetzt tagelang „Petzilein” nennen lassen müssen. Warum konnte ich mich nicht einfach kühl abwenden wie Karl?

„Schön, daß ihr da seid, meine Lieben! Nina Simon kennt ihr natürlich, und dies”, wies Didier auf den großen Herrn mit den Geheimratsecken, „ist der Herr Schreiner vom Rechenzentrum, das meine Außenstände bearbeitet.”

Nina Simon lächelte freundlich, während wir ihr vorgestellt wurden; Schreiner verzog keine Miene.

„Der Herr Lübbers hier aus dem Dorf”, fuhr Didier fort, „ist ein guter Freund, dem ich künftig mein Haus anvertraue, wenn ich auswärts bin.” Er seufzte kummervoll. „Bislang war dafür immer sein Bruder da, unser lieber Willi, der gerade von uns gegangen ist. Dazu sag ich nachher noch was, aber jetzt …”, er öffnete mit großer Geste die Tür zum Eßzimmer, „jetzt kommt erst mal rein, kommt rein – die Iris hat was für uns vorbereitet!”

Das Essen war genau so, wie Karl es beschrieben hatte, und fand entsprechend wenig Anklang. Pelle aß grämlich einen Teller Möhrensuppe und ein gebratenes Tofuwürstchen, dann machte er es wie Karl und ich und hielt sich an das Bier, das in kleinen Einwegflaschen auf der Fensterbank bereitstand. Auch Nina Simon und Schreiner aßen kaum; an dem Nudelsalat fand allein Lübbers Gefallen. Die Hausfrau ließ sich nicht sehen, doch das war nichts Besonderes. Didier und Gattin lebten seit langem auf Distanz in einer reinen Zweckgemeinschaft; Iris pochte auf finanziellen wie häuslichen Rückhalt für sich und die beiden Kinder, während er bei Bedarf für die Öffentlichkeit den treusorgenden Familienvater oder Gastgeber mimen konnte. Außerdem wußte sie viel zuviel über seine Geschäfte und Winkelzüge, als daß er sie hätte wegschicken können.

Bei Tisch schilderte Didier euphorisch die enormen Möglichkeiten des Kommerzradios im allgemeinen und von Radio4Fun im besonderen, sprach über Senderfarben, Reichweiten und Formate, vor allem aber über die ungeheuren Verdienstchancen für Investoren. Ich saß wie auf Kohlen. Ich wollte wissen, was er in Los Angeles erreicht hatte, suchte immer wieder seinen Blick, aber er wandte sich fast nur in Nina Simons und Pelles Richtung – dorthin, wo das Geld saß. Pelle zeigte sich allerdings nicht sehr geneigt, sondern wollte sich lieber mit Nina unterhalten.

Als sich der Doktor ein alkoholfreies Bier holte, paßte ich ihn am Fenster ab: „Wie steht‘s denn nun mit Bridget Summers, Günther?”

„Nicht jetzt”, zischte er. „Später! Denk an unsere Abmachung!”

Von draußen war ein Automotor zu hören. Karl spitzte das geschulte Ohr und stöhnte: „Ein Passat. Ah je. Der Berthold Wiesegger. Konnte dieser Kelch nicht an uns vorübergehen?”

Der Doktor eilte hinaus. Wenig später hörte man von dort sein typisches Geschnäbel. „Ei der Berthold! Du bist ja so spät, mein Bertilein! Willst du nicht reinkommen?”

Nein, Berthold wollte noch nicht reinkommen, sondern wollte sich erst frischmachen. Er legte jedoch Wert darauf, schon mal seinen imposanten Baßbariton ins Haus schallen zu lassen. Erstaunlich, dachte ich, wie weit der Eindruck tragen kann, daß sich jemand gern reden hört.

Lübbers füllte sich den Teller zum drittenmal mit Nudelsalat und zwinkerte uns dabei zu, als tue er etwas Verbotenes. „Ich bin kein Vegetarier”, sagte er, „aber bei so gesunden Sachen, da kann ich nicht widerstehen! Gesunde Ernährung ist extrem wichtig.” Er klopfte sich schelmisch auf den Bauch. „Und als gelernter Landwirt, da weiß man, was gut ist und ökologisch in Ordnung.”

„Landwirt?” fragte Karl harmlos. „Bist du net Grundschullehrer?”

Lübbers nickte. „Ich bin Lehrer, aber auch Landwirt und Gärtner! Das ist ein ungeheurer Vorteil in einer Dorfschule! Ich gehe mit den Kindern immerzu raus in die Natur; bei uns hier gibt es so viel zu sehen – Feuchtbiotope, Wallhecken, Streuobstwiesen, seltene Sträucher, Stauden, Wildblumen. Sie glauben ja gar nicht, wie begeistert die Kinder Pflanzen bestimmen, Pilze suchen und Heilkräuter!”

Karl neigte sich zu mir herüber und flüsterte vernehmlich: „Die Bälger hassen ihn!” Walter zuckte, tat aber, als habe er nichts gehört. Schnell sagte ich: „Mit meiner nächsten Grippe komm ich zu Ihnen, Walter, und hol mir Kamillentee.”

Lübbers hob einen dicken Zeigefinger: „Grippe ist ein Virusinfekt. Da hilft keine Kamille. Da hilft nur eine gute Kondition.” Wieder klopfte er auf seinen Bauch. „Gesunde Ernährung, das ist das Geheimnis!” Er wurde ernst. „Mein armer Bruder hat sich leider ganz schlecht ernährt; nichts wie Konservendosen. Ich hab ihm jeden Tag hundertmal gesagt, daß das nicht gutgehen kann!”

Karl schüttelte den Kopf. „Geh, sammer ehrlich, Walter – an Unterernährung gestorben ist der Willi net!”

„Nein. Gestorben ist er am Alkohol. Der hat ihn kaputtgemacht. Gegen den ist kein Kraut gewachsen.” Walters Gesichtsausdruck bekam eine scheinheilige Note. „Gegen den hätte ihm nicht mal der Schuster Nagel helfen können.”

Pelle wurde die Sache zu obskur. „Wie? Was? Schuster Nagel? Was für ein Schuster Nagel?”

Karl und ich nickten uns gequält zu. Diese Frage hatte Lübbers provozieren wollen. Jetzt war er nicht mehr zu bremsen. „Der Schuster Nagel”, holte er aus, „war ein Heilkundiger, der Ende des 19. Jahrhunderts im Dorf gewirkt hat. Der war in ganz Deutschland berühmt, sogar im Ausland! Bis zu tausend Leute am Tag sind damals nach Niederholt gekommen. Da gab es Hotels hier, Droschken, alles wollte zum Wunderdoktor. Der hat immer gleich zehn Patienten auf einmal behandelt, so groß war der Andrang!”

„Aha”, sagte Pelle.

„Ja, Sie werden lachen: der Schuster hat den Leuten im Nacken ein Haarbüschel abgeschnitten, gegen‘s Licht gehalten und durch eine Lupe begutachtet – und dann wußte er die Krankheit!”

Pelle nickte. „Faszinierend.”

„Nicht wahr?! Besonders natürlich für mich als geborenen Niederholter. Sie müssen wissen …”, Lübbers senkte den Kopf und sah mit stolzem Augenaufschlag in die Runde, „ich bin sowas wie der offizielle Dorfchronist! Wenn Sie Interesse haben, gebe ich Ihnen gerne mal die letzte Festschrift der Freiwilligen Feuerwehr. Da ist meine ganze Geschichte Nedderholts drin – so heißt das Dorf nämlich auf plattdeutsch – Nedderholt.” Jetzt war er in Fahrt. Auf die historische Würdigung der Nedderholter Feuerwehr folgte die des Kegelklubs, des Posaunenchors und des Sportvereins, wobei die Meriten vieler wichtiger Mitglieder kritisch gewürdigt wurden. Auch eigene Verdienste verschwieg Lübbers nicht. So berichtete er ausführlich, wie er sich geopfert und das Stellvertretende Bürgermeisteramt angenommen habe, weil sein umfassendes Wissen für den Gemeinderat unverzichtbar gewesen sei. Walter unterstrich alle Ausführungen, indem er mit dem dickem Zeigefinger erläuternde Kreise und Rechtecke aufs Tischtuch malte, und lächelte zwischendurch mit flatternden Wimpern unter dem Pony hervor in die Runde, als sei es ihm ein bißchen peinlich, seine Zuhörer so unwiderstehlich zu fesseln.

Da ich die Show schon kannte, vertrieb ich mir die Zeit damit, die Reaktionen des Publikums zu studieren. Karl hatte sein Gehirn abgeschaltet und war offenen Auges und Mundes in einen schlafartigen Zustand gesunken (er nannte das „Brain mode Off”). Pelle dagegen setzte ein hingerissenes Gesicht nach dem anderen auf; mal nickte er bedeutungsvoll zustimmend, mal legte er einen Finger an die Lippen oder bewegte den Mund, als spreche er Walters wichtigste Informationen nach. Nichts in seiner Mimik gab auch nur den leisesten Hinweis auf Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit, und gerade das war es, was Nina Simon veranlaßte, sich in lautlosen Lachkrämpfen auf ihrem Stuhl zu winden. Dafür strafte Pelle sie mit empörten Seitenblicken, die noch mehr verzweifeltes Prusten auslösten.

„Hör auf!” flüsterte sie.

Schreiner saß unbeteiligt auf seinem Stuhl und hielt den Schädel schläfrig gesenkt. Trotzdem vermittelte er irgendwie den Eindruck, er sei fähig, Lübbers im nächsten Moment niederzuschießen.

Der Doktor lehnte im Türrahmen und lächelte. Er beobachtete Walter mit boshaftem Amüsement wie einen plumpen Nachtfalter, der die Leselampe zu begatten sucht. Schließlich reichte es ihm aber: „Ja, unser Walter Lübbers – gelernter Landwirt und Heilpädagoge!” Dann begann er zu singen:

„Ich bin der Doktor Eisenhut

Widewidewitt bumm bumm

Kurier die Leute wohlgemut

Widewidewitt bumm bumm!”

Pelle fiel ein:

„Kann machen, daß die Blinden gehn

Und daß die Lahmen wieder sehn

Gloria, Victoria, widewidewitt jucheirassa

Gloria, Victoria, widewidewitt bumm bumm!”

Lübbers war verstummt. Didier legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Laß uns grad nochmal über den Willi sprechen.” Er senkte betroffen die Stimme: „Der Bruder vom Walter ist uns ein ganz, ganz treuer Freund und Haushüter gewesen. Morgen wird er beerdigt, und die Iris und ich werden ihm selbstverständlich die letzte Ehre erweisen. Karl, Paul – ihr habt ihn ja beide auch gut gekannt, ihr wollt gewiß mit.”

Ich stimmte wieder mal bereitwilliger zu, als es mir lieb war. Überraschenderweise nickte auch Karl.

„Sehr schön”, sagte Didier, nun wieder in nüchternem Ton. „Jetzt noch was ganz anderes. Nina, vom Paul Nickel hab ich dir ja erzählt. Der Paul hier ist derjenige, der morgen die Aufnahmen machen soll.” Er warf mir einen Verschwörerblick zu. „Paul, die Nina will eine Bridget-Summers-Nummer auf Deutsch machen; das Playback hab ich aus LA mitgebracht, der Karl hat‘s schon überspielt.” Er sah Karl an, der nickte.

Ich konnte mir schon denken, welche Summers-Nummer auf Deutsch gemacht werden sollte, hätte aber lieber gewußt, wie es um die englische Version stand. Leider machte der Doktor auch für den Rest des Abends keine Anstalten, sich auf das Thema einzulassen.

Zum Auftritt Berthold Wieseggers hätten eigentlich Alphornfanfaren und ein Ballett leichtgeschürzter Knaben gehört. Nina Simon mochte keine Diva sein – Wiesegger war eine. Er kündigte sich, nunmehr frischgemacht, schon von draußen mit sonorem Dröhnen an: „Günther?! Wo bist du? Wo geht‘s rein? Aaah, hier geht‘s rein!” Damit war sichergestellt, daß bei seiner Ankunft aller Augen auf ihn gerichtet waren. In der Tür verharrte er sekundenlang und ließ seine Erscheinung wirken: tadellose Fönfrisur, Dreitagebart, buschige Brauen, Trachtenjanker, weißes Hemd mit Binder. Er sah ausschließlich Didier an und posaunte bestürzt: „Günther! Was ist passiert, um gotteswillen? Was ist los?!”

Karl rieb sich die Stirn. Er mußte, das hatte er mir mal erzählt, beim Klang von Wieseggers Stimme immer an lauwarme Teewurst denken. Ich fand die Situation insofern erfreulich, als Didier endlich einmal hilflos wirkte. Er grinste nur verständnislos und wußte keine Antwort, weil es nun mal keine gab. Mit perfektem Timing griff Wiesegger dem Moment vor, in dem die peinliche Spannung womöglich nachgelassen hätte, riß die Augen auf und wandte sich flüsternd an alle: „Grüß Gott miteinander, aber – entschuldigt bittesehr – was ist passiert? Ein scheußlicher Unfall? Vor dem Dorf steht ein pechschwarzer Leichenwagen!”

Pelle mahnte Nina mit einem strengen Blick, ernst zu bleiben. Sie bedeckte ihr Gesicht mit der Hand. Karl stöhnte leise. Schreiner sah mißtrauisch von einem zum anderen.

„Es ist so”, meldete sich Walter Lübbers eilfertig, „das ist bloß der Wagen von dem Herrn Nickel.”

„Er gehört meinem Vater”, stellte ich richtig, „mein Vater hat ein Bestattungsinstitut.”

„Ein Bestattungsinstitut”, wiederholte Wiesegger, wobei er bleiern nickte, als habe er einen schweren Schicksalsschlag zu verdauen. „Und wer … wer ist gestorben?”

Walter Lübbers zog die Mundwinkel nach unten und zitterte mit den Wimpern. „Mein Bruder Willi.”

„Jemand aus dem Dorf?” Wiesegger war enttäuscht. „Mein Beileid.” Er ließ Lübbers links liegen und sah Didier an. „Dir geht‘s aber gut? Frau und Kinder wohlauf? Na, Gott sei Dank!”

Wie es aussah, hatte er vor, den Rest des Abends als Bühnenstück mit Berthold Wiesegger in der Hauptrolle aufzuführen. Didier gab sich immer wieder alle Mühe, ihn unauffällig beiseitezunehmen, um ihm die Vorteile einer Beteiligung an Radio4Fun schmackhaft zu machen, doch Wiesegger hatte anderes im Sinn. Je diskreter der Doktor die Unterhaltung zu gestalten suchte, desto lauter sorgte Wiesegger dafür, daß jeder im Raum erfuhr, worum es ging. Außerdem interessierte ihn Radio4Fun nicht. Er wollte darüber reden, warum das vorgesehene Honorar für seine Teilnahme an der Samstagabendwette, der größten Fernsehshow Deutschlands, so unzumutbar niedrig sei. „Ich freue mich ja über die Einladung, verstehst du, aber wieso soll ich da als einziger von all den Gästen für ein Butterbrot auftreten!?”

Didier atmete tief durch. „Berthold, das ist nicht das Musikantenschoberl! In der Samstagabendwette solltest du notfalls sogar ohne Honorar auftreten, und zwar mit Kußhand! Die Samstagabendwette ist Gratiswerbung im Megamaßstab! Was glaubst du, was bei denen los ist, wie die Künstler denen die Tür einrennen?! Ich hab baggern müssen wie ein Blöder, um dich da reinzukriegen!”

„Wie bitte? Du hast baggern müssen?! Entschuldige mal – der Ellerbeck hat mich schon vor Jahren persönlich angesprochen und gefragt, ob ich nicht …”

„… ja, vor zwanzig Jahren vielleicht! Heute treten da Leute wie Leonardo DiCaprio und Madonna auf, da werden doch heute ganz andere Ansprüche gestellt als …”

„… genau! Ganz andere Ansprüche! Leonardo DiCaprio geht da mit Sicherheit nicht für einen Hungerlohn hin, und Madonna auch nicht!”

„Nein, natürlich nicht, aber – ohne dir nahetreten zu wollen – Leonardo DiCaprio und Madonna sind Weltstars! Und du bist Volksmusikant, ein singender Schauspieler aus Meisenwang!”

Wiesegger schnappte nach Luft. „Ein singender Schauspieler aus Meisenwang? Ein singender Schauspieler aus Meisenwang?! Und wer verdient an dem singenden Schauspieler aus Meisenwang?! Das bist du doch, Günther! Du verdienst doch an meinen Platten! Du verdienst doch an meinen Auftritten!”

Didier schloß entnervt die Augen.

Wieseggers Halsschlagadern traten hervor. „Schön, ich bin vielleicht nur ein singender Schauspieler aus Meisenwang, aber deshalb habe ich es noch lange nicht nötig, mich für ein Butterbrot feilzubieten! Ich fordere dich hiermit unter Zeugen auf: sag meinen Auftritt ab! Sag ab! Sag alles ab! Sag alles, alles ab!” Er reckte das Haupt und sah applausheischend um sich. „Ich hab doch recht!”

Die Runde war bestrebt, so unbeteiligt wie möglich zu wirken. „Ich bin ein bißchen müde”, sagte Nina, „ich geh dann mal ins Bett.”

„Ich bin auch müde”, sagte Pelle, und ich schloß mich hastig an: „Ich auch.”

Karl stand einfach grußlos auf und ging. „Die sind doch krank”, sagte er in der Halle, „alle beide.”

Ich schob wütend die Hände in die Hosentaschen. Ich war kein bißchen schlauer als zuvor.

„Was ist?” fragte Karl.

Ich wich aus: „Sag mal, warum hast du bloß so bereitwillig gesagt, daß du mitgehst zu dieser Beerdigung?”

Karl war erstaunt. „Das hast du doch auch!”

„Stimmt”, ärgerte ich mich, „aber du kennst mich doch – ich bin ein Weichei, ich kann nicht nein sagen.”

Karl schüttelte den Kopf und grinste. „Hast du schon mal eine Beisetzung in Niederholt erlebt?”

„Nein.”

„Dann laß dich überraschen.”

Heideblues - Kriminalroman

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