Читать книгу Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке - Эрих Мария Ремарк, Erich Maria Remarque - Страница 9
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ОглавлениеDer Nachtklub war eines der typischen Lokale, geleitet von weißrussischen Emigranten, wie es sie nach der Revolution 1917 überall in Europa gibt, von Berlin bis Lissabon. Sie haben alle dieselben Kellner, die ehemals Aristokraten gewesen sind, dieselben Sängerchöre aus früheren Gardeoffizieren, dieselben hohen Preise und dieselbe melancholische Stimmung.
Sie haben auch dieselbe matte Beleuchtung, auf die ich rechnete. Die Deutschen hier, von denen der Kellner gesprochen hatte, waren bestimmt keine Emigranten. Sie waren wahrscheinlich Spione, Mitglieder der Botschaft oder Angestellte deutscher Firmen.
„Die Russen haben sich besser etabliert als wir“, sagte Schwarz. „Sie waren uns in der Emigration allerdings auch um fünfzehn Jahre voraus. Und fünfzehn Jahre Unglück sind lang und geben eine Menge Erfahrung.“
„Sie waren die erste Welle der Emigralion“, erwiderte ich. „Man hatte noch Mitleid mit ihnen. Man gab ihnen Erlaubnis zu arbeiten und Papiere. Nansenpässe*. Als wir kamen, war das Mitleid der Welt längst aufgebraucht. Wir waren lästig wie Termiten, und fast niemand war da, der für uns noch seine Stimme erhob. Wir dürfen nicht arbeiten, nicht existieren und haben immer noch keine Papiere.“
Ich war nervös, seit wir hier saßen. Es lag wahrscheinlich an dem geschlossenen Raum mit den vielen Vorhängen, dem Bewusstsein, dass Deutsche hier sein sollten, und der Tatsache, dass ich zu weit von der Tür weg saß, um entkommen zu können – ich war daran gewöhnt, überall nahe beim Ausgang zu sitzen. Ich war auch nervös, weil ich das Schiff nicht mehr sah. Wer wusste, ob es nicht nachts noch die Anker lichtete, früher, als angesagt war, wegen irgendeiner Warnung.
Schwarz schien es zu spüren. Er griff in die Tasche und legte die beiden Fahrscheinhefte vor mich hin. „Nehmen Sie sie. Ich bin kein Sklavenhändler. Nehmen Sie sie und gehen Sie, wenn Sie wollen.“
Ich sah ihn sehr beschämt an. „Sie verstehen mich falsch. Ich habe Zeit. Alle Zeit der Welt.“
Schwarz antwortete nicht. Er wartete. Ich nahm die beiden Hefte und steckte sie ein.
„Ich richtete es so ein, dass ich einen Zug fand, der am frühen Abend in Osnabrück ankam“, fuhr Schwarz fort, als wäre nichts passiert. „Mir war plötzlich, als überschritte ich jetzt erst die Grenze. Alles vorher war noch Fremde gewesen, selbst Deutschland; jetzt aber begann langsam jeder Baum zu sprechen. Ich kannte die Dörfer, durch die wir fuhren, ich hatte Schulausflüge dorthin gemacht; ich war mit Helen da gewesen in den ersten Wochen unserer Bekanntschaft, ich hatte die Landschaft geliebt, so wie ich die Stadt geliebt hatte mit ihren Häusern und Gärten.
Mein Abscheu war bis dahin ein konformer, abstrakter Block gewesen. Das, was geschehen war, hatte alles in mir paralysiert und versteinert. Ich hatte nie das Bedürfnis, ja eher sogar Angst davor gehabt, es zu analysieren oder zu detaillieren. Jetzts plötzlich, begannen die Dinge zu sprechen, die dazugehörten, aber nichts damit zu tun hatten.
Die Landschaft hatte sich nicht geändert. Sie war dieselbe geblieben. Die Kirchtürme standen wie früher im gleichen sanften Grün ihrer Patina vor dem herabsinkenden Abend; der Fluss spiegelte den Himmel wie immer. Er erinnerte mich an die Zeit, als ich dort gefischt und von Abenteuern in fremden Ländern geträumt hatte – ich hatte sie später dann erlebt, aber anders, als ich sie mir damals vorgestellt hatte. Die Wiesen mit ihren Schmetterlingen und Libellen und die Hänge mit den Bäumen und den wilden Blumen hatten sich nicht verändert, sie lagen da wie zur Zeit meiner Jugend, und in ihnen lag meine Jugend – begraben, wenn ich so denken wollte, oder aufgehoben, wenn ich es anders zu nehmen vermochte. Sie wurde auch durch nichts gestört. Ich sah wenige Menschen und keine Uniformen vom Zuge aus. Ich sah nur den Abend, der die Landschaft langsam erfüllte. Es gab schon Rosen und Dahlien und Lilien in den winzigen Gärten der Bahnwärterhäuschen, sie waren da wie immer, der Aussatz hatte sie nicht angefressen, sie hingen über die hölzernen Zäune, so, wie sie in Frankreich hingen, und auf den Wiesen standen die Kühe, so, wie sie in den Wiesen der Schweiz standen, braun und schwarz und weiß – ohne Hakenkreuz —, mit denselben geduldigen Augen wie stets. Ich sah auch einen Storch auf einem Bauernhause klappern, und die Schwalben flogen, wie sie immer und überall fliegen. Nur die Menschen waren anders geworden, das wusste ich, aber ich konnte es an diesem Abend nicht sehen und auch nicht begreifen. Sie waren auch nicht so uniform anders, wie ich sie mir bisher gedankenlos vorgestellt hatte. Das Abteil füllte und leerte sich und füllte sich wieder. Es waren in dieser Stunde wenige Uniformen darunter, fast alles waren Leute des Alltags, mit ähnlichen Gesprächen, wie ich sie in Frankreich und in der Schweiz gehört hatte – über das Wetter, die Ernte, über Tagesereignisse und die Furcht vor dem Kriege. Sie hatten Angst davor, und so, wie man außerhalb Deutschlands wusste, dass Deutschland ihn wollte, so hörte ich hier, dass das Ausland ihn Deutschland aufzwang. Fast jeder war für Frieden, wie immer kurz vor der Katastrophe.
Der Zug hielt. Ich schob mich im Knäuel der anderen durch die Sperre. Die Bahnhofshalle hatte sich nicht verändert, seit ich sie zuletzt gesehen hatte; sie schien nur kleiner und staubiger zu sein, als ich sie im Gedächtnis hatte.
* * *
Als ich auf den Bahnhofsplatz trat, fiel alles, was ich vorher gedacht hatte, von mir ab. Es war dämmerig und feucht wie nach einem Regen, ich sah keine Landschaft mehr, alles in mir bebte auf einmal, und ich wusste, dass ich von jetzt an in großer Gefahr war. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mir könne nichts passieren. Es war, als stünde ich unter einer Glasglokke, die mich zwar schützte, aber jeden Augenblick zerspringen konnte.
Ich ging zum Schalter in die Halle zurück, um mir ein Retourbillett* nach Münster zu kaufen; ich konnte nicht in Osnabrück wohnen. Es war zu gefährlich. „Wann geht der letzte Zug?“ fragte ich den Beamten, der mit spiegelnder Glatze im gelben Licht hinter seinem Schalter saß, wie ein Kleinstadtbuddha, sicher und gefeit.
„Einer um zweiundzwanzig Uhr zwanzig, einer um dreiundzwanzig Uhr zwölf.“
Ich ging zu einem Automaten und zog eine Bahnsteigkarte. Ich wollte sie zur Hand haben, falls ich schnell verschwinden musste, zu einer Zeit, wenn mein Billett noch nicht fällig gewesen wäre. Bahnsteige waren in der Regel schlechte Verstecke, aber man hat immer mehrere zur Auswahl – drei in Osnabrück – und konnte rasch in irgendeinen Zug steigen, der abfuhr, und dem Schaffner erklären, dass man sich geirrt habe, nachzahlen und am nächsten Ort aussteigen.
Ich hatte beschlossen, einen Freund aus früheren Jahren, von dem ich wusste, dass er kein Anhänger des Regimes gewesen war, anzurufen. Am Telefon würde ich herausfinden, ob er mir helfen könne. Meine Frau direkt anzurufen, wagte ich nicht, weil ich nicht wusste, ob sie allein wohnte.
Ich stand in der kleinen Glaskabine mit dem Telefonbuch und dem Apparat vor mir. Das Herz schlug mir so stark, als ich die Seiten mit den beschmutzten und geknickten Ecken umblätterte, dass ich glaubte es zu hören; ich glaubte sogar, dass andere es hören könnten, und beugte mein Gesicht tiefer, damit man mich nicht erkennen könne. Ohne nachzudenken, hatte ich die Seite aufgeschlagen mit dem Buchstaben, mit dem mein früherer Name begann. Ich fand den Namen meiner Frau, die Telefonnummer war dieselbe, aber die Adresse war verändert. Statt Rißmüller-Platz hieß sie jetzt Hitler-Platz.
Im Augenblick, als ich die Adresse sah, schien es mir, als würde die trübe Birne in der Kabine hundertfach verstärkt. Ich blickte auf, so sehr hatte ich das Gefühl, ich stünde in tiefer Nacht in einem grell erleuchteten Glaskasten – oder aber ein Scheinwerfer sei von außen auf mich gerichtet. Der ganze Irrsinn meines Unternehmens kam mir wieder voll zum Bewusstsein.
Ich verließ die Kabine und ging durch die halbdunkle Halle. Die Schilder für „Kraft durch Freude“ und die Reklamen für deutsche Kurorte drohten mit ihren blauen Himmeln und fröhlichen Menschen auf mich herab. Ein paar Züge mussten angekommen sein; ein Schwärm von Reisenden kam die Treppen herauf. Aus einer Gruppe löste sich ein SS-Mann*. Er kam auf mich zu.
Ich lief nicht weg. Es konnte sein, dass er mich nicht meinte. Aber er blieb vor mir stehen und sah mich an.
„Verzeihen Sie, haben Sie Feuer?“ fragte er.
„Feuer?“ wiederholte ich, und dann rasch: „Gewiß! Ein Streichholz!“
Ich griff in die Tasche und suchte.
„Wozu ein Streichholz?“ sagte der SS-Mann erstaunt. „Ihre Zigarette brennt ja!“
Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich geraucht hatte. Jetzt hielt ich ihm meine Zigarette hin. Er hielt seine eigene an das glühende Ende und zog. „Was ist denn das für eine Zigarette, die Sie da rauchen?“ fragte er dann. „Die riecht ja fast wie eine Zigarre!“
Es war eine französische Gauloise. Ich hatte einige Päckchen davon mitgenommen, als ich die Grenze überschritt. „Geschenkt von einem Freunde“, erwiderte ich. „Französisches Kraut. Schwarzer Tabak. Er hat sie von der Reise mitgebracht. Mir sind sie auch zu stark.“
Der SS-Mann lachte. „Am besten, man ließe das Rauchen ganz bleiben, was? So wie der Führer. Aber wer kann das, besonders in diesen Zeiten?“ Er grüßte und ging.
Schwarz lächelte schwach. „Als ich noch ein Mensch war, der das Recht hatte, seine Füße irgendwohin zu stellen, habe ich oft gezweifelt, wenn ich las, wie die Schriftsteller Angst und Schreck beschrieben – dass dem Opfer das Herz stillstehe, dass es wie erstarrt dastände, dass es ihm eisig den Rücken herunter und durch die Adern liefe, dass ihm der Schweiß am ganzen Körper ausbreche – ich hielt das für Klischees und schlechten Stil, und es mag sein, dass es das ist; aber eines ist es auch: es ist wahr. Ich habe das alles empfunden, genau so, obschon ich früher, als ich noch nichts davon wusste, darüber gelacht habe.“
Ein Kellner kam heran. „Wollen die Herren keine Gesellschaft?“
„Nein.“
Er beugte sich tiefer zu mir herunter. „Wollen Sie nicht, bevor Sie ganz ablehnen, die beiden Damen an der Bar ansehen?“
Ich sah sie an. Eine von ihnen schien sehr gut gewachsen zu sein. Beide trugen enge Abendkleider. Die Gesichter konnte ich nicht erkennen. „Nein“, sagte ich noch einmal.
„Es sind Damen“, erklärte der Kellner. „Die rechts ist eine deutsche Dame.“
„Hat sie Sie hergeschickt?“
„Nein, mein Herr“, erwiderte der Kellner mit einem hinreißend unschuldigen Lächeln. „Es war ein Gedanke von mir.“
„Gut. Beerdigen Sie ihn. Bringen Sie uns lieber etwas zu essen.“
„Was wollte er?“ fragte Schwarz.
„Uns verkuppeln mit der Enkelin Mata Haris*. Sie müssen ihm zuviel Trinkgeld gegeben haben.“
„Ich habe noch nicht bezahlt. Sie glauben, es seien Spioninnen?“
„Vielleicht. Aber für die einzige Internationale der Welt: Geld.“
„Deutsche?“
„Eine, sagt der Kellner.“
„Glauben Sie, dass sie hier ist, Deutsche zurückzulocken?“
„Kaum.“
Der Kellner brachte einen Teller mit belegten Broten. Ich hatte sie bestellt, weil ich den Wein fühlte. Ich wollte klar bleiben. „Essen Sie nicht?“ fragte ich Schwarz.
Er schüttelte abwesend den Kopf. „Ich hatte nicht daran gedacht, dass die Zigaretten mich hatten verraten können“, sagte er, „Jetzt kontrollierte ich noch einmal alles, was ich bei mir hatte. Die Streichhölzer, die noch aus Frankreich waren, warf ich mit dem Rest der Zigaretten weg und kaufte mir deutsche. Dann fiel mir ein, dass mein Pass einen französischen Einreisestempel und ein Visum hatte; dass die französischen Zigaretten also gerechtfertigt gewesen wären, hätte man mich revidiert. Ich ging, nass von Schweiß und ärgerlich auf mich und meine Angst, zur Telefonkabine zurück.
Ich musste warten. Eine Frau mit einem großen Parteiabzeichen rief zwei Nummern nacheinander an und bellte Befehle. Die dritte Nummer antwortete nicht, und die Frau kam wütend und herrisch heraus.
Ich rief die Nummer meines Freundes an. Eine Frauenstimme antwortete. „Bitte, kann ich mit Doktor Martens sprechen?“ fragte ich und merkte, dass ich heiser war. „Wer ist am Apparat?“ fragte die Frau.
„Ein Freund von Doktor Martens.“ Ich konnte meinen Namen nicht verraten. Ich wusste nicht, ob es seine Frau oder ein Dienstmädchen war, aber beiden konnte ich mich nicht preisgeben.
„Ihren Namen bitte!“ sagte die Frau.
„Ich bin ein Freund von Doktor Martens“, erwiderte ich. „Bitte, melden Sie ihm das. In einer dringenden Angelegenheit.“
„Bedaure“, erwiderte die Frauenstimme. „Wenn Sie Ihren Namen nicht angeben, kann ich Sie nicht anmelden.“
„Sie müssen eine Ausnahme machen…“, sagte ich. „Doktor Martens erwartet meinen Anruf.“
„Wenn das so ist, können Sie mir ja auch Ihren Namen sagen…“
Ich dachte verzweifelt nach. Dann hörte ich, wie der Hörer aufgehängt wurde.
* * *
Ich stand auf dem grauen, windigen Bahnhof. Mein erster Versuch, einer, der mir sehr einfach erschienen war, war misslungen, und ich wusste schon nicht mehr weiter. Vielleicht war es doch nötig, Helen direkt anzurufen und zu riskieren, dass jemand aus ihrer Familie mich an der Stimme erkannte. Ich konnte auch einen anderen Namen angeben, aber welchen? Doktor Martens – ein anderer fiel mir im Augenblick nicht ein. Ich zauderte noch, als mir die Idee kam, auf die ich als zehnjähriger Junge sofort gekommen wäre. Warum rief ich nicht bei Martens unter dem Namen des Bruders meiner Frau an? Er kannte ihn, und vor zehn Jahren hatte er ihn bereits nicht ausstehen können.
Ich tat es sofort. Dieselbe Frauenstimme war wieder am Apparat. „Hier ist Georg Jürgens“, erklärte ich scharf. „Doktor Martens bitte.“
„Sind Sie der Herr, der vorhin angerufen hat?“
„Hier ist Sturmbannführer Jürgens. Ich möchte Doktor Martens sprechen. Sofort!“
„Ja“, sagte die Frau. „Einen Augenblick! Gleich!“ Schwarz sah mich an. „Kennen Sie das entsetzliche leise Rauschen im Hörer, wenn man am Telefon auf sein Leben wartet?“
Ich nickte. „Es braucht nicht einmal das Leben zu sein, auf das man wartet. Es kann auch das Nichts sein, das man zu beschwören sucht.“
„Hier ist Doktor Martens, hörte ich endlich“, sagte Schwarz. „Ich spürte wieder einen der Zustände, über die ich früher gelacht hätte. Meine Kehle war trocken.“
„Rudolf“, flüsterte ich schließlich.
„Wie bitte?“
„Rudolf“, sagte ich. „Hier ist ein Verwandter von Helen Jürgens.“
„Ich verstehe nicht. Ist dort nicht Sturmbannführer Jürgens?“
„Ich rufe für ihn an, Rudolf. Für Helen Jürgens. Verstehst du jetzt?“
„Ich verstehe durchaus nicht“, sagte der Mann am anderen Ende irritiert. „Ich bin in der Sprechstunde…“
„Kann ich zu dir in die Sprechstunde kommen, Rudolf? Bist du sehr besetzt?“
„Ich muss Sie doch bitten! Ich kenne Sie nicht, und Sie…“
„Old Shatterhand“, sagte ich.
Mir war endlich eingefallen, wie wir uns als Jungen genannt hatten, wenn wir Indianer gespielt hatten. Es waren Namen aus den Romanen Karl Mays*. Wir hatten die Bücher als Zwölfjährige verschlungen. Ich hörte einen Augenblick nichts. Dann sagte Martens leise: „Was?“
„Winnetou“, erwiderte ich. „Hast du die alten Namen vergessen? Es sind doch die Lieblingsbücher des Führers.“
„Richtig“, sagte er. Es war bekannt, dass der Mann, der den zweiten Weltkrieg begonnen hat, als Lektüre in seinem Schlafzimmer die dreißig oder mehr Bände eines Schriftstellers über Indianer, Trapper und Jäger stehen hatte, die man als Junge von fünfzehn Jahren bereits als leicht lächerlich zu empfinden begonnen hatte.
„Winnetou?“ wiederholte Martens mit ungläubiger Stimme.
„Ja. Ich muss dich sehen.“ „Ich verstehe das nicht. Wo sind Sie?“ „Hier. In Osnabrück. Wo können wir uns sehen?“ „Ich bin in der Sprechstunde“, erklärte Martens mechanisch.
„Ich bin krank. Ich kann in die Sprechstunde kommen.“
„Ich verstehe das alles nicht“, sagte Martens mit einer Stimme, die einen Entschluss anzeigte. „Wenn Sie krank sind, kommen Sie doch in die Sprechstunde. Wozu extra Telefonieren?“
„Wann?“
„Am besten um sieben Uhr dreißig. Um sieben Uhr dreißig“, wiederholte er. „Nicht früher!“
„Gut, um sieben Uhr dreißig.“
Ich legte den Hörer hin. Ich war wieder nass von Schweiß. Langsam ging ich zum Ausgang. Draußen war ein blasser halber Mond zwischen den Wolken für Augenblicke sichtbar. In knapp einer Woche wird Neumond sein, dachte ich. Eine gute Zeit, die Grenze zu kreuzen. Ich sah auf die Uhr. Es war noch eine dreiviertel Stunde Zeit. Ich musste vom Bahnhof weg. Es war immer verdächtig, wenn man dort zu lange herumlungerte. Ich ging die Straße hinunter, die am dunkelsten und am wenigsten belebt war. Sie führte zu den alten Wällen der Stadt. Ein Teil war planiert und mit hohen Bäumen bewachsen; ein anderer Teil war so wie früher geblieben und führte am Fluss entlang. Ich folgte ihm, über einen Platz, an der Herz-Jesu-Kirche vorbei.
Vom oberen Wall konnte man über den Fluss hinweg die Dächer und Türme der Stadt sehen. Die barocke Kuppel des Domes schimmerte im unruhigen Licht. Ich kannte diesen Blick; er war auf tausend Postkarten reproduziert. Ich kannte auch den Geruch des Wassers und den Geruch der Lindenallee, die sich den Wall entlangzog.
Ich sah, dass Liebespaare auf den Bänken saßen, die zwischen den Bäumen so aufgestellt waren, dass man den Blick auf den Fluss und die Stadt hatte, und setzte mich auf eine leere Bank, um die halbe Stunde abzuwarten, bevor ich zu Martens gehen konnte.
Die Glocken des Domes begannen zu läuten. Ich war so erregt, dass ich die Schwingungen körperlich spürte, als wären sie die Folge eines unsichtbaren Tennisspiels zwischen zwei Spielern, die sich die Schwingungen zuwarfen. Ein Spieler war das alte Ich, das ich kannte und das erschauerte und Furcht hatte und nicht nachzudenken wagte über seine Situation – und das andere, das neue, das nicht nachdenken wollte und kühn war und sich selbst riskierte, als könne es gar nichts anderes geben – eine merkwürdige Schizophrenie, bei der noch ein Dritter als Zuschauer dabei war, unparteiisch wie ein Schiedsrichter, passiv, aber mit dem Wunsch, dass das neue Ich gewinnen möge.
Ich erinnere mich genau an diese halbe Stunde. Ich erinnere mich sogar daran, dass ich erstaunt war, mich selbst so klinisch zu spüren. Es war, als stünde ich in einem Raum, in dem Spiegel sich gegenüber an den Wänden hingen; sie warfen sich mein Bild bis in eine leere Unendlichkeit zu, und hinter jedem Spiegelbild konnte ich ein anderes entdecken, das dem ersten über die Schulter sah. Mir schien, als wären es alle, dunkel gewordene Spiegel, und ich konnte nicht sehen, ob der Ausdruck fragend, traurig oder voll Hoffnung war. Sie verdämmerten alle in silbrigem Dunkel.
Eine Frau setzte sich neben mich. Ich wusste nicht, was sie wollte, und es war mir unbekannt, ob das Regime der Barbaren nicht längst auch diese Dinge schon zu militärischen Übungen degradiert hatte. Ich erhob mich deshalb und ging. Ich hörte die Frau hinter mir lachen und habe es nie vergessen – das leise, etwas verächtliche und mitleidige Lachen dieser unbekannten Frau am Herrenteichswall in Osnabrück.“