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SEIT 60 STUNDEN VERMISST

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Als Emma an diesem Abend die Wohnungstür aufsperrte, fühlte sie sich, als ob eine schwere Last auf ihr ruhe. Es war spät geworden und sie hatte als Letzte das Büro verlassen. Ihr Zuhause war leer. Der Banker war natürlich gegangen, nicht ohne vorher die Küche aufzuräumen und eine Botschaft mit seiner Handynummer und der Bitte um einen Anruf zu hinterlassen. Unterschrieben hatte er mit Stephan. Stephan, dachte Emma, der hat sich nicht nach einem Stephan angefühlt. Das war ein Gerald, höchstens ein Herbert, aber nie im Leben ein Stephan! Entschlossen zerknüllte sie den kleinen Zettel und kickte ihn zielsicher in den Mistkübel. Dann ließ sie heißes Wasser in die Badewanne laufen, schüttete etwas Lavendelessenz hinein und entkorkte eine Flasche Amarone. Sie fühlte sich völlig leer. Ausgebrannt. Nach dem Bad würde sie direkt ins Bett fallen, hoffentlich vom schweren Rotwein ausreichend schläfrig. Sie schlüpfte aus ihrer Jeans und dem Batikhemd. Das Badezimmer war eingerahmt von großen Spiegeln, die ihr nacktes Bild dutzendfach durch den Raum warfen. Sie ließ die Augen an ihrem Körper entlanggleiten. Die Jahre hatten eindeutig an ihr genagt. Obwohl sie immer noch eine gute Figur und eine schlanke Taille hatte, gruben sich an den Schenkel kleine Löcher ins Fleisch. Ihr Bauch war zwar fest und flach, doch die Brustwarzen senkten sich bereits in Richtung Bauchnabel. Sie öffnete ihren Pferdeschwanz, sodass die roten Locken über die schmalen Schultern fielen und sich über den kleinen Brüsten kräuselten.

Wie Viola jetzt wohl aussehen würde?

Die beiden Schwestern waren immer grundverschieden gewesen. Die eine blond mit lachenden blauen Augen, einem Stupsnäschen und Grübchen, die andere rothaarig, mit stechenden grünen Augen, einer markanten Nase und hohen Wangenknochen. Viola hatte einem Engel geglichen, sie mehr einer attraktiven Hexe.

Emma seufzte und tauchte vorsichtig einen Zeh in das Badewasser. Dann strich sie sich eine Locke aus dem Gesicht und stieg in die Wanne. Doch die gewünschte Entspannung stellte sich nicht ein. Kaum lag sie im heißen Wasser, stieg ihr der Lavendelduft in die Nase und eine unaufhaltsame Gedankenkette spann sich fort. Lavendel – die farbenprächtigen Felder, an denen sie im Lubéron vorbeigefahren waren. Viola hatte damals kleine Sträußchen gebunden, die sie ihren Freundinnen im Kindergarten mitbringen wollte. Sie waren so glücklich gewesen. So glücklich. Und dann kam der schreckliche Tag in Marseille. Es war heiß auf dem Fischmarkt. Genauso wie es gestern am Brunnenmarkt heiß gewesen war. Sie hatte ihr neues kurzes Blumenkleid an. Das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich richtig erwachsen. Jeden Abend saß sie mit den Eltern an irgendeinem Strand oder in einem tollen Restaurant und genoss ihr Leben einfach nur. Auch die Blicke der südländischen Männer, die das junge Mädchen mit den feuerroten Locken und dem kantigen Gesicht auf sich zog! Damals lebte sie nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“. Und plötzlich schwappte die Sintflut über ihrer Familie und sie waren hilflos darin verloren.

Emma tauchte unter. Das Badewasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie bewegte die Finger und spürte das Kind an ihrer Hand, das dort nicht hingehörte. Hörte ihre eigenen Schreie, als sie erkannte, dass die Schwester nicht mehr da war, und sah die erschrockenen Gesichter ihrer Eltern vor sich, als diese den Ernst der Lage erkannt hatten – diese Fratzen der reinen Angst.

In den Jahren danach hatten sie sich an eine vage Hoffnung geklammert: Vielleicht lebt sie noch, vielleicht wird sie sich eines Tages melden, vielleicht, vielleicht, vielleicht. Und dann, mit den Jahren ohne eine Nachricht, das Sterben der Hoffnung, die Resignation im leeren Blick ihrer Mutter. Und mit dem Eingestehen der Niederlage, dem Bewusstsein, dass der Kampf verloren war und ihr kleines Mädchen nie mehr wiederkommen würde, hatte das Sterben eingesetzt. Erst das körperliche der Mutter und dann das geistige des Vaters. Und sie selbst? Sie hatte ihr ganzes Leben umgeworfen und infrage gestellt, bis sie zur Polizei gegangen war. Sie war totunglücklich gewesen. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie wegen Violas Schicksal niemals eigene Kinder bekommen hatte. Und jetzt war es zu spät dafür.

Entfernt hörte sie das Telefon leise verschwommen klingeln – nicht jetzt! Jetzt gab es nichts außer dem Rauschen um sie herum. Viola – Viola! Die letzten Jahre hatte sie immer weniger an ihre Schwester gedacht. Es gab Tage, an denen der Name ihre Gedanken nicht einmal mehr strich. Und jetzt war er wieder da – mit voller Wucht. Viola – Marie!

Mit einem lauten Prusten stob Emma aus dem Wasser empor und rieb sich die brennenden Augen. Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Sie nahm einen tiefen Schluck Amarone und stieg dann aus der Wanne. In ihren flauschigen Bademantel eingehüllt ging sie an ein Bücherregal und zog einen unscheinbaren Karton heraus. Er war verstaubt und seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Emma setzte sie sich an den Küchentisch, zündete eine Gitanes an und starrte eine Ewigkeit auf die Kiste. In ihr hatte sie alles über ihre kleine Schwester gesammelt: Zeitungsausschnitte, Zeugenaussagen, den Ausschnitt der Stadtkarte mit dem Fischmarkt, Fotos, die sie damals gemacht hatte – eine kleine Schatztruhe mit Erinnerungen.

Schmerzhaften Erinnerungen.

Entschlossen zog sie an ihrer Zigarette, dann öffnete sie sie und holte einen Schwung Notizzettel heraus – die Zeugenaussagen, die unmittelbar nach der Entführung aufgenommen worden waren. Ein Fischhändler meinte, einen Mann beobachtet zu haben, der vor der Entführung mit einem dunkelhäutigen Kind, ähnlich dem vom Fischmarkt, gesprochen hatte, eine Barfrau behauptete steif und fest, Viola kurz danach gesehen zu haben. Eine holländische Familie hatte eine verdächtige Gruppe Halbwüchsiger auf Mopeds erspäht – alles Spuren, die ins Leere liefen. Emma durchsuchte weiter den Karton. Sie fand eine Fotoreihe, Aufnahmen vom Fischmarkt, entnommen verschiedenen Touristenkameras nach der Entführung. Doch auch hier: keine Hinweise. Schließlich stieß sie auf Briefe, die andere Betroffene damals ihrer Mutter geschrieben hatten: eine französische Mutter, deren Kind in einem Kino entführt worden war. Eine belgische Familie, deren Sohn beim Stadtspaziergang durch Aix-en-Provence abhandengekommen war. Dokumente unbeschreiblicher Verzweiflung. Auf einem karierten Blatt hatte Emma damals eine Zeitleiste der Entführungen skizziert. Zwei Dutzend solcher Fälle hatte es in den Achtzigerjahren in Südfrankreich gegeben. Doch dann schien die Entführungsreihe plötzlich vorbei zu sein. Warum? Ein kranker Serienmörder, der es auf Kinder abgesehen hatte und auf einmal starb? Ein Krimineller, der die letzten zwanzig Jahre wegen irgendetwas anderem in Haft gesessen war und jetzt, wieder auf freiem Fuß, munter weiter Kinder verschleppte? Fragen über Fragen! Auf die sie heute keine Antwort mehr finden würde. Sie nahm die angebrochene Flasche und die Gitanes mit in ihr Schlafzimmer und trank sich in einen unruhigen Schlaf.

Emma Roth und die fremde Hand

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