Читать книгу Lena Halberg: Der Cellist - Ernest Nyborg - Страница 11
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ОглавлениеLena hatte das Verdeck des Cabrios aufgeklappt, die Heizung voll aufgedreht – da es trotz des Frühsommerwetters abends noch ziemlich kühl war – und hörte Phil Collins in voller Lautstärke. Immer wieder lehnte sie sich im Sitz weit zurück in den Fahrtwind und genoss die mediterrane Luft. Erst jetzt, seit sie mit Tom in Meran wohnte, wurde ihr bewusst, wie sehr ihr das südliche Klima in England gefehlt hatte.
Gleich nach dem College in London, ihr Vater arbeitete dort als Delegierter in der dänischen Handelsmission, hatte sie schon einmal vier Jahre in Italien verbracht und am Institut für Medienwissenschaften in Bologna an der ältesten Universität Italiens studiert. Damals sammelte sie auch ihre ersten Erfahrungen bei einem lokalen Fernsehsender und entwickelte ihr Interesse für die politische Berichterstattung.
Und jetzt bin ich wieder zurück, dachte sie, wobei ihr der Sohn ihrer alten Professorin einfiel, der in der Nähe von Bozen eine Berghütte besaß und darauf bestand, dass hier nicht Italien sei. Sie korrigierte sich, murmelte lachend: »Pardon, Südtirol natürlich …« und bog von der Schnellstraße in die Ausfahrt beim Meraner Pferderennplatz ein.
Sie fuhr ein Stück entlang der Passer, dem wilden Nebenfluss der Etsch, und nahm dann die Abzweigung über die Brücke Richtung Gratsch. Es war ihr üblicher Weg, wenn sie aus der Redaktion in Bozen kam. An Tagen, an denen sie Sendung hatte oder eine Produktion in der Endphase war, flitzte sie die Strecke oft zweimal hin und her.
Die Straße führte nach dem Vorort direkt hinauf in die Weinberge zur Kirche San Pietro und zu Toms Haus, das am Hügel darüber in einem kleinen Waldstück lag. Die letzten zehn Minuten durch die engen Spitzkehren zwischen den Weinbergen waren zu Lenas Lieblingsabschnitt geworden, den sie äußerst rasant nahm. Inzwischen gewöhnte sie sich auch an die Macken des alten heckgetriebenen Alfas und ging mit Vorliebe bis an seine Grenzen.
Tom hatte darauf bestanden, ihren geliebten Mini in London zu lassen. Er meinte, für einen Rechtslenker wären die engen italienischen Straßen viel zu unübersichtlich. Also adoptierte sie kurzerhand seinen dunkelroten Spider aus den Siebzigern mit dem weißen Stoffdach. Tom lächelte nur säuerlich, denn die beiden Oldtimer – er besaß noch einen dunkelgrauen 1964er Austin Healey – waren seine geliebten Babys, wagte aber dann doch keinen Protest. Nur manchmal, wenn er sie die Straße hochkommen sah, brummte er etwas vom frevelhaften Umgang mit dem alten Fahrzeug.
Lena hatte erst in der Woche zuvor ihr Motorrad aus dem Winterschlaf geholt und konnte kaum erwarten, es wieder zwischen die Beine zu bekommen.
In England wäre sie schon Anfang April bei den ersten Anzeichen des Frühlings unterwegs gewesen, aber durch die Übersiedlung und den neuen Job blieb es heuer länger eingepackt. Dementsprechend groß war ihre Ungeduld. Nur Tom war über die Verzögerung froh, da er Ängste ausstand, wenn er daran dachte, wie sie die Strecke durch die Weinberge mit der Maschine fahren würde.
Sie musste spontan schmunzeln, denn manchmal kam er ihr wirklich verschroben vor. Trotzdem war sie gleich sicher gewesen, dass es mit ihm funktionieren würde und hatte sich nicht getäuscht. Er nahm die Dinge wesentlich weniger ernst als sie, vergrub sich gerne in seiner Lektüre und strahlte eine Gelassenheit aus, die ihr guttat. Konfliktstoff gab es nur gelegentlich, wenn er etwas anders sah und auf seinem Standpunkt genauso beharrte wie sie.
Nach drei sehr intensiven Monaten und der großen inneren Umstellung von England nach Südtirol ging das Leben nun wieder den gewohnten Gang und Tom brütete über einem neuen Buch. Nachdem er sich als Journalist von dem aktuellen Geschäft zurückgezogen hatte, verbrachte er seine Zeit mit dem Schreiben von politischer Literatur und griff gerne Verschwörungstheorien auf, die er durchleuchtete. Wenn er dabei einer Sache auf die Spur kam, war er nur schwer ansprechbar. Für Lena passte das ausgezeichnet, denn sie brauchte den Freiraum für ihre Ideen und zu viel Beziehung engte sie ein.
Sie nahm die letzte Kehre, sah Tom auf der Terrasse stehen und drosselte das Tempo. Dann ließ sie den Alfa betont gemütlich im zweiten Gang zur Garage hinauftuckern und stellte ihn ab.
Das kleine Anwesen, das er von einem Onkel geerbt hatte, lag umgeben von hohen Bäumen mitten in den Weinbergen. Schon als er ihr die Fotos gezeigt hatte, verliebte sie sich spontan in den Platz und da beide die Nase von London voll hatten, fiel der Entschluss leicht, ganz hierher zu ziehen.
Die Gebäude am Grund, zwei alte ebenerdige Steinhäuser, waren früher ein Wohnhaus und eine Weinpresse mit angrenzendem Lager gewesen. Das Lager war bereits von Toms Onkel zur Garage umgebaut worden und das Presshaus beherbergte jetzt einen offenen Sitzbereich mit einem ausladenden Holztisch. Im Haupthaus, in dem es noch viel zu renovieren gab, bewohnten sie vorläufig die zentrale Küche und einen Schlafraum. Besonders hübsch fand Lena den kleinen quadratischen Turm, der das Wohngebäude seitlich überragte und den Tom als Arbeitsraum nutzte.
Als Lena von der Garage in den gepflasterten Innenhof kam, der zwischen den Häusern lag und zum Abhang hin in einem Vorbau endete, stieg ihr der Geruch von gebratenem Fleisch und Kräutern in die Nase.
»Du hast gekocht?«, fragte sie und bemerkte, dass sie ziemlich hungrig war. Der Tag war lang und der Happen zu Mittag in der Kantine des Senders winzig gewesen.
»Selbstverständlich! Nachdem du angerufen hast, habe ich mich sofort an den Herd gestellt …«, er hob die Augenbrauen und grinste, »und bei der Trattoria neben der Kirche angerufen, um zu bestellen.«
Er ging voraus in die Küche, um das Essen zu holen. Lena lachte und setzte sich an den Tisch in die letzte Abendsonne. Der offene Teil des Hofes lag geschützt zwischen den Häusern und gab den Blick auf Meran und die Rückseite der Ötztaler Alpen frei.
»Herrlich!« Lena schob den Teller in die Mitte des Tisches. Der Lammrücken in Kräuterkruste mit Zucchinigemüse und Bratkartoffeln war ein Gedicht gewesen. »Ich bringe keinen Bissen mehr hinunter.«
Tom räumte den Tisch ab und brachte noch Kaffee. Lena betrachtete ihn dabei von der Seite. Sie mochte seine bedächtige Art. In dem kurzen halben Jahr, das sie jetzt zusammen waren, fühlte sie sich einfach angekommen. Er brachte die fehlende Ruhe in ihr Leben.
Er fuhr sich durch die dichten grau melierten Haare, packte seine Pfeife aus und begann, sie mit Tabak zu stopfen.
»Und«, fragte er und suchte Streichhölzer in der Hosentasche, »welche Neuigkeiten beschert uns die weite Welt denn heute?«
»Eigentlich nur das Übliche«, entgegnete Lena und rührte in der Tasse, »aber da ich gerade eine Story für meine Sendung im Sommer suche, bin ich heute die ganzen Meldungen der letzten Woche durchgegangen und über eine Sache gestolpert – einen angeblichen Selbstmord.«
»Angeblich?«
»Ja, irgendein Banker soll sich in einem Hotel in Wien erhängt haben.«
»Interessant.« Tom stocherte in der Pfeife.
»Ich weiß nicht, ob da überhaupt etwas dran ist«, Lena nahm die Decke, die auf dem Stuhl daneben lag, und warf sie sich um die Schultern. »Es gibt nur eine kurze Notiz und die Angaben sind recht dürftig.«
»Meinst du vielleicht den russischen Direktor von dieser Bank in Estland?«
»Genau, die Pressemeldung wurde von der Bank herausgegeben. Er soll in irgendwelche dubiosen Geschäfte verwickelt gewesen sein und die Konsequenzen gezogen haben, weil es Ermittlungen gegen ihn gab«, sagte Lena und hob überrascht den Kopf. »Wieso weißt du davon?«
»Wenn du seriöse Zeitungen lesen würdest …«, sagte er schmunzelnd, stand auf und ging in die Garage, wo die Tonne mit dem Altpapier stand. Er kam mit einem Packen Papier zurück, legte es auf den Tisch und nahm nach kurzer Suche eine Ausgabe des Corriere della Sera heraus.
»Bei dem Versuch mein Italienisch zu verbessern, bin ich auf einen Artikel gestoßen«, sagte er und blätterte im Wirtschaftsteil herum. »Da! Hier berichten sie darüber. Ich hab zwar nicht alles verstanden, aber es dürfte um dieselbe Sache gehen.«
Lena zog sich die Zeitung hin und las.
»Direttore di banca«, murmelte sie dabei, »trovato morto … ieri sera a Vienna …«
»Jetzt sag schon, was da genau steht!«
»Na gut«, sagte Lena und begann zu übersetzen, ohne den Blick von dem Text zu nehmen. »Der Direktor einer Bank aus Tallinn, der zu einer Tagung in Wien war, wurde im Badezimmer seiner Hotelsuite erhängt aufgefunden … Weiter sagen sie, dass keinerlei Fremdeinwirkung feststellbar sei und die Polizei daher von einem Selbstmord ausgeht.«
Lena flog mit den Augen stumm über die weiteren Zeilen.
»Das war alles?«, fragte Tom beinahe enttäuscht.
»So warte«, entgegnete Lena und schlug die Seite ganz auf, um besser lesen zu können. »Ah hier, da wird es wieder interessant. Er verwaltete mehrere Konten einer Gruppe von russischen Investoren, die am internationalen Finanzmarkt aktiv sind. In den letzten Monaten wurden diese Transaktionen jedoch Gegenstand von Untersuchungen wegen illegaler Offshore-Aktivitäten in Panama.«
»Das wäre auch ein Wunder, wenn es nicht so wäre. Jeder dieser Neureichen schneidet sich seine Scheibe ab und versteckt sie dann irgendwo in einem Steuerparadies.«
Lena lachte mit einem Mal laut auf. »Horch, hier steht: Die Bank bedauert das Ableben ihres Mitarbeiters zutiefst, weist aber jegliche Beteiligung an den ihm jetzt zur Last gelegten Vorwürfen zurück, da man intern von derartigen Handlungen keinerlei Kenntnisse gehabt habe und diese auch aufs Schärfste verurteile.«
»Die halten alle anderen für Idioten! Wie heißt die Bank?«
»Das steht hier nicht, nur dass sie in Privatbesitz ist.« Lena ließ die Zeitung sinken.
»Die geheimen Geschäfte der russischen Oligarchen«, sagte Tom und paffte mit der Pfeife große blaue Ringe in den Abendhimmel, »das wäre ein guter Buchtitel, leider gibt es darüber sicher schon einiges.«
»Aber keine Reportage mit allen Facts für ein großes Publikum«, hakte Lena ein und sprang auf. Wenn ein Thema sie unvermittelt packte, konnte sie einfach nicht stillsitzen. »Eine Doku, die auch alle Hintergründe aufdeckt!«
»Damit die Herren mit der Schlägervisage im schwarzen Auto kommen und unangenehme Fragen stellen?«, fragte Tom scherzhaft. Dann starrte er Lena an, wie sie hin und her lief. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Man muss es nur richtig angehen …«
»Warum habe ich Blödmann nur die Zeitung geholt?«, sagte er und ließ mit einer resignierenden Geste die Pfeife sinken.
Lena lachte und ging ins Haus. »Ich setze mich noch kurz an deinen Computer, dann brauche ich meinen Laptop nicht aus dem Auto zu holen.«
»Schon gut.« Tom stellte das Kaffeegeschirr zusammen und trug es in die Küche zurück.
Es war spät geworden über der Recherche. Im Internet gab es einige Informationen zu dem Selbstmord des Russen. Lena blieb an einem winzigen Detail hängen, über das sich offensichtlich niemand Gedanken machte. Der Tote, so hieß es an verschiedenen Stellen, hatte zwei Flugtickets in der Tasche – eines nach Tallinn und eines nach Havanna.
Diese unscheinbare Tatsache warf für Lena einige Fragen auf: Bucht jemand zwei Flüge, wenn er vorhat, sich umzubringen? Und was bedeuteten die beiden Destinationen? Tallinn schien klar zu sein, dort arbeitete er, aber Havanna roch nach Flucht.
Aber jemand der nach Kuba flieht – ein Land, das Leute, die Devisen bringen, mit Freuden aufnimmt und von wo es keine Auslieferung gibt – braucht eine Verfolgung durch die Behörden in Estland nicht zu fürchten, überlegte sie. Warum also vorher aufhängen?
Je mehr sich Lena in das Thema verbiss, desto klarer wurde ihre Vermutung: Er war nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, jemand hatte nachgeholfen. Damit stand auch ihr Entschluss fest, sich der Story anzunehmen und sie dem Sender für die Sommerausgabe ihres Politmagazins vorzuschlagen. Die Richtung, die sie inhaltlich gehen würde, zeichnete sich auch schon ab, denn für sie gab es keinen Zweifel, dass der Tod des Bankers mit den dreckigen Schiebereien der reichen Russen in Zusammenhang stand.
Sie erinnerte sich an ihre gute Bekannte Julia, die arbeitete bei der Süddeutschen Zeitung und hatte im Team der Journalisten an der Enthüllung der Panama-Papers mitgearbeitet. Die bekannte Zeitung hatte von einer anonymen Quelle über das Internet die Unterlagen von einer Kanzlei in Panama erhalten, die tausende Briefkastenfirmen betreute, in denen die Mächtigen und Einflussreichen ihre Vermögen versteckten. Wenn der Bankdirektor da mit drinsteckte, dann musste er dort ebenfalls auftauchen.
Lena schrieb ihrer Kollegin gerade eine Mail, als Tom ins Arbeitszimmer kam.
»Vielleicht nehme ich deinen Titel sogar«, meinte Lena ohne hochzusehen. »Dunkle Deals der Oligarchen!«
»Jetzt komm ins Bett, es ist gleich Mitternacht.«
»Gut okay«, sie fuhr den Computer hinunter, »ich muss morgen sowieso früh raus.«
»Ich dachte, du hast dir den Freitag freigenommen?«
»Schon, aber ich muss nach München.«
»Aber wolltest du nicht über das verlängerte Wochenende einmal richtig ausspannen?«
»Das ist jetzt wichtiger!«, sagte sie und rauschte voraus ins Schlafzimmer.
Tom verdrehte stumm die Augen.