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PULLOVER 2000

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Donnerstag, 14. September Berggasse, Wien-Alsergrund

Das Hemd klebte an meiner Brust. Ich warf einen Blick zum Fenster, um sicherzugehen, dass es auch wirklich geöffnet war. Was kurzfristig Erleichterung versprochen hatte, war mittlerweile der Grund, dass sich mein Büro in einen spätsommerlichen Hochofen verwandelte.

Es war Dienstagnachmittag, und ich war den ganzen Tag mit dem Lesen, Korrigieren und Genehmigen von Akten beschäftigt gewesen. Nicht gerade die spannendste Arbeit für einen Polizisten. Und dennoch sah meine Hauptbeschäftigung genau so aus.

Als stellvertretender Vorstand des Sicherheitsbüros, der Zentralstelle der Wiener Kriminalpolizei, zuständig für schwere Straftaten, wurde ich von allen Referaten über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten und überwachte, ob auch keine Ermittlungsfehler begangen wurden. Seit fast zehn Jahren hatte ich diesen Posten jetzt schon inne, und mit jedem Jahr hatte ich mich etwas weiter von der Ermittlungsarbeit des Kriminalbeamten entfernt und zur Verwaltungsarbeit bewegt. Eine ausgesprochen wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, doch wie gut ich sie auch ausführte, sie war niemals mit dem Gefühl zu vergleichen, sich durch undurchsichtige Motive und scheinbar wasserdichte Alibis zu kämpfen.

Ich schloss den letzten Akt für heute. Es handelte sich um ein Drogendelikt. Vor etwas mehr als einem Jahr hatten wir mit der großangelegten Operation Spring einen Drogenring aus Nigeria hochgehen lassen. Es war das Ende eines langen und langwierigen Kampfes gegen den Handel mit Rauschgift, der in den neunziger Jahren aufgekommen war. Noch immer mussten wir uns mit den Nachwehen herumschlagen. Es war eine zermürbende Arbeit, denn Kokain und Heroin waren Waffen, die sehr viel langsamer wirkten als Messer oder Pistolen. Sie brachten einen schleichenden Tod, der ein Leben nicht auf einen Schlag auslöschte, sondern langsam zerrieb. Vor allem junge Menschen waren betroffen, nicht selten wurde vor Schulen oder Spielplätzen gedealt. So wichtig die Bekämpfung von Drogenkriminalität war, so wenig lag sie mir.

In dieser Hinsicht war das vergangene Jahrzehnt besser gewesen. Die achtziger Jahre waren das Jahrzehnt der Banküberfälle gewesen. Bankräuber waren vielschichtig, vom hochverschuldeten Amateur, der aus Verzweiflung eine Bank ausraubte, bis zum Berufskriminellen war alles dabei. Kein Raubüberfall glich dem anderen, jedes Mal sah man sich neuen Herausforderungen ausgesetzt, und während die Überfälle immer verwegener wurden, mussten auch wir immer schneller handeln. Die Achtziger waren also das Jahrzehnt der Bankräuber gewesen, die Neunziger das der Drogen.

Was stand uns wohl im nächsten Jahrzehnt bevor?

Ich stand auf und trat zum Fenster. Als ich es schließen wollte, hielt ich inne und blickte aus dem ersten Stock auf den Donaukanal hinab, der hinter der Rossauer Lände vorbeizog. Das leise Brummen von Motoren und Gesprächsfetzen wurden von Hitzewellen heraufgetragen. Eine Trägheit schwappte mir entgegen, die man nur zu leicht mit Ruhe verwechseln konnte.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich eine Gruppe junger Leute gehen, sie lachten und trugen Schilder, zwei von ihnen schleppten sogar ein zusammengerolltes Banner. Ich konnte lesen, was auf den Schildern stand. »Gegen ein rechtsextremes Österreich«, war auf einem zu lesen, auf dem anderen: »Nieder mit Schwarz-Blau.«

Die Plakate erinnerten mich daran, wie turbulent dieses Jahr gewesen war. Von Ruhe konnte da keine Rede sein. Seit Februar gab es nach langen, schwierigen Koalitionsverhandlungen eine Regierung aus der konservativen ÖVP und der rechten FPÖ. Das hatte nicht nur in der Gesellschaft für ein kleines Erdbeben gesorgt, sondern auch bei der Polizei.

Seit Monaten waren unsere Leute im Dauereinsatz, um die wöchentlich stattfindenden Donnerstagsdemonstrationen gegen die Regierung zu begleiten. Mittlerweile war die Teilnehmerzahl zurückgegangen, aber wir mussten ständig mit neuen, kreativen Aktionen der Demonstranten rechnen.

Dabei waren die Zeiten innerhalb der Polizei nicht weniger stürmisch als auf den Straßen der Republik. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es eine politische Gewichtung innerhalb der Polizei, die so unumstößlich wie inoffiziell war. Die Gendarmerie auf dem Land war schwarz, also ÖVP-nah, die Polizei in Wien war rot, hatte also eine Nähe zur Sozialdemokratischen Partei. Diese Verteilung war so normal geworden, dass wir fast schon vergessen hatten, dass es sie überhaupt gab.

Doch mit einem Schlag war alles anders geworden. Der neue Innenminister Ernst Strasser hatte einiges vor: Er wollte Gendarmerie und Polizei zusammenlegen, das Polizeiwesen modernisieren, ein Bundeskriminalamt und ein Bundesamt für Verfassungsschutz einrichten. Jeder, egal wie ranghoch, musste sich um seinen Posten neu bewerben. Angst hatte sich in unseren Gängen breit gemacht. Wer würde nächstes Jahr noch dort sein, wo er heute war?

Selbst beim Chef war Anspannung zu spüren. Max Edelbacher, von allen außer Hörweite nur Edelmax genannt, sonst ein angenehmer Vorgesetzter, der einen stets mit einem Lächeln begrüßte, eilte dieser Tage mit sorgenvoller Miene von einer Besprechung zur nächsten. Andere Zeiten zogen auf. Immer wieder waren die Worte »Abbau« und »Zusammenlegung« zu hören. Der Polizeiapparat sollte »effizienter« gestaltet werden. Dass dabei auch gleich ein paar Führungspositionen verändert werden würden, konnte man sich denken. Und Edelbacher als alter Sozialdemokrat, der mit Kritik an politischem Vorgehen nicht hinterm Berg hielt, passte nicht in die Pläne der neuen Regierung.

Dabei war er eine Institution im Haus, er leitete »die Berggasse«, wie die Zentrale des Sicherheitsbüros in der Berggasse genannt wurde, schon eine gefühlte Ewigkeit. Er brachte unglaubliche Kompetenzen mit und war bereits vor vielen Jahren in den USA gewesen, um sich bei der Chicago Police etwas für die österreichische Polizeiarbeit abzuschauen. Mit seinem buschigen Schnauzer und der fliehenden Stirn war er nicht nur eine auffällige Erscheinung, sondern auch ein angenehmer Chef, vernünftig und interessiert an neuen Entwicklungen, doch ihm fehlte das diplomatische Fingerspitzengefühl, das man in solchen Zeiten brauchte. Wenn selbst sein Sessel wackelte, wer war dann noch sicher?

Ich zwang meine Gedanken in die trockene Luft meines Büros zurück. Vielleicht sollte ich mich um ein paar Pflanzen bemühen. In meinem großen Büro dominierte ein schwerer, alter Eichenholzschreibtisch den Raum, ein Computer thronte darauf. Vor wenigen Jahren hatte er die elektrische Schreibmaschine abgelöst, und ich hatte mich immer noch nicht ganz an diese neue Technologie gewöhnt.

Graue Büromöbel, der klassische Beamtenstil, und ein paar Aktenschränke vervollständigten den Raum. Nicht besonders imposant, aber alles, was ein guter Polizist brauchte. Dieser Tage wurde viel zu viel Energie auf politische Scharmützel verwendet und viel zu wenig für ehrliche Polizeiarbeit.

Ich nahm mein Sakko, das ich heute nicht länger als nötig angehabt hatte, und legte es mir über den linken Unterarm. In der rechten Hand trug ich meinen Aktenkoffer. Als ich in den Vorraum trat, blickte Trudi, meine Sekretärin, auf. Seit meiner Beförderung zum stellvertretenden Leiter war sie zu meiner fleißigsten Mitarbeiterin geworden. Sie verfluchte die moderne Technik mindestens genauso oft wie ich, doch im Gegensatz zu mir schaffte sie es mit Hartnäckigkeit und Geduld, sich jeden Computer untertan zu machen.

»Sie machen Schluss für heute?«, fragte sie.

»Ja, sieht so aus«, antwortete ich. Ich wollte schon durch die Tür auf den Gang treten, da rief sie mich noch einmal zurück.

»Ich soll Sie daran erinnern, noch eine Flasche Wein zu besorgen«, sagte sie pflichtbewusst. »Blaufränkisch, wenn möglich. Fürs Abendessen heute. Ihre Frau hat angerufen.«

Ich brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Danke, Trudi«, sagte ich. Ich nickte ihr zu und schloss leise die Tür hinter mir.

Die langen Nächte, in denen ich mit Kollegen über mögliche Tathergänge und Verdächtige nachgedacht hatte, und aus denen wir mit dem unwiderstehlichen Körperduft aus Kaffee und Zigaretten am nächsten Morgen durch die Bürokorridore streiften, waren in den letzten Jahren ruhigen und entspannten Abenden mit meiner Frau Eva gewichen. Die meiste Zeit genoss ich diese Insel der Ruhe, die völlig frei von den Schrecken und menschlichen Abgründen war, die mich in meiner Arbeit ständig begleiteten. Es war heilsamer als irgendeine andere bekannte Verarbeitungsstrategie, sei es Psychotherapie oder Alkohol.

Aber an manchen Tagen packte mich eine Schwermut, und ich dachte an die Tage im Mordreferat zurück. Wir waren zu oft überspannt gewesen, ständig mussten wir gegen die Zeit arbeiten, doch die Aufregung wirkte wie ein Rausch. Nach meiner Beförderung zum stellvertretenden Vorstand des Sicherheitsbüros war es mir zumindest gelungen, meinen Posten als Leiter der Mordkommission zu behalten. Wenigstens blieb ich so immer auf dem neuesten Stand und konnte meine Überlegungen bei Ermittlungen einbringen, aber die Laufarbeit blieb mir meistens erspart.

Ich trat durch das schwere Tor der Berggasse ins Freie. Ein leichter Windstoß empfing mich und befreite mich von den letzten Resten Melancholie. Ich nahm mir vor, durch den Votivpark und die Alser Straße hinaufzuspazieren. In der Lange Gasse gab es eine kleine Vinothek, in der sich bestimmt ein guter Blaufränkischer würde finden lassen.

Langsam durchquerte ich den Park, in dem Studenten auf der Wiese lagen und die sich langsam zurückziehenden Sonnenstrahlen genossen.

Für eine Weile ließ ich meinen Blick auf den neugotischen Türmen der Votivkirche ruhen. Sie erinnerte mit ihrem kargen Sandstein und den spitz zulaufenden Streben an ein Skelett. Und tatsächlich wurde ihr Bau gewissermaßen mit einer Leiche bezahlt. 1853 versuchte ein ungarischer Schneider, Kaiser Franz Joseph bei einem seiner Spaziergänge zu erstechen, nachdem der Kaiser Aufstände in Ungarn brutal niedergeschlagen hatte. Das Attentat scheiterte und aus Dank für des Kaisers unversehrte Gesundheit wurde die Votivkirche erbaut.

Der Schneider, János Libényi, wurde natürlich kurz darauf gehängt. Die Exekutive arbeitete damals eben noch mit anderen Mitteln.

Ein Klingeln ließ mich innehalten. Kurz blickte ich desorientiert durch die Gegend, bis ich bemerkte, dass das Geräusch aus meiner Hosentasche kam. Ich zog mein Nokia heraus und hob ab.

»Geiger.«

»Ernst, wo bist du?«

Ich erkannte sofort die Stimme meines langjährigen Kollegen Ewald »Eddie« Müller. Seit meinen ersten Tagen im Mordreferat hatten wir viele Fälle gemeinsam bearbeitet. In den vergangenen Jahren hatte er sich verstärkt den Cold Cases zugewandt, also Fällen, die wir ungelöst zu den Akten hatten legen müssen. Besonders durch das Aufkommen neuer Technologien wie DNA-Analyse war dieses Konzept aus den USA zu uns gekommen, doch das Sicherheitsbüro hatte weder die finanziellen noch die personellen Ressourcen, um daraus eine eigene Abteilung zu machen. Also ging Eddie alten Spuren meist in seiner freien Zeit nach.

Polizeiarbeit ist wohl der einzige Beruf auf der Welt, der zugleich das befriedigendste und das unbefriedigendste Gefühl vermitteln kann.

Versucht man das Rätsel zu lösen, hinter dem sich die Wahrheit eines Verbrechens verbirgt, setzt man unzählige kleine Mosaiksteinchen zusammen. Die Erkenntnis kündigt sich in leisen, unhörbaren Schritten an, findet im Hinterkopf statt. Sie klopft nicht an, sondern stürmt unangekündigt herein. Und dann steht man plötzlich vor einem Durchbruch, und mit einem Schlag findet alles Fragen, Suchen und Überlegen ein Ende. Warum ist wohl der Krimi die beliebteste Literaturgattung, die es gibt? Abgesehen davon, dass die Polizisten darin meistens auf völlig unrealistische Weise arbeiten, gibt er den Lesern etwas, was sie in ihrem Leben zu oft vermissen: das Gefühl der Abgeschlossenheit, das sich einstellt, wenn die großen Fragen, also Wer, Warum, Wie, endlich bis ins letzte Detail aufgeklärt werden.

Doch wenn wir einen Fall nicht lösen konnten, dann konnte uns diese Unabgeschlossenheit wahnsinnig machen. Dann saßen wir unzählige Nächte zusammen und hingen unseren eigenen Theorien nach. Und mit jedem Tag, der verging, wurde die Gewissheit größer, dass uns eine Wahrheit, die wir hätten aufdecken können, für immer entglitten war. Ich konnte also nachfühlen, warum Eddie in diesen alten Akten wühlte. Ob es gesund war, der Vergangenheit so viel Platz einzuräumen, war eine andere Sache.

»Ich stehe vor der Votivkirche«, antwortete ich. »Bin gerade auf dem Weg zu dieser kleinen Vinothek in der Lange Gasse, kennst du die?«

»Du holst Wein? Für die Arbeit oder privat?« Ich hörte Belustigung in Eddies Stimme.

»Heutzutage trinke ich nur noch zu Hause, so ist das in den höheren Etagen. Aber du rufst doch nicht an, um meine Abendpläne zu erfahren?«

»Nein«, sagte Eddie und seine Stimme nahm plötzlich einen Ton an, den ich kannte. Diesen Ernst legte er nur dann in seine Stimme, wenn er absolut notwendig war. Wenn es um Mord ging.

»Wir haben etwas gefunden, was du dir anschauen solltest, Ernst. Dringend.«

»Klar, Trudi sollte noch da sein, leg es einfach auf ihren Schreibtisch und …«

»Nein«, unterbrach mich Eddie. »Sofort.«

»Sofort? Eddie, ich habe Eva heute einen gemütlichen Abend versprochen, Pasta und Rotwein …«

»Ruf sie an«, sagte Eddie bestimmt. »Sag ihr, dass ihr das Essen verschieben müsst.«

»Was zum Teufel ist denn los?«

»Nationalfeiertag 1988«, sagte Eddie nur. »Kannst du dich an den Tag erinnern?«

Plötzlich war die Votivkirche verschwunden, der Park mit den Studenten hatte sich aufgelöst, und selbst die drückende Wärme des Spätsommers war meiner Erinnerung gewichen. Mit einem Mal war es klirrend kalt geworden, ich sah ein verblichenes Werbeplakat vor mir und spürte, was dahinter lag. Es war ein Ort, den ich seit nunmehr fast zehn Jahren kaum noch besucht hatte, nicht einmal in meiner Erinnerung erlaubte ich mir, dorthin zurückzukehren. Nur meine Träume entführten mich manchmal an diese Stelle. In den schlimmen Nächten.

»Ich bin in fünf Minuten bei dir«, sagte ich nur und legte auf.

Nachdem ich meiner Frau Bescheid gegeben hatte, drehte ich mich um und lief den Weg zurück, den ich gerade gekommen war.

Das Gefühl, das mich überrollte wie eine brechende Welle, war mir bekannt. Es war ein Riss, der sich in der Gegenwart aufgetan hatte und einen Blick in die Vergangenheit erlaubte. Und was dieser Blick freizugeben versprach, waren die Antworten auf die großen Fragen.

Es war die Chance auf Erkenntnis.

Heimweg

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