Читать книгу Vom Hitlerjungen aus Meiningen, im Krieg durch Europa und als Kriegsgefangener in Südfrankreich 1940–1949 - Ernst Köhler - Страница 6

In Meiningen

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Als mit Hitlers Einmarsch in Polen 1939 der 2. Weltkrieg ausbrach, war ich gerade mal 13 Jahre alt. Nachdem ich 6 Jahre die Volksschule besucht hatte, wechselte ich auf das „Deutsche Realgymnasium“, auch „Deutsche Aufbauschule“ genannt, in meiner Geburtsstadt Meiningen. Zu meiner Konfirmation 1940 sagte mein Vater zu mir: „Sei froh Junge, dass du noch zu jung bist, um mit in den Krieg ziehen zu müssen“. Da sollte er sich allerdings gewaltig getäuscht haben. Mit einem einigermaßen guten Abschluss der Untersekunda verließ ich dann das Gymnasium und wendete mich einem Beruf zu. Bis zu diesem Zeitpunkt verbrachte ich eine unbeschwerte Zeit. Die Tage, das heißt die schulfreie Zeit, waren ausgefüllt mit Dienst (meist unterhaltsamen, teilweise auch lehrreichen Spielen wie Schnitzeljagd) bei den sogenannten Pimpfen oder dem Deutschen Jungvolk. Anschließend folgte dann die Hitlerjugend. Wir waren stolz, diese Uniformen zu tragen. Ich selbst war bei der Marine-Hitlerjugend. Auf der Werra in Meiningen konnte man mit Booten bis zu 12 Mann Besatzung skullen. In den großen Ferien ging es nach Saalburg, wo ich das Seesportabzeichen mit großer Prüfung A und B auf der Saaletalsperre erwerben konnte. Schon damals haben uns die Ausbilder den Arsch bis zum Stehkragen aufgerissen. Man hat uns von früh bis spät gedrillt und geschliffen, bis zum geht nicht mehr. Jeden Tag haben sie sich irgend etwas Neues einfallen lassen, um uns neben dem intensiven Lernen zu quälen und zu peinigen. Selbst in der Nacht ließen sie einem keine Ruhe. Das alles sollte aber nur ein kleiner Vorgeschmack dessen sein, was uns später dann beim Barras erwartete.


Das Geburtshaus von Ernst in Meiningen, Schweizergasse 7.

Bild rechts: Wilhelm, sein Vater war Schmied in Meiningen.


Ernst und Schwester Edith um 1930.


Ernst’s Vater war Schmied in Meiningen, hier bei einem Umzug.



Mein Berufsziel war es, Kulturbauingenieur zu werden. Dazu gehörten zwei mal zwei Lehrjahre in der Landwirtschaft mit dem Abschluss als Verwalter. Schloss und Gut Landsberg, 2 km von Meiningen entfernt, war mein neuer Arbeitsplatz. Es war im Besitz von Herzog Bernhard von Sachsen-Meiningen. Auf einer Fläche von 70 Hektar waren meist Wiesen und Weiden in wunderschöner Naturlandschaft um das Gut herum gelegen. Pächter war ein gewisser Hans Bürger, ein alter verkappter Nazi. Wir nannten ihn Gandhi, auf Grund seiner extremen Dürrheit. Die Arbeitsleute setzten sich aus vertriebenen Polen, Ukrainern, Rumänen und einem taubstummen Deutschen zusammen. Meine Aufgabe war es, diesen bunten Haufen zu leiten. Das begann früh morgens mit der Arbeitseinteilung und endete spät abends mit der Erfassung der Arbeitsleistung der einzelnen Leute und der Pferdegespanne. Alles wurde in einem Tagebuch dokumentiert. Für die Küchen- und Gartenarbeit waren Pflichtjahr-Mädchen zuständig. Zu meinen weiteren Aufgaben gehörte die tägliche Wetterbeobachtung und -aufzeichnung mit der Eintragung des Barometerstandes, der Temperatur und der Niederschlagsmenge. Das Ganze war für das meteorologische Wetteramt Potsdam bestimmt.


Molkerei, Schloss Landsberg – Meiningen. Postkarte um 1910.


Weil ich die höhere Schule besucht hatte, konnte ich nach dem ersten Lehrjahr meine Landarbeitsprüfung ablegen. Im zweiten Lehrjahr flatterte mir dann der Einberufungsbefehl in die Tasche, und das zu meinem großen Erstaunen. Bis zum Stelltermin blieben gerade mal elf Tage. In dieser kurzen Zeit habe ich noch schnell meine zweite Prüfung als Landwirtschaftsgehilfe geschafft. Damit hatte ich wenigstens einen Abschluss.

In diesen Tagen besuchte ich mit unserem Pflichtjahrmädel einen jugendverbotenen Film. Während der Vorstellung wurden wir von „Kettenhunden“ der Wehrmacht aufgefordert, das Kino zu verlassen, weil wir erst 16 bzw. 17 Jahre alt waren. Zwei Tage später wurde ich beim Rauchen ertappt und aufgefordert, den Glimmstengel abzulegen. Das Kuriose an diesen Geschichten war die Tatsache, dass ich den Einberufungsbefehl schon in der Tasche hatte und immer noch wie ein Jugendlicher behandelt wurde.

Die Musterung war auf den Deutschen Arbeitsdienst ausgerichtet. Bei der anschließenden Nachmusterung wurden wir von hohen Stabsärzten der Wehrmacht und SS untersucht. Wer okay war und über 1,72 m groß, wurde kurzerhand der Waffen-SS zugeschlagen, und das mit 17 Jahren. Wir waren fast noch Kinder. So nahm das Schicksal seinen Lauf. Am 30. Oktober 1943 hatte ich mich in den Adolf-Hitler-Kasernen am Rande der Goldenen Stadt Prag zu melden. Es begann ein ganz neuer Lebensabschnitt. Man brauchte von nun an nur noch stramm zu stehen, Männchen zu bauen und den gegebenen Befehlen zu gehorchen. In Prag habe ich keinen einzigen Bekannten getroffen. Zu diesem Zeitpunkt waren schon einige meiner etwas älteren Kumpels gefallen, die meisten auf Schnellbooten oder Minenräumfahrzeugen.

In den ersten Kasernentagen wurde uns beigebracht, wie man sich zu benehmen und zu bewegen hatte. Hauptaugenmerk wurde auf den „deutschen Gruß“, den ausgestreckten rechten Arm, gelegt. Das Leben bestand nur noch aus Strammstehen, Marschieren, Auf und Nieder, immer wieder. Alles wurde in Zivilklamotten durchexerziert. Uniformen waren noch nicht parat, außer Stahlhelme. Beides zusammen war ein Bild für die Götter. Nach zwei Wochen mussten wir dann unsere Zivilsachen im Pappkarton nach Hause schicken. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Sachen hinterher noch verwendungsfähig waren. Auf der Kleiderkammer bekam dann jeder sein Päckchen hingeschmissen, mit wollenen Unterhosen, Socken, Hemden, Fußlappen, Gamaschen, Knobelbechern oder hohen Schuhen, zwei Oberhemden aus Leinen, Jacke und Hose aus dickem Stoff, einem viel zu langen Mantel und einem Käppi, das mir über die Ohren rutschte. Dann die Ausrüstung: Karabiner 98, Koppel mit Schloss, Patronentaschen am Leibriemen mit je 45 Schuss Munition, Brotbeutel, Feldflasche, Gasmaske, Sturmgepäck mit Zeltplane und dicker Decke und ein zusammenklappbarer Spaten. Dazu kam noch ein Tornister aus dickem Stoff sowie das Seitengewehr am Koppel für den Nahkampf. Fertig war der Jungsoldat!

Jetzt ging es richtig zur Sache. Früh 6 Uhr war Wecken mit Trillerpfeife, anschließend Morgentoilette und Frühsport. Zum Kaffee gab’s eine furchtbare Ersatzlorke, dazu Marmelade und einen undefinierbaren Brotaufstrich. Dienstbeginn war dann 8 Uhr. Angetreten wurde im Drillichanzug, der die „Mutter Erde“ besser vertragen konnte als die Uniform. Nach dem Strammstehen in schnurgerader Linie machten die Ersten gleich Bekanntschaft mit dem Boden, und das bei jedem Wetter. Ein älterer Zugführer mit Dienstgrad Hauptscharführer (Hauptfeldwebel), der nicht mehr k. v. war, betitelte uns unter anderem als „ihr Heinis“, „Rosenkranzflitzer“, „Brotbaumaffen“ und wiederholt als „ihr Bauernspitze“, was selbst ich als Beleidigung auffasste, aber man hat es weggesteckt, weil man schon in der Hitlerjugend zum Gehorsam erzogen wurde. Nach dem Antreten war Exerzieren an der Reihe, entweder in der Gruppe, im Zug oder in der Kompanie. Auch hier lagen wir meistens auf dem Bauch und robbten durch die Gegend. Eine beliebte Übung war dabei die Kehrtwende auf dem Koppelschloss, das Gewehr in Vorhalte. Und immer wieder Laufen, Rennen, Hüpfen wie die Feldhasen. „Nieder“ und „Auf, marsch, marsch“ – diese Schindereien wurden bis zur völligen Erschöpfung durchgezogen. Schweißgebadet dachte ich manchmal, dass es einfach nicht mehr weitergehen würde. Und doch gehorchte man diesen Verbrechern von Ausbildern, die ansonsten hinten in der Etappe eine ruhige Kugel schoben, immer wieder. Vor dem Mittagessen war meist noch eine Stunde Schulung über irgendwelche wehrdienstlichen Aufgaben. Da wir in Kasernen untergebracht waren, gab es Mittagessen im großen Speisesaal, der für die einfachen Soldaten auch als Kantine diente. Nach einer kurzen Pause ging es weiter: Exerzieren, Marschieren, Unterweisung am Maschinengewehr 44 und am veralteten MG 33. Zur Grundausbildung gehörten auch lange Märsche in voller Montur, auch nachts, mitunter bis zu 20 km weit. Das war Schikane pur. Hier ist manch einer aus den Latschen gekippt. Auch die Ausrüstungs- und Waffenappelle hatten es in sich. Mit angespitzten Streichhölzern kratzten die Lumpen von Ausbildern jeden noch so versteckten Dreck aus den Knarrenritzen und schmierten es einem in die „Fresse“. Zur Strafe folgten „Häschen hüpf“ mit ausgestrecktem Gewehr und Liegestütze, und das nicht zu knapp. Oft ging es dann noch auf den Schießplatz. Es wurde auf stehende und laufende Ziele geballert. Die Trefferquote war anfangs mickrig. Viele Fahrkarten wurden geschossen. Nach dem Schießen stand das Werfen von Stiel- und Eierhandgranaten auf dem Programm. Bei jedem Marsch dauerte es nicht lange und das Kommando ertönte: „Singen, ein Lied 3, 4!“ Von diesen Liedern hatten wir ein ganzes Repertoire auf Lager. Das ging los mit „Es zittern die morschen Knochen“, „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein“, „Unsere Fahne flattert uns voran“ bis hin zu „Es ist so schön, Soldat zu sein“. Zwischendurch kam immer wieder der Befehl: „Lauter, ihr Heinis!“ Dadurch artete das ganze manchmal zum völligen Gegröle aus. Am späten Nachmittag war meist Putz- und Flickstunde angesetzt. Und dann kam das Beste vom Tag: Verpflegungsempfang. Weil wir jung und hungrig waren, erschien uns das Essen völlig unzureichend. 21 Uhr war dann Zapfenstreich. Aber kaum das man auf seinem Strohsack lag und postwendend eingepennt war vor Müdigkeit, ertönte schon wieder die Trillerpfeife und wir mussten aufspringen und zackig zwischen den zwei- und dreigeschossigen Betten Aufstellung nehmen. Der Stubenälteste musste Meldung machen und bei der anschließenden Spindkontrolle warfen die Ausbilder unsere Sachen unter fadenscheinigen Begründungen durch die Bude. Daran schienen sie ihre helle Freude zu haben. Wir mussten dann innerhalb einer vorgegebenen Zeit die Sachen wieder säuberlich einräumen und nicht selten noch einen Schuh- oder Fingernagelappell über uns ergehen lassen. Irgendetwas Niederträchtiges fiel den Ausbilder-Ekeln immer ein, um dem wehrlosen kleinen Soldaten zu zeigen, wer das Sagen hatte. So vergingen die ersten sechs Wochen Grundausbildung. Man war stur geworden in dieser Zeit und ein guter Teil des Denkvermögens hatte aufgehört zu existieren. Man hatte sich in das Unabänderliche ergeben. Der Dienst lief dann in ruhigerem Ton weiter. Wir sollten uns zum baldigen Verlassen der Kaserne bereithalten.

Vom Hitlerjungen aus Meiningen, im Krieg durch Europa und als Kriegsgefangener in Südfrankreich 1940–1949

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