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Geschichte vom Fliegenlernen Ein Tagebuch mit Randbemerkungen

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Edmond Dougoud gewidmet, meinem Fluglehrer, der am 29. August 1954 im Valle Vedasca abgestürzt ist.

Die Sonne schien, die Aprilsonne, um es genau zu sagen. Sie schien an vielen Stellen der Erde in diesem Augenblick, besonders blank und zärtlich aber schien sie auf die Piazza von Locarno herab, wo zwei Damen aus Krefeld zur Stunde ihren Nachmittagskaffee zu sich nahmen. Sie waren auf Urlaub. Sie wollten nicht nach Locarno, sondern nach Portofino am Mittelmeer, aber in Bellinzona hatten sie für einen Tag oder zwei die Reise unterbrochen, weil die eine der anderen zeigen wollte, wo sie vor sechsunddreißig Jahren ihre Flitterwochen verbracht hatte. – Sie saßen da, und die Sonne, die Urlaubsluft und die mild-melancholische Erinnerung an sechsunddreißig vergangene, verwehte, verlebte Jahre – und übrigens auch ein Likör, den sie zum Kaffee genommen hatten – stimmten sie träumerisch. Da ließ irgend etwas, leise und fern wie ein Insektensummen, ein hörbarer Punkt in der Luft mit einem Wort, die eine der beiden Damen zum Himmel aufschauen und rufen:

Schau mal an, Betty, ein Fischadler da oben!

Aber Betty meinte, als sie im Himmel gefunden hatte, was ihre Freundin sah:

Das ist ein Flugzeug, Lucie.

Das? Wo habe ich denn meine Augen heute ... Meinst du wirklich, daß es ein Flugzeug ist?

Man hört’s ja brummen.

Aber wenn man’s so sieht, sieht’s eigentlich doch eher aus wie ein Fischadler, Betty ...

– Nun, es war kein Fischadler, keineswegs, sondern eine kleine Kiste aus Plexiglas, Stahlrohr und steifgelacktem Bespannungsstoff, ein Sportflugzeug, in dem zwei Männer saßen: Herr Dougoud, der Fluglehrer, und der Verfasser dieses Tagebuchs:

Tagebuch: »... und wir waren gerade zum ersten Male gestartet, vom Flugplatz Ascona, und der Flugplatz versank, und der See tauchte auf, blau schimmernd, ein Widerspiel des Himmels in der Tiefe, und nun zog dieser Himmel die kleine Kiste aus Plexiglas, Stahlrohr und zellonlacksteifem Bespannungsstoff sanft zu sich hinauf. So begann es.

– Ich bin vierzig Jahre alt und wollte immer fliegen lernen, mein ganzes Leben lang. Aber als ich vierzig wurde, sagte ich mir, wenn du es jetzt nicht tust, wirst du es nie mehr tun. – Wann es angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Aber eines geht mir nicht aus dem Sinn: der Tag, an dem ich zum ersten Male geflogen bin.

– Es war September, als die Flieger in unsere Stadt kamen, fünf auf einmal, Doppeldecker und ein Dreidecker sogar. Er sah aus wie ein chinesischer Drachen und stolzierte geradezu durch die Luft.

Wir fuhren am anderen Morgen hinaus, Konrad und ich, in aller Herrgottsfrühe. Es war noch vor Tag. Nebel über dem Strom und Stille, Stille überall, und dieses fahle, graue Licht, das vor dem Tag hergeht.

Die Flugzeuge waren auf einem abgeernteten Kornfeld gelandet. Man sah sie von weitem schon. Sie lagen da wie Falter, aufgeklebt auf dem braunen Samt der Stoppeln.

Wir warfen unsere Fahrräder an den Feldrain. Die Maschinen standen da und steckten die Köpfe zusammen, die Propeller mit Persenningen verhängt. Daneben war ein kleines Straßenarbeiterzelt aufgeschlagen, und ein altes Auto stand dabei, aus dem die Polster herausgerissen waren.

Ein Mann schaute aus dem Zelt hervor. Er steckte sich eine Zigarette an und kam auf uns zu.

Na, was wollt ihr denn schon hier?

Nichts. Wir sind bloß hergekommen ...

Der Mann warf einen Blick auf die Uhr.

Viertel vor sechs in der Früh?

Was sollten wir da sagen? – Aber er erwartete auch keine Antwort, denn er drehte sich sogleich um und roch in die Luft.

Kartoffelfeuer, was?

Wir fragten ihn, wann sie wieder starten würden.

So gegen elf ...

Und mit welcher fliegen Sie?

Ich? Mit dem da ...

Er zeigte mit dem Daumen auf das alte Auto.

Ich bin bloß der Monteur. Ich fahre hinterher ...

– Später kochte er Kaffee vor dem Zelt. Wir saßen neben ihm auf dem Boden und schauten zu, wie er den Primuskocher in Gang brachte. – Die Nebel über dem Strom wurden indessen immer dichter und weißer. Ich legte mich lang auf die Erde. Die Stoppeln stachen, aber das machte jetzt nichts aus. Ich sah in den Himmel. In der Ferne hatte wirklich irgendwo ein Kartoffelfeuer die Nacht durch gebrannt. Der Geruch hing süß und brenzlig in der Luft. Ein Schnellzug donnerte über die Brücke, sausende Bremsen und Pufferschlagen, und dann das fliegende Gestöhn der Lokomotive zwei Minuten lang, während der Zug auf dem Bahnhof hielt ...

Willste keinen Kaffee?

Doch.

Ich setzte mich hoch. Aber einen Augenblick lang hatte ich dagelegen und den Himmel gesehen, grau und rosig von der Sonne, die aufgehen wollte, und ich hatte das Wasser gehört, das im Kaffeekessel zirpte, und die Erde gerochen, morsche Stoppeln und Erde, und es roch nach Benzin und Schmieröl aus dem Zelt und nach Kaffee und heißem Spiritus – und nach Freiheit. Die Freiheit war in der Luft an diesem Morgen, die ganze Freiheit meines Lebens, das vor mir lag.

– Es ist ein schöner Tag geworden, ein stiller, heller Herbsttag mit Sonne, ein Tag vor fünfundzwanzig Jahren, und an diesem Tage bin ich zum ersten Male geflogen.

Ich mußte mein ganzes Geld dafür hingeben, das ich in den Sommerferien beim Bauern verdient hatte, vierzig Mark, aber es dauerte auch zwanzig ganze Minuten.

An diesem Tage hat es den Stich in meinem Herzen gegeben. Es war nicht schlimm, es war auch gleich vorbei wieder, fast vorbei, aber ...«

– In manchen Herzen geschieht das, lieber Leser, vergessen Sie das nicht. Von ihm jedenfalls, von ihm allein handelt die Geschichte, die Ihnen hier erzählt werden soll. Von einem Stich im Herzen und dem, was danach kam. –

Und nun zur Sache wieder. Dort ist das Flugzeug – und da sitzen die beiden Damen auf der Piazza, und Lucie sagt im Moment triumphierend:

Siehst du, Betty, hab ich’s nicht gesagt?

Du hast recht, es ist wirklich ein Fischadler.

Ich sag’s doch!

Jetzt stürzt er ab. Der muß was gesehen haben im See ...

... Diese Vögel haben Augen, sag ich dir, da kann unsereins ...

Zwei Damen beim Kaffee alles in allem. Wir wissen, daß sie sich irrten, aber die kleine Kiste da oben machte auch wirklich merkwürdige Sachen jetzt. Herr Dougoud war auf Probeflug sozusagen, nicht um das Flugzeug auszuprobieren, das kannte er, sondern den Schüler, den er noch nicht kannte. Er stellte den kleinen Apparat auf den Schwanz – und wie sie keine Fahrt mehr machte, legte sich die Maschine auf die rechte Tragfläche und stürzte ab, senkrecht, im Sturze sich drehend. Man nennt das Trudeln.

Als alles vorbei war und die kleine Kiste wieder still im Grase stand, wurde der Verfasser unseres Tagebuchs von einem großen, sehr kräftigen Manne angesprochen. Er stammte aus Norddeutschland und schritt schon seit Tagen auf der Flugplatzkante auf und ab, einen Band Kleist unter dem Arm. Der fragte:

Na, wie war’s denn?

Und der Verfasser antwortete:

Wissen Sie, als ich fünf Jahre alt war, bekam ich von meiner Großmutter eine Serviette aus der Schweiz mitgebracht, so ein Lätzchen, wissen Sie. Das war bunt bestickt, man konnte das ganze Alpenpanorama darauf erkennen. – Zur Zeit ist mir jedenfalls, wenn Sie gestatten, als hätte mir soeben jemand mit diesem Lätzchen das Gesicht abgewischt.

– Das war der Anfang, oder besser: der Anfang vor dem Anfang. Der erste Tag kam nun:

Tagebuch: »Am ersten Tage hat es geregnet. Es goß, als ich frühmorgens zu meinem Fenster in dem kleinen Flugplatzhotel hinausschaute. Der Windsack hing am Mast, naß und schlaff wie eine verblichene Kranzschleife drei Wochen nach dem Begräbnis. Nicht gut anzuschauen.

Ich stand auf und weckte Richard, der auch hergekommen war, um das Fliegen zu lernen, und den ganzen Tag krochen wir zwischen den Flugzeugen herum, während der Regen auf das Hangardach prasselte, und wurden immer melancholischer.

Am Abend gab uns Herr Dougoud, unser Fluglehrer, ein paar Lehrbücher über Navigation, Aerodynamik und allgemeines Flugwesen, alle aus der Feder alter, erfahrener Piloten, und wir gingen, jeder mit dem Rotweinrest vom Abendbrot, ins Bett.

Am nächsten Tage hatte der Regen aufgehört, aber es wehte aus Nordwest mit siebzig Kilometern in der Stunde, da wurde wieder nichts aus der Fliegerei. Wir nahmen unsere Bücher, legten uns an den Flugplatzrand und lasen. Ich hatte einen dicken Wälzer, der von einem gewissen Beckermann verfaßt war. Das erste Kapitel handelte von der allgemeinen Begeisterung der heutigen Jugend für das Luftwesen, das zweite von Charakterfragen, das dritte von der Technik des Startens. Das alles war unterhaltend und plausibel beschrieben, der Autor wendete sich an die heranreifende Jugend vor allem der schweizerischen Nation, aber auch ein Auswärtiger in fortgeschrittenen Jahren konnte durchaus seinen Nutzen davon haben. So las ich in den Tag hinein, bis ich zum zwölften Kapitel kam. Das begann mit den Worten:

Eines Tages, mein Lieber, allerdings ...

Ich setzte mich hoch im Gras und spitzte die Ohren. Bald sah ich, daß das Kapitel von den Zwischenfällen im Flugsport handelte und speziell der Frage der Notlandung gewidmet war. Aber ein paar Seiten weiter erwies sich schon, daß einem dabei eigentlich gar nichts passieren konnte, wenn man im rechten Augenblicke nur nicht vergaß, einige Kernsätze und Devisen Beckermanns zu befolgen.

Da war vor allem eins zu beachten:

Zuerst schau dich um und suche den Platz, auf dem du landen willst. Hast du ihn gefunden, so bleibe bei deinem Entschluß, auch wenn er sich im letzten Augenblick als falsch erweisen sollte.

Schön. Ich lernte den Satz auswendig, ehe ich weiterlas. Im folgenden wurde behandelt, welchen Landeplätzen man vor anderen den Vorzug zu geben habe. So war eine glatte Wiese zum Beispiel besser als eine Wiese mit Wassergräben, ein dichter Tannenwald besser als einzeln wachsende alte Eichen, ein See besser als eine Felsenwand.

Und vor allem eins: Ruhe bewahren. Du wirst sehen ...

Nun, wenn man sich an Beckermann hielt, dann sah man bald, daß die Tannenwipfel ein Flugzeug durchaus sanft und nachgiebig in Empfang nahmen, und auch eine Notlandung im Wasser war das Schlechteste nicht. Nur den Kopf oben behalten und den Arm vor die Augen legen, dann ...

... und wenn du ein tüchtiger Schwimmer bist, so sollte dein Abenteuer wohl gut ausgehen.

– Es folgte Kapitel dreizehn. –

Ich weckte Richard, der schon seit ein paar Stunden schlief, und sagte zu ihm:

Lesen Sie das mal.

Richard las das zwölfte Kapitel. Danach fing er an zu blättern, im Beckermann und auch in den anderen Lehrschriften, und schließlich sagte er mit einigem Lebensernst im Gesicht:

Hören Sie mal, ist Ihnen eigentlich auch aufgefallen, daß alle diese Lehrbücher mit einem – Nachruf auf den Verfasser beginnen?

– Das war der zweite Tag. Am Abend bezog sich der Himmel neuerdings mit trauriggrauen Wolken, und diesmal nahmen wir jeder eine volle Flasche Rotwein mit ins Bett. Der Wein, den wir vorzogen, heißt dortzulande Valpolicella, ist billig und erzeugt eine Sorte von Heiterkeit, die sich sanft und milde auch auf das Tragische in dieser Welt versteht.«

Weiter nun. Der dritte Tag. Endlich findet sich im Flugbuch des Verfassers eine erste sachliche Eintragung:

Datum:

Mittwoch, den siebten April.

Flugzeugtyp:

Piper.

Nationale Kennzeichen:

HB-OCR.

Abflugort:

Ascona.

Uhrzeit:

Zehn Uhr fünfundzwanzig.

Landung:

Ascona, um elf Uhr fünf.

Insassen:

Herr Dougoud und ich am Doppelsteuer.

Dauer des Fluges:

Vierzig Minuten.

Zahl der Landungen:

Fünf.

Besondere Bemerkungen:

Es waren Schulrunden, die ersten ...

– Das Flugbuch weist noch zwei andere Eintragungen mit dem gleichen Datum auf. Kurz nach zwei Uhr nämlich:

Weitere vierzig Minuten und sechs Landungen.

Und gegen sieben:

Tagebuch: »Neunundzwanzig Minuten, vier Landungen. Zwischendurch kam immer Richard an die Reihe. Zweimal kamen auch Feriengäste aus Ascona herüber, und Herr Dougoud veranstaltete Rundflüge über dem Lago Maggiore. – Ich beneidete die Leute um die frischen Farben ihrer Gesichter, wenn sie zurückkamen, und sagte mir: Die Ahnungslosigkeit ist ein Schatz, den der Mensch nicht leichtsinnig wegwerfen sollte.«

Weiter. Der nächste Tag:

Tagebuch: »Sechzig Minuten, dann siebenundzwanzig Minuten, dann dreiundvierzig Minuten. Insgesamt fünfzehn Starts und Landungen, und Dougoud wurde immer nervöser. Weniger Seitenruder beim Start! Weniger ziehen beim Start! Und seien Sie doch um Gottes willen nicht so verkrampft!«

– Dreißig Starts und Landungen in den ersten beiden Tagen. Dann kam der dritte Tag.

Aber erlauben Sie mir, lieber Leser, daß ich Sie einzusteigen bitte, einzusteigen in die kleine Kiste aus Stahlrohr und Plexiglas. Sie sollen die einunddreißigste Schulrunde unseres Mannes selbst miterleben. Steigen Sie also bitte – o nein, es geht auch anders: Bitte bleiben Sie sitzen, wo Sie sind. Sie sitzen ja recht bequem im Augenblick. Aber Sie müssen auch mitmachen!

Passen Sie also auf: Setzen Sie sich einmal zurück, so, ja, die Füße auf den Boden setzen, in etwa dreißig Zentimeter Abstand voneinander. Die Knie können Sie ruhig ein wenig anwinkeln, vor allem, wenn Sie besonders lange Beine haben. Besten Dank. – Nun heben Sie mal die Fußspitzen ein wenig, so, ja, als ob Sie mit den Schuhsohlen gegen zwei Pedale drücken wollten. Ja, Sie machen das sehr hübsch. – Der Motor läuft schon, müssen Sie wissen, und nun heben Sie bitte Ihre linke Hand ein wenig von der Armlehne und fassen Sie nach dem kleinen schwarzen Knopf, den Sie sich links neben Ihrem Stuhl gut erreichbar angebracht denken müssen. Er ist nur so groß wie ein Pingpongball: Das ist der Gashebel. Aber fassen Sie ihn nur mit den Fingerspitzen. Sie müssen ihn sanft und mit viel Gefühl bedienen. Schieben Sie ihn mal ein paar Zentimeter nach vorn, so, ja – der Motor heult auf, hören Sie? –, das ist Vollgas. Und nun wieder zurück – und er besänftigt sich wieder. – Besten Dank. Sie sehen, wie das funktioniert.

Nun haben Sie noch die rechte Hand frei, das ist gut, denn zwischen Ihren etwas gespreizten Knien ragt noch ein kurzer Knüppel aus dem Boden, der will auch bedient sein. Bitte greifen Sie ihn an, ja, aber auch nur wieder mit den Fingerspitzen, denn wenn schon der Gashebel Gefühl für sich forderte, so verlangt der Steuerknüppel zwischen Ihren Beinen geradezu die allerfeinste, allerzarteste Empfindsamkeit, zu der Sie überhaupt imstande sind.

Das wäre das.

Nein, nicht die Hände wieder wegnehmen, es geht gleich los!

Sie sitzen jetzt also hinten im Flugzeug. Vor Ihnen sitzt Herr Dougoud. Er hat auch einen Gashebel und einen Steuerknüppel zur Hand, aber schon während der letzten Flüge hat er Sie schalten und walten lassen und nur eingegriffen, wenn Sie sich gar zu dumm anstellten. – Über seine Schultern hinweg sehen Sie die Instrumente am Armaturenbrett, und über dem Armaturenbrett ist die Windschutzscheibe mit einem Stück Himmel, einigen Bergen jenseits des Lago Maggiore – und die schräg in die Luft ragende Motorhaube. Sie stört zur Zeit noch ein wenig, aber das wird gleich besser. – Der Motor läuft ruhig, der Tank ist fast voll, die Nase zeigt nach vorn, und Richard am Hangar hat schon mit der Startflagge gewinkt. Los also ...

... Na? Nein, wenn Sie kein Gas geben, geht’s natürlich nicht los! Schieben Sie den Knopf links nach vorn, ja, mehr, ganz bis zum Anschlag vor ... so ist’s gut ... und Sie rumpeln voran, und nun auf die Seitenrichtung aufpassen, mit den Füßen ... Sie müssen links drücken mit dem Fuß, wenn Sie zu weit nach rechts kommen, ja, so ...

... und die kleine Kiste rast über das Rollfeld ...

Holperig, was? Wird aber gleich besser. Sie drücken nämlich jetzt den Knüppel zwischen Ihren Beinen ganz sacht nach vorn, nein, weniger, ein paar Millimeter nur ...

... und die Motorhaube senkt sich, und das ganze Rollfeld kommt in Sicht ...

Ausgezeichnet! Sie merken, daß sich das Spornrad, das kleine Rad am Schwanz, schon vom Boden gehoben hat, und daß Sie immer schneller werden. Und deshalb ziehen Sie jetzt den Knüppel wieder einen Zentimeter zurück ...

... und die kleine Kiste macht einen flachen Satz und tippt noch einmal mit den Rädern leicht auf, und jetzt ... Sehen Sie, wie der Boden unter Ihnen wegsackt? Sehen Sie das? Nein, nicht hinschauen. Das müssen Sie in den Augenwinkeln wissen. Und Sie steigen noch, und deshalb müssen Sie jetzt den Knüppel wieder ein bißchen nach vorn drücken, so, ja, Sie müssen dicht über dem Boden bleiben und Fahrt aufnehmen.

... und die Bäume kommen näher, die Bäume des Golfplatzes ...

Keine Angst, die sind noch weit weg. Ruhig mehr Fahrt aufnehmen, ja, und jetzt können Sie den Knüppel wieder ein bißchen ziehen, noch ein bißchen ...

... und die Bäume und der ganze Golfplatz versinken in der Tiefe, und der Lago Maggiore leuchtet herauf ...

Sie haben schon sechzig Meter Höhe, siebzig, Sie steigen weiter.

... das Dorf voraus am andern Ufer heißt Vairano ...

Sie sind jetzt hundertfünfzig Meter hoch und können ruhig die erste Kurve einleiten, aber da ...

Nein, Sie müssen die Richtung viel, viel besser halten! – Das war Dougoud. Er kann ganz schön schreien, was? Er will, daß Sie noch weiter geradeaus fliegen. Haben Sie ihn verstanden? Nur drücken aufs Pedal, nicht treten, wenn Sie etwas korrigieren wollen ... und nun die Kurve. Das macht man so: Legen Sie den Knüppel sanft nach rechts, so, schon hebt sich die linke Tragfläche, und nun – aber Dougoud schreit:

Nein, bevor Sie die Kurve anfangen, müssen Sie zuerst Geschwindigkeit aufnehmen!

Drücken Sie den Knüppel eine Spur nach vorn, ja, genug, und Dougoud nickt mit dem Kopf, zum ersten Male. Und nun das rechte Pedal. Sachte! Weniger Seitensteuer! Sehen Sie? Dougoud hat’s gemerkt. Ich sagte Ihnen doch: Nur drücken, nicht treten. Und lassen Sie den Knüppel rechts!

Sie schieben! Sie schieben!

Schön überlegen in der Kurve. Sie fallen nicht herunter, keine Angst.

Tagebuch: »Und Sie fliegen durch die wunderbare Bläue, durch diese doppelte Bläue in der Luft, die vom See und vom Himmel zugleich kommt und sich in sich selbst spiegelt. Spüren Sie, daß es gut und richtig ist, so etwas zu lernen, ja? Es ist gut. Es ist wunderbar. Es gibt kaum etwas in der Welt, das sich damit vergleichen ...«

Aber Dougoud schreit:

Nicht ziehen!

Sie dürfen nicht träumen jetzt. Den Knüppel ein bißchen nach vorn, und nun ist die Kurve vorbei. Lassen Sie den Druck vom Pedal und nehmen Sie den Knüppel gut in die Mitte. Aber mit den Fingerspitzen. Er geht ja ganz leicht, merken Sie nicht?

... und unten gleitet die kleine geschwungene Piazza von Ascona vorbei, der gelbe Bogen mit den Hotels auf der einen und den Booten auf der anderen Seite. Ein Dampfer legt gerade an. Die Passagiere schauen herauf ...

Und jetzt können Sie langsam das Gas wegnehmen.

Nein, was müssen Sie tun, ehe Sie das Gas wegnehmen?

Nun, tun Sie es schon, tun Sie es schon. Dougoud will Taten sehen!

... und der Monte Verita mit all den Hotels und Villen gleitet unten vorbei, und rechts kommt der Flugplatz wieder ...

Und Dougoud schreit:

Nein! Bevor Sie das Gas wegnehmen, müssen Sie zuerst die Vergaservorwärmung ziehen! Die Vergaservorwärmung!

Rechts unten, der Knopf!

Und Dougoud nickt:

So, jawohl ... jetzt Gas weg ... jawohl ... und andrücken ...

Und jetzt geht’s hinab. Hören Sie, wie die Luft in den Tragflächen saust?

So, aber die Gleitfluggeschwindigkeit besser einhalten, den Gleitwinkel!

Das war zuviel, nicht so sehr drücken, den Knüppel!

... und jetzt kommt da unten die Maggiabrücke ...

Seufzen Sie ruhig ein bißchen, hier stöhnen alle, denn links ist der Berg, und der Berg ist hoch und hart ... aber die Kurve ist gut ... und noch ein Seufzer, und jetzt kommt die Landung.

Nein, Sie hängen mit dem linken Flügel, Sie hängen links, Sie hängen links ... so, und jetzt etwas slippen ...

Das hat Dougoud auch schon mit Ihnen gemacht! Slippen Sie doch! Links reintreten, feste, und den Knüppel nach rechts, mehr ... mit den Flügeln tun Sie so, als wollten Sie eine Rechtskurve machen, und den Rumpf steuern Sie nach links, Sie hängen in der Luft wie eine Krähe. Und jetzt kommt die Landung. Passen Sie auf, das ist gar nicht so schwer: Gehen Sie heraus aus dem Slip, so, Füße und Knüppel zu gleicher Zeit in die Mitte, und nun schweben Sie in die Flugplatz-Achse ein.

Flügel links hängt wieder!

Dougoud paßt auf wie ein Schießhund. Halten Sie schön auf die Flugplatzmitte zu ...

... und das Grasfeld kommt herauf ... zuerst nur grün ... dann einzelne Halme ...

Nein, nicht hinschauen, das müssen Sie wieder mit den Augenwinkeln spüren, und jetzt ziehen Sie mal am Knüppel, ein wenig, so, und jetzt möchten Sie wissen, wie hoch Sie noch sind, was? Aber das brauchen Sie jetzt gar nicht zu wissen. Schalten Sie Ihr Gehirn ruhig ab. Lassen Sie mal Ihre Hand ganz allein machen. Ziehen ... so, ja, noch ein bißchen ...

... hunderttausend flitzende Grashalme in allen Fenstern ...

Und jetzt noch mehr ziehen, ganz an den Anschlag den Knüppel, so, ja ... Und jetzt sind Sie da. Haben Sie es gemerkt? Nun lassen Sie die Kiste ruhig ausrollen und dann an die Kante und zurück zum Start und noch einmal. Eine Zigarette? Nein. Los – der Motor braust –, und schon sind Sie wieder in der Luft. Und Dougoud schreit:

Aber Sie müssen die Richtung viel, viel besser halten!

... der See und jetzt das kleine Nest am andern Ufer ...

Und jetzt die Kurve!

Nicht so viel ziehen, schreit Dougoud.

... und jetzt der See wieder und die Piazza von Ascona ... Und ...

Nein, bevor Sie das Gas wegnehmen, müssen Sie zuerst den Vergaservorwärmer ziehen!

... und der Monte Verita ... die Maggiabrücke ... der Berg ...

Die Kurve ...

Sie hängen links! Sie hängen links!

Und jetzt wieder landen. Fünf Meter, jetzt sacht abrunden, und nun den Knüppel mehr noch ziehen, mehr noch und jetzt – ach nein, das war zu früh. Plumps, sind Sie unten, und noch einen Plumps. Und Dougoud sträuben sich die Haare. – Und gleich zurück zum Start und noch einmal ...

Tagebuch: »Hundertachtundzwanzigmal, hundertachtundzwanzigmal in vierzehn Tagen, eine Handvoll Regen- und Sturmtage nicht mitgezählt. – Die Zeit verging, und kein Mensch in Ascona ahnte, was am Himmel da vor sich ging, mit dem Himmel und mit uns. Die Leute schauten herauf und sagten: Dieser elende Krach ... Aber keiner gewahrte das Netz von Kondensstreifen aus Mühe- und Angstschweiß, das wir feinmaschig in den Himmel strickten, Richard und ich. – Hundertachtundzwanzigmal in vierzehn schweren Tagen. Die Zeit verging ...«

... und die beiden Damen aus Krefeld hatten sich längst in Portofino eingenistet und saßen früh, mittags und abends auf der Piazza und tranken Kaffee. Und Lucie sagte:

Schau mal, Betty, der Mann da! Diese Haare auf der Brust! Und Betty sagte:

Aber das ist doch ein Seemann, Lucie, die haben das so. Schrecklich. So hätte mir mein Kurt mal herumlaufen sollen! Der Mann kann sein Hemd doch schließlich auch zuknöpfen ...

Laß ihn doch, ist doch ein Seemann!

Na, ich weiß nicht ...

Und sie tranken ihren Espresso aus und standen auf und gingen ins Hotel, um sich für das Abendessen fertigzumachen ...

Tagebuch: » ... und Herr Dougoud machte auch Schluß.

Richard und ich schoben die beiden Maschinen in den Hangar, gingen ins Hotel und tranken einen Campari.

Und Richard sagte:

Mensch, ich werde immer schlechter.

Ich auch. Ich komme überhaupt nicht mehr herunter von meinem toten Punkt.

Wieso denn? Die letzten zwei Landungen waren doch ganz gut!

Fragen Sie mal Dougoud. Er hat mich heute zum ersten Male Idiot genannt.

Mich auch. – Mariposa, geben Sie uns doch bitte noch einen Campari!«

So wurde es Abend. – Sie, lieber Leser, sind für das Flugwesen wie geschaffen. Das haben wir bei unserem kleinen Experiment vorhin gemerkt. Mit dem Verfasser unseres Tagebuches stand es jedoch anders, und Herr Dougoud hatte am Nachmittag in der Tat etwas gesagt, was sich wie Idiot angehört hatte, und wenn es ganz deutlich nicht zu verstehen gewesen war, so lag das einzig und allein an seiner schweizerischen Mundart, die liebenswürdigerweise die schroffsten Härten des Lebens verdeckt. Alles in allem mußten die fliegerischen Darbietungen unseres Verfassers tatsächlich recht unvollkommen gewesen sein, denn für gewöhnlich biß Herr Dougoud als ein Mann von Lebensart die zweite und pointenreiche Hälfte seiner Aussprüche kurzerhand ab. Immerhin war unser Autor im Unrecht, wenn er vermutete, auf einem riesenhaften toten Punkt gewissermaßen gestrandet zu sein, und so oder so ähnlich hatte er sich bei Mariposa an der Theke Richard gegenüber ja ausgesprochen. So war es in Wahrheit nicht. Seine fliegerische Laufbahn glich vielmehr einer einzigen, ununterbrochenen Perlenkette, von schwarzen Perlen allerdings, einer Kette von toten Punkten, zwischen denen jeweils ein Stückchen weißer Schnur, ein Stück einer gewissen Karriere des Fortschritts, durchaus zu erkennen war. So gelangen ihm mitunter manchmal recht ordentliche Landungen zum Beispiel, die Herrn Dougoud eine einsilbige Anerkennung abnötigten, aber der Verfasser, ein Mann von Gedächtnis vor allem für seine Untaten, erwiderte jedesmal:

Wenn mir schon mal was gelingt, so gelingt es mir nur aus Versehen.

Alles in allem – es ging aufwärts. Nur merkte man’s kaum. Höchstens Herr Dougoud, aber der ...

Tagebuch: »Am nächsten Morgen, am Morgen des fünfzehnten Tages, regnete es wieder, doch gegen Mittag konnten wir starten. Als wir den See und die Höhe erreicht hatten, den Augenblick also, wo ich einhundertachtundzwanzigmal meine große Rechtskurve eingeleitet hatte, nickte Herr Dougoud plötzlich nach links hinüber. Ich stockte, da drückte er mit dem Knie gegen den Knüppel und half nach. Linkskurve also. Ich hielt den Atem an. Wir flogen den See hinauf, über das Delta des Ticino hinweg und landeten mitten in der großen, pfannkuchenflachen Ebene von Magadino auf dem Flugplatz von Locarno. Schulrunden. Eine, zwei, drei – alles genau so wie in Ascona drüben, nur daß am Ende des Flugplatzes eine Hammelherde graste und der weichere, dichtere Rasen einen beim Landen sanfter in Empfang nahm als das dürre Grünzeug auf dem Campo daheim. Schließlich aber geschah etwas, was selbst die Schafe erstarren ließ: Dougoud ließ mich zum Start rollen, anhalten, öffnete ohne ein Wort der Erklärung die Klappe und stieg aus. Draußen vertrat er sich die Beine, roch in die Luft, schaute mich mit sorgenvoll-heftig-entschlossener Miene an, in der man lesen konnte: Schief geht’s doch, oder: ich kann dir nun auch nicht mehr helfen – und sagte:

So, nun machen Sie das mal alleine ...

Die Antwort blieb mir im Halse stecken. Jetzt also. Ich machte die Klappe zu und wartete, bis Dougoud abwinkte. Er faßte noch einmal das Flügelende an und schüttelte die ganze Maschine, dann schlug er mit der Flagge in die Windrichtung. Vollgas.

Die Maschine schoß voran. Ein wenig drücken, so, eine Spur ziehen, so – sie hob sich sanft und leichter vom Boden als je zuvor. Aber als ich gerade in die blaue Nachdem-Regen-Luft einziehen wollte, die blind und wie ein sanftes Gewöll aus Taubenfedern das ganze ungeheure Tal des Lago Maggiore füllte, geschah etwas, was mich beinahe um den Verstand brachte: Die Türklappe ging auf, ich hatte sie beim Start nicht fest genug verschlossen. Was jetzt! Ich zog noch ein Stück hoch. Die Klappe flatterte wild im Winde. Mein Gott, wenn sie abriß! Passieren konnte sicherlich nicht viel, aber das war es auch nicht. Es konnte immerhin geschehen, daß Dougoud dastand und die Klappe in der Hand hatte, wenn ich in fünf Minuten landete! Zweihundert Fuß zeigte der Höhenmesser. Ich nahm das Gas zurück, faßte mit der Linken den Knüppel an und griff mit der Rechten nach der wild flatternden Klappe. Sie schlug mir zwei-, dreimal auf die Finger, endlich bekam ich sie zu fassen, und jetzt den Griff ...«

Dougoud hatte nichts gemerkt, er sah das Flugzeug von der anderen Seite, im übrigen hatte er zur Zeit auch etwas anderes zu tun: Er gab – wenn Sie gestatten – inzwischen den Schafen auf dem Flugfeld eine Vorstellung, ein Privatissimum über den Homo sapiens im Zustande völliger Ratlosigkeit. Er steckte sich hintereinander drei Zigaretten in den Mund, vergaß aber, sie anzuzünden, zerkaute sie vielmehr und spuckte den Tabak auf den Rasen. Dann schmiß er die Flagge weg und trat von einem Bein auf das andere, während er verzweifelt die Luft durchspähte nach dem Flugzeug, das er da eben aus dem Nest hatte stoßen müssen. Nicht, daß es nicht mehr zu sehen gewesen wäre, keineswegs, da drüben, sehen Sie es nicht? Aber schließlich war doch überhaupt nicht zu beschreiben, was dieser Mensch, dieser Kerl da oben – und in diesem Augenblick verbot schließlich nichts und niemand mehr, nicht einmal der Takt, diesen Kerl da oben ausführlich zu titulieren, es war doch schließlich – mit einem Wort – überhaupt nicht auszudenken, was dieser Schwachkopf da oben noch alles anstellen konnte, ehe er wieder unten war. Sehen Sie? Ich sag’s doch, jetzt ... jetzt ... nein, er korrigiert bloß. Aber er hat wieder links gehangen, obwohl man es ihm tausendmal gesagt ... jetzt hängt er wieder links! Sie hängen links! Sie hängen links! Sie hängen links!

Tagebuch: »Ich brauste durch die Luft, aber Dougouds Stimme begleitete mich. Sie hängen links! sagte es in mir. Ich drückte den Knüppel eine Idee nach rechts. So. – Steigen! Immer noch steigen! sagte es, ich zog ein bißchen. Es ging, alles ging, es ging sogar wunderbar, und ich stimmte das Lied an, das mir ein alter Flieger beigebracht hatte, ein lautes und ziemlich unanständiges Lied, das von Marie handelte und davon, daß sie mein Geld nie bekommen würde, und der alte Flieger hatte mir ja gesagt, daß ich es unbedingt während meines ersten Alleinfluges singen müßte, aber der Motor war doch zu laut, er schnitt mir Marie vom Munde ab.

Aber Sie müssen mit den Füßen besser die Richtung halten!

Jawohl, Herr Dougoud, so, recht so? Schön. Und nun, Herr Dougoud, seien Sie einmal still. Sie fliegen nämlich gar nicht mit. Ich fliege nämlich allein hier in der blauen Luft, falls Sie es noch nicht gemerkt haben. Ich weiß, daß ich wie eine Krähe fliege, na, vielleicht ein bißchen besser als eine Krähe, der Unterschied ist nicht der Rede wert. Aber Sie können sich darauf verlassen, daß ich aufpasse. Ich weiß schon, daß mir jetzt kein Mensch mehr hilft, auch der liebe Gott hat sicherlich etwas anderes zu tun als auf Flugschüler aufzupassen, aber ich will jetzt meine Ruhe haben. Sie hängen mir nämlich, wenn Sie’s erlauben, Herr Dougoud, zur Zeit wirklich ein bißchen zum Halse heraus mit Ihrem: Sie hängen links! Sie hängen links! Ich sehe das doch sei ..., aber ich hänge tatsächlich schon wieder ein bißchen links. Immerhin, Sie sehen, ich merke so etwas bei kleinem auch schon allein, und jetzt, überhaupt in diesem Augenblick, möchte ich gerne etwas Ruhe haben, um ihn zu spüren, den Augenblick. Ich habe nämlich fünfundzwanzig Jahre auf ihn gewartet, und außerdem weiß ich, daß es ihn, ja, daß es überhaupt einen Augenblick, der sich mit diesem messen könnte, in meinem ganzen Leben nicht wieder geben wird, und er ist auch gleich vorbei, der Augenblick, in vier Minuten spätestens. Ich muß gleich auf Gegenkurs gehen. Aber einen Moment lang will ich mir das noch einmal klarmachen: Ich bin in der Luft. Allein. Allein in der kleinen Kiste aus Plexiglas und Bespannungsstoff. Der Sitz, auf dem Sie, Herr Dougoud, bisher gesessen haben, ist leer. Jetzt kann ich endlich die Instrumente sehen, ohne schielen zu müssen. Und ich habe alle Fenster voll Himmel, und unter mir und über mir ist auch noch Himmel, und ich bin allein in der Luft. Mein Gott – ich glaube, das ist jetzt, das ist jetzt ganz genau – die Mitte meines Lebens. Dieser Moment. Und jetzt will ich auf Gegenkurs gehen.

Und ich ging auf Gegenkurs, und als ich den Flugplatz querab hatte und das Gas wegnehmen wollte, um in Gleitflug überzugehen, da schrie es in mir ...

Nein, bevor Sie das Gas wegnehmen, müssen Sie erst die Vergaservorwärmung ziehen! Die Vergaservorwärmung ziehen ...

Beinahe vergessen.

So, jawohl ...

Ganz gut, daß er immer noch dazwischenredet.

Jetzt Gas weg, jawohl ...

Ich glaube, die Stimme vergesse ich nie. Er wird mein Leben lang mitfliegen.

Andrücken ...«

Und Herr Dougoud stand da und biß sich auf die Finger. Wird er slippen? Ja, tatsächlich, er slippte. Genug! Und er hörte tatsächlich mit Slippen auf und schwebte ein. Noch hundert Meter bis zum Landekreuz, noch fünfzig, jetzt rundet er ab, ganz gut, ja, mit der Geschwindigkeit ist er auch herunter, ja, noch ein bißchen ziehen, auch das macht er, nun kann eigentlich nur noch die Kiste in Bruch gehen, der Kerl kommt mit dem Leben davon, wenn er ein bißchen Glück hat. Durchziehen! Ja – und sanft, sanft, wie er das überhaupt bisher noch nicht fertiggebracht hat, sanft setzte er auf und rollte aus. Gleich nochmal.

Tagebuch: »Und gleich noch zwei-, drei-, viermal hintereinander. Nicht alle Landungen waren so gut wie die erste, aber sie mochten angehen. Und es war schön in der Luft, wunderbar, und ein großes Glück zog ein in mein Herz, aber so seltsam, so beklemmend »zum ersten Male«, so bewußt, so ganz und gar unvergeßlich ist es nie mehr gewesen, schon beim zweiten Male nicht mehr. – Am Nachmittag dann machte Richard seinen ersten Alleinflug, und am Abend gab’s ein Fest.«

Ein Fest auf der Terrasse des Flugplatzhotels, unter dem Nachthimmel des Tessin und unter langen Ketten gelber Lampen, die kreuz und quer zwischen den Bäumen hingen.

Zuerst gab’s Poulet. Poulet heißt Huhn wohl, die Poulets vom Flugplatz von Ascona jedoch sind das Allerunglaublichste an Zartheit und schneeweißer Konsistenz des Fleisches, was jemals Federn getragen hat. Lello, der Padrone und Eigentümer des Flugplatzes, der Maschinen und des Hotels, schob sie auf den Spieß und briet sie eigenhändig am offenen Feuer auf der Terrasse. Was er sonst noch mit den toten Vögeln anstellte, war sein Geheimnis. Er behauptete, er übergösse sie mit altem Öl aus den Motoren seiner Flugzeuge, und die grünliche Kräutersauce, die er verwendete, sah in der Tat ähnlich aus. Aber der Duft, nun, reden wir nicht davon. Zum Schluß wurde jedenfalls ein Schuß Cognac darübergeschüttet, und eine wilde Flamme stach in die Finsternis. Fertig. Weiter: Die Gäste:

Tagebuch: »Herr Dougoud war nicht gekommen. Er hatte schließlich die meiste Angst ausgestanden an diesem Tage und war erschöpft. Aber Lello setzte sich zu uns ans Feuer. Er saß da, blies durch ein langes Rohr in die Flammen und sah aus wie ein Faun, wenn er blies, wie der Westwind persönlich. Seine Augen funkelten über die Terrasse hin, vor allem, wenn neue Gäste kamen und unter diesen wieder sich Damen befanden.

Weiter: Der zweite Gast war der Millionär Akim Tamiroff, ein Mann in den Fünfzig, dessen Vater Kofbeamter oder Leibtrompeter bei irgendeinem morgenländischen Potentaten gewesen war. Ich weiß nicht mehr, ob es sich um Harun al Raschid oder den letzten Sultan von der Hohen Pforte gehandelt hatte. Akim Tamiroff hatte jedenfalls das väterliche Vermögen geerbt, in jungen Jahren, und war darangegangen, sich eine Existenz zu gründen. Dieser Plan war jedoch deutlich fehlgeschlagen, denn: Was immer er anfaßte, wurde ein Erfolg, und zwar so schnell und so gründlich, daß ihn das Ganze bald fürchterlich langweilte. Da zog er sich auf die Terrassen südländischer Hotels zurück, trank eisgekühltes Bier aus langen, schlanken Stangengläsern und ging mit seinem Leben um wie andere Leute mit ihren Kalendern, das heißt: Er riß einen Tag nach dem anderen ab, knüllte ihn zusammen und warf das Papierkügelchen in den Aschenbecher. Kurz: ein auf anmutigste Weise gescheiterter Mann.

Sein Auto übrigens, ein Oldsmobil aus den zwanziger Jahren, lehnte gegen einen Baum im Garten, und Bonzo, sein Hund, ein weißer, kurzbeiniger Bullenbeißer mit rosa Schnauze, ein wahres Scheusal und Mistvieh der Natur, zerrte neben Akim Tamiroffs Stuhl an der Leine, kläffte und fuhr den Damen unter die Röcke. Er hatte seinem Herrn gerade neuerdings einige Unannehmlichkeiten bereitet, indem er einer ortsansässigen Künstlerin, die sich zu ihm gebeugt hatte, um ihn zu streicheln, kurzweg ins Gesicht biß.

– So hob es an. Man aß Poulets, Bonzo knurrte, der Lautsprecher sang im Laub der Bäume, und Akim Tamiroff fragte:

Lello! Lello! Tell me: Can you say, what you feel, when you make love? He?

Der Padrone bullerte sein Faunslachen in die dunkelblaue Nacht, die dicke Valpollicella-Flasche gluckerte beim Einschenken, und Bonzo knurrte verdrossen.

– Hinterher sind wir noch ins Café Verbano gegangen. Richard war ein neuer Mensch seit heute nachmittag. Seine roten Haare flammten, er sah aus wie ein Wikinger, und Rosmarie zitterte, wenn Sie ihm einschenkte. Und ich war auch ein neuer Mensch, aber wenn ich Rosmarie anschaute, dann zitterte ich, denn ich bin kein Wikinger.

Und ich sagte:

Richard, wie ist dir zumute gewesen heute nachmittag?

Und Richard sagte:

Mensch, ich kann dir sagen ...«

– Als sie zum Flugplatz zurückkamen, saßen Akim Tamiroff und der Padrone noch immer auf der Terrasse. Lello lachte dröhnend, und Tamiroff hatte es aufgegeben:

Lello, listen: Nobody can tell you, what he feels, when he makes love. Nobody. Surely, nobody!

– Das war das Fest. –

*

Tagebuch: Beckermann schließt das achte Kapitel seines grundlegenden Werks über die Flugkunst – es handelt vom ersten Alleinflug des angehenden Piloten – mit den Worten:

So, und nun fängt das Fliegenlernen an. Die Arbeit geht los!

– Ich muß gestehen, Richard und ich waren in diesen Tagen der Meinung, wir könnten es, und die Arbeit sei vorüber. Außerdem trieben wir zur Zeit keine Theorie, sondern Praxis: Wir flogen. Einige Tage später sollte mir Beckermann freilich wieder in den Sinn kommen, in einem gewissen und keinesfalls von mir vorhergesehenen Zusammenhange, aber jetzt ...«

Sie flogen. Wie gesagt. Sie flogen früh, mittags und abends. Seitdem Dougoud nicht mehr mitbrauchte, waren sie meist zu gleicher Zeit in der Luft, Richard mit der OCP, unser Mann mit der OCR, aber das war kein großer Unterschied. Die beiden kleinen Maschinen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Sie übten Ziellandungen aus dem Gleitflug und Ziellandungen mit Motor und Steilspiralen in der Luft, und das war eine besonders komische Sache, aufregend über die Maßen. Stellen Sie sich vor: Man geht ohne Gas in die Kurve und legt die Maschine dabei um mehr als fünfundvierzig Grad auf die Seite, so weit, daß Höhen- und Seitensteuer die Funktionen tauschen, und gleich darauf sitzt man in dem verrücktesten aller Karussells, und die Zentrifugalkraft zieht einem die Backen herunter, daß man sich fühlt, wie eine Bulldogge ausschaut.

Und sie machten ihre ersten für die Prüfung vorgeschriebenen Außenlandungen in Lugano, wo Richard nicht merkte, daß er Rückenwind beim Landen hatte, und auf einer Wiese neben der Maggiamündung und in Bellinzona, wo der Verfasser in einige Schwierigkeiten mit einer Hochspannungsleitung geriet. Ihre Flugbücher füllten sich mit Eintragungen und besonderen Bemerkungen aller Art, die, soweit sie sich einigermaßen wörtlich an das hielten, was Herr Dougoud tatsächlich abschließend äußerte, keine Denksprüche des fliegerischen Ruhmes waren. Kurz – sie flogen ...

Tagebuch: » ... und wir hatten unser erstes Publikum. Das hob unser Selbstgefühl.

Da war erstens die englische Nurse, die kleine Blonde mit dem Katzenköpfchen. Sie kam morgens immer und zeigte uns den beiden sechsjährigen Mädchen, die ihr anvertraut waren, wie man uns in unserer Kindheit auf Seiltänzerinnen aufmerksam gemacht hat oder auf die Dame ohne Unterleib: Guckt mal, so etwas heiratet ihr mal nicht!

Und dann war da der Golftrainer. Wir wagten jetzt nach dem Start manchmal auf den Golfplatz hinunterzuschauen. Da stand er, und jedesmal, wenn wir drüberwegbrausten, schaute er herauf in seinem braunen Trainingsanzug.

Und die Gräfin, die im Jahr zuvor das Fliegen gelernt hatte. Sie hat uns oft geholfen, indem sie uns anblinzelte, wenn sich Dougoud mit dem Finger an die Stirn tippte und angeekelt von uns wandte ...«

Und einen ganzen Tag lang stand ein altes Ehepaar im hohen Gras am Flugplatzrande, und jedesmal, wenn sie nach der Landung zum Start zurückrollten, zog der alte Herr tief vor ihnen den Hut.

Tagebuch: »Und Flora. Flora, das war ein seltsamer Besuch. Eine Najade des Benzinzeitalters mit engen schwarzen Hosen, blondem Pagenkopf und spöttischen Augen. Unbeschreiblich lieblich, und unerreichbar jung.«

Aber die größte Stunde schlug ihnen, als die Bewunderung ihrer notdürftigen Schaustellungen eines Tages in Verwechslung umschlug und eine Dame – zugegebenermaßen eine angejahrte und ziemlich künstlich-forsche Dame – auf sie zutrat und fragte, ob man sich bei ihnen am Nachmittag für einen Rundflug vornotieren lassen könnte. Was für ein Augenblick!

Tagebuch: »Aber Richard hat sie an Dougoud verwiesen und ihr gesagt, wir hätten heute keinen Dienst und flögen nur zum eigenen Vergnügen.

Alles in allem: Es ging voran, es ging deutlich voran. Wir waren ...«

Eines Tages, mein Lieber, allerdings ...

Tagebuch: »Gewiß. Ich wollte nur eben noch sagen: Wir waren jetzt ...«

Eines Tages, mein Lieber, allerdings ...

Tagebuch: »Das ist Beckermanns Leitfaden für angehende Aviatiker, Kapitel zwölf, der erste Satz. Eines Tages allerdings ... – so begann das zwölfte Kapitel. Da Beckermann auf Vollständigkeit besteht, möchte ich die Sache nicht verschweigen. Eines Tages also ...«

Kurz: Sie waren in Lugano gewesen und hatten Ziellandungen geübt, bis eine vom See heranwallende Gewitterfront sie verjagte. Dougoud sprang zu Richard in die Maschine und brauste los, und der Verfasser startete hinter ihnen her. In der großen Kurve bekam sie die Bö noch zu fassen und schüttelte sie durch, aber ein paar Minuten später zogen sie schon über den Monte Ceneri in die gelbgiftige Vor-Gewittersonne über dem Tessintal ein.

Tagebuch: »Ich war ganz dicht hinter ihnen, auf tausend Metern etwa, und wie wir Locarno fast erreicht hatten, sagte ich mir: Wart’ mal ein bißchen. Laß sie mal erst landen, dann hast du freie Bahn. Ich wollte das Gas wegnehmen und eine Kurve machen ...

Nein, ehe Sie das Gas wegnehmen, müssen Sie zuerst den Vergaservorwärmer ziehen!

Dougouds mahnende Stimme wohnte verläßlich in meiner Brust. Ich zog den Vergaservorwärmungsknopf rechts unten und nahm das Gas weg – vielleicht ein bißchen zu schnell hinterher, das mag sein, aber jedenfalls: Ich nahm das Gas weg, der Propeller drehte sich noch ein paarmal – dann blieb er stehen. Schwarz und quer. Der Motor stand.

– Wissen Sie, meine Damen und Herren, ich müßte lügen, wenn ich Ihnen erzählen wollte, was sich in der nächsten Sekunde ereignet hat. Wenn ich zurückdenke, sehe ich nur hundert grüne Blitze vor meinen Augen, hundert grüne Blitze, und ich weiß noch, wie meine Stimme sagte: Lieber Gott ... Aber sicherlich habe ich viel mehr gesagt und sicherlich ist auch viel mehr passiert in diesem Moment, ich weiß es nur nicht mehr. Dann kam der nächste Moment.

Damals lief gerade ein Fortsetzungsbericht von Hemingway in einer schweizerischen Zeitschrift, eine Erzählung, wie es zu seiner berühmten Bruchlandung im Urwald gekommen ist. Übrigens war ein Telefondraht daran schuld. In diesem Bericht hieß es, daß der Mensch in einem solchen Augenblick nur an technische Dinge denke. Ich hatte das gerade einige Tage zuvor gelesen und für Angeberei gehalten, aber es ist tatsächlich wahr. Ich habe in diesem Moment nur an technische Dinge gedacht. Oder vielmehr, gedacht habe ich gar nichts, aber es hat in mir plötzlich zu reden angefangen. Da sagte es einerseits:

Jetzt mußt du unbedingt runter.

Aber andererseits sagte es:

Runter kommst du sowieso, es ist ja noch nie einer oben geblieben!

Das stimmte. Aber nun sagte es wieder:

Du mußt jetzt runter, und zwar so gut, wie es irgend geht.

Und zwar mußt du dich jetzt zusammennehmen, denn jetzt hilft dir niemand und nichts, und was immer du tust, es ist unwiderruflich, unwiderruflich.

Auch das stimmte.

Versuch mal, den Motor wieder in Gang zu bringen.

Ja, wie denn?

Stell die Kiste auf den Kopf und mach einen Sturzflug. Das ist eine Idee, vielleicht dreht der Fahrtwind den Propeller wieder an ...

Ich schob den Knüppel ganz nach vorn und stürzte hinab. Aber paß auf! Verschenk nicht zu viel Höhe!

Ich starrte auf den Höhenmesser: Dreitausend Fuß – zweitausendneunhundert – zweitausendsiebenhundert – sechshundert – der Propeller drehte sich tatsächlich, einmal, zweimal, dreimal, aber viel zu langsam, der Motor sprang nicht an.

Es hilft nichts ...

Ich fing die Maschine ab, bei reichlich zweitausend Fuß. Ich stand genau über der Dampferanlegestelle von Locarno.

Kein Mensch hilft dir jetzt ...

Ach, hör doch auf!

Zuerst schau dich um und suche den Platz, auf dem du landen willst ...

Beckermann, Kapitel zwölf.

... und hast du ihn gefunden, so bleibe bei deinem Entschluß, auch wenn er sich im letzten Augenblick als falsch erweisen sollte ...

Und nun der Entschluß bitte!

Versuch, den Flugplatz zu erreichen ...

Da reicht die Höhe nicht mehr.

Versuch’s mal. Schneide ab, was du kannst und verschenk nichts, dann kann es gerade noch hingehen ...

Du kennst ja den Gleitwinkel nicht, wenn der Propeller steht, der bremst doch! Versuch’s nur mal ...

– Ich zog eine vorsichtige Kurve und flog so flach, daß ich möglichst nichts verschenkte. Ich flog auf den Monte Verita zu. Und da sah ich sie wieder, Richard und Dougoud, voraus, über mir, sie kurvten gerade am See-Ende des Flugplatzes ein.

Mensch, du kommst genau mit ihnen zusammen an!

Versuch’s doch wenigstens mal. Du hast dir doch vorgenommen, auf dem Flugplatz zu landen ...

... auch wenn sich dein Entschluß im letzten Augenblick als falsch erweisen sollte ...

Und wenn er sich nun im letzten Augenblick wirklich als falsch erweist?

Aber ich war plötzlich ganz ruhig, und ich weiß noch, daß ich mich wunderte, daß ich so ruhig war. Ich dachte einfach an nichts als an die Sekunde, die gerade jetzt da war, jetzt, nicht einmal an die nächste, und da war es plötzlich still und gelassen wie im Kino, und vor mir rollte ein Film ab, und ich saß da, ziemlich bequem, und schaute mir den Film an, und ich kurvte ein hinter Richard und Dougoud und flog hinter ihnen her, aber ich merkte, daß ich schneller an Höhe verlor als sie.

Das heißt, du mußt früher einbiegen, und dann stößt du genau bei der Landung mit ihnen zusammen ...

Wenn sie’s nicht noch sehen.

Die können nicht sehen, was hinter ihnen oder unter ihnen kommt.

Still jetzt. Ich flog. Jetzt merkte ich erst, daß es totenstill in der Maschine war, seit der Motor ausgesetzt hatte. – Woran kann es eigentlich gelegen haben? Vielleicht habe ich nicht lange genug gewartet mit der Vergaservorwärmung und der Vergaser war vereist ... Das war es sicherlich ...

Da!

Tatsächlich ...

Mein Gott, sie haben es gesehen ...

– Richard machte plötzlich eine steile Rechtskurve, tauchte und ging in voller Fahrt auf Gegenkurs, unter mir vorbei. Gott sei Dank ... Aber jetzt paß auf und verpatz nicht noch alles am Schluß!

Neunhundert Fuß nur ...

Ich kurvte schon vor der Maggiabrücke und drehte langsam auf die Flugplatzachse ein.

War doch ein bißchen früh!

Macht nichts. Das kannst du am Schluß noch wegslippen.

Nur nichts verschenken, ehe du nicht ganz genau ...

Und da kam der zweite Moment, von dem ich nichts mehr weiß, ich müßte denn lügen. – Richard und Dougoud hatten nicht gesehen, daß mein Propeller stand, sie hatten nur gemerkt, daß der Wind umgeschlagen war, nicht viel Wind, der Windsack bewegte sich kaum, aber sie wollten gegen den Wind landen, wie es Vorschrift ist, und in dem Augenblick, von dem ich wiederum nichts mehr weiß, sah ich sie kommen, sie setzten zur Landung an, sie kamen auf mich zu.«

– Nun, zwei Flugzeuge auf Gegenkurs nähern sich einander ziemlich schnell. Dougoud und Richard setzten zuerst auf. Und der andere hielt mit zusammengebissenen Zähnen Kurs, höchstens daß er ein wenig nach rechts bog, aber rechts standen noch zwei andere Maschinen am Flugplatzrand, da war auch nicht viel Platz. Und als Richard ihn endlich sah und Dougoud sah, daß sein Propeller stand, da konnten sie gerade noch zwei drei Meter ausbiegen ...

Tagebuch: »Und ich riß den Knüppel nach rechts, und die rechte Tragfläche zeigte steil auf die Erde, und dann nach links, und sie richtete sich wieder auf ...«

... und die Maschine rollte aus, denn im selben Augenblick hatte er mit den Rädern den Boden berührt. – Das war’s.

– An diesem Abend – das Gewitter von Lugano her löste sich übrigens über dem Tessintal auf –, an diesem Abend saßen sie auf der Terrasse, und der Herr aus Norddeutschland mit dem Kleist unter dem Arm gesellte sich zu ihnen. Viele Sterne hingen im Gezweig der Bäume, aber sie sahen aus wie Pusteblumen, vergrößert und verwischt von der warm-diesigen Luft. – Der Herr aus Norddeutschland sagte:

Sie sind heut abend einmal mit dem Winde gelandet, das war nicht vorschriftsmäßig, nicht?

Und Richard antwortete ihm:

Wenn Sie nicht mehr gemerkt haben, dann haben Sie was Rechtes gemerkt!

– Ja, ich habe mich in den letzten Tagen ein wenig mit der Fliegerei befaßt. Theoretisch, versteht sich. Aber es interessiert mich doch zu wissen, was Sie da eigentlich treiben. – Die Geschichte vom alten Dädalos ist immer wieder großartig, weiß der Teufel. Da erfindet sich so ein Mann des Altertums eine Flugmaschine und schenkt seinem Jungen auch eine, und der, im tragischen Überschwang der Jugend, fliegt der Sonne zu nahe und verbrennt. Eine Menschheitsgeschichte, eine große Geschichte! »Und das Mittelmaß tröstet sich damit, daß das Genie auch nicht unsterblich ist.« Die Wahlverwandtschaften, Ottiliens Tagebuch, Sie erinnern sich wohl ...

– Dagegen dieser Schmied, dieser Wieland aus unserer Gegend da oben – mir fiel die Sache wieder ein, als ich Sie heute abend da mit dem Winde dahersegeln sah –, dieser Wieland hatte zuerst anscheinend nicht den rechten Mumm im Leibe, seine Erfindung selbst auszuprobieren, und so lieh er sein Flugzeug zunächst einem Verwandten. Aber da er Angst hatte, der möchte vielleicht Geschmack daran finden und es ihm nicht wieder zurückgeben, riet er ihm, mit dem Winde zu landen. Na, ist ja klar, was passierte: Der Mann fiel auf die Nase, und ehe er wieder zu sich kam, hatte ihm Wieland das Gerät schon wieder abgenommen. Diese alten Germanen, wissen Sie – durch und durch unmoralisch! – Aber vielleicht ist auch das eine Menschheitsgeschichte. Wie Sie wollen ...

– Die Sterne über dem Mittelmeer dagegen waren in dieser Nacht klar wie Stecknadelköpfe, und die beiden Damen aus Krefeld, die nach dem Abendessen noch ein Stück spazierengegangen waren, standen auf der Piazza von Portofino, tief vom Anblick der Ewigkeit ergriffen. Lucie hatte gesagt:

Schau mal an, Betty, die Sterne!

Ja, Lucie, wirklich viele heute abend ...

Die Augen der beiden Damen lagen platt in den erhobenen Gesichtern wie Spiegeleier in der Pfanne.

Und wenn man bedenkt, daß es nur ein Zwölftel von allen Sternen sein soll, was man so sieht ...

Ein Zwölftel?

Es kann auch ein Zehntel gewesen sein, ich weiß es nicht mehr genau. Aber ich überleg mir immer, wo die anderen Zehntel wohl sein mögen ...

– Das Zehntel über Ascona jedenfalls sah aus wie eine Saat von Pusteblumen. Gegen Mitternacht geschah mit diesen Asconeser Sternen jedoch etwas sehr Seltsames: Plötzlich schnürte irgend etwas diese Sterne, diese Pusteblumen ein, in der Mitte. Sie bekamen jeder eine Taille, aber die Einschnürung griff um sich, und zuletzt standen, wo vorher ein Stern gestanden hatte, zwei da, dicht nebeneinander, Doppelsterne gewissermaßen, die schließlich lautlos und langsam zuerst, sodann immer schneller umeinander zu kreisen begannen.

Es muß freilich zugegeben werden, daß es nicht an den Sternen allein gelegen hat. Unter dem Tisch standen drei von den dicken Valpollicella-Flaschen, leer. Der Herr mit dem Kleist unter dem Arm hatte auch ganz kräftig zugegriffen, obgleich er eigentlich gar keinen besonderen Grund dazu hatte.

*

Das war unsere Geschichte. Das heißt, sie geht noch einen Moment weiter, aber ich möchte Sie jetzt schon auf ihr nahes Ende aufmerksam machen, lieber Leser, sonst kommt es nachher allzu überraschend. Eine Geschichte vom Fliegenlernen ist, wenn alles gut geht, kein Drama. Sie hat keinen aufwühlenden fünften Akt, nach dem das Publikum dann weiß, nun kommt nichts mehr, alle sind tot. Und es ging tatsächlich alles gut, so daß wir von uns aus sagen müssen: Jetzt ist Schluß. Bald wenigstens. So eine Geschichte vom Fliegenlernen kann ja gar keinen rechten Schluß haben, denn eigentlich ist sie ja insgesamt nur ein Anfang!

Kurz: Zum Schlusse sei noch bemerkt ...

Tagebuch: »Wir machten unsere Prüfung mit Ach und Krach. Zuvor plagte uns Dougoud noch mit Theorie, das war nicht einfach. Und außerdem hatten wir vor der Prüfung noch unsern Überlandflug zu machen. Der führte uns über die Zentralalpen hinweg ins Rhonetal nach Sion, sodann wieder über die Mitte der Alpen hinweg nach Airolo und Lugano und dann nach Hause. – Sie wissen: Die Alpen sind ziemlich hoch und sehen von oben schneeweiß-feindlich aus. Sie können sich denken, wie einsam es in der Luft war, obgleich Richard nur drei Minuten vor mir gestartet war und in der Nähe sein mußte. Aber ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, da kam er gerade mit einem Affenschuß aus dem einen falschen Tal heraus und sauste ins nächste falsche Tal hinein. Trotzdem war er noch vor mir da, denn ich konnte Sion nicht gleich finden. – In Sion jedenfalls tranken wir einen Whisky-Soda, bei Gott nur einen, wenn es auch Herr Dougoud bis heute nicht glaubt, und dann flogen wir weiter. Wir hatten jetzt Rückenwind und die Luft im Rhonetal, in diesem herzerschreckend gewaltigen Schlauch zwischen eisigen Viertausendern, im Rhonetal war die Luft warm und morsch, und ich mußte über dem Aletschgletscher zwei, drei große Kreise drehen, ehe ich die Höhe für die Pässe hatte. Da sah ich die Jungfrau und das Matterhorn, das Finsteraarhorn und den Gotthard zugleich. Der Grimselpaß und der Furka waren dicht verhängt von Wolken, und als ich mich über den Nufenen und am Gotthardpaß vorbeigeschmuggelt hatte, lag plötzlich in der Tiefe unter mir Airolo, wo der Gotthardtunnel anfängt ...«

... und gerade lief der Expreß aus Mailand in Airolo ein. Der Schaffner lief den Bahnsteig entlang und schrie:

Airolo! Airolo! Airolo!

Und im Fenster eines Wagens der Zweiten Klasse rief eine Dame:

Betty, Schau mal an da oben! Ein Fischadler!

Wo? Aber Lucie ...

Da, siehst du nicht?

Aber das ist doch ein Flugzeug!

... Airolo! Airolo! Airolo ...

Und die Dame schaute dem Schaffner nach und sagte:

Das haben sie damals auch immer gerufen hier, Airolo! Airolo! Und wir kamen doch gerade aus dem Tunnel heraus, und wie ich das hörte, da sagte ich zu meinem Kurt: Kurt, jetzt sind wir im Süden. – Aber die ersten vierzehn Tage hat es dann geregnet. – Guck, jetzt streicht er ab! Wer?

Der Fischadler ...

Da pfiff der Schaffner.

Tagebuch: »Und unten in Airolo stand ein Zug. Aber seltsam: Früher, da sah alles aus der Höhe wie Spielzeug aus. Das ist vorbei jetzt. Es war ein Zug, was da unten stand. Ich hatte in all der Zeit ein Gefühl für die Leere bekommen, die unsere Welt umgibt. – So, und jetzt Kurswechsel, einhundertdreißig Grad jetzt, so ... und die Höhe brauchst du auch nicht mehr zu halten ...«

– Er entfernte sich.

Da streicht er ab, rief ihm die Dame nach.

Tagebuch: » ... und ich dachte, wie ich den Zug im Gotthardtunnel verschwinden sah: Wie ein Eidechsenschwanz. Verkriecht sich im Geröll.«

– So verloren sie einander aus den Augen, und das ist der Schluß unserer Geschichte.

Die Erde hat viele Namen

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