Читать книгу Perry Rhodan 1088: Der ewige Krieger - Ernst Vlcek - Страница 4
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Lasst euch die Geschichte von den ungleichen Geschwistern erzählen.
Es ist die Geschichte von Bruder und Schwester, die nicht von Mann und Weib gezeugt wurden – auch nicht von anderen, fremdartigen Geschlechtern oder Wesen auf vergleichbare Art und Weise.
Sie gingen aus einer Verbindung höherer Art hervor.
Sie hatten eine ganze Rasse zu ihren Eltern.
Schon gleich nach ihrer Werdung zeigte sich ihre verschiedenartige Veranlagung. Sie waren einander so gegensätzlich, wie Bruder und Schwester nur sein können.
Sagte die Schwester »Weiß«, so sagte prompt der Bruder »Schwarz«.
Blickte sie hoch, so starrte er in die Tiefe.
Meinte sie rechts, so wandte er sich nach links.
Hatten sie Streit, so gab sie nach, und er zürnte ihr wegen dieses Nachgebens, denn er suchte den Streit um des Streites willen.
Die Schwester sah in allem das Gute, das Schöne, das Wertvolle und Erhaltenswerte, für sie brannte in jeder Finsternis auch ein Licht. Sie sah nie die Abgründe, sondern die Gipfel darüber. Und wo alle Wege zu enden schienen, fand sie immer noch einen der Liebe und der Güte.
Der Bruder dagegen hob stets nur die dunkle Seite der Dinge hervor, das Schlechte, das dem Guten innewohnte, das Hässliche im Schönen, die Schatten, die das Licht warf, den Unwert der Werte. Auf allen seinen Wegen durch die Niederungen des Lebens waren Verachtung und Unbarmherzigkeit seine Begleiter. Und kam er in eine Sackgasse, so akzeptierte er das Hindernis nicht, sondern kämpfte es nieder.
Wo sie gab, ohne selbst zu fordern, da nahm er ohne Gegenleistung.
Eines Tages nun kam es zwischen diesen ungleichen Geschwistern zu der Frage, wer denn von ihnen beiden rechtens handle, klüger und auch stärker sei.
»Ich bin es, ohne Zweifel«, sagte der Bruder. »Ich bin die vorwärtsstrebende Kraft, der Motor des Lebens, denn das Leben ist Kampf. Du dagegen bist dumm und schwach – und darum gütig.«
Die Schwester aber sagte:
»Deine Stärke ist deine Schwäche. Denn gewinnen kann man nur durch das Geben. Wer nimmt, ist der Verlierer.«
»Du wirst so lange geben, bis dir selbst nichts mehr bleibt«, sagte der Bruder. »Ich hingegen werde immer mächtiger.«
»Das ist eine Macht, die du nicht ausüben kannst, weil ich nicht kämpfe«, sagte die Schwester.
So waren die ungleichen Geschwister.
Die Schwester war die Antipodin ihres Bruders.
Und er war ihr Antipode.
Sie hielten sich im Gleichgewicht, und letztlich konnte einer ohne den anderen nicht sein.
*
Sie nannten Beezan einen Zweifler und sagten ihm nach, dass ihm wegen seiner Ungläubigkeit der Sinn für gewisse Werte fehlte und ihm darum tieferes Empfinden versagt bliebe. Er selbst dagegen sah sich als verzweifelten Sucher.
»Beezan! Wohin des Weges?«
»Zum Dom Kesdschan.«
»Sieh an! Was gibt es dort?«
»Ich weiß nicht. Mal sehen.«
So oder so ähnlich klang es, wenn Beezan einem der seltenen Spaziergänger in Naghdal begegnete. Es spielte dabei keine Rolle, ob es sich um einen Zeremonienmeister, einen Domwart, einen Betreuer oder einen der wenigen Bewohner der Stadt handelte, zu denen auch er zu zählen war: sie hatten einander nicht viel zu sagen. Manchmal war auch mit einem kurzen Gruß der Höflichkeit Genüge getan.
Beezan legte auf nähere Kontakte mit anderen Wesen keinen Wert. Nicht deswegen, weil er der einzige Ephide war und etwa keine Beziehung zu Angehörigen anderer Völker gehabt hätte. Daran lag es gewiss nicht. Der Grund war der, dass er sich verinnerlichen wollte, um durch Meditation das angestrebte Ziel zu erreichen und Erfüllung zu finden. Nur darum ging er den spärlichen Vergnügungen aus dem Weg, die die kaum beseelte Stadt zu bieten hatte, und mied jede Art von Geselligkeit, so gut es ging.
Er suchte höchstens Kontakt mit den Zeremonienmeistern und den Domwarten, aber auch nur um ernsthafte philosophische Gespräche über die Bedeutung des Domes Kesdschan zu führen. Er kannte sie alle, die 116 Domwarte und die 16 Zeremonienmeister, nach Namen und ihrer Herkunft, und sie kannten ihn. Ihnen verdankte er den Beinamen »der Zweifler«, weil sie nicht verstehen konnten, wieso es ihm unmöglich war, das zu empfinden, was jedes Intelligenzwesen dieser Galaxis empfand, wenn es den Dom Kesdschan betrat. Und darum kam er jeden Tag hierher und verbrachte viel Zeit unter der mächtigen Kuppel des Domes zu. Es war sein eigenes Zeremoniell, das sich nun schon seit mehr als zweihundert Planetentagen wiederholte. Seit jenem denkwürdigen Augenblick, da ein Ritter der Tiefe den psionischen Ritterschlag erhalten hatte und all die vielen Tausende von Wesen verschiedenster Herkunft dieses einmaligen Erlebnisses teilhaftig geworden waren.
Nur er, Beezan, nicht. Er hatte damals nichts von den Schwingungen des Domes gespürt, die sich auf alle anderen Wesen übertrugen. Ihm hatte sich der Ritterschlag nur als optisches Ereignis dargeboten. Und er hatte die Verklärung auf den Gesichtern seiner Artgenossen gesehen, aber seine Fühler nicht mit ihnen im Gleichklang wiegen können.
Damals war ihm klar geworden, dass er ein Außenseiter war. Ein Fremdkörper in einer galaxisweiten Gemeinschaft – und ein Fremder in seinem eigenen Volk. Er war mit seinen Artgenossen nicht nach Thanon zurückgekehrt. Er war geblieben, um das Rätsel seiner Unempfindlichkeit zu lösen und dem Abhilfe zu schaffen.
Aber sooft er den Dom Kesdschan auch schon aufgesucht hatte, er empfand nichts. Er blieb kalt, wie man es in seinem Volk ausdrückte. Noch nie hatte sich während der Meditation seine Körpertemperatur auch nur um eine Zehnteleinheit erhöht.
»Hast du es gehört, Beezan? Im Dom Kesdschan soll sich Geheimnisvolles tun.«
Beezan schreckte aus seinen Gedanken, als er die keifende Stimme des Oggfors vernahm. Die dünne, knorrige Gestalt kauerte auf ihren hinteren Extremitäten und hatte die vorderen Gliedmaßen, die lang und knochig waren, unter dem hektisch zuckenden Luftsack gekrümmt. Die dreigliedrigen Greifwerkzeuge drückten immer wieder gegen diese Blase, um zu verhindern, dass sie sich mit Luft füllte. Ein sicheres Zeichen dafür, dass der Oggfor sich in einem Zustand gesteigerter Erregung befand. Diese Wesen konnten so viel Luft in ihre Körper aufnehmen und ihre Haut derart dehnen, bis sie kugelrund wurden.
»Du stehst mir im Weg, Goshar«, sagte Beezan unwirsch. »Beruhige dich wieder, sonst platzt du noch.«
Der Oggfor sog einen Luftschwall ein und entließ ihn dann mit lautem Knall aus seiner Kropfblase.
»Wenn du erst hörst, was ich dir zu berichten habe!«, sagte Goshar, während er gleichzeitig die Luft pfeifend einsog. »Es heißt, dass eine Expedition aus dem Gewölbe unter dem Dom zurückerwartet wird.«
»Das wäre nicht die erste Expedition«, sagte Beezan ungehalten. »Gib jetzt den Weg frei.«
»Ja, ja, schon«, meinte der Oggfor mit geheimnisvoll gesenkter Stimme. »Aber es ist die erste, die Erfolg gehabt hat.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Beezan, nun doch neugierig geworden.
»Ich war im Dom und habe es gespürt, dass etwas Ungewöhnliches im Gange ist«, behauptete Goshar. Er brachte seinen Echsenschädel bis ganz nahe an Beezans Fühlerkranz, so dass dieser unwillkürlich den Kopf zurückzog, und flüsterte: »Willst du wissen, was ich dabei empfunden habe? Ich verrate es dir gerne, weil ich weiß, dass dein Geist blind und taub ist. Du brauchst dich mir nur zu verpflichten.«
»Ich werde dich ...«, rief Beezan zornig und spürte, wie es ihn siedend heiß durchwallte.
Goshar entließ mit einem knallenden Entsetzensschrei die Luft aus seiner Halsblase und eilte auf allen vieren davon, wobei er die vorderen Extremitäten besonders stark einsetzte und wahre Riesensätze vollführte.
Beezan bereute es längst, Goshar einmal darum gebeten zu haben, ihm über seine Empfindungen im Dom während des Ritterschlags zu erzählen. Er hatte damals nicht gewusst, dass es bei den Oggfors Sitte war, anderen Gefälligkeiten zu erweisen, um sie in Abhängigkeit zu sich zu bringen. Das reichte bis zu absoluter Hörigkeit. Seit Beezan das klar geworden war, wollte er mit Goshar gar nichts mehr zu schaffen haben. Er wünschte ihn in die Sümpfe seiner Heimatwelt und setzte seinen Weg fort.
Bald hatte er die Stadt hinter sich gelassen, die sich zum Dom hin halbkreisförmig öffnete. Vor ihm erhob sich das kolossale Gebäude wie ein halbes Riesenei in den Himmel.
Der Dom Kesdschan war weder von der Größe noch von der Form her besonders beeindruckend, alles andere als eine architektonische Meisterleistung. Beezan empfand das Gebäude sogar als hässlich, aber das lag wohl daran, dass es ihm nichts zu sagen hatte. Er konnte als vielleicht einziges Wesen die Botschaft nicht hören, die man überall in der Galaxis empfangen konnte.
Beezan begegnete keinem Wesen, als er an den Unterkünften der Domwarte vorbeikam. Niemand stellte sich ihm in den Weg, als er durch das Portal in das Innere des Domes schritt.
Er hatte nie um Erlaubnis gefragt, ob er den Dom betreten dürfte, sich nie um Verbote gekümmert. Er kam und ging, wie es ihm beliebte, und nie hatte irgend jemand daran Anstoß genommen.
Beezan fragte sich, ob der Hüter des Domes, Lethos-Terakdschan, überhaupt wusste, welch regelmäßiger Besucher er war. Wenn Lethos-Terakdschan ihn überhaupt wahrnahm, dann ignorierte er Beezan. Der Domwächter und Hüter des Ritterordens hatte sich ihm nie gezeigt.
Beezan nahm in einer der hintersten Reihen der einfachen Holzbänke Platz und beobachtete die Vorgänge, die sich auf dem Podest gegenüber dem Eingang abspielten.
Dort hatten sich ein Zeremonienmeister und vier Domwarte um den Tisch versammelt. In dem Zeremonienmeister erkannte Beezan den achtfüßigen Schcoiden Radaut. Er bediente gerade die Instrumente des Tisches, während die Domwarte erwartungsvoll daneben standen.
Der Tisch glitt zur Seite und gab den Zugang des subplanetaren Gewölbes frei.
Beezan richtete seinen Fühlerkranz geschlossen in Richtung des Podests und spürte das Brennen der Erregung, als seine Körpertemperatur stieg.
Er konnte nicht wirklich empfindungslos sein, wenn ihn so etwas Alltägliches wie das nunmehrige Schauspiel derart in den Bann schlug! Er konnte nicht wirklich taub sein!
Einige Domwarte waren in das Gewölbe unter dem Dom Kesdschan hinabgestiegen, na und? Solche Expeditionen hatten in letzter Zeit mehrmals stattgefunden.
Doch diesmal, das spürte Beezan, war es anders. Er wartete voll Ungeduld darauf, dass die Domwarte in der Öffnung im Podest auftauchten. Beezan schärfte seine Sinne aufs Äußerste, damit ihm nichts von dem entgehen konnte, was auf dem Podest vor sich ging.
*
»Sie haben ihn«, gurrte Dreas und sträubte sein Kopfgefieder. Der Flicco tänzelte entlang des Randes der Bodenöffnung und stieß mit dem Vogelkopf immer wieder nach vorne, um einen besseren Einblick in die untere Region zu haben. »Hoffentlich ist die Öffnung groß genug, dass wir ihn herausheben können.«
»Du stehst mir ihm Weg«, wies Radaut den Domwart zurecht, der daraufhin sofort einen Sprung zur Seite machte. Radaut trippelte näher und sah unter sich eine silberne Fläche, die sich langsam hob. Es war die Oberseite des Behältnisses, das die drei Domwarte aus der Tiefe des Gewölbes geborgen hatten, eine von sechs Flächen des Würfels.
»Belkus! Ranor! Scarviar!«, rief er hinunter. »Könnt ihr mich hören?«
Als Antwort kam ein unverständliches Stimmengewirr, ohne dass die Sprecher zu sehen waren. Radaut vernahm ein Keuchen und Stöhnen und wurde sich dadurch der Anstrengungen gewahr, die die drei Domwarte auf sich nahmen, um den großen Kubus zu heben.
»Helft ihnen«, trug er den Domwarten auf, die sich mit ihm auf dem Podest eingefunden hatten. »Seht ihr nicht, wie schwer sie sich mit ihrer Last tun? Sie schaffen es allein nicht.«
»Nehmt ihn uns ab«, drang unter dem Kubus eine zittrige Stimme herauf. Radaut erkannte in ihr die von Belkus, dem Sassoner, und sah im Geiste, wie er mit seinem kräftigen Rüssel die Last in die Höhe stemmte, während die beiden anderen, körperlich schwächeren Domwarte seine Bemühungen mit den Kraftfeldern des Transportgeräts unterstützten.
»Hab dich nicht so, Belkus«, ließ sich Scarviar, der Doldone, vernehmen. »Du hast ja nur Angst.«
»Es hat sich nicht gelohnt«, meldete sich eine dritte Stimme, die Ranor, dem Vallier, gehörte. »Es war alles umsonst.«
Radaut enthielt sich eines Kommentars. Er konnte sich vorstellen, dass die drei einiges durchgemacht hatten, denn ein Abstieg in das Gewölbe unter dem Dom Kesdschan war nicht ungefährlich.
Perry Rhodan und seine Begleiter waren unlängst dort unten gewesen. Danach hatte Lethos die Gruft versiegelt und nur für die Dauer dieser Expedition geöffnet.
Der Kubus verkantete sich mit einer Ecke an der Einfassung der Bodenöffnung, es gab ein knirschendes Geräusch. Die Domwarte auf dem Podest sprangen hinzu und schoben das silbrige Behältnis ein Stück zur Seite, so dass es frei kam. Daraufhin schoss es mit einem Ruck in die Höhe und gelangte zur Hälfte aus der Bodenöffnung.
Nunmehr war es leicht, den Kubus aus dem Zugang zu heben und ihn daneben auf den Boden zu stellen. Gleich darauf folgten Belkus und Ranor, sie hatten es offenbar eilig, ins Freie zu kommen. Scarviar dagegen kam auf seinen Pseudopodien gemächlich nach oben geschlendert.
Radaut schloss den Zugang sofort hinter ihm und sorgte, auf Belkus' ängstliches Drängen, durch Knopfdruck dafür, dass der Tisch wieder über die sich schließende Öffnung schwenkte.
»Der Zugang zum Gewölbe ist wieder versiegelt«, sagte Radaut zu den drei erschöpft wirkenden Expeditionsteilnehmern und verspürte darüber selbst Erleichterung. »Was immer euch bedroht hat, es bedeutet keine Gefahr mehr für euch.«
»Es war schrecklich«, sagte Belkus durch die halbgeschlossene Rüsselöffnung. Die Muskelwulst um sein Sprechorgan war zerschürft und geschwollen. »Ich bin tausend Tode gestorben. Niemand kann ermessen, was wir durchgemacht haben.«
Er rollte den Rüssel ein und barg das darüberliegende Gesicht in Falten. Sein stämmiger Körper erbebte in Erinnerung an das hinter ihm liegende Grauen.
»War es wirklich so schlimm?«, fragte Radaut besorgt und blickte auf Belkus, der sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte und damit zeigte, dass er sich von seiner Umwelt völlig abgekapselt hatte. Es war eine der Eigenheiten der Sassoner, sich auf diese Weise allen äußeren Einflüssen zu entziehen und sich vor Ungemach zu schützen.
»So hat sich dieser Schwächling in Momenten der Gefahr immer verhalten«, sagte Scarviar zornig. »Damit hat er unser Unternehmen gefährdet. Nicht nur, dass wir den Kubus zu transportieren hatten, mussten wir uns auch seiner annehmen. Wenn es nach mir gegangen wäre, so hätte ich ihn in der Tiefe zurückgelassen. Belkus ist eine Schande für uns Domwarte.«
»Dein Verhalten ist eines Domwarts auch nicht würdig«, wies Radaut den Doldonen zurecht, der von allen drei Expeditionsteilnehmern noch den frischesten Eindruck machte, obwohl er physisch der Schwächste war. Sein in Form und Gestalt wandelbarer Körper besaß kein Knochengerüst. Ein schneckenartig gedrehter Rückenpanzer verlieh ihm den nötigen Halt, das obere Ende war gleichzeitig Sitz des Kopfes, in dessen Knorpelmaske die Sinnesorgane eingebettet waren. Für die Fortbewegung und für manuelle Tätigkeiten konnte der Doldone bis zu zwölf Pseudopodien ausfahren.
Scarviar stützte sich auf seinen Rückenpanzer, so dass er alle Pseudopodien frei hatte und sie Radaut entgegenstrecken konnte.
»Gut, dann sprechen wir nicht mehr darüber«, sagte er fest und ließ sein sonst so ausdrucksstarkes Gesicht zu einer Maske eisiger Ablehnung erstarren. »Ich will mich mit keinem Wort mehr darüber äußern, was in der Tiefe vorgefallen ist. Belkus hat recht, wenn er sagt, dass wir nur knapp dem Tode entronnen sind. Aber das ist kein Grund, sich so gehen zu lassen. Wir haben es überlebt und unseren Auftrag ausgeführt. Nur das zählt.«
»Ich bezweifle noch immer, dass sich unser Einsatz gelohnt hat«, erklärte Ranor, der Vallier, mit halbgeschlossenen Mundwerkzeugen. Er war größer als Radaut und von graziler Gestalt, aber da er einem Volk angehörte, dass wie die Schcoiden von Insekten abstammte, konnte Radaut den Ausdruck seiner Physiognomie besser deuten. Ranor wirkte unentschlossen, seine beiden Augenballungen drückten Verwirrung und innere Unsicherheit aus.
»Ich kann es mir selbst nicht erklären, was mich so denken lässt«, fuhr er fort. »Als wir in die Tiefe hinabstiegen, da war ich trotz aller Gefahren, denen wir begegneten, noch voll des Mutes. Aber kaum waren wir am Ziel und bargen den Kubus ... da begannen mich die Zweifel über Sinn und Wert dieses Unternehmens zu plagen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Ich schweige lieber.«
»Auch du bist ein Schwächling, Ranor«, sagte Scarviar abfällig. Der Vallier schwieg zu diesem Vorwurf.
»Dann werden wir wohl nie erfahren, wie es euch in der Tiefe ergangen ist?«, fragte Radaut. Die Antwort war Schweigen.
Der Zeremonienmeister wurde daraufhin noch nachdenklicher. Er fragte sich, was die Veränderung der drei Domwarte verursacht haben mochte. Als er sie in das Gewölbe unter dem Dom Kesdschan schickte, waren sie in etwa gleichwertig gewesen. Sie hatten einander prächtig ergänzt und bildeten ein gutes Team. Nach diesem Gesichtspunkt hatte Radaut sie ausgewählt, eine solche Mischung erschien ihm als bester Garant für einen Erfolg.
Und nun kamen sie völlig verändert zurück. Scarviar war erstarkt und strotzte vor Mut und Tatendrang. Belkus dagegen war zu einem Schwächling geworden, als hätte irgend etwas seinen Geist zerbrochen. Ranor stand zwischen diesen beiden Extremen, war wankelmütig und verwirrt, wurde von Zweifeln geplagt.
Hatte die Ausstrahlung des Kubus sie derart beeinflusst und verändert?
Radaut schauderte unwillkürlich.
»Willst du uns nun verraten, welchen Schatz wir aus der Tiefe geborgen haben?«, fragte Ranor.
»Es ist wohl besser, wenn ihr es nicht wisst«, antwortete Radaut und wandte sich dem Kubus zu, dessen silbrige Flächen das Licht widerspiegelten. Irgendwie entsprach er nicht ganz seinen Vorstellungen, ohne dass er hätte sagen können, warum.
»Du hast uns einen Namen genannt – Cosino«, hörte der Zeremonienmeister Scarviar hinter sich sagen. »Was bezeichnet dieser Begriff? Den Würfel oder seinen Inhalt?«
»Ja, Cosino«, wiederholte Radaut. »Ihn galt es zu bergen.«
Plötzlich wusste er, was an dem Kubus nicht stimmte. Er war kein exakter Würfel mehr. Keine Fläche und keine Kante stand parallel zu der gegenüberliegenden. Die Flächen waren nicht mehr im Winkel, die Seiten waren unterschiedlich lang. Der Kubus besaß sechs Flächen, aber keine von ihnen war quadratisch.
Und das silbrige Metall hatte seinen Glanz verloren, sein Widerschein war stumpf und matt.
In diesem Moment materialisierte Lethos-Terakdschan in der Mitte des Podests.
Radaut zuckte unwillkürlich zusammen, denn er hielt die Materialisation für eine Aktivität des Würfels.
Erst als er den schlanken Humanoiden in seiner bernsteinfarbenen Kombination, die von einem Netzwerk silbriger Fäden durchzogen war, erkannte, beruhigte er sich wieder.
»Ich befürchtete schon, Cosino ...«, begann Radaut und ließ den Rest unausgesprochen. Er war erleichtert darüber, dass Lethos-Terakdschan aus der Domkuppel zu ihnen herabgestiegen war. Es war für den Zeremonienmeister unerheblich, dass es sich bei dem Humanoiden nur um eine Materieprojektion handelte. Er war so real wie ein Wesen aus Fleisch und Blut – und als Träger des Geistes von Terak Terakdschan, dem Gründer des Wächterordens und Ersten Ritters der Tiefe, war er die oberste Instanz auf Khrat.
»Ich sehe, ihr habt meinen Auftrag ausgeführt«, sagte Lethos-Terakdschan und schritt um den Kubus herum. Er hatte die Arme dabei in die Hüften gestemmt, sein Gesicht wirkte feierlich und ernst. »Dafür möchte ich allen Begleitern danken. Auch im Namen der Menschheit.«
»Das ehrt uns«, sagte Radaut geschmeichelt. Er war dem Humanoiden gefolgt und richtete sich auf dem hinteren Beinpaar auf, um ihm an Körpergröße nachzueifern. Mit gesenkter Stimme fügte Radaut hinzu: »Doch erscheint mir der Erfolg des Unternehmens in Frage gestellt. Der Kubus ist beschädigt und völlig aus dem Winkel. Alles weist darauf hin, dass sich jemand an ihm zu schaffen gemacht hat. Und das war gewiss keiner der Domwarte.«
»Das ist mir nicht entgangen«, meinte Tengri Lethos. Er war stehen geblieben, stützte das Kinn in eine Hand und betrachtete den wie aus den Fugen geratenen Kubus nachdenklich.
In dieser Haltung erweckte er den Eindruck, als höre er auf eine innere Stimme, auf die Einflüsterungen des Geistes von Terak Terakdschan, von dessen schier unbegrenztem Wissen er partizipierte.
Eine Weile herrschte Schweigen, das Radaut schließlich brach, als ihm die Stille unerträglich wurde.
»Ist es möglich, dass ein Unbekannter mit dem Kubus hantiert hat?«, fragte Radaut. »Jemand, der an ihn herankommen wollte. Jemand, der beabsichtige, seine Fähigkeiten für seine Zwecke zu missbrauchen?« Radaut sprach es nicht aus, dass er diesen »Jemand« für Seth-Apophis hielt, die einst in dem Gewölbe unter dem Dom Kesdschan manifestiert gewesen war und dort schrecklich gewütet hatte. Radaut brauchte nicht extra darauf hinzuweisen, Lethos-Terakdschan kannte die Zusammenhänge besser als er. Aber der Humanoide schwieg noch immer.
»Oder ist es möglich, dass Cosino aus eigener Kraft die Freiheit erlangte? Kann er freigekommen sein?«
»Das wäre furchtbar!«, sagte Lethos-Terakdschan entsetzt. »Ihr wisst, was davon abhängt, dass ich Cosino auf dem raschesten Weg in die Heimatgalaxis der beiden Ritter der Tiefe schaffe. Nur aus diesem Grund habe ich die BASIS nach Khrat beordert. Die Ritter der Tiefe, Perry Rhodan und Jen Salik, brauchen diese Hilfe.«
»Und wenn mit dem Kubus etwas nicht stimmt?«, fragte Radaut.
»Das werden wir bis zum Eintreffen der BASIS herausfinden«, versicherte die Inkarnation von Terak Terakdschan in der Materieprojektion von Tengri Lethos. Der Hüter des Wächterordens wollte noch etwas hinzufügen. Doch ein Zwischenfall hinderte ihn daran.
Niemand von den Anwesenden hatte den einzelnen Besucher wahrgenommen, der einen Platz in den hinteren Bankreihen des Domes eingenommen hatte.
Tengri Lethos wurde erst jetzt auf ihn aufmerksam, als er seinen Platz verließ und eilig zum Podest geschritten kam.
Dabei rief er mit vor Aufregung vibrierender Stimme: »Ich kann die Kraft fühlen. Zum ersten Mal empfange ich die Botschaft und empfinde ich die Macht und Herrlichkeit, die von diesem Ort ausgeht.«
*
Beezan verstand nichts von den Vorgängen, die sich auf dem Podest abspielten, obwohl seine Sinne aufs äußerste angespannt waren. Er hörte jedes gesprochene Wort, seinen Fühlern entging kein Detail, dennoch wusste er nicht, worum es ging, bis ...
... ja, bis ihn die Sendung erreichte.
Die Umgebung versank förmlich um ihn. Er nahm die Gestalten auf dem Podest, die sich um den großen Kubus kümmerten, nur wie nebenbei wahr.
Für Beezan war es, als wirke der Kubus als Verstärker für die Botschaft aus der Domkuppel. Er fragte sich, ob es Lethos-Terakdschan selbst war, der ihm die Woge gemischter Gefühle schickte und ihn darin förmlich ertrinken ließ.
Beezan bekam ein Gefühl von Stärke und Macht. Gleichzeitig aber wurde sein Geist auch von Trauer und Melancholie durchtränkt. Irgend etwas infizierte ihn mit unbändigem Hass, während eine andere Strömung ihn zu besänftigen versuchte.
Der Ephide wurde hin und her gerissen, in schwindelerregende Höhen gehoben und von dort wieder in die Tiefe gestürzt.
Allmählich aber legte sich der schwindelerregende Mahlstrom der Emotionen. Beezan fand wieder sein seelisches Gleichgewicht und wurde sich des festen Bodens unter ihm bewusst. Der Druck der harten Holzbank gegen seinen Körper beruhigte.
Der Nebel, der seine Sinne getrübt hatte, lichtete sich wieder. Er konnte den Kubus erkennen und die verschiedengestaltigen Wesen, die ihn umstanden.
Zu dem Zeremonienmeister und seinen Domwarten hatte sich eine weitere Gestalt gesellt. Es war ein Humanoide, wie jener Terraner, der vor etwa 220 Khrat-Tagen zum Ritter der Tiefe geschlagen worden war.
Diese Feierlichkeit war mit jener nicht zu vergleichen, denn Radaut trug nicht einmal seinen pelzverbrämten Samtumhang. Statt vieler Tausender Besucher aus ganz Norgan-Tur wohnte diesem Zeremoniell nur ein einzelner bei: er, Beezan, der Ephide von Thanon, den sie einen Zweifler nannten.
Und der Humanoide war nicht Perry Rhodan, es war Lethos-Terakdschan, der seinen Geist in einer Körperprojektion ausgeschickt hatte, um dem Geschehen einen würdigeren Rahmen zu geben.
Beezan erhob sich spontan und eilte zum Podest.
Die Sendung war vorbei, aber in ihm klang etwas von der Macht und Herrlichkeit nach, die ihn für einige Zeit gefangen genommen hatte.
Dieses Erlebnis hatte ihn gestärkt.
Er wollte seine Empfindungen nicht für sich behalten und kleidete sie in Worte, die er zur Kuppel hinaufrief, so dass sie laut widerhallten.
Die Leute auf dem Podest zeigten Befremden.
»Wer ist das?«, fragte Lethos-Terakdschan.
»Beezan, der Ephide«, sagte Radaut. »Ich fürchte fast, dass er einem ähnlichen Einfluss unterlegen ist, wie die drei Domwarte, die Cosino aus der Tiefe geholt haben.«
»Ich bin nicht länger taub im Geiste!«, rief Beezan ihnen beglückt zu. »Es ist wie ein Wunder, jenem gleich, durch das des Domwarts Skenzran Tochter von der Tyrillischen Lähmung geheilt wurde.«
Beezan erkletterte das Podest und näherte sich ergriffen dem silbrig schimmernden Gebilde, das aussah wie ein etwas aus den Fugen geratener Würfel. Als er ihn erreichte und seine Fühler über die leicht wellige Oberfläche gleiten ließ, wurde sein Geist augenblicklich von einer Welle unterschiedlicher und einander widersprechender Gefühle überschwemmt.
Erst als die Domwarte Beezan mit vereinten Kräften von dem Kubus fortzerrten, fand er in die Realität zurück.
»Schafft den Kubus fort«, ordnete Lethos-Terakdschan an. »Bringt ihn in eines der Nebengebäude, wo niemand an ihn herankann. Wir müssen ihn zuerst untersuchen, bevor ich eine Entscheidung treffen kann.«
»Und was wird aus deinem Vorhaben, Cosino in die Heimatgalaxis der beiden Ritter der Tiefe zu schaffen?«, fragte Radaut.
»Das wird sich noch weisen.«
Die Domwarte brachten Beezan aus dem Dom und somit außer Reichweite des Kubus. Sie schickten ihn in die Stadt zurück und rieten ihm, das Vorgefallene zu vergessen und zu seiner Heimatwelt zurückzukehren.
Aber daran dachte Beezan nicht.
Obwohl er sich an das Erlebte und den damit verbundenen Gefühlssturm nur noch wie an einen weit zurückliegenden Traum erinnerte, ließ es ihn nicht los.
Später, als er die Angelegenheit nüchterner betrachten konnte, kam er zu dem Schluss, dass er zwar auf dem richtigen Weg war, aber noch weit von seinem Ziel entfernt.
»Beezan! Warst du im Dom Kesdschan?«
»Ja.«
»Und? Was hat sich getan?«
»Einiges. Aber ich muss es erst verarbeiten.«
»Du musst deinen Geist weit öffnen, Beezan. Das ist das ganze Geheimnis.«
Er hatte es getan. Bei der Kraft von Vheg, der Mutter Sonne, er hat seinen Geist geöffnet!
Und er wusste, was ihm bisher gefehlt hatte, was ihm versagt geblieben war.
Er hatte eine kleine Kostprobe jener Kraft bekommen, die ihm bislang fremd und unbekannt war. Und er hielt sie für jene Kraft, die allen Wesen dieser Galaxis innewohnte außer ihm.
Beezan wollte mehr davon.